Plagegeister

Tobias dreht sich auf die andere Seite und streckt seinen Arm aus, um meinen Körper zu berühren. Wenn er wie gewohnt, seine flache Hand auf meine Beine legen kann, schläft er beruhigt und entspannt weiter. An diesem Morgen ertastet er nur die kalte Bettdecke. Der Platz neben ihm ist leer. Ich bin bereits aufgestanden. Es ist noch stockfinster draußen und er setzt sich erstaunt auf. Schlaftrunken schlendert er durch das Haus, um mich zu suchen. Er findet mich frisch geduscht und mit einem Becher Kaffee in der Hand, hellwach am Schreibtisch sitzend. Seit einer Stunde brüte ich schon über dem kulinarischen Konzept für das neue Mató SPA & Bistro. Auf dem Boden habe ich zahlreiche Feinschmecker Magazine ausgebreitet, aus denen ich Fotos ausschneide, auf DIN A4 Papier klebe und in einen Ordner ablege.
   »Du schreibst um diese Zeit nicht wirklich an der Speisekarte?«
   »Doch, Tobi. Das ist das A und O. Solange wir nicht wissen, wie unser Angebot aussehen soll, kann ich mich nicht um passendes Küchenpersonal kümmern. Schau doch mal, was hältst du von dieser Idee?« 
   »Seit wann bist du schon wach?« Mit geschlossenen Augen setzt er sich neben mich auf die Stuhlkante. Im Halbschlaf lässt er meinen enthusiastischen Redeschwall über kleine Leckereien, exotische Delikatessen und regionale Spezialitäten über sich ergehen. Um diese Zeit steht ihm nicht der Sinn nach Essen, sondern nach Schlafen, mindestens noch zwei Stunden. Es ist schließlich Sonntag. Einer der letzten freien Sonntage vor der Eröffnung. Die vergangenen Wochen hat er mit Hochdruck an der Renovierung des neuen Ladenlokals und den darüber liegenden Wohnungen gearbeitet. Jetzt braucht er dringend eine kleine Ruhepause.
   »Was sagst du?«
   »Lecker! Aber nun komm wieder mit ins Bett!« Er nimmt meine Hand und zieht mich zurück ins Schlafzimmer. Mit einem leisen Grunzen schmiegt er sich an meinen Arm und nickt wieder ein.
   »René hatte immer wechselnde Tagesgerichte im Angebot. Plat du jour, erinnerst du dich? Diese Mahlzeit nahmen auch alle Mitarbeiter vor der Abendschicht gemeinsam mit den Musikern ein. Das war ein schöner Brauch. Das möchte ich auch gern so machen. Was meinst du?« Tobias öffnet die Augen nur einen winzigen Spalt und blinzelt. Ich habe mich zwischenzeitlich auf seinen Bauch gesetzt und rede unentwegt auf ihn ein. Er schüttelt resigniert den Kopf, muss dann aber doch über meinen frühmorgendlichen Elan schmunzeln. Sein kurzes Lächeln wird sofort mit einem Kuss belohnt. Als seine Hände meinen Po fest umgreifen und er weitere Küsse einfordert, finde ich auch, dass die Speisekarte ruhig noch länger warten kann und ich halte endlich die Klappe.

Der Sonntag ist Familientag. Daran soll auch das neue Geschäft künftig nichts ändern. Ich verspreche es Mann und Tochter hoch und heilig. Wie ich das alles bewältigen will, ist ihm jedoch ein Rätsel. Die Leitung ist von einer Person allein, unmöglich zu leisten. Wenn die bisherigen Öffnungszeiten übernommen werden, wird das Lokal an sieben Tagen die Woche von sechs Uhr morgens bis nach Mitternacht geöffnet sein.

Sarah hat sich zum Nachmittagskaffee angekündigt und versprochen einen selbstgebackenen Kuchen mitzubringen. Ihr Klingeln macht Claras Fingerübungen am Steinway Flügel endlich ein Ende. Ich lausche der Tonleiter bereits eine geschlagene Stunde und mir dröhnt der Kopf. Auch Hund Balou bedankt sich für das Ende der täglichen Übungsstunde mit freudigem Schwanzwedeln.
   »Es ist ein Gugelhupf geworden.«
   »Mit Rum Rosinen?«
   »Auf ausdrücklichen Wunsch deines Mannes habe ich ihn mit Schokoplätzchen gebacken.« Enttäuscht nehme ich ihr den Topfkuchen ab und bringe ihn in die Küche.
   »Kommt Claire noch nach?«
   »Sie hält noch bis 20 Uhr den Salon geöffnet, obwohl heute kein Mensch mehr zum Haareschneiden kommt. Bestimmt hat sie dann den ganzen Abend wieder schlechte Laune. Ich kann den Start der Saison kaum erwarten. Wenn ihr endlich eröffnet, läuft auch ihr Geschäft wieder an. Dann ist meine Liebste hoffentlich nicht mehr so missgestimmt.« Sarah lobt den Baufortschritt im Bistro. Die Sitzmöbel, die Tobias und ich ausgesucht haben, finden ihre besondere Anerkennung. Sie ist der Meinung, dass eigentlich schon alles fix und fertig aussieht und kann nicht verstehen, warum wir bis Mitte März mit der Eröffnung warten wollen.
   »Die Zeit brauchen wir noch, um das Personal zusammen zu bekommen.«
   »Übernimmst du nicht Renés Belegschaft?«
   »Doch natürlich. Die, die noch übrig sind. Aber die Position des Küchenchefs muss ich neu besetzen. Das bereitet mir das größte Kopfzerbrechen. Finde mal einen Koch, der René das Wasser reichen kann.« Tobias rollt mit den Augen. Er hört es nicht gern, wenn ich so bewundernd von ihm spreche. Zwar weiß er genau, dass uns nur Freundschaft verbindet. Trotzdem ist er ein wenig eifersüchtig auf den Franzosen. Aber nicht nur auf ihn. Jeder Mann, der mir näher als zwei Meter kommt, wird mit bösen Blicken bestraft.
   »Morgen früh, stellen sich die Ersten vor. Mal sehen, vielleicht klappt es ja und mein Maître ist schon dabei.«

Die drei kleinen Appartements im ersten Stock sind bezugsfertig. Die Einzimmerwohnung am Ende des Flurs haben wir für uns privat eingerichtet. Dort entstand ein Rückzugsort für die Familie, wenn nicht genügend Zeit sein sollte, nach Hause zu fahren. Die anderen beiden Studios sind für die Musiker bestimmt, die an den Wochenenden und Feiertagen gastieren sollen. Während der Monate Juli und August habe ich täglich Live Musik am Abend geplant. Die Räume sind zweckmäßig und trotzdem liebevoll ausgestattet. Mit Doppelbett, zwei Sesseln, einem Couchtisch, Einbauschrank und einer kleiner Küchen Pantry.
   »Die Zimmer sind schöner, als die im Hotel de la Poste«, kommentieren Jean und Carlos das neue Domizil ihrer Musiker Kollegen.
   »Marie, in diesem Jahr gibt es eine kleine Änderung. Du kannst nicht mehr die ganze Woche mit uns rechnen. Carlos und ich möchten nur noch an 5 Tagen arbeiten und zwar zusammen. Bitte teile uns so ein, dass wir gemeinsame Arbeitszeiten haben.« Diese Nachricht verdirbt mir sofort die Laune. Mit Jean, Carlos, dem schüchternem Frank und Freundin Sarah war die Mitarbeiterplanung eigentlich abgeschlossen. Nun tut sich wieder eine neue Baustelle auf.  Ich bin mir sicher, Tobias noch nicht davon erzählen zu wollen. Das brauche ich auch nicht. Mein Mann steht im Türrahmen und hört das Gespräch mit an. Mit hängender Miene ruft er mich zu sich. Ich soll herunter kommen und den ersten Bewerber begrüßen.

Cillian ist Mitte dreißig und kocht bisher in der Großküche im Krankenhaus in Nizza. Das Gespräch wird von mir nach fünf Minuten beendet. Mit einem Kantinenkoch ist mir nicht geholfen. Der Bretone Elouan ist erst Anfang Zwanzig und sein Lebenslauf hat den Umfang der Bibel. Und zwar erstes und zweites Testament. Er hielt es bei keinem Arbeitgeber länger als zwei Wochen aus und ihm wurde überall noch während der Probezeit gekündigt. Der Spanier Juan ist eine Augenweide, erfahren, kreativ und absolut ambitioniert. Aber er spricht weder Deutsch, Französisch noch Englisch.
   »Lerne ganz schnell eine Fremdsprache und komme wieder«, sage ich und verabschiede ihn mit einem lauten Seufzer.
   »Das ist gar nicht nötig«, sagt Tobias. »Dieser Schönling wird nie in deiner Küche kochen!« Ich griene über seine Bemerkung. Murrend verlässt er das Bistro und macht sich auf den Weg, um einen Musikagenten zu treffen, der ihm Demos verschiedener Gruppen und Solokünstler zeigen will.

Meine Wahl fällt auf Arnaud. Der Küchenmeister ist Mitte fünfzig und hat hervorragende Referenzen. Er kochte schon auf der ganzen Welt. Zuletzt in einem kleinen Gourmet Restaurant in Aix en Provence, das kurz vor der Schließung steht. Ich bin mehr als glücklich über seine Bewerbung. Seinem Vorschlag, ein Probe Kochen zu veranstalten, stimme ich sofort zu.
   »Mein Mann feiert übermorgen seinen Geburtstag. Ich habe das Fest hier im Bistro geplant. Unser Beikoch Louis will mir zur Hand gehen. Aber wenn Sie diese Aufgabe übernehmen wollen, dann ist das die perfekte Lösung.« Ich überreiche ihm die letzte Version, meiner Speisekarte und erhalte ein zustimmendes Lächeln.
   »Ausgewogen, lecker und machbar. Allerdings werden wir ohne eine komplette Brigade während der Hauptsaison nicht auskommen. Ohne Sous Chef, Chef de Partie und Commis de Cuisine, fange ich nicht an. Meine Kollegen sind auch auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Wir sind ein eingespieltes Team. Wenn Sie Interesse haben, bringe ich sie morgen mit und Ihr Mann bekommt ein Geburtstagsessen, von dem noch lange Zeit gesprochen wird.« Mir ist es nur lieb. So kann ich die Baustelle »Küche« ad acta legen. Um die Einkäufe will Arnaud sich selber kümmern. Als ich ihm Bargeld geben will, lehnt er ab. Das Telefon klingelt und so verabschieden wir uns auf die Schnelle. Clara sagt, dass Opa Paul und Oma Thea angekommen sind. Tobias Vater und seine Frau sollen das Gästezimmer im Wohnhaus beziehen. Für den Rollstuhlfahrer Paul kommt ein Appartement im ersten Stock nicht in Frage. Ich beeile mich, um die ersten Familienmitglieder zu begrüßen. Den Rest der Bande erwarte ich am nächsten Tag.

 

Im rasanten Tempo fahre ich nach Hause. Clara soll nicht zu lange mit den beiden allein sein. Unser Töchterchen liebt es, peinliche Geschichten zu erzählen. Schon häufig hat sie Tobi und mich mit dem Ausplaudern privater Angelegenheiten in arge Verlegenheit gebracht. Ich begrüße meinen Schwiegervater mit Küsschen auf die Stirn.
   »Schön, dass ihr gekommen seid. Tobi wird auch gleich eintrudeln. Wo steckt Thea?«
   »Sie packt unseren Koffer aus.«
   »Hallo Marie. Darf ich dir die Blumen geben, die im Zimmer stehen. Das sind Primeln und gegen die bin ich allergisch. Mit dem Ausdruck des Bedauerns, nehme ich ihr den kleinen Blumentopf aus der Hand und bitte Clara, die Frühblüher nach draußen auf die Terrasse zu bringen. Erst jetzt sehe ich die Allergikerin genauer an.
   »Mein Gott, Thea. Was ist mit deinem Gesicht passiert. Kommt das etwa von den Blumen? Du siehst ja aus, wie nach einer beidseitigen Wurzelbehandlung.«
   »Nein, Marie, lacht der Mann im Rollstuhl. »Thea hat sich wieder unters Messer begeben. Alles für die Schönheit!«
   »Gehen die Schwellungen noch zurück?«
   »Die Schwellungen, wie du sie nennst, sind gewollt. Ich habe mir die Wangen aufpolstern lassen.« Paul lacht so laut und überschwänglich, dass er droht aus dem Rollstuhl zu fallen. Ich kann ihn gerade noch auffangen. Bei der Gelegenheit erhalte ich meinen obligatorischen Kniff in den Po.
   »Paul, du wirst immer frecher. Doch nicht vor den Augen deiner Frau!«
   »Das passiert mit ihrer ausdrücklichen Erlaubnis. Ich darf in schöne Popos kneifen, solange die Frauen nicht jünger sind als sie.« Ich bin geschockt. Soll das etwa heißen, dass ich älter als Thea bin? Frau Schnibbel-Schnibbel-Botox kann man wirklich schlecht schätzen. Aber sollte sie tatsächlich jünger als ich sein, spricht das nicht für ihren Operateur.
   »Was möchtet ihr trinken? Pils oder Wein?« Mit dieser Aufgabe verziehe ich mich an den Kühlschrank und sehe durch das Fenster, Tobias eintreffen. Nach kurzer Begrüßung kommt er zu mir in die Küche.
   »Wie sieht Thea denn aus?«, frotzelt er.
   »Ja, diese Mischung aus Goldhamsterbäckchen, Katzenaugen und Karpfenmund ist schon sehr speziell.« Die Frage nach ihrem tatsächlichen Alter, kann er mir auch nicht beantworten.

Die Familie hat es sich rund um den Kamin gemütlich gemacht. Weil Thea mit übereinander geschlagenen Beinen steif wie eine Wachspuppe auf dem Sessel sitzt und Paul seinen eigenen Stuhl dabei hat, bleibt die große Sofalandschaft für uns Hausbewohner frei. Clara ruft: »Fußmassage!« Wie zwei Synchronschwimmerinnen strecken wir unsere Füße aus. »Aber ohne Kitzeln.« Ich massiere die kleinen Kinderfüße, während sich Tobias um meine Treter kümmert. Ich erzähle von Arnaud und Tobi berichtet von seinem Treffen mit dem Musikagenten.
   »Verbringt ihr eure Abende immer so gemütlich?«, will Paul wissen. Zufrieden betrachtet er das Bild einer glücklichen Familie.
   »Bisher ja. Wie die Abende künftig aussehen werden, will ich mir lieber nicht vorstellen. Aber Marie hat versprochen, jeden Sonntag frei zu machen.«
   »Das spielt sich alles ein, Paul. Dein Sohn macht schon wieder vorher die Pferde scheu. Nicht kitzeln, hab ich doch gesagt!« Nach Clara gehen auch Paul und Thea schlafen. Endlich kann Tobi mich nach dem neuen Koch befragen.
   »Wie alt ist er? Wo kommt er her? Wie sieht er aus?«
   »Er kommt aus Aix und sieht aus wie Richard Gere.«
   »Wie Richard Gere in Pretty Woman oder so, wie er aktuell aussieht?«
   »Ach, Tobi. Was interessiert mich Richard, wenn ich dich habe.«
 

Timo ist mit dem eigenen Wagen angereist. Mit Christina steht er in der Ankunftshalle am Flughafen Nizza und wartet auf die Maschine aus Hamburg, mit der Sophie und Ellen eintreffen sollen. Die Vier kennen sich nur von Erzählungen. Gesehen haben sie sich noch nie.
   »Du wirst ihn sofort erkennen, Mama. Er sieht aus wie Tobi. Seine Frau Christina leuchtet wie ein Christbaum. Ihr Geschmeide funkelt dir schon auf hundert Meter Entfernung entgegen«, beschreibe ich meinen Schwager und Schwägerin. Sophie nimmt Ellen das Telefon aus der Hand und fordert mich auf, ihr Timos Handynummer zu geben. Sie ist angefressen und wie in letzter Zeit häufiger zu bemerken, gereizt und übellaunig.
   »Ich habe die Winters schon zweimal ausrufen lassen. Wie lange soll ich mir hier noch die Beine in den Bauch stehen? Also, sag an!«
   »0049 170..« Weiter brauche ich nicht anzusagen. Ich kann der lautstarken Begrüßung am anderen Ende der Leitung entnehmen, dass sie sich nun endlich gefunden haben. Eine Stunde später schlagen die Vier im Bistro auf.

 

Ich habe mehrere kleine Tische zu einer Tafel zusammen gestellt und für ein zweites Frühstück eingekauft. Paul beobachtet seinen Sohn dabei, wie er flink mit mir den Tisch deckt. Anerkennend lobt er, dass wir beide ein toll eingespieltes Team sind. Auch Thea bietet ihre Mithilfe an, allerdings erst, als alles erledigt ist. Die ganze Familie ist sich schnell darüber einig, zuerst einen Kaffee zu trinken, bevor die große Führung beginnen soll.
   »Der Kaffee im Flugzeug ist eine Zumutung«, beschwert sich Ellen und erhält geschlossene Zustimmung. »Wenn meine Mädchen und ich morgens keinen richtigen Kaffee bekommen, ist der Tag für uns gelaufen. Heiß muss er sein und stark.« Tobias rettet den Tag seiner Schwiegermutter und auch Sophies Stimmung erhellt sich langsam. Ellen sitzt neben Paul und erhält sofort ein Kompliment von ihm. »Sie haben Ihre guten Gene an Ihre Töchter vererbt. Ich habe noch nie drei so schöne Frauen auf einem Fleck gesehen.«
   »Ihr Erbgut ist auch nicht von schlechten Eltern. Ein Blick in Ihre Augen verrät mir, dass Sie früher auch ein attraktives Exemplar gewesen sein müssen.«
   »Was heißt denn hier früher?« Ich öffne zwei Flaschen Sekt und schlage vor, das alberne »Sie« zu lassen. Die Runde prostet sich gegenseitig zu und nennt sich fortan beim Vornamen. Ellen und Paul unterhalten sich angeregt. Sie haben sofort Gefallen an einander gefunden. Zufrieden betrachten sie ihre Kinder.
  »Ich mag deine Marie. Sie hat das Herz am rechten Fleck und was am Wichtigsten ist, sie macht meinen Tobias unbeschreiblich glücklich.«
   »Die beiden sind verliebt, wie am ersten Tag. Wo steckt eigentlich unser Plappermäulchen. Ist sie noch in der Schule?« Tobias sieht erschrocken auf die Uhr und macht sich sofort auf den Weg, Clara abzuholen.
Ich bringe die Verwandten in die erste Etage und zeige ihnen ihre Ein Zimmer Appartements. Sophie und Ellen teilen sich das Doppelbett. Für zwei Nächte soll es wohl gehen.
   »Sag mal, wie sieht denn deine Schwiegermutter aus. Wie kann man sich so entstellen lassen?«, lacht Sophie. Ich plustere meine Wangen auf, ziehe mir die Augen mit den Zeigefingern in Richtung Schläfe und mache eine Plunschlippe. Sophie kreischt sofort los, als sie meine Grimasse sieht.
   »Das ist nicht lustig, Kinder. Darüber macht man keine Witze. Die arme Frau hatte bestimmt einen schweren Unfall und musste plastisch wieder hergerichtet werden. Sie erinnert mich an Tante Ruth. Ihr kennt doch noch die garstige Schwester eures Vaters. Sie hatte 1967 auch einen schweren Verkehrsunfall. Die Glassplitter der Windschutzscheibe hatten ihr die ganze Visage zerschnitten. Die sah genau so aus.« Ich kann mich kaum noch halten und lasse mich gackernd aufs Bett fallen.
   »Nein, Mama. Thea hatte keinen Unfall. Das hat sie freiwillig machen lassen. Sie ist süchtig nach Schönheitsoperationen. Stellt euch vor, sie soll noch jünger sein als ich.«
   »Dann sollte sie den Chirurgen verklagen!«, sagt Ellen. Mutter und Töchter lachen so laut, dass Christina und Timo aus dem Nachbarzimmer herüber schauen. Ob es um Thea geht, will Timo wissen und ich nicke.

Im Erdgeschoss herrscht buntes Treiben. Arnaud bringt mit seinen Helfern kartonweise Lebensmittel in die Küche. Erstaunt nehmen Clara und Tobias die Fremden wahr. Ich stelle den neuen Maître vor. Bis auf die grauen Haare, kann Tobias keine Ähnlichkeit mit Richard Gere entdecken und gibt dem Mann, der für das leibliche Wohl seiner Gäste sorgen will, freundlich die Hand.
   »Darf ich Sie mit meinem Sous Chef bekannt machen? Das ist Florence.« Der Sous Chef ist eine Sous Chefin und wie sich wenig später herausstellt, die Nichte des Maîtres. Arnaud lobt ihr Können auf jedem Posten, allerdings als Patissière, soll sie unschlagbar sein. Ihre Desserts preist er als »legendär« an. Ich begleite ihn in die Küche und lausche seinen Vorschlägen.
  »Wir werden heute Mittag von Arnaud nach Strich und Faden verwöhnt. Er kocht uns wunderbare Gerichte zum Vorkosten. Fischsuppe mit Rouille, Jakobsmuscheln und Steinpilz Ravioli mit Trüffel-Buttersauce, Doradenfilet auf Ratatouille, Lamm-Filet an Rosmarinjus, Kaninchenkeule mit einer Senfkräuterkruste und Mais-Poularden an Morchel-Sauce. Also lauft nicht zu weit weg. In zwei Stunden gibt es Essen.« Christina schlägt vor, einen Spaziergang zu machen. Bis auf Ellen folgen ihr alle Besucher.
  »Was hältst du von ihrem neuen Küchenchef. Findest du auch, dass er Ähnlichkeit mit Richard Gere hat? Marie steht auf graue Haare bei Männern. Kann der Kerl mir gefährlich werden?« Ellen lacht.
  »Der ist nicht grau, sondern friedhofsblond! Du bist nach fast zehn Jahren immer noch eifersüchtig. Entzückend! Dabei weißt du, dass andere Männer bei Marie keine Chance haben. Aber die Ähnlichkeit mit Richard Gere ist nicht zu leugnen.« Tobias rückt seinen Stuhl, um freien Blick in die Küche zu haben. Er beobachtet mich dabei, wie ich dem Koch bei der Arbeit begeistert über die Schulter sehe. Wenn Arnaud, mir einen Löffel zum Kosten herüberreicht und ich genussvoll die Augen schließe, verzieht Tobias das Gesicht.
   »Hm, wunderbar. Das ist einfach göttlich, Arnaud.« Das ist zu viel Lob für seinen Geschmack und er dreht sich wieder um. Meine überschwängliche Begeisterung macht ihn wütend.
   »Nun sieh dir an, wie ungeniert sie mit ihm flirtet«, schimpft er.
   »Mach dich nicht lächerlich. Marie ist nur freundlich. Du kennst doch ihren Enthusiasmus, wenn es ums Kochen geht. War das nicht einer der Gründe, weshalb du dich in sie verliebt hast?« Ellen hat ins Schwarze getroffen und Tobias muss ihr zustimmen.

Die Familie lobt die feinen Gerichte in höchsten Tönen. Nur Clara und Tobias sind der Ansicht, dass mein Boeuf Dijon um Klassen besser schmeckt. Diese Bemerkung im Beisein des neuen Maîtres ist mir äußerst unangenehm. Aber er nimmt es nicht als Majestätsbeleidigung auf, sondern fragt interessiert nach.
   »Ich nenne es Boeuf Dijon. Ein Rinderfilet mit einer Estragon Senfsoße. Mein Geheimnis ist ein Tropfen Lavendelhonig an der Soße.« Ich verspreche, ihn kosten zu lassen, wenn ich es das nächste Mal zubereite. Die Dessert Variationen von Florence überzeugen auch die beiden letzten Kritiker am Tisch. Timo rühmt das Zitronen Mousse mit Orangensalat, als das Beste, das er je gegessen hat. Seine flammenden Blicke an die Meisterin lassen jedoch den Verdacht zu, dass seine Komplimente eher ihr persönlich gelten, als ihren hervorragenden Kreationen. Florence ist eine attraktive Erscheinung. Mit ihrer üppigen Ausstattung stellt sie eher den Typ »Naturschönheit« dar. Ihr makelloser Teint braucht kein Make Up. Ihre schwarzen Naturlocken kommen ohne Haarspray aus. Sie ist das absolute Gegenteil von Christina, der die schmachtenden Blicke ihres Mannes nicht entgehen. Aber Christina ist eine Dame und ignoriert seine Balzerei so lange, bis sich die Gesellschaft von den Stühlen erhebt und sie allein mit ihm ist.
   »Letzte Verwarnung, Timo Winter. Lass deine Gafferei, sonst reise ich sofort ab.« Sie beschwert sich bei mir darüber, dass Timo seit seinem Rückzug aus dem Geschäft, ständig jüngeren Frauen hinterher schielt. Dass er das macht, stört Christina grundsätzlich nicht. Aber sie besteht darauf, dass er es in ihrem Beisein unterlässt.
   »Das ist demütigend und beschämend. Nach über fünfundzwanzig Jahren habe ich mehr Respekt verdient.« Ich stimme ihr zu.

Arnaud und Florence unterschreiben ihren Vertrag und versprechen, am nächsten Tag den Küchendienst zu übernehmen. Ich werde hektisch. Tobias soll endlich aus dem Bistro verschwinden, damit meine geplante Überraschung nicht platzt. Leise flüstere ich Paul ins Ohr, er soll den Wunsch äußern, ins Haus gebracht zu werden. Er ist in meine Pläne eingeweiht und reagiert sofort. Als die Luft endlich rein ist, telefoniere ich kurz und gebe das Startzeichen für die Operation Geburtstagsüberraschung. Timo parkt seinen Wagen direkt vor dem Eingang und holt eine lange Rolle aus seinem Kofferraum. Es ist mir gelungen, Tobias erstes Kunstwerk, das er unter dem Namen Mató gefertigt hat , aufzuspüren. Die Collage, die er vor Jahren unter dem Motto »Legenden« angefertigt hatte, trägt Konterfeis berühmter Soul, Jazz und Rockgrößen. Timo kaufte das Werk einer Galerie in New York ab. Nun soll es den Gastraum des neuen Bistros schmücken. Ich warte auf das Eintreffen von Benjamin. Der befreundete Saxophonist versprach, sich um den Aufbau der Bühne zu kümmern und erklärte sich bereit, für das Geburtstagskind mit weiteren Künstlern zu musizieren. Das Klavier, das ich zuvor mit ihm ausgesucht und gekauft habe, wird pünktlich angeliefert und gestimmt. Ich bin voller Hochspannung. Tobias rechnet mit einer kleinen Feier im Familienkreis. Ich habe eine Big Party geplant, zu der alle Freunde eingeladen wurden.
   »Wenn du noch einmal von einem Vierundvierzigjährigen geküsst werden willst, dann komm schnell her zu mir. Gleich ist es Mitternacht«, lockt er mich ins Bett.
   »Morgen sind wir beide zusammen einhundert Jahre alt«, lache ich.
   »Deine Mutter hat angeboten, sich während der Startphase um Clara zu kümmern. Hat sie es dir schon erzählt?« Ich verziehe das Gesicht. Mir ist die enge Vertrautheit zwischen den beiden suspekt. Ellen hat mir bisher nie privat unter die Arme gegriffen. Sie zeigte weder Interesse an Frederik, noch an meinen vier Enkeln. Jetzt im hohen Alter von über 80 bietet sie ihre Hilfe wie Sauerbier an. Tobias findet die Idee fabelhaft. Nur deshalb stimme ich zu.

Als wir gegen 18.00 Uhr vorfahren, ist das Lokal bereits gefüllt. Sarah und Claire haben sich um den Einlass der heimlichen Gäste gekümmert und Benjamin spielt zum Eintreffen des Geburtstagskindes laut auf. Die Überraschung ist rundum gelungen. Gerührt nimmt er die Glückwünsche und zahlreiche Geschenke entgegen. Als er das Klavier bestaunt, fliegen seine Finger flink über die Tasten. Mit dieser kurzen Musikeinlage geben sich die Anwesenden nicht zufrieden. Nach lautstarker Aufforderung setzt er sich ans Piano und musiziert mit Benjamin. Kurz darauf gesellt sich auch Valerie dazu. Sie gehört seit kurzem fest zu Benjamins Ensemble. Die im Ort bekannte Sängerin, macht das Trio komplett. Als das Lokal noch Restaurant René hieß, war sie solo unterwegs. Schon damals hat die junge Blondine ein Auge auf Tobias geworfen. In brünstig singt sie von unerfüllter Liebe und rückt immer näher an den Pianistin heran. Valerie kann jeden Mann haben. Jeder der Anwesenden hätte sich glücklich geschätzt, von der Mittdreißigerin so angesehen zu werden. Aber sie will Tobias. Das ist nicht zu übersehen.
   »Schau nur, wie schamlos diese ordinäre Singdohle deinen Mann anschmachtet. Was sagst du dazu?«
   »Dass sie einen ausgesprochen guten Geschmack hat, Mama, was soll ich sonst sagen?« Ich verlasse den Gastraum und gehe in die Küche, wo Arnaud mit der Zubereitung der Muscheln Provencal beschäftig ist. Mit Sarah, Claire und Sophie bringe ich die Portionen an die Tische. Als Letzte setze ich mich an den Familientisch und höre mit Erstaunen, was während meiner Abwesenheit besprochen und beschlossen wurde.
   »Selbstverständlich helfen wir euch. Wozu ist Familie denn da!«
   »Von Gastronomie habe ich keine Ahnung. Aber im SPA kannst du mich einsetzen. Da kenne ich mich aus«, lautet der Vorschlag von Sophie.
   »Und Christina und ich übernehmen täglich eine Schicht im Bistro. Ob morgens oder abends ist uns gleich«, bietet Timo an. Ich traue meinen Ohren nicht. Entsetzt schaue ich meinen Mann an. Aber angesichts seiner Begeisterung über diese Angebote, kann ich mir seiner Unterstützung nicht sicher sein.
   »Ich kann dir nur damit helfen, in dem wir schnellstens wieder abreisen. Thea und ich sind nur eine Belastung für dich.«
   »Dann ziehe ich morgen gleich ins Gästezimmer. Was meinst du Clara, wir beide werden viel Spaß mit einander haben«, sagt Ellen. Ich gehe in die Küche und schenke mir einen doppelten Cognac ein. Anders ist diese Nachricht nicht zu verdauen.
   »Das ist nicht der edelste Tropfen, aber zum Flambieren der Beste. War etwas mit dem Essen nicht in Ordnung oder warum schauen Sie so böse?«
   »Arnaud, das Essen war perfekt. Kommen Sie, lassen Sie uns Brüderschaft trinken. Ich heiße Marie und ich brauche hier dringend einen Verbündeten, der nicht mit mir verwandt oder verschwägert ist.« Timo kommt mit einem Tablett schmutzigen Geschirr in die Küche und hält Ausschau nach Florence. Sie steht in der Abwaschzone und räumt saubere Teller aus dem Geschirrspüler.
   »Ich helfe Ihnen. Wohin damit?« Florence deutet auf ein offenes Regal aus Edelstahl. Der eifrige Timo nimmt ihr den Stapel Teller aus der Hand und lässt ihn Sekunden später fallen.
   »Die sind ja kochendheiß!«, entschuldigt er sich. Ich hole Besen und Schaufel und bitte ihn, zurück zur Feier zu gehen. Das laute Scheppern ruft Christina auf den Plan.
   »Ich glaube, ich spinne! Seit Jahren weigerst du dich, in der Küche einen Handschlag zu rühren und hier willst du freiwillig beim Abwasch helfen?« Sie nimmt sich ein frisches Geschirrhandtuch und hilft dabei, die Gläser zu polieren. Jedes zweite Glas zerbricht unter ihren Händen. Nach nur fünf Minuten haben die Winters einen Schaden von rund zweihundert Euro verursacht.
   »Es geht doch nichts über Fachpersonal«, stöhne ich und bringe auch die Glasscherben in den Müll. Im Gastraum machen sich Jean und Carlos mit der neuen SPA Leitung Sophie bekannt. Ich wundere mich. Obwohl meine Schwester passabel Französisch sprechen kann, fordert sie die beiden Masseure auf Englisch heraus.  
   »Warum bietest du keine medizinischen Massagen nach Dorn und Breuss an?  Du nutzt das Potential deiner Mitarbeiter nicht richtig aus. Die Behandlungszeiten werde ich auf 45 Minuten reduzieren, damit erhalten wir eine bessere Auslastung. Die Preise passe ich gleich morgen an. Mach dir keinen Kopf, ich manage das schon.« Ich schlucke. Am liebsten wäre ich meiner Schwester an die Gurgel gegangen. Aber es ist der Geburtstag meines Liebsten und ich nehme mir fest vor, nicht auszurasten. Ellen winkt aufgeregt. Ich soll mich zu ihr setzen. Aber ein Funken Weisheit, den ich mir in meinem fünfundfünfzigjährigen Leben angeeignet habe, rät mir, nicht zu gehen. Ratschläge und Änderungsvorschläge meiner Mutter kann ich jetzt unmöglich auch noch ertragen. Die Musiker machen eine Pause. Während Benjamin sich auf eine Zigarette nach draußen begibt, legt Tobias eine CD ein. Valerie fängt ihn sofort ab und bittet darum, mit ihm zu tanzen. Wie eine Katze schmiegt sie sich an ihn um legt ihre langen, dünnen Arme um seinen Hals.
   »Vielleicht später, Valerie. Zuerst tanze ich mit meiner Frau«, sagt er und macht sich auf die Suche nach mir. Ich habe mich zu dem Raucher auf den Bürgersteig gesellt.
   »Gib mir rasch einen Zug ab.« Eine ganze Zigarette lehne ich ab. Ich habe Mann und Kind fest versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören. Ganz habe ich es noch nicht geschafft. Ein bis zwei Mal täglich werde ich noch rückfällig. An diesem Abend hätte ich gerne Kette geraucht. Tobias erwischt mich dabei, wie ich gerade einen tiefen Zug nehme und er schüttelt den Kopf. Aber angesichts der vielen Mühe, die ich mir mit dem Fest gegeben habe, will er mir nicht böse sein. Er umarmt mich von hinten und küsst meinen Nacken. »Danke für die schöne Feier, mein Schatz. Sag, ist es nicht wundervoll, dass uns die Familie unterstützen wird?«
   »Ja, ganz toll«, lüge ich. Valerie lungert vor der Herrentoilette und wartet darauf, dass Tobias zurück kommt. Den Rücken an die Wand gelehnt, bringt sie ihren Körper in Position. Mit einer Hand zieht sie ihren Rock höher. Mit der anderen Hand ergreift sie seinen Arm und zieht ihn zu sich. »Ich will mit dir Geburtstag feiern. Komm her zu mir und nimm mich. Ich verspreche dir, es wird der Wahnsinn.«
   »Valerie, ich stehe nicht auf billigen Sex. Wenn ich den Wahnsinn erleben will, dann schlafe ich mit meiner Frau. Hör endlich auf damit und begreife endlich!«

Das Magazin und die Kühlräume sind gefüllt. Die Bestecke geputzt und alle Tische sind sauber eingedeckt. Arnaud kocht für den Eröffnungstag ein Tagesgericht mit frischen Flusskrebsen. Timo und Christina können nun die Kaffemaschine und den Bierzapfhahn eigenständig bedienen. Die Eröffnung ist ohne großes Bimbam geplant. Die befreundeten Geschäftsleute aus der Nachbarschaft erhalten einen Gratis Kaffee und eine persönliche Begrüßung der neuen Patronin. Mehr soll es nicht geben. Sarah überbringt mir einen großen Blumenstrauß.
   »Der ist von René. Ich soll dir liebe Grüße bestellen. Er hat ihn eben bei mir abgegeben. Selbst zu kommen, hat er sich nicht getraut.« Ich laufe sofort auf die Straße, aber ich kann ihn nicht mehr entdecken.
   »Dieser feige Hund«, schimpfe ich. Ich kann ihm immer noch nicht verzeihen, dass er den Laden aufgab und sich ohne ein Wort des Abschieds aus dem Staub machte.
   »Geht es ihm gut? Wie sieht er aus? Weißt du, wo er jetzt wohnt?« Sarah hat keine Antworten auf meine Fragen. Nachdem ich den Strauß vergeblich nach einer Karte abgesucht habe, stelle ich die Blumen ins Wasser und platziere die Vase auf dem Tresen. Jedes Mal, wenn ich an dem Blumenarrangement vorbei gehe, seufze ich leise.
   »Er hat sie über die Maßen enttäuscht«, erklärt Sarah dem ungläubig schauenden Timo. »Die beiden verband eine innige Freundschaft.« Ich mache meine Runde auf der Außenterrasse und komme mit einer Hand voll Bestellungen zurück und rufe Carlos aus dem SPA zu mir herüber.
   »Wir müssen in der Anfangszeit ein wenig improvisieren. Wenn du keine Anwendungen hast, dann unterstütze mich bitte hier im Bistro.« Der Physiotherapeut stimmt ohne Murren zu. Anders als Louis, der ehemalige Beikoch. Er beschwert sich lautstark bei mir darüber, dass ihn der neue Maître nur zu niederen Arbeiten einteilt.
   »Ich bin Koch und kein Abwäscher«, schimpft er aufgebracht.
   »Du bist ein wichtiges Mitglied in unserem Team. Wenn Arnaud meint, er braucht dich am Spüler, dann wird er seine Gründe haben. Kopf hoch, Louis, es spielt sich bald alles ein.« Während ich noch immer den tobenden Ex Beikoch beruhige, klingelt mein Handy. Ellen bittet darum, abgeholt zu werden. Sie weigert sich, meinen Wagen zu fahren. Mit der Schaltung meiner Oldtimer Ente will sie sich im hohen Alter nicht mehr anfreunden.
   »Wenn ich euch unterstützen soll, dann brauche ich ein Auto mit Automatik. Fahre mit mir zu einer Autovermietung. Die Kosten übernehme ich. Du brauchst ja nicht selber zu kommen. Schicke mir Christina rauf. Ich warte vor dem Haus.« Das war keine Frage. Das war eine für Ellen typische Anordnung. Ich suche nach meiner Schwägerin, aber ohne Erfolg. Sie lässt sich bei Claire die Haare blondieren und fällt mindestens noch für eine Stunde aus. Ich bitte Timo, den Fahrdienst zu übernehmen. Ungern unterbricht er seinen Balztanz, den er vor Florence aufführt. Aber er fährt los. Eine Stunde später kommt Ellen zurück. Sie lenkt einen Mercedes E Klasse und findet keinen Parkplatz für den Kombi. Sie parkt in zweiter Reihe mitten auf der Straße und verursacht ein lautes Hupkonzert.
   »Warum hast du dir einen so großen Wagen ausgesucht? Du weißt doch, dass du nicht einparken kannst.« Ungläubig fasse ich mir an die Stirn.
   »Automatikgetriebe gibt es hier erst ab der Premiumklasse. Nächste Woche tausche ich den Wagen gegen eine Limousine. Damit habe ich kein Problem.« Hoffentlich, wünsche ich mir, während ich über eine halbe Stunde nach einer großen Parklücke suche. Nach meiner Rückkehr ist die Terrasse voll besetzt und die ersten Gäste essen im Innenraum zu Mittag. Christina, sitzt noch immer unter der Trockenhaube und Carlos ist allein im Service. Er nimmt an allen Tischen die Bestellungen auf und bringt die Bons zum Maître. Allerdings fehlt ihm die Zeit, die fertigen Gerichte aus der Küche abzuholen. Die Tellergerichte stauen sich am Pass und Arnaud, schimpft laut.
   »Die Bouillabaisse ist bereits kalt. Die könnt ihr nicht mehr servieren.« Ich schnaube und brauche eine halbe Stunde, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Verärgerte Gäste sind das Letzte, was ich am Eröffnungstag gebrauchen kann. Trotzdem rufe ich nicht nach Tobi. Ich will meinem Mann nicht schon am ersten Tag zeigen, dass er mit seiner Vermutung richtig liegt.
   »Das spielt sich bald alles ein«, sage ich zu mir und gebe den wartenden Gästen einen aus.

Das Mittagsgeschäft ist überstanden. Ich bitte Florence, die Kuchen Variationen auf die schwarze Schiefertafel zu schreiben. Die ersten Gäste, die die leckere Tarte bestellen sind der Bäcker Rosier und Monsieur Lamard, der Inhaber der Confisserie im Ort. Sie loben den Kuchen, doch es ist ihnen anzusehen, dass es ihnen missfällt, dass nun das Gebäck in Eigenregie angefertigt wird. Bisher haben Sie das Restaurant René mit frischer Ware beliefert. Valerie winkt mir von der gegenüberliegenden Straßenseite zu. Mit ihren Highheels stöckelt sie über den stark befahrenen Asphalt. Für 16 Grad Außentemperatur ist sie recht dünn bekleidet. Sie trägt ein eng anliegendes Chiffonkleid mit Spagettiträgern und verzichtet auf einen BH. Ihre harten Nippel zeigen jedem Betrachter, wo bei ihr vorne ist.
   »Ist Tobi gar nicht da?«
   »Er wird bald kommen. Benjamin und er besorgen noch einen Verstärker für die Anlage. Komm, setz dich und trinke einen Kaffee.« Ellen mustert die Sängerin und ihr Blick macht kein Hehl daraus, was sie von ihr hält.
   »Die sieht ja aus wie eine Straßennutte.«
   »Ja, vulgär«, stimmt Christina ihr zu. Sie ist nach drei Stunden vom Friseur zurück. Das frische Goldblond passt nun wieder exakt zum Ton ihres üppigen Geschmeides. Der Christbaum hat sich wieder auf Hochglanz polieren lassen. Sie lässt sich und Ellen von ihrem Mann Kaffee bringen. Zu dritt genießen sie die ersten Strahlen der Märzsonne im Freien.
   »Na, du hast ja fleißige Helfer«, sagt Arnaud, der sich für eine kurze Pause nach draußen setzt. Ich lächele ihm zu.
   »Das spielt sich bald ein!«
   »Hast du die Tagesuppe probiert?« Ich verneine. Bisher hatte ich noch nicht einmal Zeit, einen Kaffee zu trinken, geschweige denn zu essen. Arnaud erhebt sich vom Stuhl und kehrt kurz darauf mit einer heißen Suppe zurück.
   »Aufessen! Du brauchst Kraft für diesen Wahnsinn!« Ich koste mit geschlossenen Augen. Der Augenaufschlag, den ich meinem Maître schenke, hätte meinen Mann sofort zur Verzweiflung gebracht.
   »Ein Gedicht, Arnaud. Du bist genial.«
   »Eine heiße Suppe wäre jetzt für mich genau das Richtige«, mischt Valerie sich ein.
   »Tut mir leid, Madame. Die Tagessuppe ist aus. Die letzte Portion habe ich für meine schöne Arbeitgeberin aufgehoben«, lacht Arnaud und beendet seine Pause.
   »Habe ich da Funken fliegen sehen?«, fragt Ellen.
   »Ach Mama, du nicht auch noch!«
   »Was sagst du, Christina. Sieht der Koch nicht aus wie Richard Gere?« Auch sie kann ihm eine gewisse Ähnlichkeit nicht absprechen.

Der schüchterne Frank begrüßt mich mit einer Umarmung. Ich stelle meiner Schwester den dritten Masseur vor.
   »Der spricht ja kaum Deutsch. Das kann ja heiter werden.«
   »Schwesterchen, wir sind hier in Frankreich. Da ist es nicht ungewöhnlich, dass die Menschen ihre Landessprache sprechen. Was soll dein Getue? Warum weigerst du dich Französisch zu sprechen? Ich weiß, dass du es kannst.« Sophie zieht ein Gesicht. Sie ist noch immer beleidigt, weil ich ihre Optimierungspläne abgelehnt habe. Um als schnöde Hilfskraft zu agieren, ist sie nicht geblieben. Sie hat gute Ideen, wie man mir unter die Arme greifen kann. Manchmal muss man mich zu meinem Glück zwingen. Genau das, hat Sophie auch vor.

»Tobi, kannst du mir nachher den Wagen noch umdrehen. Ich kann den Mercedes unmöglich rückwärts die Auffahrt runter fahren. Ich war schon beim Bäcker. Gleich gibt es Frühstück. Ihr könnt noch zehn Minuten liegen bleiben. Danach fahre ich Clara zur Schule.« Ellen hat ohne Anzuklopfen das Schlafzimmer betreten und weckt uns um 6.30 Uhr. Ich habe genau vier Stunden geschlafen und bin hundemüde. Mit der Aussicht auf einen starken Kaffee steige ich aus dem Bett. Ich nehme meinen Morgenmantel und schleppe mich in die Küche. Mein Blick fällt auf den Hund Balou, der Unmengen Trockenfutter in sich hinein schlingt.
   »Wie viel Futter hast du ihm gegeben?«
   »Das ganze Napf voll.« Sofort ziehe ich dem Hunde das Fressen unter der Nase weg.
   »Willst du das arme Tier umbringen? Er darf maximal eine Tasse davon. Das Futter quillt in seinem Magen noch auf und das Volumen verdoppelt sich. Es ist lieb gemeint, Mama, aber künftig füttere ich den Hund selber.« Den zweiten Schock erleide ich, als ich zum Tisch gehe, um Clara einen Morgenkuss zu geben. Sie verspeist gerade eine Brioche mit Nussnougatcreme und trinkt dazu eine Coca Cola.
   »Was geht denn hier ab? Clara, du solltest es besser wissen. Es ist nicht nett, Omas Unwissenheit so auszunutzen. Nussnougatcreme ist hier tabu! Sie bekommt zum Frühstück eine Scheibe Vollkorntoast, Obst und ein Glas Milch. Das war so und das bleibt so. Es hat mich viel Mühe gekostet, diese Regel einzuführen. Du brauchst auch morgens nicht zum Bäcker zu fahren. Croissants und Brioche gibt es bei uns nur sonntags.« Tobias steht unter der Dusche und bekommt von meiner frühmorgendlichen Aufregung nichts mit. Er setzt sich in Boxershorts und Shirt an den gedeckten Tisch und freut sich über die reichliche Auswahl an buttrigen Gebäckwaren.
   »Lecker, dein Frühstück, Ellen. Du verwöhnst uns ja richtig.« Ja, genau. Bevor du hier aufgeschlagen bist, gab es für meine Familie nur Wasser und trocken Brot, denke ich und werfe meinem Mann einen bösen Blick zu.
   »Marie, dann fahre du mir doch den Wagen runter. Ich will Tobi jetzt nicht bemühen. Er soll in Ruhe frühstücken.« Ich greife nach den Autoschlüsseln und rangiere den Mercedes in Fahrtrichtung.
   »Mama, du kennst den Weg zur Schule? Wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Dann fahren wir heute noch einmal zusammen.«
   »Glaubst du, ich bin verkalkt? Behandle mich nicht so. Es reicht, dass ich mir das dumme Geschwätz von Sophie anhören muss.« Oma und Enkelin machen sich auf den Weg und ich atme tief durch. Ein zweiter Kaffee und eine heiße Dusche bringen mich wieder auf Trab.
   »Du musst schon los? Ich hatte gehofft, wie könnten die Zeit zum Kuscheln nutzen, wenn Ellen jetzt weg ist.«
   »Ich lasse die Jungs mit dem Frühstücksgeschäft nicht allein. Nicht böse sein. Das spielt sich ganz bald ein.« Tobias verspricht, rasch nachzukommen und erhält einen langen Kuss zum Abschied.

Louis wurde vom Maître während der Frühschicht vom Abwäscher zum Frühstückskoch befördert. Sarah bedient die Kaffeemaschine. Timo und Christina schlafen noch fest. Ich komme gerade rechtzeitig. Ich serviere gerade zwei petit déjeuner auf der Terrasse, als ich glaube, an Wahnvorstellungen zu leiden. Ich blicke in die Augen meines Exmannes Steffen, der mit zwei großen Koffern in der Hand vor mir steht. Er begrüßt mich mit Küsschen auf die Wange und strahlt über das ganze Gesicht.
   »Was zum Geier machst du denn hier?« Ungläubig schaue ich ihn immer wieder von oben bis unten an.
   »Sophie sagt, du brauchst meine Unterstützung im SPA. Dir fehlt ein Masseur. Hier bin ich.« Ich stelle mein Tablett ab und stampfe die Treppe zum Appartement Nummer eins herauf. Mit der geballten Faust trommel ich wild an die Tür und schreie: »Mach sofort die Tür auf, du blöde Kuh!« Es dauert einen Moment bis Sophie gehorcht. Sofort brülle ich weiter.
   »Hast du den Verstand verloren? Wie kommst du dazu, Steffen herzubitten. Ist das Chaos denn noch nicht groß genug?«
   »Wenn ich dich unterstützen soll, brauche ich jemanden im SPA, der mich versteht. Mit Frank klappt es einfach nicht. Er weigert sich, Englisch mit mir zu sprechen. Nun sei doch nicht so undankbar und freue dich lieber, dass wir dir alle helfen wollen.«
   »Das wirst du Tobias erklären! Du ganz allein!« Ich schnaube vor Wut und bin fassungslos. Sophie begrüßt Steffen und trägt sein Gepäck in den ersten Stock. Er zieht zu ihr ins Appartement. Für die kurze Zeit soll es wohl gehen. Schließlich sind sie keine Fremden. Sie kennen sich seit siebenunddreißig Jahren. Der Stammtisch, der früher für die Residenten reserviert war, wird nun von der Großfamilie belagert. Ellen, Timo und Christina trinken gemütlich ihren Kaffee und schauen den Kellnern bei der Arbeit zu, als Sophie und Steffen dazu stoßen. Als Ellen ihren Ex Schwiegersohn erkennt, bricht es aus ihr heraus.
   »Was hast du denn hier verloren? Wird man dich denn nie los? Du klebst ja wie Pattex an uns.«
   »Dein Benehmen ist ungeheuerlich, Mama. Steffen ist hier, um Marie zu helfen. Also schlage einen anderen Ton an!«, schimpft Sophie.

Arnaud und Florence kommen vom Großmarkt zurück. Timo geht der schönen Sous Chefin beim Ausladen zur Hand und der Maître zeigt mir die frischen Edelfische, die er gerade erstanden hat.
   »Heute nehmen wir Loup de Mer auf die Tageskarte. Bist du einverstanden?« Ich nicke. Mir ist der Appetit gründlich vergangen. Meine Helfer steigen von Kaffee auf Wein um und unterhalten sich angeregt. Sarah beobachtet das Schauspiel vom Tresen aus und amüsiert sich über mich.
   »Mach mal ein freundliches Gastgebergesicht. Mit dieser Miene verschreckst du ja die Gäste«.
   »Ja, stimmt. Besonders freundlich schaust du heute nicht. Komm mit mir in die Küche. Ich habe etwas für dich vorbereitet, das deine Stimmung heben wird.« Ich folge Arnaud. Mit einem Satz springe ich auf den stabilen Edelstahltisch und lasse mich mit geschlossenen Augen füttern.
   »Hm, Champagner Trüffelschaum«, rufe ich entzückt. »Ganz exzellent!« Als ich die Augen wieder öffne, steht Tobias vor mir. Er braucht nichts zu sagen. Ich folge ihm sofort.
   »Das ist ganz allein auf Sophies Mist gewachsen. Ich habe ihn nicht gebeten zu kommen. Er stand mit zwei Koffern vor mir. Ich war selbst überrascht. Jetzt teilt er sich das Appartement mit meiner Schwester.«
   »Wovon sprichst du?«
   »Na, von Steffen. Was hast du denn gemeint?« Tobias kommt nicht mehr dazu, mir zu sagen, was er meinte. Clara stürmt auf mich zu und berichtet, dass sie am Morgen das erste Mal zu spät zum Unterricht gekommen ist. Die Lehrerin hat sehr mit ihr geschimpft. Dabei hat Oma die ganze Schuld. Sie hat sich verfahren. Ich soll eine schriftliche Entschuldigung schreiben, sonst gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch. Clara ist völlig aufgelöst. Ich bin stink sauer.
  »Jetzt reicht es mir!« Ich bin im Begriff auf die Terrasse zu stürmen und meiner angestauten Wut freien Lauf zu lassen. Aber Tobias hält mich zurück. Timo bestellt beim Kellner eine weitere Karaffe Wein und erkundigt sich, ab wann man zu Mittag essen kann. Ich drehe mich auf dem Absatz um und gehe in die Küche.
   »Pack mir bitte drei Portionen Plat du jour ein. Ich nehme sie mit und koche zu Hause selbst für uns. Ich muss hier schnellstens raus, sonst passiert noch ein Unglück.«

 

Wir fahren mit getrennten Wagen nach Hause. Als ich die Haustür aufschließe, quiekt Hund Balou vor Freude. Er hat bereits in die Diele gepinkelt. Ich mache sauber, räume den Frühstückstisch ab und bereite das Mittagessen. Danach schreibe ich eine Entschuldigung für Clara und schicke sie mit dem Hund hinaus in den Garten. Als Tobias mich in den Arm nimmt, fließen die ersten Tränen.
   »Das ist ein Albtraum, Schatz. Deine Helfer bringen mich um den Verstand.«
   »Dir fehlt nur Schlaf. Deshalb bist du so gereizt. Leg dich zwei Stunden aufs Ohr. Ich wecke dich später. Heute Abend begleite ich dich und dann nehme ich mir Sophie zur Brust.« Ich bin gerade eingenickt, als das Telefon klingelt. Ellen will wissen, wo ich den Wagen geparkt habe. Das ist das Ende meiner Siesta.

Mit den Worten, keine Cola, Clara geht spätestens um acht Uhr ins Bett und der Hund muss alle drei Stunden zum Pieseln raus, verabschieden Tobias und ich uns. Das Abendgeschäft ist bereits angelaufen und das Mató ist fast Familien frei. Nur Timo sitzt in der Küche und schaut Florence beim Teigkneten zu.
   »Sophie und Steffen sind auf ihrem Zimmer und Christina schläft auch schon. Sag mal, Tobi, würdest du mir morgen dein Boot für eine kurze Tour ausleihen. Zwei, maximal drei Stunden. Aber sage nichts zu meiner Frau. Ich brauch mal ein paar Stunden Ruhe vor ihr.« Tobias stimmt zu. Ich habe genug gehört, denn ich ahne schon, was mein Schwager vorhat und strafe ihn mit bösen Blicken.
   »Der sticht morgen mit Florence in See. Sie hat ihren freien Tag. Wetten? Und du unterstützt das auch noch. Statt ihm ins Gewissen zu reden.« Arnaud mischt sich ein.
   »Die beiden sind erwachsen. Da kannst du nichts machen.«

Ich habe meine Wette gewonnen. Gegen zehn Uhr bricht Timo mit Florence auf. Christina kommt kurz darauf runter und trinkt einen Kaffee an der Bar.
   »Nein, Marie, ich wollte nicht mit. Steffen hat mir eine Massage versprochen. Die ziehe ich der starken Brandung eindeutig vor.« Ungläubig schaue ich ihr nach.
   »Meine Helfer machen hier fetten Wellness und Erlebnis Urlaub auf meine Kosten. Lange sehe ich mir das nicht mehr an«, schimpfe ich. Arnaud lacht und hält mir ein Bouquet mit frischen Salbeiblättern unter die Nase.
   »Tief einatmen. Das beruhigt. Heute gibt es Entenleber in Salbeibutter. Bist du einverstanden?«
   »Ganz wunderbar!« Tobias betritt die Küche und ruft:
   »Ellen steht auf dem Parkplatz vor dem großem Supermarkt und kann ihren Wagen nicht wiederfinden. Wer hat Zeit, ihr bei der Suche zu helfen?« Ich verziehe das Gesicht. Mit einem lauten Stöhnen greife ich mir die Wagenschlüssel und fahre mit der Ente los. Meine Wut weicht, als ich meine Mutter weinend vor dem Haupteingang stehen sehe. Sie hat ein Vollkorntoastbrot unter dem Arm und ich schäme mich für meine bösen Gedanken.
   »Das ist mir auch schon oft passiert«, schwindel ich und nehme Ellen erst einmal in den Arm. »Komm Mama, steig ein. Wir fahren den Parkplatz ab. Zusammen werden wir den Wagen schon finden.« Ellen sieht sich außer Stande, in ihrem aufgewühlten Zustand den Mercedes zu lenken. Ich notiere den Standplatz und fahre ohne Kombi mit ihr zurück. Nach unserer Ankunft übertrage ich Sophie und Steffen, die Aufgabe, den Leihwagen zu holen.
   »Ich finde es unverantwortlich, dass du Mama noch Auto fahren lässt. Merkst du nicht, wie sie abgebaut hat?« Ich nehme mir den Vorwurf zu Herzen und stimme meiner Schwester zu.
   »Lass mich mit Sophie fahren. Ich muss ohnehin Clara von der Schule abholen«, sagt Tobias. Erst jetzt erblickt er Steffen. Wenig erfreut begrüßt er meinen Exmann.
   »Na, bist du wieder gekommen, um Marie deine ewige Liebe zu gestehen. So langsam erinnerst du mich an Bill Murray aus dem Film: Und täglich grüßt das Murmeltier.«
   »Und wie ich sehe, hast du deine Eifersucht noch immer nicht im Griff, aber es besteht ja noch Hoffnung. In deinem jugendlichen Alter ist man ja noch lernfähig«
   »Halt die Klappe, Pattex! Deine Zeit ist abgelaufen. Das musst du doch irgendwann mal begreifen«, schimpft Ellen. Sophie schüttelt entgeistert den Kopf und ich gehe genervt in die Küche.
   »Wo ist der Salbei, Arnaud?«
 

Mit einem Lächeln der Zufriedenheit kehrt Timo von seinem Ausflug zurück. Er hat einen Bärenhunger mitgebracht und ich verspüre große Lust, meinen Schwager in den Hintern zu treten. Clara meckert über das Mittagessen.
   »Ich mag keine Leber.«
   »Komm, wir gehen zu Arnaud in die Küche. Er macht dir sicherlich etwas anderes«. Zehn Minuten später erhält sie ein kleines Hähnchen Cordon Bleu mit frittierten Kartoffelecken.
   »Steffen, nach deiner Massage fühle ich mich wie neugeboren. Das darfst du gerne regelmäßig machen.« Sophie mischt sich ein.
   »Mal sehen, ob Steffen einen Termin frei hat. Er ist schließlich angereist, um Maries zahlende Kunden zu behandeln.«
   »Das ist der erste vernünftige Satz, den ich hier heute gehört habe«, sage ich und bringe meinen leeren Teller in die Küche.
   »Danke für die Extra Mühe, die du dir wegen Clara gemacht hast.«
   »Alles, was in meiner kulinarischen Macht liegt, dich wieder lächeln zu sehen, übernehme ich mit Freude.«
   »Ach Arnaud, du scheinst mir hier der einzige Normalo zu sein.«

Vier deutsche Touristen nehmen auf der Terrasse Platz. Die Männer studieren die Speisekarte und winken den Ober an ihren Tisch.
   »Vier Pils und vier Mal Schnitzel mit Pommes«, bestellt der Älteste der Gruppe. Der Kellner versteht nicht und fragt auf Französisch und Englisch nach.
   »Vier Pils und vier Mal Schnitzel mit Pommes«, wiederholt der Deutsche in doppelter Lautstärke. Ich übernehme den Tisch.
   »Die vier Pils gehen in Ordnung, meine Herren. Allerdings Schnitzel und Pommes werden Sie bei uns auf der Speisekarte nicht finden.«
   »Wenn Ihr Koch son Gedöns kochen kann, wird er doch wohl in der Lage sein, ein Stück Fleisch zu panieren.«
   »Wenn Sie das Gedöns nicht zu schätzen wissen, sollten Sie sich ein anderes Lokal zu suchen. Vielleicht ist die Côte d’Azur nicht der richtige Urlaubsort für Sie. Versuchen Sie es doch auf Mallorca am Ballermann. Da soll es hervorragende Schnitzel geben.« Ich lasse das prollige Quartett unbedient am Tisch zurück. Danach geht es mir auf Anhieb besser.
   »Das war nicht sehr freundlich«, bemerkt Sophie.
   »Der Gast hat einen unverzeihlichen Fehler begangen und ihren Maître beleidigt«, frotzelt Tobias. Ich ignoriere die Spitze meines Mannes und fahre Clara und Ellen nach Hause. Nach einer Stunde Schlaf bin ich bereit für die zweite Runde.


Stolz zeigt Christina eine neue Kette, die Timo ihr am Nachmittag geschenkt hat. Mir wird beim Anblick des Goldschmucks ganz anders zu Mute. Ich frage mich, ob sich meine Schwägerin dumm stellt oder sie tatsächlich ahnungslos ist.
   »Mit mir könntest du das nicht machen, mein Lieber«, zischel ich Timo zu.
   »Mit dir, hätte ich es auch nicht nötig, schöne Schwägerin.«
   »Wage es nie wieder, unser Boot als Stundenhotel zu benutzen!« Ich bin außer mir. Timo hat es praktisch zugegeben. Er ist das Ebenbild seines grabschenden Vaters. Kurz entschlossen rufe ich meinen Oberkellner zu mir.
   »Du schaffst es heute sicherlich ohne mich. Wenn alle Stränge reißen, kannst du mich zu Hause anrufen.« Am Musikertisch befreie ich meinen Mann aus Valeries Klauen.
   »Komm Schatz. Wir fahren heim. Heute Abend wird gekuschelt!« Es ist schon nach neun und Clara ist immer noch wach. Gemeinsam mit Ellen sieht sie einen Krimi im Fernsehen an. Balou hat wieder in die die Diele gepinkelt.
   »Tobi, so geht das nicht. Meine Mutter ist überfordert und ich habe keine ruhige Minute mehr, wenn sie allein mit Clara ist.« Wir führen unsere Unterhaltung im Flüsterton weiter. Wenn bei Ellen auch Gedächtnis und Konzentration nachgelassen haben, ihr Gehör funktioniert noch einwandfrei. Sie macht keine Anstalten ins Bett zu gehen. Bis nach Mitternacht schaut sie fern.
   »Alte Leute brauchen weniger Schlaf.«
 

Christina lässt sich von Claire als erste Kundin am Morgen die Haare aufdrehen.
   »Zahlt sie wenigstens bei dir oder denkt sie, das wäre im All Inklusive Paket enthalten«, flachse ich. Madame Christbaum führt ihre frisch gewellten Goldlocken auf die Terrasse. Der Wind kann ihrer Frisur nichts anhaben. Die Löckchen halten dank einer ganzen Dose Haarspray den Böen stand.
   »Ab heute ist hier Selbstbedienung angesagt«, bestimme ich. »Mit der Kaffeemaschine kennst du dich ja aus.« Ich habe es meinen Kellnern untersagt, die Familie weiterhin zu bedienen. Christina geht in die Küche, um für sich und ihren noch abwesenden Mann, ein Frühstück zusammen zu stellen. Florence reicht ihr ofenwarme Croissants und fragt, ob sie Eier bereiten soll. Die zunächst freundliche Miene von Christina erstarrt zu Eis, als ihr Blick auf das Delkotee der jungen Sous Chefin fällt. Die Kette, die den Hals der schönen Bäckerin schmückt, gleicht ihrem Geschenk vom Vortag bis aufs kleinste Detail.
   »Die Eier bereite ich selber zu!« sagt Christina und würzt das Omelette mit einer halben Flasche Tabasco. Sie reißt sich ihre Kette vom Hals und wirft sie in eine Tasse, die sie anschließend mit einem Café au lait füllt. Mit einem souveränen Gesichtsausdruck, den nur über Jahre betrogene Ehefrauen beherrschen, geht sie zurück an den Tisch. Timo hustet und ringt nach Luft, nachdem er den ersten Bissen der Eierspeise probiert. Der schnelle Griff zum Kaffee nimmt ihm nicht die Hitze in der Mundhöhle, sondern spült ihm die Goldschmiedearbeit des ortsansässigen Juweliers direkt auf die Zunge. Seine Frau würdigt ihn keines Blickes. Ihre Aufmerksamkeit gilt Steffen. Ihre mit Geschmeide gezierten Finger gleiten behutsam über seinen Rücken. Mit rot geschminkten Lippen der Marke Chanel 09 flüstert sie ihm zu.
   »Wirst du mich heute wieder verwöhnen? Wenn deine strenge Chefin, heute keinen Termin ermöglichen kann, können wir uns auch nach Feierabend treffen. Die Matratze in meinem Zimmer ist hart und fest.« Timo traut seinen Ohren nicht. Sophie und ich schauen uns ebenfalls konsterniert an.
   »Schmerzpatienten haben immer Vortritt. Das weiß auch Sophie. Also komme nach dem Frühstück gleich mit mir rüber, ich werde mich um deine Verspannungen kümmern.« Was geht hier ab? Was geht hier vor? Ich kann und will nicht glauben, was ich gerade sah und hörte. Mein Exmann und meine Schwägerin? Meine Sous Chefin und mein Schwager? Spielen denn jetzt alle verrückt. Ich gehe in die Küche und bestaune Arnauds Einkäufe.
   »Ich dachte, ich hätte schon das Schlimmste hinter mir. Aber jetzt, drehen sie alle durch. Meine Mutter ist senil. Meine Schwager geht fremd. Mein Hund pisst in die Diele. Meine neun jährige Tochter guckt bis spät abends Krimis. Und zu guter Letzt, hat es meine Schwägerin auf meinen Exmann abgesehen. Was habe ich verbrochen, dass man mich mit dieser Familie so bestraft?« Arnaud greift um meine Taille, hebt mich mit voller Kraft hoch und setzt mich auf den Tisch.
   »Du brauchst Kräuter, Aromen und einen Schuss Rotwein! Gib mir eine Stunde und ich mach dich wieder froh.« Ich umarme meinen Maître. Er ist der Einzige, der mich versteht.

Der Mann, der sein schulterlanges Haar mit einem Band zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hat, schleicht sich von hinten an mich heran und erschreckt mich mit einem lauten »Buh«. Jeder andere hätte nach diesem Angriff auf mein Nervenkostüm, ein Donnerwetter zu hören bekommen. Aber nicht Gilbert. Unser langjähriger Freund wird mit lautem Kreischen begrüßt, umarmt und geküsst.
   »Gibst du Einen aus? Teilen wir uns wieder ein Gin Tonic und eine Zigarette, so wie früher?«, lacht der Gitarrist. Ich bin noch immer aus dem Häuschen und streichel mit meiner Hand zärtlich über seinen Dreitagebart.
   »Komm mit rein, ich zeige dir, was wir alles neu gemacht haben.« An der Bar bestelle ich zwei Gins mit Tonic und suche den Tresen nach meinem Handy ab. Mit der Kurzwahltaste eins, erreiche ich Tobias und bitte ihn, ganz schnell zu kommen, weil eine »schöne« Überraschung auf ihn wartet.
   »Wirst du diesen Sommer bei uns auftreten?«
   »Ich habe gehofft, dass du mich engagieren wirst. Benjamins Eltern haben mir das Gästezimmer in ihrem Haus angeboten. So gesehen, wäre es perfekt.«
    »Es wird alles wieder so wie früher. So nach und nach kriegen wir das hin. Ach, Gilbert, wie schön, dass du wieder da bist.« Ich nehme einen kräftigen Zug von seiner Zigarette und blase den Rauch genüsslich aus.
  »Hast du Hunger? Ich lasse dir in der Küche etwas Leckeres zaubern. Bleib sitzen. Ich komme gleich wieder.« Ich bin in Hochstimmung. Das fällt auch Arnaud sofort auf.
   »Wer ist der Mann, der dir auf Anhieb so gute Laune bereitet?«
   »Gilbert ist ein begnadeter Gitarrist und Arrangeur. Er spielt bekannte Evergreens im Bossanova Stil. Einfach gigantisch. Du wirst es erleben!« Als ich mit einem großen Steakteller wieder auf die Terrasse komme, sitzt Tobias schon an Gilberts Tisch.
   »Wo warst du?«
   »Ich habe Clara abgeholt und mit Sophie den Mercedes zur Autovermietung zurück gebracht. Und du hast schon wieder geraucht. Ich schmecke das doch!« Ich widerspreche nicht.

Gilberts Anwesenheit beflügelt mich. Ich lade Sarah, Claire und den ganzen Familienclan zu einem Bossanova Abend auf die Terrasse ein. Timo und Cristina streiten laut bei geöffnetem Fenster. Ellen hat keine Lust und bleibt bei ihrer Enkelin zu Hause. Am reservierten Stammtisch sitze ich mit Mann und Schwester und wartete auf den Beginn der Musik.
   »Sag mal Schwesterherz, was sagt eigentlich Ulli dazu, dass du solange weg bist. Vermisst ihr euch gar nicht?«
   »Ulli ist schon längst Vergangenheit. Ich habe ihn abgeschossen.«
   »Du hast mit Ulli Schluss gemacht?«
   »Gut gemacht, Schwägerin. Er war ein arrogantes Arschloch«, sagt Tobi.
   »Sprecht ihr über mich?«
   »Nein Steffen, sonst hätte ich ja »blödes Arschloch« gesagt.«
   »Also gut. Wenn wir bei der Terminologie bleiben wollen. Ich stehe nun mal auf Arschlöcher. Also hört gut zu! Steffen und ich sind ein Paar, schon über ein halbes Jahr lang. Ich versuche, es dir seit meiner Ankunft zu sagen.« Ich bin platt. Entgeistert schaue ich zu Tobias, der über dieses Neuigkeit gleichermaßen erstaunt ist.
   »Und warum hast du solange gezögert?«
   »Ich hatte ja zuerst selber meine Bedenken. Der Exmann meiner jüngeren Schwester. Und das nach all den Jahren. Das ist schon speziell. Aber so ist es nun mal. Ich wollte......... «
   »Wir wollten es dir selber sagen«, sagt Steffen.
   »Weiß Mama es schon?«
   »Sag du es ihr, wenn du sie umbringen willst. Und wenn du gerade dabei bist, sage ihr auch, dass wir heiraten werden. Noch in diesem Jahr.« Ich bekomme einen Lachkrampf von unvorstellbarem Ausmaß. In dieser Intensität habe ich es zuvor noch nie erlebt. Ich quieke in höchsten Tönen. Trotz der bösen Blicke meiner Schwester kann ich mich nicht wieder einkriegen. Ich krümme mich und schreie immer wieder, dass ich keine Luft bekomme. Tobias setzt mit ein. Wir halten uns ständig die Hand vor den Mund, in der Hoffnung, die Belustigung wird dadurch abnehmen. Aber es klappt nicht. Jedes Mal, wenn ich ihn ansehe, zucken unsere Körper erneut und wir gackern weiter. Beleidigt erheben sich Sophie und Steffen und verlassen das Bistro.  
   »Wenn du es Ellen sagst, möchte ich auf jeden Fall dabei sein«, gluckst Tobias.
   »Unbedingt Schatz, denn das musst du auf Video aufnehmen.«

Ich gehe zu Arnaud in die Küche und Tobias setzt sich zu Benjamin und Valerie an den Musikertisch.
   »Komm mit raus und lausche der Musik. Wir machen jetzt Küchenschluss. Du darfst dir Gilbert nicht entgehen lassen.« Mit einer Flasche Wein setzen mein Maître und ich uns an einen freien Tisch.
   »Dein Mann ist ein Vollblutmusiker. Er vergeudet sein Talent hier in deinem Lokal«, bemerkt der Chefkoch, als er Tobias am Piano spielen hört.
   »Ja, er sollte das Angebot von Benjamin annehmen und mit uns auf Tour gehen«, mischt sich Valerie vom Nebentisch ein. Das will ich nun aber genauer wissen.
   »Was für eine Tour?«
   »Einen Monat quer durch Frankreich. Bordeaux, Lyon, Marseille, Paris, usw. 15 Auftritte quer durch die Republik. Tobias hat leider noch nicht zugesagt.« Ich bin erstaunt, lasse mir allerdings vor Valerie nichts anmerken. Ich nehme mir vor, ihn später danach zu fragen. Arnaud will nach einer halben Stunde aufbrechen. Ich sehe in sein müdes Gesicht und halte ihn nicht auf. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Mein Maître hat sich noch keinen Ruhetag gegönnt und arbeitet täglich vierzehn Stunden am Stück.
   »Wann wirst du dir einen Tag frei nehmen?« Er lächelt und beugt sich zu mir herunter.
   »Wenn ich dein Boeuf Dijon probiert habe und mir sicher bin, dass ich dir die Küche für einen Tag allein überlassen kann.« Mit einem Kuss auf die Wange verabschiedet er sich in den wohlverdienten Feierabend. Sophie kommt allein zurück auf die Terrasse. Sie ist immer noch beleidigt und zieht eine Flunsch.
   »Steffen hat sich schon hingelegt. Dein albernes Gegacker hat ihn sehr verletzt und mich auch. Wir hatten gehofft, dass du dich für uns freust.«
   »Hast du dich wegen Steffen von Ulli getrennt?»
   »Nein, er war nicht der Grund. Es passte einfach nicht mehr mit uns. Er blieb immer häufiger abends in Wismar und ich saß allein in Hamburg. Wenn ich segeln wollte, hatte er keine Zeit. Wenn ich golfen wollte, hatte er keine Lust. Nur wegen dem schnöden Wochenendsex wollte ich die Beziehung nicht länger aufrechterhalten.«
   »Und was ist mit Steffen anders?«
   »Wir unternehmen ständig etwas miteinander. Ich höre ihm gern zu. Manchmal passen wir gemeinsam auf eure Enkel auf. Es ist ein ruhiges und harmonisches Zusammenleben mit ihm.« Ich werde zunehmend neugieriger und stelle die Frage aller Fragen.
   »Und wie ist der Sex?« Ich weiß, dass mein Exmann nicht der schlechteste Liebhaber war. Kein Vergleich zu Tobi. Aber auf einer Skala von eins bis zehn war er eine gute sieben.
   »Nun zier dich nicht so und sag schon!«
   »Ich bin zufrieden. Das sollte als Antwort reichen.«
   »Das reicht nicht. Also sag schon, wie oft?«
   »Ein bis zweimal.«
   »In der Woche oder im Monat?«
   »Am Tag, Marie. Ein bis zweimal täglich!« Es sind nur noch drei Tische auf der Terrasse besetzt und ich zeige dem Kellner an, dass es auf Feierabend zu geht.
   »Kannst du noch fahren? Ich nicht. Ich hatte schon drei Gläser Wein und bin schon angeschickert.« Tobias schlägt vor, im Appartement zu übernachten. Schließlich hat er sich genau für diesen Fall, die ganze Mühe gemacht.
   »Warum hast du mir nicht von Benjamins Angebot, mit ihm auf Tour zu gehen, erzählt?«
   »Das kommt für mich nicht in Frage. Ich habe keine Lust auf dieses Vagabunden Leben. Schließlich habe ich Frau und Kind.«
   »Valerie sagt, es geht nur um einen Monat. Kann es sein, dass du mich nicht allein lassen willst, weil du eifersüchtig bist?«
   »Stimmt, ich will dich nicht allein lassen. Aber der Grund ist ein anderer. Wir waren schon viel zu oft getrennt. Ich will das nicht mehr. Morgens neben dir aufzuwachen und abends neben dir einzuschlafen, ist für mich das Wichtigste. Für dich etwa nicht?«
  »Morgens mit dir zu schmusen und abends mit dir zu kuscheln, würde mir besser gefallen.«
   »Ja, das ist noch viel besser!«

Nach einem schnellen Kaffee im Stehen, fährt Tobias nach Hause und holt Kind, Hund und Schwiegermutter ab. Ich decke den Frühstückstisch auf der Terrasse und höre den Streit zwischen Timo und Christina durch das geöffnete Fenster. Es geht um Florence. Timo streitet alles ab und nennt seine Frau »hysterisch«.
   »Ich habe ihren Slip in unserem Wagen gefunden. Solltest du noch weiter leugnen, stecke ich ihn dir gleich in dein verlogenes Mundwerk«, höre ich sie schreien. Danach wird eine Tür geknallt. Minuten später steht meine Schwägerin völlig aufgelöst vor mir.
   »Es reicht. Ich reise ab. Nicht eine Minute länger kann ich seinen Anblick ertragen.«
   »Statt beleidigt das Feld zu räumen, solltest du ihm die Hammelbeine lang ziehen!«, empfiehlt Ellen der Betrogenen. Die Chance das Appartement Nummer zwei zurückzubekommen, ist mit dieser Empfehlung hinfällig. Gerne hätte Clara den privaten Ausführungen ihrer Oma weiter zu gehört, aber ihr Vater bringt sie pünktlich in die Schule.
   »Hast du ihn schon einmal betrogen?« Christina verneint. Sie ist der Ansicht, dass es dafür jetzt auch zu spät ist.
   »Ich bin über fünfzig. Glaubst du da stehen die Männer noch Schlange?« Mittlerweile haben sich Sophie, Sarah und Claire zur Damenrunde gesellt. Ellen bringt es auf den Punkt.
   »Leg endlich deinem übertriebenen Christbaumschmuck ab, lass dir von Claire mal eine ordentliche Föhnfrisur verpassen, gönne deinen Möpsen mal ein bisschen Frischluft und vor allen Dingen, lass dein damenhaftes Getue, dann klappt es auch mit einem Liebhaber. Such dir einen Jüngeren aus oder einen, der deutlich mehr Geld hat, als Timo. Nur so kannst du deinen Alten an den Hörnern packen.« Die Damenrunde nickt zustimmend.
   »Und wo soll ich einen Mann finden?«
   »Na, hier auf der Terrasse. Binde dir eine Schürze um und bediene die Gäste. Schneller findest du nirgendwo Kontakt.«
   »Aber ich schlafe nicht mehr mit ihm in einem Raum. Sophie, darf ich zu dir ziehen und wir bitten Steffen, sich das Appartement mit Timo zu teilen?« Nun bin aber auf die Antwort meiner Schwester gespannt.
   »Warum sollte Pattex nicht das Zimmer mit dir tauschen wollen. Es kann ihm doch egal sein, in welchem Bett er schläft.« Ich griene und sage: »Ich wüsste ein bis zwei Gründe, die dagegen sprechen. Du nicht auch, Sophie?« Ich erhalte einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein, der einen großen, blauen Fleck auf meinem Bein hinterlässt.
   »Aua, bist du beknackt, du feige Nuss. Das tat weh!«, wimmere ich.

Claire startet die Operation »Aus Dame wird Luder« mit einem pfiffigen Kurzhaarschnitt. Sarah fegt die goldenen Löckchen zusammen und lobt die gelungene Verwandlung.
   »Du besitzt nicht eine Jeans?«, fragt sie ungläubig, »dann gehen wir jetzt shoppen.« Mit frechen Dessous, körpernahen Shirts und zwei Designer Jeans, die Christinas wohlgeformten Po perfekt in Szene setzen, kommen sie nach zwei Stunden zurück. Arnaud bestaunt die schöne Fremde an meiner Seite.
   »Der wäre doch schon was für mich.«
   »Mein Maître ist tabu! Er steht unter meinem persönlichen Artenschutz!«
   »Warum denn das?«, will Tobias wissen, der uns belauscht und mich seinem prüfenden Blick unterzieht. Ich fühle mich ertappt, aber schlagfertig pariere ich: »Es reicht doch wohl, was dein Bruder mit meinem Personal anstellt? Das ist eine Küche und kein Kontakthof für notgeile Silberfüchse in der Midlife Crisis! Also bringe Timo endlich zur Raison. Oder billigst du etwa sein Verhalten?« Natürlich billigt er es nicht. Aber Tobias ist der Ansicht, dass es klüger ist, sich ganz rauszuhalten.

 

Timo traut seinen Augen nicht, als er Cristina dabei zusieht, wie sie ihre Sachen aus dem Appartement räumt.
   »Wo willst du hin und wie siehst du überhaupt aus?«
   »Ich ziehe eine Tür weiter. Lieber wäre es mir gewesen, ich könnte mir das Bett mit Steffen teilen, aber der schläft ab heute bei dir. Übrigens, ihm gefällt mein neuer Look.« Völlig verblüfft lässt sie ihn stehen. Während sie und Steffen die Zimmer tauschen, schmecke ich meine berühmte Senfsoße ab. Ich hoffe inständig, dass sie nicht gerinnt. Gerade diesmal soll sie perfekt sein. Gespannt warte ich auf das Urteil meines Maîtres.
   »Wo hast du so gut kochen gelernt? Diese Komposition ist hervorragend. Chapeau Madame!« Arnaud nimmt sich Nachschlag.
   »Sag mal Marie, was bedeutet es eigentlich, unter deinem persönlichen Artenschutz zu stehen?« Ich werde verlegen.
   »Das war nicht für deine Ohren bestimmt!« Ich merke, dass mir die Röte ins Gesicht schießt. Das letzte Mal, dass ich rot wurde, war im Alter von 14 und liegt über vierzig Jahre zurück. Wie peinlich, denke ich und verziehe mich aus der Küche. Tobias erwartet mich schon.
  »Der Hund braucht einen Spaziergang. Wollen wir jetzt oder erst nach dem Essen?« Christina bietet sich an, mit Balou an den Strand zu gehen. Sie ist froh, die Mahlzeit nicht mit ihrem untreuen Mann am Tisch einnehmen zu müssen.
   »Lass ihn nicht von der Leine, sonst springt er wieder ins Meer und jagt die Vögel«, rufe ich ihr hinterher. Das Plat du jour besteht aus Spagetti mit Meeresfrüchten und wird von der ganzen Familie gelobt. Valerie kommt an den Tisch und fragt, ob sie sich dazu setzen darf.
   »Hier isst die Familie. Das siehst du doch!«, schimpft Clara und Tobias und ich sehen uns verwundert an. So frech und vorlaut, haben wir unsere Tochter noch nie erlebt. Valerie geht weiter und Clara isst zufrieden weiter.
   »Das ist allein Ellens Einfluss zuzuschreiben.« In der Küche stellen wir Clara zur Rede.
   »Warum warst du so frech zu Valerie? Das war sehr unfreundlich, also warum?«
   »Ich mag sie nicht! Sie legt immer den Arm um Papa. Das gehört sich nicht, schließlich bist du seine Frau.« Ich lache. Ganz Unrecht hat sie nicht. Dennoch weise ich sie in die Schranken.
   »Warum macht es dir nichts aus, wenn Valerie mich ständig anbaggert? Das ist schon erstaunlich, schließlich ist sie ein scharfer Feger.«
   »Sie ist kein scharfer Feger, sondern eine dumme Gans, die nicht begreifen will, dass sie keine Chance hat. Oder liege ich da falsch?« Ich muss auf seine Antwort warten. Völlig aufgelöst kommt Christina angerannt. Ohne Balou! Er ist ihr am Strand »ohne Leine« entwischt. Wir machen uns auf die Suche. Am Strand ist weit und breit kein Hund zu sehen. Ich schäume vor Wut. Wir teilen uns auf. Mit Clara suche ich in den Gassen und Tobias läuft die Hauptstraße ab. Nach zwanzig Minuten kommen wir unverrichteter Dinge zurück.
   »Wenn der Hund überfahren wird, werde ich ihr den Hals umdrehen. Es reicht mir! Seitdem sich die Familie hier eingenistet hat, vergeht kein Tag, ohne Schreck und Aufregung.« Ich habe mich umsonst aufgeregt. Balou ist zwischenzeitlich wieder da. Monsieur Lemercier brachte ihn zurück und erhält zum Dank von Christina ein Glas Wein. Sie sitzen gemeinsam auf der Terrasse und plaudern.
   »Nein, mit einem Glas Wein ist die Sache nicht aus der Welt. Bitte nehmen Sie meine Einladung zum Abendessen an. Machen Sie mir die Freude und kommen. So gegen 20 Uhr?« Lemercier kann Christina den Wunsch nicht abschlagen und sagt zu. Sie hat einen Treffer gelandet. Der schöne Franzose ist Single und ein charmanter Mann in ihrem Alter. Ich kenne ihn aus dem Bürgerverein und weiß, dass er begeisterter Motorradfahrer ist. Er liebt nicht nur schnelle Zweiräder, sondern besitzt auch ein eigenes Motorboot. Und so wie es aussieht, hat er auch eine Vorliebe für Frauen, die rasant zur Sache gehen.
 

»Wie sehe ich aus?«, fragt Christina. Sie trägt ein enges, ärmelloses,  schwarzes Kleid. In Sachen Schmuck wird sie wieder rückfällig und Sarah muss ihr zwei Ketten und die zahlreichen Armreifen abnehmen. Claire föhnt ihr die Haare und legt ein zartes Make Up auf ihr Gesicht. Zufrieden mustert sie sich im großen Spiegel und geht zurück ins Bistro. Sie stellt ein Reservierungsschild auf einen Zweiertisch und gibt dem Kellner dreihundert Euro in bar.
   »Wenn es nicht ausreicht, dann ziehe den Rest von der Kreditkarte meines Alten ein. Ich will es heute krachen lassen.« Timo sollte noch bluten. Christina bestellt nur vom Feinsten. Immer wieder hört man sie laut lachen. Ihr Mann, der am Familientisch das Spektakel beobachtet, spielt den Unbeeindruckten. Sein Gesichtsausdruck ändert sich allerdings schlagartig, als sie ruft: »Was heißt auf Französisch, ich bin getrennt lebend.« Ich übersetze meiner Schwägerin wunschgemäß und kann mir das Grinsen in Richtung Timo nicht verkneifen. Als Lemercier sich auch noch als ausgezeichneter Tänzer präsentiert, reicht es ihm. Er verlässt den Tisch mit der Bemerkung: »Ich gehe mir in der Bar Tabac Zigaretten kaufen.« Als er nach zehn Minuten zurück kommt, hat sich der Familientisch aufgelöst. Auch seine flirtende Frau ist nicht mehr auf der Tanzfläche.
   »Wo sind denn alle hin?«
   »Vielleicht noch auf einen Abendspaziergang?« Timo trinkt sein Glas aus und verabschiedet sich ins Bett, das er sich erstmals mit Steffen teilen soll. Er geht den Flur entlang und horcht an der Tür der neuen Frauen WG. Die Geräusche, die er aus dem Appartement eins wahrnimmt, versetzen ihm einen Schlag. Das leidenschaftliche Stöhnen einer Frauenstimme macht ihn fassungslos.
   »Schlampe«, ruft er laut aus. Völlig aufgebracht packt er seine Sachen in den Koffer und nimmt sich ein Zimmer im benachbarten Hotel de la Poste. Tobias stellt die Stühle an die Tische und ich lösche das Licht in der Küche, als sich Christina von ihrem Franzosen auf dem Bürgersteig verabschiedet.
   »Ja, sehr gerne. Also bis Morgen.«

Auf dem Flur der ersten Etage herrscht reger Verkehr. Steffen bringt seine Sachen wieder zu Sophie und Christina richtete sich in ihrem alten Appartement ein, das sie nun allein bewohnt. Mit der festen Absicht, seine Frau zur Rede zu stellen, kommt Timo um zehn Uhr ins Bistro. Er sieht sie gerade noch auf dem Rücksitz eines Motorrades abfahren.
   »Nun seht euch das an!  Sie hat sich tatsächlich mit diesem Kerl eingelassen. Gleich am ersten Abend hat sie mit ihm rumgemacht. Ich habe es mit eigenen Ohren gehört.«
   »Hoffe nicht auf unser Mitgefühl!«, sage ich und lasse ihn stehen. Beleidigt geht er mit einer Zeitung auf die Terrasse und wartet auf die Rückkehr seiner schamlosen Frau.
    »Gehört hat er Sophie und Steffen. Aber lass ihn bitte in dem Glauben. Es geschieht ihm recht!« Tobias verspricht, nicht zu petzen.

 

Lemercier wird zum Dauergast und Timo verliert das Interesse an Süßspeisen und der Frau, die sie zubereitet. Er trinkt schon am Morgen literweise Rotwein und ist mittags bereits Sternhagel voll. In dieser Stimmung jammert er seinem Bruder und Steffen die Ohren voll. Die Männer bringen ihn regelmäßig zurück ins Hotel. Nach drei Stunden Schlaf wiederholt sich das Schauspiel. Steffen nutzt einen halbwegs nüchternen Moment aus und redet ihm ins Gewissen.
   »Es wird dir nichts nützen, dich ständig zu besaufen. Damit gewinnst du sie sicherlich nicht zurück. Reiß dich zusammen und rede endlich mit ihr.«
   »Sie wird meine Entschuldigung nicht annehmen. Diesmal habe ich den Bogen wohl überspannt.« Er rät ihm, die Familienkarte auszuspielen. Das hatte bei ihm und mir früher auch geklappt. Guten Mutes macht er sich auf die Suche nach seiner Frau.
   »Die Kinder fragen, ob wir die Enkel in der nächsten Woche nehmen könnten. Ich habe zugesagt.«
   »Na, dann wünsche ich dir viel Spaß. Gebe den Kleinen einen Kuss von mir. Ich bleibe noch. Ich habe eine Einladung zum Speedboat Rennen. Darauf werde ich auf keinen Fall verzichten.«
   »Du willst mit einem Rennboot fahren? Ich denke, dir wird auf dem Wasser immer schlecht!«
   »Das kommt ganz auf die Begleitung an.«
   »Komm zur Vernunft, Christina. Was soll das? Willst du unsere Ehe aufs Spiel setzen?«
   »Dafür ist es wohl schon zu spät. Das hast du schon längst erledigt. Und nun schleich dich. Ich habe eine Verabredung!« Christina erhält tobenden Applaus vom Frauentisch. Alle klatschen mit ihr ab.
   »Mit der Weiber Mafia möchte ich keinen Ärger haben«, sagt Steffen zu Tobias und zeigt mit dem Finger auf den Fünfer Frauentisch, der von Ellen angeführt wird. Die Männer nicken sich zustimmend zu. Die beiden so einträchtig zu sehen, verblüfft mich.
   »Ihr habt es Ellen immer noch nicht gesagt, oder?« Steffen schüttelt den Kopf. Er ist wütend auf Sophie und ist es leid, das kindische Versteckspiel fortzusetzen.
   »Es ist doch grotesk, dass ich in meinem Alter eine heimliche Beziehung führen muss, nur weil Ellen mich nicht leiden kann.«
   »Ja, grotesk ist das schon«, lacht Tobias. Er kann immer noch nicht glauben, dass Pattex sein Schwager wird.

Benjamin sitzt am Musikertisch und telefoniert mit seinem Handy. Seine Miene verrät, dass er keine guten Nachrichten erhält. Er geht zum Bartresen und erkundigt sich nach Tobias.
   »Die Martins haben heute Familientag und sind mit dem Boot unterwegs«, sagt Florence. Gern würde sie auch mal wieder in See stechen, doch ihr Verehrer ist entweder mit der Observierung seiner Frau beschäftigt oder säuft sich ins Koma. Er ist weder mit Mousse au chocolat noch mit Crème brûlée zu bezirzen. Am Morgen erteilte er ihr vor den Augen seiner Christina eine lautstarke Abfuhr, die die Sous Chefin dazu bewog, ihren Dienst zum Ende des Tages zu quittieren.
   »Ich kann hier nicht mehr kreativ arbeiten«, gesteht sie ihrem Onkel. Arnaud hat nun die Aufgabe, es mir schonend beizubringen. In allerbester Laune kehre ich von unserem Segelausflug zurück. Der Maître beschließt, mir mit seiner Nachricht, nicht den schönen Tag zu verderben und verschiebt es auf den nächsten Morgen.
   »Endlich erwische ich dich«, sagt Benjamin, der seit Stunden auf Tobias wartet. Er hat ein großes Problem zu lösen. Sein Pianist ist erkrankt und ihm droht bei Nichteinhaltung seiner geplanten Tour eine fette Konventionalstrafe.
   »Auf die Schnelle bekomme ich keinen adäquaten Ersatz. Du bist meine letzte Rettung. Zwei Auftritte. Drei Tage. Bitte, Tobi, lass mich nicht hängen.« Tobias macht ein ernstes Gesicht und zieht mich in die Küche.
   »Ben ist unser Freund. Du wirst ihn doch nicht hängen lassen. Los sag schon zu. Ich fahre mit dir nach Hause und helfe dir beim Koffer packen.«
   »Es kann dir wohl gar nicht schnell genug gehen, mich los zu werden. Sag mir nur, wie du das alles allein schaffen willst. Ellen, Clara, Hund und Geschäft?«
   »Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Martin. Ich bin ja auch noch da. Ihre Frau ist bei mir in den besten Händen. Ich werde mich gut um sie kümmern«, sagt Arnaud. Das ist kein hilfreicher Beitrag. Gut gemeint aber ganz schlechtes Timing!

Es gelingt mir nicht, Tobias während der kurzen Heimfahrt zu besänftigen. Er schweigt. Ohne ein Wort packt er seine Reisetasche.
   »Vergiss es, Tobias Martin. Du wirst nicht im Streit abreisen.« Ich verschließe die Tür zum Schlafzimmer von innen und stelle mich demonstrativ vor ihm auf. »Komm her und küss mich!« Die Abfahrt der Musiker verschiebt sich um eine volle Stunde.

Der gesamte Frauentisch winkt ihnen zum Abschied nach. Clara weint. Es passt ihr nicht, ihren Vater mit Valerie in einem Auto zu sehen.
   »Du lässt meinen Bruder tatsächlich mit dieser scharfen Braut allein auf Tour gehen?«, fragt Timo und lacht laut. Außer mir vor Wut ziehe ich meinen Schwager am Arm in die Küche und brülle sofort los.
   »Hast du dir dein letztes Hirn weggesoffen oder wie kommst du dazu, im Beisein von Clara, so einen unverschämten Spruch herauszuhauen? Du hast ein Feingefühl wie eine Planierraupe. Kein Wunder, dass deine Frau sich einen Anderen gesucht hat.«

In der Nacht kriecht Clara unter meine Decke. Sie hat schlecht geträumt und klagt über Bauchschmerzen.
   »Hast du von Papa geträumt? Du machst dir völlig unnötig Sorgen. Er liebt nur uns. Schau mal, heute Abend hat er uns noch drei Nachrichten geschickt. Immer schreibt er, wie lieb er uns hat und dass er uns vermisst. Also wenn ich ihm glaube, dann kannst du das auch.« Beruhigt schlafen wir weiter.

Als ich am nächsten Morgen am Bistro vorbei fahre, stehen unzählige Getränkekisten auf dem Bürgersteig vor dem Lokal. Ich bringe erst Clara zur Schule und gehe mit Ellen gemeinsam die Küche. Louis ist allein. Der Frühstückskoch meckert sofort los. »Ich habe nur zwei Hände. Der Fahrer wollte nicht warten und hat sich geweigert, die Kisten ins Magazin zu bringen.« Ich schaue auf die Uhr. Mit Timo und Steffen ist noch nicht zu rechnen. Der Kellner der Frühschicht ist noch allein und mit dem Servieren der ersten Gäste völlig ausgelastet. Ich bin kein Typ, der geduldig auf Hilfe wartet und nehme mich der Getränke allein an. Bei Kiste 18 vernehme ich ein alt bekanntes »Knack« in meinem Rückgrat und schreie laut auf. Louis, der mir zur Hilfe eilt, ist völlig überfordert und bringt mir einen Stuhl. »Ich kann mich nicht setzen. Bitte laufe nach oben und hole Steffen schnell runter.« Mein Ex behält die Ruhe und fragt: »Ist es wieder die gleiche Stelle?«
   »Nein, der Schmerz ist anders aber trotzdem kaum auszuhalten.«
   »Wo sind deine Notfall Schmerztabletten?« Ich deute auf den Erste Hilfe Schrank im Flur. Mit einem Schluck Wasser nehme ich zwei Pillen und hoffe sehnlich auf Linderung. Nach einer viertel Stunde schleppen Steffen und Louis mich durch das Bistro ins Spa. In Bauchlage will er mich auf der Behandlungsliege untersuchen.
   »Es wird noch einmal weh tun. Also bei drei.« Meine Schreie sind bis zum Supermarkt am Ende der Straße zu hören. Steffen schickt den Koch aus dem Raum und nimmt sich eine Schere aus der Schublade.
   »Dein Shirt und deine Hose werden dran glauben müssen. Ich muss dich bis zu den Lendenwirbeln abtasten.«
   »Du Ferkel, du willst nur meinen nackten Hintern betatschen.«
   »Deinen alten Hintern kenne ich zu Genüge. Und ehrlich gesagt, er war schon mal runder und deutlich praller!« Gerade in dem Moment, als ich ansetze, ihn für diese Frechheit zu beschimpfen, nutzt er die Gelegenheit uns lässt es erneut knacken.
   »Oah« stöhne ich laut. Aber erleichtert und fast schmerzfrei stehe ich von der Liege auf.
   »Du bist ein Phänomen, Steffen Simon. In Situationen, wo ich deine Hilfe brauche, bist du immer zur Stelle. Ich danke dir.« Als ich meine Anerkennung mit einem Kuss auf seine Stirn zeige, öffnet sich die Tür. Sophie schaut auf meinen blanken Po und wundert sich über meinen freien Oberkörper. Sie kommt gerade von einem Strandlauf zurück und hat von der Aufregung nichts mitbekommen.
   »Was ist denn hier los. Störe ich etwa? Dein Stöhnen ist bis auf die Straße zu hören. War es wenigstens schön?«
   »Schön? Nein Sophie, es war gigantisch. Steffen hat mir erst die Klamotten zerrissen und es mir dann hart auf der Liege besorgt. Es war so wahnsinnig, dass ich schreien musste. Ich habe vor Schmerzen geschrien, du blöde Pute. Steffen hat mich wieder eingerenkt. Was hast du denn vermutet?« Ich nehme mir einen Bademantel aus dem Schrank und verlasse das Geschäft durch die Ladentür. Ellen fängt mich auf dem Bürgersteig ab.
   »Hast du noch Schmerzen?«
   »Es ist auszuhalten, dank Steffen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was ich ohne ihn gemacht hätte.«
   »Dann hat es sich ja endlich einmal ausgezahlt, dass du in seine teure Ausbildung investiert hast.«
   »Du bist eine spitzzüngige, gehässige, alte Frau. Wann hörst du endlich auf, so feindsinnig über ihn zu sprechen. Steffen ist ein wunderbarer Mensch. Immer hilfsbereit und zuverlässig. Warum siehst du das nicht? Macht es dir Spaß, ihn seit Jahren zu verletzen und zu demütigen?«
   »Du meinst also, er ist ein guter Mensch.«
   »Genau, das meine ich.«
   »Gut genug für Sophie?«
   »Sag bloß, du weißt es?«
   »Ihr denkt, ich wäre verkalkt. Das bin ich nicht. Hier oben ist noch alles in Ordnung. Das mit den beiden geht doch schon seit Monaten. Aber sagt es mir einer? Nein! Nun drehe ich den Spieß um und mache mir einen Spaß daraus, deine feige Schwester hochzunehmen. Du solltest sehen, wie sie in die Luft geht, wenn ich etwas Negatives über ihn sage. Das ist einfach nur komisch. Lass mir doch die Freude und verrate mich nicht.«
   »Du bist garstig und hast einen Knall. Aber ich hab dich trotzdem lieb. Jetzt muss ich schnell nach Hause und mich umziehen. Die Leute schauen schon.«

 

Ich bin gerade angekommen, als das Telefon klingelt. Es ist die Schulleiterin, die mich darüber informiert, dass Clara über starke Baumschmerzen klagt. Ich verspreche, sie sofort abzuholen. Schnell packe ich Fiberthermometer, Wärmflasche und das Kuschelkissen ein und mache mich auf den Weg.
   »Was hast du gegessen?
   »Nur Toast und Obst, wie immer.« Ich bringe sie ins Appartement und Ellen setzt sich an ihr Bett. In der Küche bitte ich den Koch um eine Brühe. Aber Clara will nichts essen.
   »Fieber hat sie nicht, sagt Ellen und verlässt den Raum. Die Wärmflasche bringt nicht die erwünschte Besserung. Im Gegenteil. Clara wimmert immer lauter. Es klopft an die Tür und Steffen kommt rein.
   »Ellen sagt, du hast Bauchschmerzen? Zeig mal, wo genau tut es weh. Er tastet Claras Bauch ab und drückt seinen Finger rechts oberhalb der Leiste kräftig in ihre Bauchdecke.
   »Tut das weh?« Clara verneint. Erst als Steffen den Finger wieder herauszieht, schreit sie laut auf.
   »Ich tippe auf den Blinddarm. Es ist genauso wie damals bei Frederik. Erinnerst du dich? Komm, wir fahren sie ins Krankenhaus.«
 

Auf der Fahrt wähle ich ständig Tobias Handynummer. Es ist immer besetzt. Ich versuche es schließlich bei Valerie und erreiche sie prompt.
   »Ich muss Tobi dringend sprechen. Wir bringen Clara gerade ins Krankenhaus. Sag ihm bitte, er soll mich schnell anrufen.« Valerie verspricht es. Wir warten über eine Stunde in der Aufnahme bis sich der erste Arzt sehen lässt. Er bestätigt Steffens Verdacht und nimmt Clara stationär auf. Nach einer weiteren Stunde kommt der Arzt zurück und informiert darüber, dass ein OP Termin für den nächsten Morgen anberaumt wurde. Ich bleibe im Krankenhaus und Steffen fährt allein zurück. Ich bin wütend, dass Tobias sich immer noch nicht zurück gemeldet hat. Sein Anschluss ist pausenlos besetzt. Das kann doch wohl nicht sein. Ein Blick auf den Ladezustand meines Akkus macht mich noch nervöser. Schnell notiere ich die Rufnummer von Benjamin und Valerie, als sich das Telefon ausstellt. Ich versuche es weiter vom Münzfernsprecher auf dem Krankenhausflur. Endlich erreiche ich Benjamin.
   »Wo steckt Tobias? Ich warte seit Stunden auf seinen Rückruf. Hol ihn mir sofort ans Telefon, bevor ich ausraste!« Eine Krankenschwester kommt auf den Flur und legt den Zeigefinger auf ihre Lippen. »Psssss. Bitte sprechen Sie leise. Madame Martin, bitte, das ist das letzte Gespräch, das sie hier führen können. Das ist eine Kinderstation und hier muss Ruhe herrschen.« Ich beende das Gespräch. Ich muss mich dringend um ein aufgeladenes Handy kümmern. Trotz Telefonverbot rufe ich im Bistro an und bitte meinen Oberkellner, dafür zu sorgen, dass man mir schnell ein Handy oder mein Ladegerät bringt. Mir ist zum Heulen zu Mute. Typisch. Immer wenn es ernst ist, ist mein Mann abwesend. In mir wächst der Verdacht, dass Valerie es ihm gar nicht ausgerichtet hat. Die soll was erleben, wenn sie zurück ist. Eine halbe Stunde später klopft es leise an die Tür. Ich bin auf Steffen oder Timo gefasst, aber Arnaud kommt leise in das Krankenzimmer und schaut mich mitleidig an.
   »Hat Clara noch Schmerzen?«
   »Nein, sie schläft tief und fest. Sie hat Medikamente bekommen. Aber ich bleibe heute Nacht hier. Der OP Termin ist schon morgen früh um neun.« Mir kullern die Tränen über das Gesicht und mein Maître macht das, was eigentlich mein Mann hätte tun sollen. Er nimmt mich in den Arm und tröstet mich.
   »Ich habe dir etwas zu essen und zu trinken mitgebracht. Steffen hat mir deine Tabletten eingepackt. Er meint, du hättest bestimmt wieder Schmerzen.« Ich trinke ein Wasser und schlucke zwei Pillen, verbinde mein Handy mit dem Ladegerät und stelle erfreut fest, dass das Display wieder bunt leuchtet.
   »Wie lief das Geschäft. Konntest du so einfach weg?« Ich schaue auf die Uhr und bemerke, dass es schon kurz vor Mitternacht ist. Tobias hat nicht angerufen.
   »Hast du Zigaretten dabei?« Arnaud nickt. Wir gehen auf den Parkplatz und ich spüre, dass er immer näher kommt.
   »Bitte nicht. Ich mag dich, aber nicht so, wie du es dir vielleicht erhoffst. Mache es bitte nicht kompliziert. Ich will dich nicht als meinen Maître verlieren.«
   »Ich wünsche mir nur einen kleinen Kuss von dir. Nur einmal möchte ich zärtlich deine Lippen berühren und dich schmecken.«
   »Gute Nacht, Arnaud. Vielen Dank für alles. Ich melde mich morgen, wenn Clara wieder wach ist.« Ich gehe zurück ins Krankenzimmer. Mein erster Blick fällt auf das Handy. Tobias hat eine Nachricht geschickt. Hallo mein Liebling. Das Konzert war ein Riesenerfolg. Bin noch ganz beschwipst. Ich vermisse euch. 1000000 Küsse. Bis morgen.
   »Der hat ja wohl den letzten Schuss nicht gehört«, schimpfe ich laut und rufe ihn an. Im Hintergrund ist laute Musik zu hören und das schrille Lachen ist eindeutig Valerie zuzuschreiben.
   »Hallo Liebling, kannst du nicht schlafen?«
   »Bist du nicht ganz dicht oder tatsächlich ahnungslos? Ich sitze hier seit acht Stunden im Krankenhaus und warte auf deinen Rückruf. Clara wird morgen früh operiert. Entscheide selbst, ob du weiter feiern willst oder hier aufschlägst.« Ich lege sofort auf und stelle mein Telefon aus, rücke zwei Sessel zusammen und lege mich darauf, um ein wenig zu schlafen. Morgen werde ich mich nicht mehr rühren können, weiß ich, aber ich verzichte auf weitere Schmerztabletten.

Die Nacht ist kurz. Ich werde schon um halb fünf geweckt. Nicht vom Krankenhauspersonal, sondern von Tobi. Er steht blass und ungewaschen vor mir.
   »Ich bin per Anhalter bis Saint Maximin gefahren. Den Rest mit dem Taxi. Ich hab in der Nacht keinen Leihwagen mehr bekommen und die Züge fuhren auch nicht mehr.
   »Hat Valerie dir nicht ausgerichtet, was passiert war?«
   »Dann wäre ich wohl früher hier gewesen!« Er setzt sich zu Clara ans Bett und streichelt ihr Gesicht.
   »Sie hat einen ganz heißen Kopf.« Stöhnend erhebe ich mich aus den Sesseln. Die Schmerzen sind kaum auszuhalten.
   »Gib mir bitte meine Handtasche. Ich brauche dringend zwei Schmerztabletten.« Ich gebe meinem Mann eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse. Von Florence Kündigung, den Getränkekisten, Steffens Erster Hilfe und Sophies Eifersucht. Die Bitte des Maîtres, um einen kleinen Kuss, behalte ich für mich. Tobias geht Kaffee besorgen. Er kommt nach einer Weile mit zwei Pappbechern und einem Fiberthermometer zurück. Der Kaffee schmeckt wie Abwaschwasser und Clara hat 38.9 Fieber. Laut Aussage der Nachtschwester, kein Grund, die OP abzusagen.

Clara erwacht gegen elf Uhr. Sie hat Durst, darf aber noch nicht trinken. Christina und Sophie kommen ins Krankenzimmer und bringen der Frischoperierten einen CD Player und verschiedene Hörspiele mit.
   »Ihr könnt jetzt eine Pause machen. Wir bleiben eine Weile hier.« Tobi und ich nehmen das Angebot dankend an und fahren ins Bistro. Ich dusche im Appartement und Tobias bringt Ellen und Timo auf den neuesten Stand. Danach geht er hinüber ins SPA und bedankt sich bei Steffen für seine Hilfe.
   »Du musst besser auf Marie achten, wenn du vermeiden willst, dass sie irgendwann im Rollstuhl landet. Sie hat kaum noch Rückenmuskulatur. Ich wette, sie hat monatelang keine Übungen mehr gemacht hat.«
   »Willst du mir damit durch die Blume sagen, dass du sie nackt gesehen hast? Das weiß ich schon und es macht mir nichts aus. Ich sehe schon lange keinen Konkurrenten mehr in dir.«
   »Das siehst du richtig! Die Konkurrenz lauert woanders«. Steffen zeigt mit dem Finger in Richtung Küche.
   »Du meinst ihren Maître?«
   »Er ist schwer infiziert!«
   »Dann wirst du den Burschen für mich im Auge behalten müssen. Ich reise in einer Stunde ab. Mein Konzert beginnt um 20 Uhr und ich habe noch drei Stunden Fahrt vor mir.«
   »Du bleibst nicht hier?«
   »Ich kann Ben nicht hängen lassen. Er braucht mich für die nächsten Auftritte. Nur diesmal reise ich mit dem eigenen Wagen. Dann kann ich schneller zurück sein, wenn mal wieder Chaos ausbricht.« Weniger gelassen nehme ich die Nachricht von seiner Abreise auf. Ich starre ihn fassungslos an.
   »Marie, es war deine Idee, Ben auszuhelfen. Clara geht es wieder gut und du hast ein ganzes Netzwerk von Helfern. Warum machst du mir ein schlechtes Gewissen? Ich bin in spätestens zwei Wochen zurück. Komm und gib mir einen langen Kuss.« Ich zeige ihm den Stinkefinger und lasse ihn wortlos stehen.

Sarah klopft an die Fensterscheibe meiner Ente. Ich habe gerade den Motor angelassen und erschrecke, als ich meine Freundin mit einem kleinen Blumenstrauß in der Hand neben mir stehen sehe.
   »Fährst du zurück ins Krankenhaus? Dann nimm mich mit.« Die Beifahrerin krallt ihre Finger fest in den Sitz und sieht mich verängstigt an.
   »Geh vom Gas oder willst du uns umbringen? Was ist los mit dir? Ist mit Clara alles in Ordnung?«
   »Es ist Tobias, der mich so aufregt. Er hat das einmalige Talent, sich in entscheidenden Momenten zu verdrücken. Ich kann mich vor Schmerzen kaum rühren und darf mich jetzt um alles allein kümmern!«
   »Nun beruhige dich mal! Steffen und Sophie haben das SPA prima im Griff. Ich helfe dir gern im Bistro aus. In der Küche klappt dank Arnaud auch alles. Also wo ist das Problem?« Ich fahre auf den Seitenstreifen und mache eine Vollbremsung.
   »Arnaud wollte mich küssen. Gestern Abend auf dem Parkplatz.«
   »Und? Hast du ihn gelassen?«
   »Natürlich nicht!«
   »Dann ist doch alles in Ordnung.«

Clara teilt sich das Zimmer mit einem gleichaltrigen Mädchen. Die beiden sehen von ihren Betten aus fern und fühlen sich von den vielen Besuchern gestört. Ich lege ihr mein Handy in den kleinen Nachtschrank und gebe ihr einen Kuss zum Abschied.
   »Ruf mich an, wenn du dich einsam fühlst. Später kommen noch Timo und Steffen zu Besuch. Also viel Spaß ihr beiden.«

Für die Vorsaison ist das Bistro außerordentlich gut besucht. Der Frauentisch auf der Terrasse muss zahlenden Gästen weichen und die Damenriege setzt sich auf einen Kaffee an die Bar. Louis kommt an den Tresen und flüstert mir ins Ohr. »Die Muscheln sind seit 12 Uhr aus. Die waren bei René stets der Renner. Es sind schon viele Stammgäste angereist, die danach verlangen. Sie sollten mit dem Maître sprechen. Wenn ich ihm in den Einkauf reinrede, geht er mir glatt an die Gurgel.« Ich nicke. Sarah schaut zu mir und macht einen Kussmund. Danach fängt sie laut an zu gackern. Sofort wird sie von mir mit einem bösen Blick bestraft, der Ellens, Sophies und Christinas Neugierde weckt.
   »Dem Maître steht der Sinn nach...«
   »Halt die Klappe, Sarah. Du bist ja ein schlimmeres Plappermaul als Clara. Dir werde ich noch mal etwas anvertrauen.« Ich gehe in die Küche und Sarah geht beleidigt in den Salon.
   »Hast du einen Moment, Arnaud? Ich würde gern etwas mit dir besprechen.« Er legt sein Messer aus der Hand und wäscht sich die Hände. Mit einer Schreibmappe folgt er mir in den Gastraum.
   »Wir sollten uns um Verstärkung kümmern und Florence Posten neu besetzen. Ich werde morgen ein Stellenangebot aufgeben. Sag, was muss er oder sie an Erfahrung und Fähigkeiten mitbringen?« Er überlegt kurz und verspricht, ein Anforderungsprofil zu schreiben und es mir später zu geben.
   »Mein Vorgänger René war jahrelang für seine Muscheln Provencal berühmt. Die Stammgäste fragen danach. Wir sollten uns darauf einstellen und künftig mehr davon einzukaufen.«
   »Ich bin ein Chef de Cuisine und koche für das Mató. Wenn du eine Muschelbude daraus machen willst, dann brauchst du weder mich noch einen Sous Chef.« Er nimmt seine Mappe und verlässt erbost den Tisch. Ich kann kaum glauben, wie er sich benimmt und folge ihm in die Küche.
   »Timo und Louis, lasst mich einen Moment allein mit dem Maître!« Ich schließe die Tür und gehe aufgebracht auf Arnaud zu.
   »Du lässt mich nicht einfach stehen. Das ist eine Ungeheuerlichkeit!«
   »Gestern hast du mich stehen lassen«, sagte er im ruhigen Flüsterton. Ihm ist nicht entgangen, dass die ganze Belegschaft dem Disput vor der Tür lauscht.
   »Du wirst morgen die doppelte Menge Muscheln einkaufen. Und das ist keine Bitte, sondern eine Anordnung. Wenn du dir zu schade bist, sie zuzubereiten, dann lass es. Das schaffe ich auch noch nebenbei!« Ich reiße die Tür auf und sehe in die erstaunten Gesichter meiner Mitarbeiter. So in Rage haben sie ihre Chefin zuvor noch nie gesehen.
   »Was glotzt ihr? Habt ihr nichts zu tun?« Ellen reicht mir das Telefon. Tobias will mich sprechen. Er hat es schon auf dem Handy versucht, aber Clara war dran.
   »Was willst du?«
   »Wissen wie es dir geht, mein Schatz.«
   »Es ging mir nie besser!«, schreie ich ihn an und knalle den Hörer auf. Danach nehme ich die Autoschlüssel und rufe Ellen zu: »Komm Mama, wir fahren nach Hause.«
 

Die Sonne scheint und ich bringe die Auflagen für die Liegestühle auf die Terrasse, öffne eine Flasche Wein und stelle zwei Gläser auf den kleinen Tisch. Ich will mir für eine Weile Ruhe gönnen. Obwohl ich in der Nacht kaum geschlafen habe, bin ich nicht müde. Ellen nutzt den privaten Moment für eine Mutter Tochter Unterredung.
   »Wonach steht deinem Maître der Sinn? Was hat Sarah gemeint? Läuft da was zwischen euch? Muss ich mir um Tobi und dich Sorgen machen?«
   »Grund zur Sorge besteht nicht.«
   »Wenn dein Mann mit dieser frivolen Singdohle auf Reisen geht und du mit dem Koch flirtest, besteht kein Grund zur Sorge?«
   »Ich flirte nicht! Du siehst Gespenster!«
   »Lass es nicht soweit kommen. Du siehst ja, wohin es bei Christina und Timo geführt hat. Die beiden haben es eindeutig zu weit getrieben.«
   »Du selbst hast ihr geraten, sich einen Liebhaber zu suchen.«
   »Weder Sophie noch du habt je auf einen meiner Ratschläge gehört.«
   »Ja, wir wussten schon warum«, lache ich und Ellen setzt mit ein. Steffen unterbricht die lustige Unterhaltung mit einem Telefonanruf. Warum ich nicht zur Massage gekommen bin, will er wissen.
   »Ich habe Tobi versprochen, deine Übungen zu überwachen. Du musst dringend etwas tun.«
   »Du brauchst nicht den Wachmann für meinen abwesenden Mann zu spielen. Und diese blöden Übungen mache ich auch nicht. Ab morgen gehe ich wieder regelmäßig schwimmen.«
   »Aber kein Brustschwimmen. Nur in Rückenlage. Und nicht Kraulen!« Ich griene und beende das Gespräch mit einem Küsschen.
   »Steffen ist einfach einmalig.«
   »Ja, dein langjährige Ehemann, langjähriger Noch Ehemann, langjähriger Ex Ehemann und Schwager in spe ist schon ein prima Kerl.«
   »Das solltest du Sophie und ihm sagen und nicht mir!«

Louis erklärt mir die Zubereitung der Muscheln nach alter Rezeptur. Ich beschrifte gerade die Schiefertafeln im Außenbereich mit zwei Tagesgerichten. Pasta à la Chef und Muscheln Provencal, als Arnaud von seinem Einkauf zurück kommt. Er grinst mich frech an, als er die Annonce in Kreideschrift liest.
   »Du willst mich zu einem Wettkochen herausfordern?«
   »Ja. Die Bedingungen sind fair. Beide Gerichte sind preisgleich. Also, bist du bereit?« Er geht zum Schrank und zieht eine Kochkluft heraus und wirft sie mir zu.
   »Wie lautet der Einsatz?«
   »Der Gewinner darf bestimmen, wie wir heute unsere Pause verbringen.« Arnaud grient und ich bin mir sicher, dass er keinen Grund zur Vorfreude hat.
   »Du bleibst auch heute ungeküsst«, flüstere ich ihm zu, nehme meine Arbeitskleidung und verlasse die Küche. Auf dem Weg ins Appartement treffe ich auf Christina.
   »Bist du wieder mit Lemercier verabredet?«
   »Ja, er holt mich in zwei Stunden ab. Wir wollen gemeinsam zu Mittag essen.«
   »Ich hoffe, ihr speist hier. Ich bitte dich, Muscheln zu wählen. Es gibt einen Wettstreit, den ich unbedingt gegen Arnaud gewinnen muss. Bitte sag auch den Anderen Bescheid. MUSCHELN bestellen!«
   »Du machst es richtig, Marie. Du zeigst Tobias gleich, wo der Hammer hängt, wenn er Valerie dir vorzieht. Genieße es mit deinem Chefkoch.«
   »Habt ihr alle den Verstand verloren? Da läuft weder etwas zwischen Tobias und Valerie noch zwischen dem Maître und mir. Wir würden uns niemals gegenseitig so verletzen, wie ihr es gerade macht.« Ich ziehe mir Hose und Kochjacke an und fummel ungeduldig an den vielen Knöpfen herum. Christina hilft mir und schaut mich betreten an.
   »Du meinst, Timo ist verletzt?«
   »Er leidet offensichtlich. Wenn du ihm nur eine Lektion erteilen wolltest, dann kannst du jetzt aufhören. Er hat es begriffen. Ihr beide solltet dringend miteinander reden und euch den Ursachen eurer Probleme stellen.«

 

Ich probiere die erste Portion und stelle zufrieden fest, dass die Moules Provencal genauso schmecken, wie zu Renés Zeiten.
   »Hm lecker, magst du probieren?«
   »Zuviel Wein«, lautet Arnauds Urteil. Ich lasse mich nicht irritieren. Um ein Uhr führe ich mit sieben Gerichten Vorsprung. So langsam komme ich ins Schwitzen und mein Rücken schmerzt. Ich trinke ein Glas Wasser und schlucke zwei Tabletten.
   »Die Gastroküche ist nichts für Weicheier«, stänkert er und streicht mir eine lange Haarsträhne aus dem Gesicht.
   »Ich sehe hier kein Weichei, nur einen scheinbar schlechten Verlierer.« Um zwei Uhr steht das Ergebnis fest. Ich habe mit fünf  Portionen gewonnen. Es waren Ellen, Sophie, Sarah, Christina und Lemercier, die mir den Sieg einbrachten.
   »Und wo verbringen wir nun unsere Pause?«
   »Am Strand. Ich gehe Schwimmen. Wenn du dich traust, komme mit. Steffen oder Timo leihen dir bestimmt eine Badehose.«

Das Meer ist spiegelglatt und so klar, dass man den Boden sehen kann. Und schön kalt. Bei dieser Temperatur sollte mein Maître wohl kaum auf dumme Gedanken kommen.
   »Du hast geschummelt«, ruft er mir zu. »Du hast die Personalessen mitgerechnet.« Zur Strafe spritzt er mir mit seiner Hand so lange Wasser ins Gesicht, bis ich mich vom Rücken auf den Bauch drehe. Das Salzwasser brennt in meinen Augen und weil ich im Tiefen schwimme und keinen Grund unter den Füßen habe, komme ich ins Trudeln.
   »Willst du mich deshalb ertränken?«, rufe ich aufgebracht. Mit zwei kräftigen Schwimmzügen ist er bei mir und hält mich fest.
   »Küss mich schnell und ich vergesse deinen Betrug.«
   »Du schnallst es nicht, oder?« Obwohl Steffen es mir ausdrücklich untersagt hat, kraule ich schnell zurück an den Strand. Ich wickel meinen nassen Körper in ein großes Badehandtuch ein und beschließe, künftig allein in unserem Pool zu schwimmen. Wortlos gehen wir beide zurück. Gilbert wartet vor dem Bistro. Er will von mir wissen, ob ich ihn am Abend nach Toulon zum Auftritt von Tobi, Ben und Valerie begleiten will.
   »Es sind gerade mal 90 km. In einer Stunde sind wir da. Vorher fahren wir im Krankenhaus vorbei.«

Clara schläft schon. Es soll die letzte Nacht sein, die sie im Krankenhaus verbringen muss. Gilbert kennt den Weg. Er selbst hat in diesem Club schon oft gespielt. Der Türsteher winkt uns herein. Es läuft Musik vom Band und ich schaue auf die leere Bühne. Benjamin hat mich sofort entdeckt und begrüßt mich mit einer Umarmung.
   »Geht es Clara wieder besser?«
   »Wo steckt Tobi?« Ben schickt mich in den Aufenthaltsraum, der sich am Ende des Ganges befindet. Schon auf dem Flur höre ich Valeries Stimme.
   »Bitte Tobi. Es hat doch so wunderbar geklappt. Bitte, bitte!« Ich traue meinen Augen nicht. Die Sängerin sitzt auf dem Schoß meines Mannes und krault seinen Kopf, während sie ihn weiterhin schmachtend anbettelt.
   »Wenn du nicht willst, dass ich dir deine Finger breche, dann nimm sofort die Griffel von meinem Mann. Und solltest du noch einmal die Frechheit besitzen und meinen Anruf nicht ausrichten, dann Gnade dir Gott.« Ich drehe mich auf dem Absatz um und verlasse den Club. Tobi folgt mir.
   »Wo steht dein Wagen? Ich will hier weg. Sofort!«
   »Ach Marie, nun bleib mal ruhig. Es ist doch gar nichts los. Valerie war so in Euphorie über ein Lied, das wir heute geprobt haben. Das war alles. Aber es freut mich zu sehen, dass du doch ein bisschen eifersüchtig bist.«
   »Aha, sie war also nur in Euphorie. Na, das erklärt natürlich alles. Ich bin auch ständig in Euphorie und trotzdem steige ich nicht auf meinen Koch und tatsche ihn an. Aber wenn du meinst, dass das kein Grund ist, sich aufzuregen, dann halte dich auch schön daran, solltest du irgendwann noch mal nach Hause kommen.« Ich renne die Straße hinunter und drücke so lange auf den Autoschlüssel, bis ich die Rücklichter seines Wagens aufleuchten sehe. Ich brauche für die Rückfahrt nur 50 Minuten.

Das Mató ist bis auf den letzten Platz gefüllt. Ich sehe schon beim Einparken, dass Sarah und Ellen im Service aushelfen. Ein Blick über die Tische bringt mich zum Schmunzeln. Die meisten Gäste essen Muscheln. In der Küche lächele ich dem Maître freundlich zu. Mit einer Kelle schöpfe ich eine kleine Portion aus dem großen Topf und probiere.
   »Zuwenig Wein«, lache ich. Arnaud schaut mich irritiert an und kostet auch.
   »Findest du wirklich?«
   »Nein, ich mache nur Spaß. Sie sind perfekt und machen mich ganz euphorisch.« Ich lege meine Arme um ihn und küsse zärtlich seine Lippen. Timo traut seinen Augen nicht. Er folgt mir in den Gastraum und schreit mich an.
   »Was war denn das. Spinnst du?«
   »Ich habe meinen Küchenchef geküsst. Ich habe keine Bootstour mit ihm gemacht und auch nicht meinen Slip in seinem Wagen vergessen. Also kümmere dich um deine Angelegenheiten, damit solltest du ausreichend beschäftigt sein.« Während ich meine Runde mache und die Stammgäste begrüße, wird am Familientisch über mein schamloses Verhalten getratscht. Es geht auf Mitternacht zu und Ellen ruft mich zum wiederholten Mal.
   »Eure Meinung interessiert mich nicht. Haltet euch raus!«
   »Tobias hat angerufen. Er ist mit Gilbert auf dem Weg und wird in der nächsten Stunde hier eintreffen.«
   »Ausgezeichnet, Mama, dann kannst du ja mit ihm nach Hause fahren. Ich schlafe heute hier. Gute Nacht.« Ich gehe ins Appartement und nach einer kurzen Dusche lege ich mich ins Bett.

Ich schlafe noch nicht und weiß genau, dass es mein Mann ist, der nach einer Stunde an die Tür klopft.
   »Mach endlich auf. Ich will mit dir reden.« Bevor er die Anderen mit seinem Gebrüll weckt, öffne ich.
   »Wie kindisch ist dein Verhalten? Weshalb küsst du in aller Öffentlichkeit deinen Koch?«
   »Wäre es dir lieber, ich würde es heimlich hinter deinem Rücken machen? So wie du es mit deiner Singdohle machst?«
»Ich bin es leid, ständig für deine idiotischen Entscheidungen verantwortlich gemacht zu werden. Du wolltest das Bistro. Ich hatte dir eindringlich davon abgeraten. Jetzt ist es soweit und du bist völlig überfordert. Statt meine Hilfe anzunehmen, schickst du mich fort. Sobald ich weg bin, drehst du durch und bekommst einen deiner peinlichen Wutausbrüche vor unseren Freunden.«
   »Du nennst mich eine durchgeknallte Idiotin, die dir peinlich ist?  Gut zu wissen, was du für eine Meinung von mir hast. Und jetzt verzieh dich. Ich will schlafen.« Tobias wird lauter.
   »Hör auf, mich ständig wegzuschicken. Ich bin nicht Balou, der Platz macht, wenn du es ihm sagst.« Wutschnaubend steige ich aus dem Bett und durchsuche meine Handtasche nach den Schmerztabletten. Erbost werfe ich die leere Packung auf den Boden.
   »Du bist ein Weltmeister, wenn es darum geht, Tatsachen zu verdrehen. Aber diesmal kommst du damit nicht durch. Clara war gerade aus der Narkose erwacht, da hast du dich schon wieder verdrückt, obwohl du sehen konntest, wie schlecht es mir ging. Aus zwei Tagen Aushilfe wurde auf einmal ein Engagement von zwei Wochen. Du gehst auf Tour, obwohl wir selber ein Musik Bistro betreiben. Ich muss abends CDs spielen, weil mein Mann es vorzieht, sich vom »scharfen Feger« bezirzen zu lassen.«
   »Ich habe Valerie nicht geküsst. Sie und ich können auch schon eigenständig mit Messer und Gabel essen und müssen uns nicht gegenseitig füttern! Und Schwimmen war ich auch nicht mit ihr.«
   »Du bist ja erstaunlich gut informiert.«  
   »Solltest du dir das noch einmal herausnehmen, dann setze ich deinen Maître vor die Tür.« Ich schlüpfe in meine Schuhe und gehe hinunter in die Küche. Im Erste Hilfe Schrank suche ich nach Tabletten. Ich finde aber nur Ibuprofen und spüle drei Tabletten mit einem Glas Wasser hinunter. Als ich zurück komme, liegt Tobias schon im Bett und stellt sich schlafend.

In einer Hand den Kaffee, in der anderen eine Zigarette haltend, stehe ich im Hinterhof und überlege, wer der Spitzel ist. Da kommt ja wohl jeder in Frage, denke ich und beschließe den heutigen Tag auf Abstand zur Familie zu gehen. Von Weitem höre ich bereits die Stimmen von Sophie und Steffen, die zum Frühstück herunterkommen. Ich schleiche unbemerkt durch den Lieferanteneingang und steige in meine Ente. Mit mäßigem Tempo fahre ich zum Krankenhaus und hole Clara ab.
   »Möchtest du ins Appartement oder lieber zu Oma ins Haus?« Ihre Wahl fällt aufs Haus und ich bin froh über ihre Entscheidung. So bleibt mir Ellen für den heutigen Tag mit ihrer Anwesenheit und ihren Vorwürfen erspart. Ich nehme mir eine neue Packung Schmerztabletten aus der Hausapotheke und sage beim Rausgehen:
   »Versprich mir, dass du liegen bleibst. Spielen mit Balou ist noch nicht erlaubt.« Ich weiche den fragenden Blicken meiner Mutter aus.
   »Ich habe keine Zeit. Ich werde in der Küche gebraucht.

Ich schnappe mir eine saubere Kochjacke aus dem Schrank und gehe ins Appartement, um mich umzuziehen. Tobias ist bereits aufgestanden und sitzt bei den anderen am Familientisch. Als er mich in den Kochklamotten erblickt, steht er auf und zieht mich im Gastraum zur Seite.
   »Du wirst nicht ernsthaft in der Küche arbeiten. Willst du mich provozieren?«
   »Hörst du mir nicht zu, wenn ich dir etwas erzähle oder hast du Alzheimer. Dank Timo habe ich keine Sous Chefin mehr. Wer bitte soll nach deiner kompetenten Einschätzung das Essen kochen. Arnaud kann zwar gut küssen, aber hexen kann er auch nicht!« Mit großer Genugtuung schaue ich in das zornige Gesicht meines Mannes. Das war für die durchgeknallte Idiotin, mein Bester!
  »Ich fahre jetzt zu Clara,«, sagt er und zieht mit hoch rotem Kopf ab. Ich sehe ihm amüsiert hinterher und gehe in die Küche. Arnaud hat jedes Wort mitgehört.
   »Und das alles wegen einem harmlosen Kuss?«
   »Harmlos war er ja wohl nicht. Was stellst du mir denn für ein Zeugnis aus?« Er grinst mich frech an und geht an seinen Spint.
   »Sicherlich wird Tobi jetzt ins Krankenhaus fahren. Spätestens dort wird er explodieren, wenn er merkt, dass Clara bereits zu Hause ist.«
   »Hier ist das Anforderungsprofil, um das du mich gebeten hast.« Er zieht einen roten Schnellhefter aus seiner Aktentasche und reicht ihn mir. Ich will danach greifen, aber weil mir abrupt schwindelig wird, halte ich mich an der Tischkante fest. Mein Atem wird schwer und meine Knie geben nach.
   »Was ist mit dir, du bist kreidebleich!« Er reicht mir ein Glas Wasser und stellt mir einen Stuhl an den Tisch.
   »Hast du schon etwas gegessen? Hast du Schmerzen? Marie, sprich schon.« Ich deute auf meine Handtasche. Ohne hinzusehen öffne ich die Tablettenschachtel und schlucke gleich zwei Schmerzstiller.
   »Ärger mit Tobias schlägt mir immer gleich auf den Magen. Gib mir einen Moment. Gleich wird es wieder besser.« Arnaud nimmt mir die Schachtel aus der Hand und geht zu Steffen ins SPA.
   »Diese Dinger futtert Marie seit Tagen wie Bonbons. Sie ist weiß wie eine Wand und wäre fast umgefallen. Kannst du nicht mit ihr sprechen.« Steffen folgt dem Maître in die Küche und sie hören, wie Tobias und ich laut streiten.
   »Das hast du doch mit Absicht gemacht. Ich hab wie ein Idiot vor der Krankenschwester gestanden.«
   »Selbstverständlich habe ich Clara schon abgeholt. Vielleicht wäre dir wieder ein wichtiger Termin mit Valerie dazwischen gekommen. Das Risiko wollte ich nicht eingehen.«
   »Du spinnst total!« Tobias verlässt die Küche und Arnaud geht in den Kühlraum. Nun bin ich mit Steffen und Timo allein.
   »Wer von euch beiden hat ausgeplaudert, dass ich mit Arnaud schwimmen war?« Ich bekomme keine Antwort. Laut schimpfend gehe ich auf die Terrasse und stelle mich vor Christina auf. Sie sitzt gemütlich auf der Bank und nimmt ein Sonnenbad.
   »Komm mit, zu viel Sonne ist schlecht für den Teint und macht alt. Ich finde, du hast dich genug ausgeruht. Es wird Zeit, dass du dich mal nützlich machst. Geh in die Küche und helfe am Muschel Posten.« Entgeistert schaut sie mich an.
   »Du wirst doch wohl ein paar läppische Miesmuscheln nach Rezept zubereiten können. Wenn nicht, bleibt die Küche heute kalt. Ich bin raus. Ihr langt mir alle und ich brauche eine Pause von euch!« Christina traut sich nicht zu widersprechen und folgt mir.
   »Hier ist deine neue Sous Chefin für heute. Ich fahre jetzt nach Hause und kümmere mich um das Stelleninserat.« Ich nehme die rote Mappe und fahre nach Hause.

Clara sitzt auf dem Sofa uns schaut fern. Der Hund liegt zufrieden an ihrem Fußende und schläft. Ellen und Tobias sind auf der Terrasse und unterhalten sich über mich. Die beiden verstummen sofort, als ich zu ihnen nach draußen trete.
   »Oh, ich störe wohl!« Wütend gehe ich ins Elternschlafzimmer und lege mich aufs Bett. Fassungslos darüber, dass nicht nur mein Lokal von der Familie belagert wird, sondern ich mir in meinem eigenen Haus wie ein Eindringlich vorkommen muss, lösen die ersten Tränen aus.
   »Was war mit dir los? Steffen sagt, du hattest einen Schwächeanfall?« Tobias legt sich zu mir aufs Bett und streichelt meinen Rücken. »Wir machen uns Sorgen!«
   »Ihr macht mich alle krank! So habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich will mein altes Leben wieder haben. Ohne all die Plagegeister!«
   »Ja, unser Plan mit dem Mató Bistro & SPA ist deutlich in die Hose gegangen. Ich habe es mir auch anders vorgestellt.« Ich drehe mich um und drücke fünf Küsschen auf seine Lippen.
   »Lass uns die Bande rausschmeißen. Wir übernehmen wieder!«
   »Zuerst kümmern wir uns um geeignetes Küchenpersonal.« Ich hole den roten Schnellhefter aus meiner Tasche und werfe ihn Tobias zu.
   »Genau das habe ich vor. Lass uns ein Stellenangebot aufgeben. Lies mal vor, was muss der neue Sous Chef können.« Tobias liest das Schreiben und blickt erbost zu mir rüber.
   »Wer verarscht hier jetzt wen?«, fragt er laut und wirft die Mappe zurück aufs Bett. Ich verstehe nicht und lese selbst.
   »Er/Sie muss so sexy sein, wie du. So begeisterungsfähig sein, wie du. So küssen können, wie du. So schmecken, wie du. So lachen....... « Ich suche nach Worten. Das ist schon ein starkes Stück. Ich ärgere mich unbeschreiblich darüber, nicht vorher einen Blick hineingeworfen zu haben. Aber nun ist es zu spät. Tobi tobt!
   »Genug ist genug! Ich schmeiße deinen Maître raus. Jetzt sofort.«
   »Das wirst du schön bleiben lassen. Beruhige dich, ich werde mit ihm reden. Arnaud wird sich einen Scherz erlaubt haben. Ich will nichts von ihm und er weiß es auch.«
Tobias lässt sich nicht abhalten und ich begleite ihn. Schon auf der Fahrt wird mir unbeschreiblich übel. Ich bin mir sicher, dass das bevorstehende Donnerwetter nicht ohne Folgen bleibt. Das Lokal ist prall gefüllt. Alle Stühle sind besetzt und ich sehe, dass meine Crew am Schwimmen ist. In der Küche herrscht Chaos. Sarah bedient die Spülmaschine. Christina hat ihren Dienst nach 10 Minuten quittiert. Arnaud ist der Alleinkoch für 120 hungrige Gäste. Er schreit die Kellner an und beschimpft Sarah, die nicht schnell genug für Teller Nachschub sorgt. Ich flehe Tobias an.
   »Nicht jetzt! Lass uns erst das Mittagsgeschäft abwarten.« Ich renne ins SPA, um Verstärkung zu holen. Sophie ist bereit in der Küche auszuhelfen. Steffen verspricht, sofort nachzukommen, sobald Jean und Carlos eintreffen.
   »Es kommt gleich zu einer Katastrophe«, wimmere ich und beuge mich verkrampft nach vorn. Ich übergebe mich, noch bevor ich die Toilette erreichen kann in meine Hände. Steffen reicht mir einige Zellstofftücher und schaut mich entgeistert an. Ich habe Blut gespuckt. Völlig aufgelöst laufe ich in den Waschraum und säubere mein Gesicht und Hände. Ich zittere am ganzen Körper und betrachte mein schneeweißes Gesicht im Spiegel.
   »Kein Wort zu Tobi! Diesmal hältst du deine Klappe, du Spitzel.«
   »Ich habe kein Sterbenswörtchen gesagt. Aber das, meine Liebe, das wirst du ernst nehmen. Wir fahren sofort ins Krankenhaus.« Sophie kommt zurück und ruft nach mir.
   »Was quatscht du hier herum? Komm sofort rüber! Bei dir läuft gerade der Super Gau ab. Tobias hat deinen Maître vor die Tür gesetzt.« Ich gehe zu den Kellnern und trage ihnen auf, die Gäste darüber zu informieren, dass mit einer Wartezeit von einer halben Stunde zu rechnen ist. Dann verschaffe ich mir einen Überblick über die zahlreichen Bons und lege eine neue Reihenfolge fest.
  »Sophie, ich brauche Zwiebeln und Lauch aus dem Kühlraum. Tobias, öffne mir zwei Flaschen von dem Weißwein. Steffen, du kümmerst dich um die Salate. Wo stecken Timo und Christina?« In der Küche herrscht ein Ton wie auf einem Kasernenhof. Aber es traut sich niemand, der Kommandantin zu widersprechen. Das Mittagsgeschäft endet an diesem Tag statt um zwei erst um drei Uhr. Ich gehe zu meinen Masseuren ins SPA.
   »Ihr werdet vorerst durcharbeiten müssen und beide Schichten übernehmen. Es ist ein Notfall eingetreten. Ich brauche meine Schwester und Steffen in der Küche.« Danach stampfe ich in den ersten Stock und klopfe laut an Christinas Tür. Timo öffnet und schaut mich selig an.
   »Euer Langzeiturlaub ist vorbei. Entweder ihr packt mit an oder ihr packt eure Koffer. Entscheidet euch. Ihr habt genau eine viertel Stunde Zeit. Entweder ihr kommt runter und helft endlich, wie ihr es versprochen habt oder ihr verdrückt euch!«

Steffen passt mich im Treppenhaus ab.
   »Seit wann nimmst du diese starken Schmerztabletten. Und wie viele schluckst du täglich davon. Und lüge mich nicht an.«
   »Seit meinem ersten Bandscheibenvorfall. Da habe ich täglich ein bis zwei genommen.«
   »Du willst mir sagen, dass du diese Hammerpillen seit vier Jahren ununterbrochen schluckst? Habe ich dir nicht gesagt, dass du sie nach spätestens vierzehn Tagen absetzen musst. Das sind starke Medikamente, die süchtig machen. Sie sind für den Notfall gedacht!«
   »Hab du mal diese Schmerzen! Dann redest du anders.«
   »Du ignorierst jeglichen Rat. Rückenprobleme behandelt man mit Krankengymnastik, Akkupunktur und Massagen. Das solltest du doch wissen. Lange genug habe ich es dir gepredigt. Du wirst jetzt mit mir ins Krankenhaus fahren und dir den Magen spiegeln lassen.« Ich wiegele ab und begründe meinen Entschluss mit dem Küchen Chaos. Ich verspreche einen Untersuchungstermin beim ortsansässigen Internisten zu vereinbaren und beschwöre Steffen, auf jeden Fall die Klappe zu halten.
   »Du bist unverbesserlich!« Zusammen gehen wir an den Familientisch, wo sich Timo und Christina über meinen Auftritt beschweren.
   »Na, ganz Unrecht hat Marie wohl nicht. Von eurer groß angekündigten Unterstützung habe ich auf jeden Fall nichts mitbekommen«, sagt Steffen.
   »Also morgen müsst ihr die Küche ohne Marie und mich bewältigen. Wir haben einen Termin bei einem Winzer, der ist auch wichtig. Also teilt euch die Aufgaben nach Talent ein. Wer schnibbelt, wer kocht, wer richtet an, wer kümmert sich um den Abwasch.« Steffen erntet ungläubige Blicke.
   »Marie und du wollt zum Winzer fahren? Ihr beide seid die einzigen, die kochen könnt!«, sagt Sophie und erhält allgemeine Zustimmung.
   »Den Termin können wir verschieben«, sage ich und befürchte gleich aufzufliegen.
   »Auf keinen Fall. Wir fahren. Du hast es versprochen. Oder halten wir beide uns jetzt an keine Zusagen mehr?« Ich verstehe Steffens Drohung.
   »Tobias ist auch ein ausgezeichneter Koch. Zusammen mit Louis werdet ihr das wohl hinkriegen.«

Die Notlüge mit dem Winzer ist eine blöde Ausrede. Aber mein Exmann ist nicht sehr geschickt im Lügen und schließlich meint er es mal wieder nur gut. Vor dem Schlafengehen wird es noch einmal zum Thema.
   »Ist der Besuch bei dem Weinonkel wirklich so wichtig, dass du ihn nicht verschieben kannst?«
   »Weißt du Tobi, du hast den Maître vor die Tür gesetzt, obwohl ich dich gebeten hatte, mich das regeln zu lassen. Nun seht zu, wie ihr das morgen ohne mich schafft.«

Pünktlich um halb neun warte ich in der Ente vor dem Mató. Steffen hat noch am Vortag einen Termin zur Gastroskopie für mich vereinbart.
   »Du wirst eine örtliche Betäubung bekommen, dann ist es mit dem Schlauch schlucken nicht so unangenehm.« Während der Befragung durch den Arzt hält er meine Hand.
   »Sie haben schwarzen Stuhl bemerkt und Blut gespuckt? Rauchen Sie? Nehmen Sie regelmäßig Medikamente ein? Trinken Sie Alkohol? Hatten Sie in der Vergangenheit häufiger Stress?«
   »Sechsmal Ja!«
   »Während der Untersuchung werden wir eine kleine Gewebeprobe entnehmen und sie im Labor auf das Bakterium Helicobacter pylori untersuchen. Das ist der Hauptverursacher von Magengeschwüren.« Ich halte mich tapfer.
   »Frau Martin, wir haben einen Tumor entdeckt. Die Biopsie wird uns Aufschluss darüber geben, ob er gutartig ist oder wir es mit einem Magenkarzinom zu tun haben.« Der Arzt sieht auf die Uhr.
   »Wir bringen die Gewebeprobe sofort ins Labor. In vier bis fünf Tagen liegen verlässliche Ergebnisse vor. Bis dahin werden sie Medikamente einnehmen, die die Magensäure neutralisieren. Sie müssen ab sofort auf reizende Speisen, Alkohol, Kaffee und Nikotin verzichten. Gönnen Sie sich ein paar Tage Ruhe und bleiben Sie noch einen Moment liegen. Also wir sehen uns Ende der Woche.« Ich starre an die Decke. Die Worte Tumor und Magenkarzinom haben mir die Sprache verschlagen. Meine Atmung wird unruhig und Tränen schießen mir in die Augen.
   »Ich habe vielleicht Magenkrebs. Hat er das gemeint?« Ich zittere am ganzen Körper. Steffen drückt meine Hand ganz fest. Auch er ist kreidebleich und ringt nach Luft. Er schüttelt den Kopf.
   »Nein, das hat der Arzt nicht gesagt. Es geht nur darum, es auszuschließen.
   »Ich darf keinen Krebs haben. Ich bin Mutter einer neunjährigen Tochter. Was wird aus Clara? Oh Gott, Tobi wird damit nicht klar kommen. Warum ich, Steffen?« Ich bin kurz davor, den Verstand zu verlieren.
   »Werde jetzt nicht hysterisch!«, schreit er mich an. »Ich weiß, Geduld zählt nicht zu deinen Stärken, aber du musst jetzt abwarten und darfst nicht den Kopf verlieren.«
   »Steffen, versprich mir, kein Wort zu niemanden. Wenn alles gut ist, bleibt es unser Geheimnis. Sollte der schlimme Fall eintreten, werde ich es Tobi sagen. Versprichst du es mir?«
   »Du musst dich schonen! Ab sofort gehörst du ins Bett. Wie willst du das erklären?«
   »Wir schieben es auf meinen Rücken. Wenn du mitspielst, wird es klappen.«
Steffen fährt mich direkt nach Hause. Ellen bemerkt sofort, dass ich geweint habe.
   »Es ist wieder mein Scheiß Kreuz. Ich versuche, mich etwas lang zu machen. Ich lege mich zu Clara aufs Sofa und kann mich an meinem Mädchen nicht satt sehen.
   »Komm her mein kleiner Schatz und lass uns schmusen. Ich bleibe jetzt bei dir. Oma wird uns beide pflegen.« Immer wieder laufen mir Tränen über das Gesicht. »Es hört gleich auf, Mama, ich habe schon eine Tablette genommen.« Ich lasse mir von Ellen das Telefon geben und rufe im Bistro an. Sophie nimmt das Gespräch entgegen.
   »Wie seid ihr ohne uns klar gekommen?«
   »Mach dir keine Sorgen. Dein Louis hat hier alles im Griff. Habt ihr schöne Weine eingekauft?«
   »Ja, der Besuch auf dem Weingut hat sich gelohnt. Die Rotweine sind ganz hervorragend. Grüß alle und gebe Tobi einen dicken Kuss von mir.«

Steffen betritt das Bistro und lässt sich einen doppelten Cognac an der Bar einschenken. Als er Sophie erblickt, nimmt er sie fest in den Arm und küsst sie auf den Mund.
   »Hat alles geklappt? Haben die Winters sich wieder gedrückt oder endlich mal mit angepackt.«
   »Beide haben freiwillig gespült. Ich habe die Garnituren übernommen. Soll ich dir beim Ausladen der Weine helfen?«
   »Nicht nötig, Schatz. Marie hat nichts eingekauft. Sie bleibt bei ihrem alten Lieferanten.«
   »Du kommst sofort mit mir nach oben!« Sophie lässt sich nicht frech belügen. Im Appartement stellt sie ihren Zukünftigen zur Rede. Laut schreit sie ihn an.
   »Was ist das mit Marie und dir und erzähle mir nicht, dass ihr heute den ganzen Tag auf dem Weingut gewesen seid. Ihr solltet eure Geschichten besser absprechen. Sag mir doch klipp und klar, dass es zwischen euch noch nicht aus ist. Dann brauche ich mich hier nicht zum Deppen zu machen.«
   »Du machst dich gerade selbst zum Deppen, wenn du denkst, dass wir etwas miteinander haben.«
   »Ich will wissen, wo ihr gewesen seid. Sage es mir oder ich bin weg.« Tobias hört das laute Geschrei seiner Schwägerin. Er ist im privaten Appartement nebenan und hört bei geöffneter Tür, wie Steffen sich erklärt.
   »Ich habe Marie ins Krankenhaus begleitet. Sie hatte gestern schwere Magenblutungen und wurde heute untersucht. Sie haben einen Tumor gefunden. Ob es Krebs ist, stellt sich erst in ein paar Tagen heraus, wenn die Laborergebnisse vorliegen. Ich habe ihr fest versprechen müssen, nichts zu sagen.«
   »Oh mein Gott«, schreit Sophie und fängt sofort an zu weinen. Erschrocken schaut sie in Tobis Gesicht, der regungslos auf dem Flur steht. Steffen dreht sich ab. Er kann seinen Blick nicht ertragen. Keiner bringt einen Ton heraus. Tobias schüttelt ständig seinen Kopf und ringt nach Luft.
   »Ich bin ihr Mann. Warum spricht sie mit dir und nicht mit mir?«
   »Weil sie dich liebt. Sie hat unbändige Angst, dich verlassen zu müssen. Der Gedanke an dich und Clara hat ihr heute fast einen Nervenzusammenbruch beschert. Ich weiß es nur, weil sie direkt vor meinen Augen Blut gespuckt hat. Marie hätte es mir doch nie freiwillig erzählt. Sie hat der Untersuchung nur unter der Bedingung zugestimmt, dass ich den Mund halte. Das hat ja super geklappt.« Die drei gehen mit dem Versprechen, es keinem anderen zu sagen an die Bar und trinken einen Cognac. Tobias lässt sich überreden, bis Küchenschluss zu bleiben.

Das Haus ist dunkel, als er gegen elf Uhr abends heimkehrt. Ich liege noch wach im Bett und frage nach dem Geschäft.
   »Lass mich rasch duschen, dann bin ich gleich bei dir.« Er braucht den kurzen Moment um sich zu sammeln.
   »Hast du starke Schmerzen?«, fragt er und rückt ganz nah an mich heran. Ich knipste die Nachtischleuchte an und sehe in seine mit Tränen gefüllten Augen.
   »Steffen hat gepetzt!« Er nimmt mich fest in seine Arme und wir beide weinen bitterlich.
   »Ich verlasse dich nicht. Du wirst mich nicht los. Das habe ich mir fest vorgenommen.«
  »Gut, genau das wollte ich von dir hören.«

Ellen wundert sich. Sie hat Frühstück nach Vorschrift zubereitet und keiner greift zu. Ich lehne sogar den Kaffee ab, was sie richtig stutzig macht.
   »Ich trinke gleich einen Kaffee im Bistro. Wir schauen nur kurz nach dem Rechten und danach stechen für eine Weile in See. Tobi und ich brauchen einmal Zeit für uns.«

 

»Keinen Kaffee, keine Zigaretten, keinen Alkohol und keine Tabletten. Sag mir bitte, wie ich es bis Ende der Woche aushalten soll?«
   »Lass mich mal machen. Ich werde unsere trüben Gedanken schon vertreiben.« Wir machen einen Abstecher ins Mató und ich überzeuge mich, dass es auch ohne mich rund läuft. Ich koche Tee und stelle einen Korb mit magenfreundlichen Leckereien zusammen, während Tobias ununterbrochen mit seinem Handy telefoniert. Sophie nimmt mich fest in den Arm und zeigt mir, dass sie im Bilde ist.
   »Es wird gut ausgehen, ich spüre das.« Ich nicke und schlucke.

Vor einer kleinen Bucht wirft Tobias den Anker. Wir legen uns auf das Sonnendeck und blicken in den blauen Himmel.
   »Bevor unsere Mischpoke die Appartements in Dauerbeschlag genommen hat, hatte ich einen Plan. Ich hätte gern eines der Studios als kleine Musikschule genutzt. Clara Klavierspielen beizubringen, macht mir unheimlich viel Freude. Es wäre kein Fulltime Job und ich wäre nah bei dir. Wenn wir die Küchenfrage lösen und noch einen zweiten Oberkellner einstellen, brauchst du dich nur noch um das SPA zu kümmern. In Teilzeit, denn mit Frank, Jean, Carlos und Sarah sind wir personell gut bestückt. Wir hätten endlich wieder Zeit für uns und könnten abends wie Gäste auf der Terrasse sitzen. Wenn wir nach einer Feier nicht mehr nach Hause fahren wollen oder können, bleibt uns noch immer unser Appartement.«
   »Das klingt himmlisch.«
   »Dann gibst du mir dein OK? Ich werde alles in die Wege leiten.«
   »Du bist doch schon längst dabei. Oder mit wem hast du heute solange telefoniert?«
   »Du kennst mich, wie kein anderer.«
   »Stimmt und ich liebe dich, wie kein anderer.«
   »Ich weiß, Marie. Das lässt du mich jeden Tag spüren.« Der Coffein Entzug macht mich ganz hibbelig. Ich schenke mir einen Becher grünen Tee ein und stöhne.
   »Wie kann Steffen nur diese Plörre trinken?«
   »Steffen ist ein prima Kerl. Ich weiß gar nicht, warum ich das erst jetzt erkenne. Er und Sophie passen doch gut zusammen, oder?«
   »Ihn endlich glücklich zu sehen, nimmt mir eine enorme Last von den Schultern, die ich seit zehn Jahren mit mir rumschleppe. Und dass es Sophie getroffen hat, ist geradezu perfekt. Sie sind ein wirklich schönes Paar.«
   »Apropos Paar. Du weißt, dass Christina und Timo sich versöhnt haben? Sie gibt ihm eine allerletzte Chance.«
   »Ich habe es mir gedacht. Dein Bruder hat so selig geschaut. Diesen Blick kenne ich auch von dir. So wirst du auch gucken, wenn ich mit dir fertig bin.«

Am Freitagmorgen um acht Uhr ruft die Stationsschwester an. Sie bittet zum Gespräch mit dem behandelnden Gastroenterologen. Das Resultat der Untersuchung will sie am Telefon nicht Preis geben.
   »Das ist reinste Folter«, schimpfe ich ins Telefon. Es kann nur ein schlechter Befund sein, sonst hätte man es mir doch am Telefon gesagt. Nur schlechte Nachrichten werden persönlich übermittelt. Die Angst hat sich in alle Glieder verteilt. Gemeinsam fahren wir ins Krankenhaus. Die lange Wartezeit verbringe ich mit zählen. Von eins bis hundert und wieder zurück. Tobias betet.
   »Frau Martin, guten Morgen. Es ist ein schöner Morgen. Alles ist gut. Ihr Bösewicht hat sich als gutartiger Magenpolyp herausgestellt. Üblicherweise werden solche Polypen durch einen endoskopischen Eingriff abgetragen. Allerdings ist ihr Exemplar schon recht groß und ich möchte auf Nummer sicher gehen und das Risiko einer bösartigen Entwicklung minimieren. Ist es nach der Spiegellung zu weiterem Bluterbrechen gekommen?«
   »Nein, ich hatte keine Beschwerden mehr und ich habe mich strikt an Ihre Weisungen gehalten. Sogar Ihr Kaffeeverbot habe ich befolgt.«
   »Respekt, Frau Martin. Ich könnte das nicht«, lacht der Doktor. Peut à peut kommen die guten Nachrichten bei Tobias und mir an und unsere Gesichter entkrampfen sich.
   »Aber den Eingriff schieben wir nicht auf die lange Bank. Innerhalb der nächsten vierzehn Tage möchte ich Sie auf meinem OP Tisch sehen.« Er lässt uns allein im Behandlungszimmer zurück. Tobias drückt seine Stirn an meine und flüstert: »Das ist der glücklichste Tag in meinem Leben.«
   »Ja, lass uns feiern! Oh, Tobi, ich hatte solche Angst.«

Steffen und Sophie stehen vor dem SPA und nehmen die freudige Nachricht mit Jubelschreien auf. Nachdem der Freudentaumel abgeklungen ist, frage ich, wer denn in der Küche arbeitet.
   »Der Koch hat alles im Griff.« Ich gehe durch den Gastraum und werde von allen Kellnern freudig begrüßt. Louis winkt mir aus der Küche zu. Ich gehe zu ihm, um ihn zu begrüßen, als sich die Tür vom Kühlraum öffnete und ich in das Gesicht von René sehe. Ich bin im ersten Moment völlig sprachlos und bekomme eine Ganzkörpergänsehaut.
  »Du Lump du, du Verräter, du blödes Arschloch! Wo warst du? Und was machst du hier?«
   »Ich freue mich auch, dich zu sehen.« Tobias grient, denn es sind Freudentränen, die ich weine.
   »Das ist nicht nur der neue Maître, René ist auch der Betreiber des Mató Bistros. Er hat gestern seinen Pachtvertrag unterschrieben.«
   »Einen Knebelvertrag, wenn ich das sagen darf. Es ist mir unter Androhung körperlicher Gewalt untersagt, dich auf den Mund zu küssen. Sollte ich einmal beim Pokern erwischt werden, fliege ich sofort raus. Dafür, dass Tobi einmal im Monat kostenlos musiziert, bekommt ihr einen persönlichen Tisch auf der Terrasse.«
   »Es wird alles so wie früher«, heule ich. Nichts anderes habe ich je gewollt.

»Was feiern wir denn?«, will die Familie am Abend wissen.
   »Das ist eine Abschiedsfeier, nur für euch. Ihr werdet morgen abreisen. Von nun an schaffen wir es allein.«