Plagegeister
Tobias dreht sich auf die andere Seite und streckt seinen Arm aus, um meinen Körper zu berühren. Wenn er wie gewohnt, seine flache Hand auf meine Beine legen kann, schläft er beruhigt und entspannt weiter. An diesem Morgen ertastet er nur die kalte Bettdecke. Der Platz neben ihm ist leer. Ich bin bereits aufgestanden. Es ist noch stockfinster draußen und er setzt sich erstaunt auf. Schlaftrunken schlendert er durch das Haus, um mich zu suchen. Er findet mich frisch geduscht und mit einem Becher Kaffee in der Hand, hellwach am Schreibtisch sitzend. Seit einer Stunde brüte ich schon über dem kulinarischen Konzept für das neue Mató SPA & Bistro. Auf dem Boden habe ich zahlreiche Feinschmecker Magazine ausgebreitet, aus denen ich Fotos ausschneide, auf DIN A4 Papier klebe und in einen Ordner ablege.
»Du schreibst um diese Zeit nicht wirklich an der Speisekarte?«
»Doch, Tobi. Das ist das A und O. Solange wir nicht wissen, wie unser Angebot aussehen soll, kann ich mich nicht um passendes Küchenpersonal kümmern. Schau doch mal, was hältst du von dieser Idee?«
»Seit wann bist du schon wach?« Mit geschlossenen Augen setzt er sich neben mich auf die Stuhlkante. Im Halbschlaf lässt er meinen enthusiastischen Redeschwall über kleine Leckereien, exotische Delikatessen und regionale Spezialitäten über sich ergehen. Um diese Zeit steht ihm nicht der Sinn nach Essen, sondern nach Schlafen, mindestens noch zwei Stunden. Es ist schließlich Sonntag. Einer der letzten freien Sonntage vor der Eröffnung. Die vergangenen Wochen hat er mit Hochdruck an der Renovierung des neuen Ladenlokals und den darüber liegenden Wohnungen gearbeitet. Jetzt braucht er dringend eine kleine Ruhepause.
»Was sagst du?«
»Lecker! Aber nun komm wieder mit ins Bett!« Er nimmt meine Hand und zieht mich zurück ins Schlafzimmer. Mit einem leisen Grunzen schmiegt er sich an meinen Arm und nickt wieder ein.
»René hatte immer wechselnde Tagesgerichte im Angebot. Plat du jour, erinnerst du dich? Diese Mahlzeit nahmen auch alle Mitarbeiter vor der Abendschicht gemeinsam mit den Musikern ein. Das war ein schöner Brauch. Das möchte ich auch gern so machen. Was meinst du?« Tobias öffnet die Augen nur einen winzigen Spalt und blinzelt. Ich habe mich zwischenzeitlich auf seinen Bauch gesetzt und rede unentwegt auf ihn ein. Er schüttelt resigniert den Kopf, muss dann aber doch über meinen frühmorgendlichen Elan schmunzeln. Sein kurzes Lächeln wird sofort mit einem Kuss belohnt. Als seine Hände meinen Po fest umgreifen und er weitere Küsse einfordert, finde ich auch, dass die Speisekarte ruhig noch länger warten kann und ich halte endlich die Klappe.
Der Sonntag ist Familientag. Daran soll auch das neue Geschäft künftig nichts ändern. Ich verspreche es Mann und Tochter hoch und heilig. Wie ich das alles bewältigen will, ist ihm jedoch ein Rätsel. Die Leitung ist von einer Person allein, unmöglich zu leisten. Wenn die bisherigen Öffnungszeiten übernommen werden, wird das Lokal an sieben Tagen die Woche von sechs Uhr morgens bis nach Mitternacht geöffnet sein.
Sarah hat sich zum Nachmittagskaffee angekündigt und versprochen einen selbstgebackenen Kuchen mitzubringen. Ihr Klingeln macht Claras Fingerübungen am Steinway Flügel endlich ein Ende. Ich lausche der Tonleiter bereits eine geschlagene Stunde und mir dröhnt der Kopf. Auch Hund Balou bedankt sich für das Ende der täglichen Übungsstunde mit freudigem Schwanzwedeln.
»Es ist ein Gugelhupf geworden.«
»Mit Rum Rosinen?«
»Auf ausdrücklichen Wunsch deines Mannes habe ich ihn mit Schokoplätzchen gebacken.« Enttäuscht nehme ich ihr den Topfkuchen ab und bringe ihn in die Küche.
»Kommt Claire noch nach?«
»Sie hält noch bis 20 Uhr den Salon geöffnet, obwohl heute kein Mensch mehr zum Haareschneiden kommt. Bestimmt hat sie dann den ganzen Abend wieder schlechte Laune. Ich kann den Start der Saison kaum erwarten. Wenn ihr endlich eröffnet, läuft auch ihr Geschäft wieder an. Dann ist meine Liebste hoffentlich nicht mehr so missgestimmt.« Sarah lobt den Baufortschritt im Bistro. Die Sitzmöbel, die Tobias und ich ausgesucht haben, finden ihre besondere Anerkennung. Sie ist der Meinung, dass eigentlich schon alles fix und fertig aussieht und kann nicht verstehen, warum wir bis Mitte März mit der Eröffnung warten wollen.
»Die Zeit brauchen wir noch, um das Personal zusammen zu bekommen.«
»Übernimmst du nicht Renés Belegschaft?«
»Doch natürlich. Die, die noch übrig sind. Aber die Position des Küchenchefs muss ich neu besetzen. Das bereitet mir das größte Kopfzerbrechen. Finde mal einen Koch, der René das Wasser reichen kann.« Tobias rollt mit den Augen. Er hört es nicht gern, wenn ich so bewundernd von ihm spreche. Zwar weiß er genau, dass uns nur Freundschaft verbindet. Trotzdem ist er ein wenig eifersüchtig auf den Franzosen. Aber nicht nur auf ihn. Jeder Mann, der mir näher als zwei Meter kommt, wird mit bösen Blicken bestraft.
»Morgen früh, stellen sich die Ersten vor. Mal sehen, vielleicht klappt es ja und mein Maître ist schon dabei.«
Die drei kleinen Appartements im ersten Stock sind bezugsfertig. Die Einzimmerwohnung am Ende des Flurs haben wir für uns privat eingerichtet. Dort entstand ein Rückzugsort für die Familie, wenn nicht genügend Zeit sein sollte, nach Hause zu fahren. Die anderen beiden Studios sind für die Musiker bestimmt, die an den Wochenenden und Feiertagen gastieren sollen. Während der Monate Juli und August habe ich täglich Live Musik am Abend geplant. Die Räume sind zweckmäßig und trotzdem liebevoll ausgestattet. Mit Doppelbett, zwei Sesseln, einem Couchtisch, Einbauschrank und einer kleiner Küchen Pantry.
»Die Zimmer sind schöner, als die im Hotel de la Poste«, kommentieren Jean und Carlos das neue Domizil ihrer Musiker Kollegen.
»Marie, in diesem Jahr gibt es eine kleine Änderung. Du kannst nicht mehr die ganze Woche mit uns rechnen. Carlos und ich möchten nur noch an 5 Tagen arbeiten und zwar zusammen. Bitte teile uns so ein, dass wir gemeinsame Arbeitszeiten haben.« Diese Nachricht verdirbt mir sofort die Laune. Mit Jean, Carlos, dem schüchternem Frank und Freundin Sarah war die Mitarbeiterplanung eigentlich abgeschlossen. Nun tut sich wieder eine neue Baustelle auf. Ich bin mir sicher, Tobias noch nicht davon erzählen zu wollen. Das brauche ich auch nicht. Mein Mann steht im Türrahmen und hört das Gespräch mit an. Mit hängender Miene ruft er mich zu sich. Ich soll herunter kommen und den ersten Bewerber begrüßen.
Cillian ist Mitte dreißig und kocht bisher in der Großküche im Krankenhaus in Nizza. Das Gespräch wird von mir nach fünf Minuten beendet. Mit einem Kantinenkoch ist mir nicht geholfen. Der Bretone Elouan ist erst Anfang Zwanzig und sein Lebenslauf hat den Umfang der Bibel. Und zwar erstes und zweites Testament. Er hielt es bei keinem Arbeitgeber länger als zwei Wochen aus und ihm wurde überall noch während der Probezeit gekündigt. Der Spanier Juan ist eine Augenweide, erfahren, kreativ und absolut ambitioniert. Aber er spricht weder Deutsch, Französisch noch Englisch.
»Lerne ganz schnell eine Fremdsprache und komme wieder«, sage ich und verabschiede ihn mit einem lauten Seufzer.
»Das ist gar nicht nötig«, sagt Tobias. »Dieser Schönling wird nie in deiner Küche kochen!« Ich griene über seine Bemerkung. Murrend verlässt er das Bistro und macht sich auf den Weg, um einen Musikagenten zu treffen, der ihm Demos verschiedener Gruppen und Solokünstler zeigen will.
Meine Wahl fällt auf Arnaud. Der Küchenmeister ist Mitte fünfzig und hat hervorragende Referenzen. Er kochte schon auf der ganzen Welt. Zuletzt in einem kleinen Gourmet Restaurant in Aix en Provence, das kurz vor der Schließung steht. Ich bin mehr als glücklich über seine Bewerbung. Seinem Vorschlag, ein Probe Kochen zu veranstalten, stimme ich sofort zu.
»Mein Mann feiert übermorgen seinen Geburtstag. Ich habe das Fest hier im Bistro geplant. Unser Beikoch Louis will mir zur Hand gehen. Aber wenn Sie diese Aufgabe übernehmen wollen, dann ist das die perfekte Lösung.« Ich überreiche ihm die letzte Version, meiner Speisekarte und erhalte ein zustimmendes Lächeln.
»Ausgewogen, lecker und machbar. Allerdings werden wir ohne eine komplette Brigade während der Hauptsaison nicht auskommen. Ohne Sous Chef, Chef de Partie und Commis de Cuisine, fange ich nicht an. Meine Kollegen sind auch auf der Suche nach einer neuen Anstellung. Wir sind ein eingespieltes Team. Wenn Sie Interesse haben, bringe ich sie morgen mit und Ihr Mann bekommt ein Geburtstagsessen, von dem noch lange Zeit gesprochen wird.« Mir ist es nur lieb. So kann ich die Baustelle »Küche« ad acta legen. Um die Einkäufe will Arnaud sich selber kümmern. Als ich ihm Bargeld geben will, lehnt er ab. Das Telefon klingelt und so verabschieden wir uns auf die Schnelle. Clara sagt, dass Opa Paul und Oma Thea angekommen sind. Tobias Vater und seine Frau sollen das Gästezimmer im Wohnhaus beziehen. Für den Rollstuhlfahrer Paul kommt ein Appartement im ersten Stock nicht in Frage. Ich beeile mich, um die ersten Familienmitglieder zu begrüßen. Den Rest der Bande erwarte ich am nächsten Tag.
Im rasanten Tempo fahre
ich nach Hause. Clara soll nicht zu lange mit den beiden allein
sein. Unser Töchterchen liebt es, peinliche Geschichten zu
erzählen. Schon häufig hat sie Tobi und mich mit dem Ausplaudern
privater Angelegenheiten in arge Verlegenheit gebracht. Ich begrüße
meinen Schwiegervater mit Küsschen auf die Stirn.
»Schön, dass ihr gekommen seid.
Tobi wird auch gleich eintrudeln. Wo steckt Thea?«
»Sie packt unseren Koffer
aus.«
»Hallo Marie. Darf ich dir die
Blumen geben, die im Zimmer stehen. Das sind Primeln und gegen die
bin ich allergisch. Mit dem Ausdruck des Bedauerns, nehme ich ihr
den kleinen Blumentopf aus der Hand und bitte Clara, die Frühblüher
nach draußen auf die Terrasse zu bringen. Erst jetzt sehe ich die
Allergikerin genauer an.
»Mein Gott, Thea. Was ist mit
deinem Gesicht passiert. Kommt das etwa von den Blumen? Du siehst
ja aus, wie nach einer beidseitigen
Wurzelbehandlung.«
»Nein, Marie, lacht der Mann im
Rollstuhl. »Thea hat sich wieder unters Messer begeben. Alles für
die Schönheit!«
»Gehen die Schwellungen noch
zurück?«
»Die Schwellungen, wie du sie
nennst, sind gewollt. Ich habe mir die Wangen aufpolstern lassen.«
Paul lacht so laut und überschwänglich, dass er droht aus dem
Rollstuhl zu fallen. Ich kann ihn gerade noch auffangen. Bei der
Gelegenheit erhalte ich meinen obligatorischen Kniff in den
Po.
»Paul, du wirst immer frecher.
Doch nicht vor den Augen deiner Frau!«
»Das passiert mit ihrer
ausdrücklichen Erlaubnis. Ich darf in schöne Popos kneifen, solange
die Frauen nicht jünger sind als sie.« Ich bin geschockt. Soll das
etwa heißen, dass ich älter als Thea bin? Frau
Schnibbel-Schnibbel-Botox kann man wirklich schlecht schätzen. Aber
sollte sie tatsächlich jünger als ich sein, spricht das nicht für
ihren Operateur.
»Was möchtet ihr trinken? Pils
oder Wein?« Mit dieser Aufgabe verziehe ich mich an den Kühlschrank
und sehe durch das Fenster, Tobias eintreffen. Nach kurzer
Begrüßung kommt er zu mir in die Küche.
»Wie sieht Thea denn aus?«,
frotzelt er.
»Ja, diese Mischung aus
Goldhamsterbäckchen, Katzenaugen und Karpfenmund ist schon sehr
speziell.« Die Frage nach ihrem tatsächlichen Alter, kann er mir
auch nicht beantworten.
Die Familie hat es sich rund um den Kamin
gemütlich gemacht. Weil Thea mit übereinander geschlagenen Beinen
steif wie eine Wachspuppe auf dem Sessel sitzt und Paul seinen
eigenen Stuhl dabei hat, bleibt die große Sofalandschaft für uns
Hausbewohner frei. Clara ruft: »Fußmassage!« Wie zwei
Synchronschwimmerinnen strecken wir unsere Füße aus. »Aber ohne
Kitzeln.« Ich massiere die kleinen Kinderfüße, während sich Tobias
um meine Treter kümmert. Ich erzähle von Arnaud und Tobi berichtet
von seinem Treffen mit dem Musikagenten.
»Verbringt ihr eure Abende
immer so gemütlich?«, will Paul wissen. Zufrieden betrachtet er das
Bild einer glücklichen Familie.
»Bisher ja. Wie die Abende
künftig aussehen werden, will ich mir lieber nicht vorstellen. Aber
Marie hat versprochen, jeden Sonntag frei zu
machen.«
»Das spielt sich alles ein,
Paul. Dein Sohn macht schon wieder vorher die Pferde scheu. Nicht
kitzeln, hab ich doch gesagt!« Nach Clara gehen auch Paul und Thea
schlafen. Endlich kann Tobi mich nach dem neuen Koch
befragen.
»Wie alt ist er? Wo kommt er
her? Wie sieht er aus?«
»Er kommt aus Aix und sieht aus
wie Richard Gere.«
»Wie Richard Gere in Pretty
Woman oder so, wie er aktuell aussieht?«
»Ach, Tobi. Was interessiert
mich Richard, wenn ich dich habe.«
Timo ist mit dem
eigenen Wagen angereist. Mit Christina steht er in der
Ankunftshalle am Flughafen Nizza und wartet auf die Maschine aus
Hamburg, mit der Sophie und Ellen eintreffen sollen. Die Vier
kennen sich nur von Erzählungen. Gesehen haben sie sich noch
nie.
»Du wirst ihn sofort erkennen,
Mama. Er sieht aus wie Tobi. Seine Frau Christina leuchtet wie ein
Christbaum. Ihr Geschmeide funkelt dir schon auf hundert Meter
Entfernung entgegen«, beschreibe ich meinen Schwager und
Schwägerin. Sophie nimmt Ellen das Telefon aus der Hand und fordert
mich auf, ihr Timos Handynummer zu geben. Sie ist angefressen und
wie in letzter Zeit häufiger zu bemerken, gereizt und
übellaunig.
»Ich habe die Winters schon
zweimal ausrufen lassen. Wie lange soll ich mir hier noch die Beine
in den Bauch stehen? Also, sag an!«
»0049 170..« Weiter brauche ich
nicht anzusagen. Ich kann der lautstarken Begrüßung am anderen Ende
der Leitung entnehmen, dass sie sich nun endlich gefunden haben.
Eine Stunde später schlagen die Vier im Bistro auf.
Ich habe mehrere kleine
Tische zu einer Tafel zusammen gestellt und für ein zweites
Frühstück eingekauft. Paul beobachtet seinen Sohn dabei, wie er
flink mit mir den Tisch deckt. Anerkennend lobt er, dass wir beide
ein toll eingespieltes Team sind. Auch Thea bietet ihre Mithilfe
an, allerdings erst, als alles erledigt ist. Die ganze Familie ist
sich schnell darüber einig, zuerst einen Kaffee zu trinken, bevor
die große Führung beginnen soll.
»Der Kaffee im Flugzeug ist
eine Zumutung«, beschwert sich Ellen und erhält geschlossene
Zustimmung. »Wenn meine Mädchen und ich morgens keinen richtigen
Kaffee bekommen, ist der Tag für uns gelaufen. Heiß muss er sein
und stark.« Tobias rettet den Tag seiner Schwiegermutter und auch
Sophies Stimmung erhellt sich langsam. Ellen sitzt neben Paul und
erhält sofort ein Kompliment von ihm. »Sie haben Ihre guten Gene an
Ihre Töchter vererbt. Ich habe noch nie drei so schöne Frauen auf
einem Fleck gesehen.«
»Ihr Erbgut ist auch nicht von
schlechten Eltern. Ein Blick in Ihre Augen verrät mir, dass Sie
früher auch ein attraktives Exemplar gewesen sein
müssen.«
»Was heißt denn hier früher?«
Ich öffne zwei Flaschen Sekt und schlage vor, das alberne »Sie« zu
lassen. Die Runde prostet sich gegenseitig zu und nennt sich fortan
beim Vornamen. Ellen und Paul unterhalten sich angeregt. Sie haben
sofort Gefallen an einander gefunden. Zufrieden betrachten sie ihre
Kinder.
»Ich mag deine Marie. Sie hat das
Herz am rechten Fleck und was am Wichtigsten ist, sie macht meinen
Tobias unbeschreiblich glücklich.«
»Die beiden sind verliebt, wie
am ersten Tag. Wo steckt eigentlich unser Plappermäulchen. Ist sie
noch in der Schule?« Tobias sieht erschrocken auf die Uhr und macht
sich sofort auf den Weg, Clara abzuholen.
Ich bringe die Verwandten in die erste Etage
und zeige ihnen ihre Ein Zimmer Appartements. Sophie und Ellen
teilen sich das Doppelbett. Für zwei Nächte soll es wohl
gehen.
»Sag mal, wie sieht denn deine
Schwiegermutter aus. Wie kann man sich so entstellen lassen?«,
lacht Sophie. Ich plustere meine Wangen auf, ziehe mir die Augen
mit den Zeigefingern in Richtung Schläfe und mache eine
Plunschlippe. Sophie kreischt sofort los, als sie meine Grimasse
sieht.
»Das ist nicht lustig, Kinder.
Darüber macht man keine Witze. Die arme Frau hatte bestimmt einen
schweren Unfall und musste plastisch wieder hergerichtet werden.
Sie erinnert mich an Tante Ruth. Ihr kennt doch noch die garstige
Schwester eures Vaters. Sie hatte 1967 auch einen schweren
Verkehrsunfall. Die Glassplitter der Windschutzscheibe hatten ihr
die ganze Visage zerschnitten. Die sah genau so aus.« Ich kann mich
kaum noch halten und lasse mich gackernd aufs Bett
fallen.
»Nein, Mama. Thea hatte keinen
Unfall. Das hat sie freiwillig machen lassen. Sie ist süchtig nach
Schönheitsoperationen. Stellt euch vor, sie soll noch jünger sein
als ich.«
»Dann sollte sie den Chirurgen
verklagen!«, sagt Ellen. Mutter und Töchter lachen so laut, dass
Christina und Timo aus dem Nachbarzimmer herüber schauen. Ob es um
Thea geht, will Timo wissen und ich nicke.
Im Erdgeschoss herrscht buntes Treiben.
Arnaud bringt mit seinen Helfern kartonweise Lebensmittel in die
Küche. Erstaunt nehmen Clara und Tobias die Fremden wahr. Ich
stelle den neuen Maître vor. Bis auf die grauen Haare, kann Tobias
keine Ähnlichkeit mit Richard Gere entdecken und gibt dem Mann, der
für das leibliche Wohl seiner Gäste sorgen will, freundlich die
Hand.
»Darf ich Sie mit meinem Sous
Chef bekannt machen? Das ist Florence.« Der Sous Chef ist eine Sous
Chefin und wie sich wenig später herausstellt, die Nichte des
Maîtres. Arnaud lobt ihr Können auf jedem Posten, allerdings als
Patissière, soll sie unschlagbar sein. Ihre Desserts preist er als
»legendär« an. Ich begleite ihn in die Küche und lausche seinen
Vorschlägen.
»Wir werden heute Mittag von Arnaud
nach Strich und Faden verwöhnt. Er kocht uns wunderbare Gerichte
zum Vorkosten. Fischsuppe mit Rouille, Jakobsmuscheln und Steinpilz Ravioli mit
Trüffel-Buttersauce, Doradenfilet auf Ratatouille, Lamm-Filet an
Rosmarinjus, Kaninchenkeule mit einer Senfkräuterkruste und
Mais-Poularden an Morchel-Sauce. Also lauft nicht zu weit weg. In
zwei Stunden gibt es Essen.« Christina schlägt vor, einen
Spaziergang zu machen. Bis auf Ellen folgen ihr alle
Besucher.
»Was hältst du von ihrem neuen
Küchenchef. Findest du auch, dass er Ähnlichkeit mit Richard Gere
hat? Marie steht auf graue Haare bei Männern. Kann der Kerl mir
gefährlich werden?« Ellen lacht.
»Der ist nicht grau, sondern
friedhofsblond! Du bist nach fast zehn Jahren immer noch
eifersüchtig. Entzückend! Dabei weißt du, dass andere Männer bei
Marie keine Chance haben. Aber die Ähnlichkeit mit Richard Gere ist
nicht zu leugnen.« Tobias rückt seinen Stuhl, um freien Blick in
die Küche zu haben. Er beobachtet mich dabei, wie ich dem Koch bei
der Arbeit begeistert über die Schulter sehe. Wenn Arnaud, mir
einen Löffel zum Kosten herüberreicht und ich genussvoll die Augen
schließe, verzieht Tobias das Gesicht.
»Hm, wunderbar. Das ist
einfach göttlich, Arnaud.« Das ist zu viel Lob für seinen Geschmack
und er dreht sich wieder um. Meine überschwängliche Begeisterung
macht ihn wütend.
»Nun sieh dir an, wie
ungeniert sie mit ihm flirtet«, schimpft er.
»Mach dich nicht lächerlich.
Marie ist nur freundlich. Du kennst doch ihren Enthusiasmus, wenn
es ums Kochen geht. War das nicht einer der Gründe, weshalb du dich
in sie verliebt hast?« Ellen hat ins Schwarze getroffen und Tobias
muss ihr zustimmen.
Die Familie lobt die feinen Gerichte in
höchsten Tönen. Nur Clara und Tobias sind der Ansicht, dass mein
Boeuf Dijon um Klassen besser schmeckt. Diese Bemerkung im Beisein
des neuen Maîtres ist mir äußerst unangenehm. Aber er nimmt es
nicht als Majestätsbeleidigung auf, sondern fragt interessiert
nach.
»Ich nenne es Boeuf Dijon. Ein Rinderfilet mit einer
Estragon Senfsoße. Mein Geheimnis ist ein Tropfen Lavendelhonig an
der Soße.« Ich verspreche, ihn kosten zu lassen, wenn ich es das
nächste Mal zubereite. Die Dessert Variationen von Florence
überzeugen auch die beiden letzten Kritiker am Tisch. Timo rühmt
das Zitronen Mousse mit Orangensalat, als das Beste, das er je
gegessen hat. Seine flammenden Blicke an die Meisterin lassen
jedoch den Verdacht zu, dass seine Komplimente eher ihr persönlich
gelten, als ihren hervorragenden Kreationen. Florence ist eine
attraktive Erscheinung. Mit ihrer üppigen Ausstattung stellt sie
eher den Typ »Naturschönheit« dar. Ihr makelloser Teint braucht
kein Make Up. Ihre schwarzen Naturlocken kommen ohne Haarspray aus.
Sie ist das absolute Gegenteil von Christina, der die schmachtenden
Blicke ihres Mannes nicht entgehen. Aber Christina ist eine Dame
und ignoriert seine Balzerei so lange, bis sich die Gesellschaft
von den Stühlen erhebt und sie allein mit ihm ist.
»Letzte Verwarnung, Timo
Winter. Lass deine Gafferei, sonst reise ich sofort ab.« Sie
beschwert sich bei mir darüber, dass Timo seit seinem Rückzug aus
dem Geschäft, ständig jüngeren Frauen hinterher schielt. Dass er
das macht, stört Christina grundsätzlich nicht. Aber sie besteht
darauf, dass er es in ihrem Beisein unterlässt.
»Das ist demütigend und
beschämend. Nach über fünfundzwanzig Jahren habe ich mehr Respekt
verdient.« Ich stimme ihr zu.
Arnaud und Florence unterschreiben ihren
Vertrag und versprechen, am nächsten Tag den Küchendienst zu
übernehmen. Ich werde hektisch. Tobias soll endlich aus dem Bistro
verschwinden, damit meine geplante Überraschung nicht platzt. Leise
flüstere ich Paul ins Ohr, er soll den Wunsch äußern, ins Haus
gebracht zu werden. Er ist in meine Pläne eingeweiht und reagiert
sofort. Als die Luft endlich rein ist, telefoniere ich kurz und
gebe das Startzeichen für die Operation Geburtstagsüberraschung.
Timo parkt seinen Wagen direkt vor dem Eingang und holt eine lange
Rolle aus seinem Kofferraum. Es ist mir gelungen, Tobias erstes
Kunstwerk, das er unter dem Namen Mató gefertigt hat , aufzuspüren.
Die Collage, die er vor Jahren unter dem Motto »Legenden«
angefertigt hatte, trägt Konterfeis berühmter Soul, Jazz und
Rockgrößen. Timo kaufte das Werk einer Galerie in New York ab. Nun
soll es den Gastraum des neuen Bistros schmücken. Ich warte auf das
Eintreffen von Benjamin. Der befreundete Saxophonist versprach,
sich um den Aufbau der Bühne zu kümmern und erklärte sich bereit,
für das Geburtstagskind mit weiteren Künstlern zu musizieren. Das
Klavier, das ich zuvor mit ihm ausgesucht und gekauft habe, wird
pünktlich angeliefert und gestimmt. Ich bin voller Hochspannung.
Tobias rechnet mit einer kleinen Feier im Familienkreis. Ich habe
eine Big Party geplant, zu der alle Freunde eingeladen
wurden.
»Wenn du noch einmal von einem
Vierundvierzigjährigen geküsst werden willst, dann komm schnell her
zu mir. Gleich ist es Mitternacht«, lockt er mich ins
Bett.
»Morgen sind wir beide zusammen
einhundert Jahre alt«, lache ich.
»Deine Mutter hat angeboten,
sich während der Startphase um Clara zu kümmern. Hat sie es dir
schon erzählt?« Ich verziehe das Gesicht. Mir ist die enge
Vertrautheit zwischen den beiden suspekt. Ellen hat mir bisher nie
privat unter die Arme gegriffen. Sie zeigte weder Interesse an
Frederik, noch an meinen vier Enkeln. Jetzt im hohen Alter von über
80 bietet sie ihre Hilfe wie Sauerbier an. Tobias findet die Idee
fabelhaft. Nur deshalb stimme ich zu.
Als wir gegen 18.00 Uhr vorfahren, ist das
Lokal bereits gefüllt. Sarah und Claire haben sich um den Einlass
der heimlichen Gäste gekümmert und Benjamin spielt zum Eintreffen
des Geburtstagskindes laut auf. Die Überraschung ist rundum
gelungen. Gerührt nimmt er die Glückwünsche und zahlreiche
Geschenke entgegen. Als er das Klavier bestaunt, fliegen seine
Finger flink über die Tasten. Mit dieser kurzen Musikeinlage geben
sich die Anwesenden nicht zufrieden. Nach lautstarker Aufforderung
setzt er sich ans Piano und musiziert mit Benjamin. Kurz darauf
gesellt sich auch Valerie dazu. Sie gehört seit kurzem fest zu
Benjamins Ensemble. Die im Ort bekannte Sängerin, macht das Trio
komplett. Als das Lokal noch Restaurant René hieß, war sie solo
unterwegs. Schon damals hat die junge Blondine ein Auge auf Tobias
geworfen. In brünstig singt sie von unerfüllter Liebe und rückt
immer näher an den Pianistin heran. Valerie kann jeden Mann haben.
Jeder der Anwesenden hätte sich glücklich geschätzt, von der
Mittdreißigerin so angesehen zu werden. Aber sie will Tobias. Das
ist nicht zu übersehen.
»Schau nur, wie schamlos diese
ordinäre Singdohle deinen Mann anschmachtet. Was sagst du
dazu?«
»Dass sie einen ausgesprochen
guten Geschmack hat, Mama, was soll ich sonst sagen?« Ich verlasse
den Gastraum und gehe in die Küche, wo Arnaud mit der Zubereitung
der Muscheln Provencal beschäftig ist. Mit Sarah, Claire und Sophie
bringe ich die Portionen an die Tische. Als Letzte setze ich mich
an den Familientisch und höre mit Erstaunen, was während meiner
Abwesenheit besprochen und beschlossen wurde.
»Selbstverständlich helfen wir
euch. Wozu ist Familie denn da!«
»Von Gastronomie habe ich keine
Ahnung. Aber im SPA kannst du mich einsetzen. Da kenne ich mich
aus«, lautet der Vorschlag von Sophie.
»Und Christina und ich
übernehmen täglich eine Schicht im Bistro. Ob morgens oder abends
ist uns gleich«, bietet Timo an. Ich traue meinen Ohren nicht.
Entsetzt schaue ich meinen Mann an. Aber angesichts seiner
Begeisterung über diese Angebote, kann ich mir seiner Unterstützung
nicht sicher sein.
»Ich kann dir nur damit helfen,
in dem wir schnellstens wieder abreisen. Thea und ich sind nur eine
Belastung für dich.«
»Dann ziehe ich morgen gleich
ins Gästezimmer. Was meinst du Clara, wir beide werden viel Spaß
mit einander haben«, sagt Ellen. Ich gehe in die Küche und schenke
mir einen doppelten Cognac ein. Anders ist diese Nachricht nicht zu
verdauen.
»Das ist nicht der edelste
Tropfen, aber zum Flambieren der Beste. War etwas mit dem Essen
nicht in Ordnung oder warum schauen Sie so böse?«
»Arnaud, das Essen war perfekt.
Kommen Sie, lassen Sie uns Brüderschaft trinken. Ich heiße Marie
und ich brauche hier dringend einen Verbündeten, der nicht mit mir
verwandt oder verschwägert ist.« Timo kommt mit einem Tablett
schmutzigen Geschirr in die Küche und hält Ausschau nach Florence.
Sie steht in der Abwaschzone und räumt saubere Teller aus dem
Geschirrspüler.
»Ich helfe Ihnen. Wohin damit?«
Florence deutet auf ein offenes Regal aus Edelstahl. Der eifrige
Timo nimmt ihr den Stapel Teller aus der Hand und lässt ihn
Sekunden später fallen.
»Die sind ja kochendheiß!«,
entschuldigt er sich. Ich hole Besen und Schaufel und bitte ihn,
zurück zur Feier zu gehen. Das laute Scheppern ruft Christina auf
den Plan.
»Ich glaube, ich spinne! Seit
Jahren weigerst du dich, in der Küche einen Handschlag zu rühren
und hier willst du freiwillig beim Abwasch helfen?« Sie nimmt sich
ein frisches Geschirrhandtuch und hilft dabei, die Gläser zu
polieren. Jedes zweite Glas zerbricht unter ihren Händen. Nach nur
fünf Minuten haben die Winters einen Schaden von rund zweihundert
Euro verursacht.
»Es geht doch nichts über
Fachpersonal«, stöhne ich und bringe auch die Glasscherben in den
Müll. Im Gastraum machen sich Jean und Carlos mit der neuen SPA
Leitung Sophie bekannt. Ich wundere mich. Obwohl meine Schwester
passabel Französisch sprechen kann, fordert sie die beiden Masseure
auf Englisch heraus.
»Warum bietest du keine
medizinischen Massagen nach Dorn und Breuss an? Du nutzt das
Potential deiner Mitarbeiter nicht richtig aus. Die
Behandlungszeiten werde ich auf 45 Minuten reduzieren, damit
erhalten wir eine bessere Auslastung. Die Preise passe ich gleich
morgen an. Mach dir keinen Kopf, ich manage das schon.« Ich
schlucke. Am liebsten wäre ich meiner Schwester an die Gurgel
gegangen. Aber es ist der Geburtstag meines Liebsten und ich nehme
mir fest vor, nicht auszurasten. Ellen winkt aufgeregt. Ich soll
mich zu ihr setzen. Aber ein Funken Weisheit, den ich mir in meinem
fünfundfünfzigjährigen Leben angeeignet habe, rät mir, nicht zu
gehen. Ratschläge und Änderungsvorschläge meiner Mutter kann ich
jetzt unmöglich auch noch ertragen. Die Musiker machen eine Pause.
Während Benjamin sich auf eine Zigarette nach draußen begibt, legt
Tobias eine CD ein. Valerie fängt ihn sofort ab und bittet darum,
mit ihm zu tanzen. Wie eine Katze schmiegt sie sich an ihn um legt
ihre langen, dünnen Arme um seinen Hals.
»Vielleicht später, Valerie.
Zuerst tanze ich mit meiner Frau«, sagt er und macht sich auf die
Suche nach mir. Ich habe mich zu dem Raucher auf den Bürgersteig
gesellt.
»Gib mir rasch einen Zug ab.«
Eine ganze Zigarette lehne ich ab. Ich habe Mann und Kind fest
versprochen, mit dem Rauchen aufzuhören. Ganz habe ich es noch
nicht geschafft. Ein bis zwei Mal täglich werde ich noch
rückfällig. An diesem Abend hätte ich gerne Kette geraucht. Tobias
erwischt mich dabei, wie ich gerade einen tiefen Zug nehme und er
schüttelt den Kopf. Aber angesichts der vielen Mühe, die ich mir
mit dem Fest gegeben habe, will er mir nicht böse sein. Er umarmt
mich von hinten und küsst meinen Nacken. »Danke für die schöne
Feier, mein Schatz. Sag, ist es nicht wundervoll, dass uns die
Familie unterstützen wird?«
»Ja, ganz toll«, lüge ich.
Valerie lungert vor der Herrentoilette und wartet darauf, dass
Tobias zurück kommt. Den Rücken an die Wand gelehnt, bringt sie
ihren Körper in Position. Mit einer Hand zieht sie ihren Rock
höher. Mit der anderen Hand ergreift sie seinen Arm und zieht ihn
zu sich. »Ich will mit dir Geburtstag feiern. Komm her zu mir und
nimm mich. Ich verspreche dir, es wird der
Wahnsinn.«
»Valerie, ich stehe nicht auf
billigen Sex. Wenn ich den Wahnsinn erleben will, dann schlafe ich
mit meiner Frau. Hör endlich auf damit und begreife
endlich!«
Das Magazin und die Kühlräume sind gefüllt.
Die Bestecke geputzt und alle Tische sind sauber eingedeckt. Arnaud
kocht für den Eröffnungstag ein Tagesgericht mit frischen
Flusskrebsen. Timo und Christina können nun die Kaffemaschine und
den Bierzapfhahn eigenständig bedienen. Die Eröffnung ist ohne
großes Bimbam geplant. Die befreundeten Geschäftsleute aus der
Nachbarschaft erhalten einen Gratis Kaffee und eine persönliche
Begrüßung der neuen Patronin. Mehr soll es nicht geben. Sarah
überbringt mir einen großen Blumenstrauß.
»Der ist von René. Ich soll dir
liebe Grüße bestellen. Er hat ihn eben bei mir abgegeben. Selbst zu
kommen, hat er sich nicht getraut.« Ich laufe sofort auf die
Straße, aber ich kann ihn nicht mehr entdecken.
»Dieser feige Hund«, schimpfe
ich. Ich kann ihm immer noch nicht verzeihen, dass er den Laden
aufgab und sich ohne ein Wort des Abschieds aus dem Staub
machte.
»Geht es ihm gut? Wie sieht er
aus? Weißt du, wo er jetzt wohnt?« Sarah hat keine Antworten auf
meine Fragen. Nachdem ich den Strauß vergeblich nach einer Karte
abgesucht habe, stelle ich die Blumen ins Wasser und platziere die
Vase auf dem Tresen. Jedes Mal, wenn ich an dem Blumenarrangement
vorbei gehe, seufze ich leise.
»Er hat sie über die Maßen
enttäuscht«, erklärt Sarah dem ungläubig schauenden Timo. »Die
beiden verband eine innige Freundschaft.« Ich mache meine Runde auf
der Außenterrasse und komme mit einer Hand voll Bestellungen zurück
und rufe Carlos aus dem SPA zu mir herüber.
»Wir müssen in der Anfangszeit
ein wenig improvisieren. Wenn du keine Anwendungen hast, dann
unterstütze mich bitte hier im Bistro.« Der Physiotherapeut stimmt
ohne Murren zu. Anders als Louis, der ehemalige Beikoch. Er
beschwert sich lautstark bei mir darüber, dass ihn der neue Maître
nur zu niederen Arbeiten einteilt.
»Ich bin Koch und kein
Abwäscher«, schimpft er aufgebracht.
»Du bist ein wichtiges Mitglied
in unserem Team. Wenn Arnaud meint, er braucht dich am Spüler, dann
wird er seine Gründe haben. Kopf hoch, Louis, es spielt sich bald
alles ein.« Während ich noch immer den tobenden Ex Beikoch
beruhige, klingelt mein Handy. Ellen bittet darum, abgeholt zu
werden. Sie weigert sich, meinen Wagen zu fahren. Mit der Schaltung
meiner Oldtimer Ente will sie sich im hohen Alter nicht mehr
anfreunden.
»Wenn ich euch unterstützen
soll, dann brauche ich ein Auto mit Automatik. Fahre mit mir zu
einer Autovermietung. Die Kosten übernehme ich. Du brauchst ja
nicht selber zu kommen. Schicke mir Christina rauf. Ich warte vor
dem Haus.« Das war keine Frage. Das war eine für Ellen typische
Anordnung. Ich suche nach meiner Schwägerin, aber ohne Erfolg. Sie
lässt sich bei Claire die Haare blondieren und fällt mindestens
noch für eine Stunde aus. Ich bitte Timo, den Fahrdienst zu
übernehmen. Ungern unterbricht er seinen Balztanz, den er vor
Florence aufführt. Aber er fährt los. Eine Stunde später kommt
Ellen zurück. Sie lenkt einen Mercedes E Klasse und findet keinen
Parkplatz für den Kombi. Sie parkt in zweiter Reihe mitten auf der
Straße und verursacht ein lautes Hupkonzert.
»Warum hast du dir einen so
großen Wagen ausgesucht? Du weißt doch, dass du nicht einparken
kannst.« Ungläubig fasse ich mir an die Stirn.
»Automatikgetriebe gibt es hier
erst ab der Premiumklasse. Nächste Woche tausche ich den Wagen
gegen eine Limousine. Damit habe ich kein Problem.« Hoffentlich,
wünsche ich mir, während ich über eine halbe Stunde nach einer
großen Parklücke suche. Nach meiner Rückkehr ist die Terrasse voll
besetzt und die ersten Gäste essen im Innenraum zu Mittag.
Christina, sitzt noch immer unter der Trockenhaube und Carlos ist
allein im Service. Er nimmt an allen Tischen die Bestellungen auf
und bringt die Bons zum Maître. Allerdings fehlt ihm die Zeit, die
fertigen Gerichte aus der Küche abzuholen. Die Tellergerichte
stauen sich am Pass und Arnaud, schimpft laut.
»Die Bouillabaisse ist bereits
kalt. Die könnt ihr nicht mehr servieren.« Ich schnaube und brauche
eine halbe Stunde, um Ordnung in das Chaos zu bringen. Verärgerte
Gäste sind das Letzte, was ich am Eröffnungstag gebrauchen kann.
Trotzdem rufe ich nicht nach Tobi. Ich will meinem Mann nicht schon
am ersten Tag zeigen, dass er mit seiner Vermutung richtig
liegt.
»Das spielt sich bald alles
ein«, sage ich zu mir und gebe den wartenden Gästen einen
aus.
Das Mittagsgeschäft ist überstanden. Ich
bitte Florence, die Kuchen Variationen auf die schwarze
Schiefertafel zu schreiben. Die ersten Gäste, die die leckere Tarte
bestellen sind der Bäcker Rosier und Monsieur Lamard, der Inhaber
der Confisserie im Ort. Sie loben den Kuchen, doch es ist ihnen
anzusehen, dass es ihnen missfällt, dass nun das Gebäck in
Eigenregie angefertigt wird. Bisher haben Sie das Restaurant René
mit frischer Ware beliefert. Valerie winkt mir von der
gegenüberliegenden Straßenseite zu. Mit ihren Highheels stöckelt
sie über den stark befahrenen Asphalt. Für 16 Grad Außentemperatur
ist sie recht dünn bekleidet. Sie trägt ein eng anliegendes
Chiffonkleid mit Spagettiträgern und verzichtet auf einen BH. Ihre
harten Nippel zeigen jedem Betrachter, wo bei ihr vorne
ist.
»Ist Tobi gar nicht
da?«
»Er wird bald kommen. Benjamin
und er besorgen noch einen Verstärker für die Anlage. Komm, setz
dich und trinke einen Kaffee.« Ellen mustert die Sängerin und ihr
Blick macht kein Hehl daraus, was sie von ihr
hält.
»Die sieht ja aus wie eine
Straßennutte.«
»Ja, vulgär«, stimmt Christina
ihr zu. Sie ist nach drei Stunden vom Friseur zurück. Das frische
Goldblond passt nun wieder exakt zum Ton ihres üppigen Geschmeides.
Der Christbaum hat sich wieder auf Hochglanz polieren lassen. Sie
lässt sich und Ellen von ihrem Mann Kaffee bringen. Zu dritt
genießen sie die ersten Strahlen der Märzsonne im
Freien.
»Na, du hast ja fleißige
Helfer«, sagt Arnaud, der sich für eine kurze Pause nach draußen
setzt. Ich lächele ihm zu.
»Das spielt sich bald
ein!«
»Hast du die Tagesuppe
probiert?« Ich verneine. Bisher hatte ich noch nicht einmal Zeit,
einen Kaffee zu trinken, geschweige denn zu essen. Arnaud erhebt
sich vom Stuhl und kehrt kurz darauf mit einer heißen Suppe
zurück.
»Aufessen! Du brauchst Kraft
für diesen Wahnsinn!« Ich koste mit geschlossenen Augen. Der
Augenaufschlag, den ich meinem Maître schenke, hätte meinen Mann
sofort zur Verzweiflung gebracht.
»Ein Gedicht, Arnaud. Du bist
genial.«
»Eine heiße Suppe wäre jetzt
für mich genau das Richtige«, mischt Valerie sich
ein.
»Tut mir leid, Madame. Die
Tagessuppe ist aus. Die letzte Portion habe ich für meine schöne
Arbeitgeberin aufgehoben«, lacht Arnaud und beendet seine
Pause.
»Habe ich da Funken fliegen
sehen?«, fragt Ellen.
»Ach Mama, du nicht auch
noch!«
»Was sagst du, Christina. Sieht
der Koch nicht aus wie Richard Gere?« Auch sie kann ihm eine
gewisse Ähnlichkeit nicht absprechen.
Der schüchterne Frank begrüßt mich mit einer
Umarmung. Ich stelle meiner Schwester den dritten Masseur
vor.
»Der spricht ja kaum Deutsch.
Das kann ja heiter werden.«
»Schwesterchen, wir sind hier
in Frankreich. Da ist es nicht ungewöhnlich, dass die Menschen ihre
Landessprache sprechen. Was soll dein Getue? Warum weigerst du dich
Französisch zu sprechen? Ich weiß, dass du es kannst.« Sophie zieht
ein Gesicht. Sie ist noch immer beleidigt, weil ich ihre
Optimierungspläne abgelehnt habe. Um als schnöde Hilfskraft zu
agieren, ist sie nicht geblieben. Sie hat gute Ideen, wie man mir
unter die Arme greifen kann. Manchmal muss man mich zu meinem Glück
zwingen. Genau das, hat Sophie auch vor.
»Tobi, kannst du mir nachher den Wagen noch
umdrehen. Ich kann den Mercedes unmöglich rückwärts die Auffahrt
runter fahren. Ich war schon beim Bäcker. Gleich gibt es Frühstück.
Ihr könnt noch zehn Minuten liegen bleiben. Danach fahre ich Clara
zur Schule.« Ellen hat ohne Anzuklopfen das Schlafzimmer betreten
und weckt uns um 6.30 Uhr. Ich habe genau vier Stunden geschlafen
und bin hundemüde. Mit der Aussicht auf einen starken Kaffee steige
ich aus dem Bett. Ich nehme meinen Morgenmantel und schleppe mich
in die Küche. Mein Blick fällt auf den Hund Balou, der Unmengen
Trockenfutter in sich hinein schlingt.
»Wie viel Futter hast du ihm
gegeben?«
»Das ganze Napf voll.« Sofort
ziehe ich dem Hunde das Fressen unter der Nase
weg.
»Willst du das arme Tier
umbringen? Er darf maximal eine Tasse davon. Das Futter quillt in
seinem Magen noch auf und das Volumen verdoppelt sich. Es ist lieb
gemeint, Mama, aber künftig füttere ich den Hund selber.« Den
zweiten Schock erleide ich, als ich zum Tisch gehe, um Clara einen
Morgenkuss zu geben. Sie verspeist gerade eine Brioche mit
Nussnougatcreme und trinkt dazu eine Coca Cola.
»Was geht denn hier ab? Clara,
du solltest es besser wissen. Es ist nicht nett, Omas Unwissenheit
so auszunutzen. Nussnougatcreme ist hier tabu! Sie bekommt zum
Frühstück eine Scheibe Vollkorntoast, Obst und ein Glas Milch. Das
war so und das bleibt so. Es hat mich viel Mühe gekostet, diese
Regel einzuführen. Du brauchst auch morgens nicht zum Bäcker zu
fahren. Croissants und Brioche gibt es bei uns nur sonntags.«
Tobias steht unter der Dusche und bekommt von meiner
frühmorgendlichen Aufregung nichts mit. Er setzt sich in
Boxershorts und Shirt an den gedeckten Tisch und freut sich über
die reichliche Auswahl an buttrigen Gebäckwaren.
»Lecker, dein Frühstück, Ellen.
Du verwöhnst uns ja richtig.« Ja, genau. Bevor du hier
aufgeschlagen bist, gab es für meine Familie nur Wasser und trocken
Brot, denke ich und werfe meinem Mann einen bösen Blick
zu.
»Marie, dann fahre du mir doch
den Wagen runter. Ich will Tobi jetzt nicht bemühen. Er soll in
Ruhe frühstücken.« Ich greife nach den Autoschlüsseln und rangiere
den Mercedes in Fahrtrichtung.
»Mama, du kennst den Weg zur
Schule? Wenn nicht, ist es auch nicht schlimm. Dann fahren wir
heute noch einmal zusammen.«
»Glaubst du, ich bin verkalkt?
Behandle mich nicht so. Es reicht, dass ich mir das dumme Geschwätz
von Sophie anhören muss.« Oma und Enkelin machen sich auf den Weg
und ich atme tief durch. Ein zweiter Kaffee und eine heiße Dusche
bringen mich wieder auf Trab.
»Du musst schon los? Ich hatte
gehofft, wie könnten die Zeit zum Kuscheln nutzen, wenn Ellen jetzt
weg ist.«
»Ich lasse die Jungs mit dem
Frühstücksgeschäft nicht allein. Nicht böse sein. Das spielt sich
ganz bald ein.« Tobias verspricht, rasch nachzukommen und erhält
einen langen Kuss zum Abschied.
Louis wurde vom Maître während der
Frühschicht vom Abwäscher zum Frühstückskoch befördert. Sarah
bedient die Kaffeemaschine. Timo und Christina schlafen noch fest.
Ich komme gerade rechtzeitig. Ich serviere gerade zwei petit
déjeuner auf der Terrasse, als ich glaube, an Wahnvorstellungen zu
leiden. Ich blicke in die Augen meines Exmannes Steffen, der mit
zwei großen Koffern in der Hand vor mir steht. Er begrüßt mich mit
Küsschen auf die Wange und strahlt über das ganze
Gesicht.
»Was zum Geier machst du denn
hier?« Ungläubig schaue ich ihn immer wieder von oben bis unten
an.
»Sophie sagt, du brauchst meine
Unterstützung im SPA. Dir fehlt ein Masseur. Hier bin ich.« Ich
stelle mein Tablett ab und stampfe die Treppe zum Appartement
Nummer eins herauf. Mit der geballten Faust trommel ich wild an die
Tür und schreie: »Mach sofort die Tür auf, du blöde Kuh!« Es dauert
einen Moment bis Sophie gehorcht. Sofort brülle ich
weiter.
»Hast du den Verstand verloren?
Wie kommst du dazu, Steffen herzubitten. Ist das Chaos denn noch
nicht groß genug?«
»Wenn ich dich unterstützen
soll, brauche ich jemanden im SPA, der mich versteht. Mit Frank
klappt es einfach nicht. Er weigert sich, Englisch mit mir zu
sprechen. Nun sei doch nicht so undankbar und freue dich lieber,
dass wir dir alle helfen wollen.«
»Das wirst du Tobias erklären!
Du ganz allein!« Ich schnaube vor Wut und bin fassungslos. Sophie
begrüßt Steffen und trägt sein Gepäck in den ersten Stock. Er zieht
zu ihr ins Appartement. Für die kurze Zeit soll es wohl gehen.
Schließlich sind sie keine Fremden. Sie kennen sich seit
siebenunddreißig Jahren. Der Stammtisch, der früher für die
Residenten reserviert war, wird nun von der Großfamilie belagert.
Ellen, Timo und Christina trinken gemütlich ihren Kaffee und
schauen den Kellnern bei der Arbeit zu, als Sophie und Steffen dazu
stoßen. Als Ellen ihren Ex Schwiegersohn erkennt, bricht es aus ihr
heraus.
»Was hast du denn hier
verloren? Wird man dich denn nie los? Du klebst ja wie Pattex an
uns.«
»Dein Benehmen ist
ungeheuerlich, Mama. Steffen ist hier, um Marie zu helfen. Also
schlage einen anderen Ton an!«, schimpft Sophie.
Arnaud und Florence kommen vom Großmarkt
zurück. Timo geht der schönen Sous Chefin beim Ausladen zur Hand
und der Maître zeigt mir die frischen Edelfische, die er gerade
erstanden hat.
»Heute nehmen wir Loup de Mer
auf die Tageskarte. Bist du einverstanden?« Ich nicke. Mir ist der
Appetit gründlich vergangen. Meine Helfer steigen von Kaffee auf
Wein um und unterhalten sich angeregt. Sarah beobachtet das
Schauspiel vom Tresen aus und amüsiert sich über
mich.
»Mach mal ein freundliches
Gastgebergesicht. Mit dieser Miene verschreckst du ja die
Gäste«.
»Ja, stimmt. Besonders
freundlich schaust du heute nicht. Komm mit mir in die Küche. Ich
habe etwas für dich vorbereitet, das deine Stimmung heben wird.«
Ich folge Arnaud. Mit einem Satz springe ich auf den stabilen
Edelstahltisch und lasse mich mit geschlossenen Augen
füttern.
»Hm, Champagner Trüffelschaum«,
rufe ich entzückt. »Ganz exzellent!« Als ich die Augen wieder
öffne, steht Tobias vor mir. Er braucht nichts zu sagen. Ich folge
ihm sofort.
»Das ist ganz allein auf
Sophies Mist gewachsen. Ich habe ihn nicht gebeten zu kommen. Er
stand mit zwei Koffern vor mir. Ich war selbst überrascht. Jetzt
teilt er sich das Appartement mit meiner
Schwester.«
»Wovon sprichst
du?«
»Na, von Steffen. Was hast du
denn gemeint?« Tobias kommt nicht mehr dazu, mir zu sagen, was er
meinte. Clara stürmt auf mich zu und berichtet, dass sie am Morgen
das erste Mal zu spät zum Unterricht gekommen ist. Die Lehrerin hat
sehr mit ihr geschimpft. Dabei hat Oma die ganze Schuld. Sie hat
sich verfahren. Ich soll eine schriftliche Entschuldigung
schreiben, sonst gibt es einen Eintrag ins Klassenbuch. Clara ist
völlig aufgelöst. Ich bin stink sauer.
»Jetzt reicht es mir!« Ich bin im
Begriff auf die Terrasse zu stürmen und meiner angestauten Wut
freien Lauf zu lassen. Aber Tobias hält mich zurück. Timo bestellt
beim Kellner eine weitere Karaffe Wein und erkundigt sich, ab wann
man zu Mittag essen kann. Ich drehe mich auf dem Absatz um und gehe
in die Küche.
»Pack mir bitte drei Portionen
Plat du jour ein. Ich nehme sie mit und koche zu Hause selbst für
uns. Ich muss hier schnellstens raus, sonst passiert noch ein
Unglück.«
Wir fahren mit
getrennten Wagen nach Hause. Als ich die Haustür aufschließe,
quiekt Hund Balou vor Freude. Er hat bereits in die Diele
gepinkelt. Ich mache sauber, räume den Frühstückstisch ab und
bereite das Mittagessen. Danach schreibe ich eine Entschuldigung
für Clara und schicke sie mit dem Hund hinaus in den Garten. Als
Tobias mich in den Arm nimmt, fließen die ersten
Tränen.
»Das ist ein Albtraum, Schatz.
Deine Helfer bringen mich um den Verstand.«
»Dir fehlt nur Schlaf. Deshalb
bist du so gereizt. Leg dich zwei Stunden aufs Ohr. Ich wecke dich
später. Heute Abend begleite ich dich und dann nehme ich mir Sophie
zur Brust.« Ich bin gerade eingenickt, als das Telefon klingelt.
Ellen will wissen, wo ich den Wagen geparkt habe. Das ist das Ende
meiner Siesta.
Mit den Worten, keine Cola, Clara geht
spätestens um acht Uhr ins Bett und der Hund muss alle drei Stunden
zum Pieseln raus, verabschieden Tobias und ich uns. Das
Abendgeschäft ist bereits angelaufen und das Mató ist fast Familien
frei. Nur Timo sitzt in der Küche und schaut Florence beim
Teigkneten zu.
»Sophie und Steffen sind auf
ihrem Zimmer und Christina schläft auch schon. Sag mal, Tobi,
würdest du mir morgen dein Boot für eine kurze Tour ausleihen.
Zwei, maximal drei Stunden. Aber sage nichts zu meiner Frau. Ich
brauch mal ein paar Stunden Ruhe vor ihr.« Tobias stimmt zu. Ich
habe genug gehört, denn ich ahne schon, was mein Schwager vorhat
und strafe ihn mit bösen Blicken.
»Der sticht morgen mit Florence
in See. Sie hat ihren freien Tag. Wetten? Und du unterstützt das
auch noch. Statt ihm ins Gewissen zu reden.« Arnaud mischt sich
ein.
»Die beiden sind erwachsen. Da
kannst du nichts machen.«
Ich habe meine Wette gewonnen. Gegen zehn
Uhr bricht Timo mit Florence auf. Christina kommt kurz darauf
runter und trinkt einen Kaffee an der Bar.
»Nein, Marie, ich wollte nicht
mit. Steffen hat mir eine Massage versprochen. Die ziehe ich der
starken Brandung eindeutig vor.« Ungläubig schaue ich ihr
nach.
»Meine Helfer machen hier
fetten Wellness und Erlebnis Urlaub auf meine Kosten. Lange sehe
ich mir das nicht mehr an«, schimpfe ich. Arnaud lacht und hält mir
ein Bouquet mit frischen Salbeiblättern unter die
Nase.
»Tief einatmen. Das beruhigt.
Heute gibt es Entenleber in Salbeibutter. Bist du
einverstanden?«
»Ganz wunderbar!« Tobias
betritt die Küche und ruft:
»Ellen steht auf dem Parkplatz
vor dem großem Supermarkt und kann ihren Wagen nicht wiederfinden.
Wer hat Zeit, ihr bei der Suche zu helfen?« Ich verziehe das
Gesicht. Mit einem lauten Stöhnen greife ich mir die Wagenschlüssel
und fahre mit der Ente los. Meine Wut weicht, als ich meine Mutter
weinend vor dem Haupteingang stehen sehe. Sie hat ein
Vollkorntoastbrot unter dem Arm und ich schäme mich für meine bösen
Gedanken.
»Das ist mir auch schon oft
passiert«, schwindel ich und nehme Ellen erst einmal in den Arm.
»Komm Mama, steig ein. Wir fahren den Parkplatz ab. Zusammen werden
wir den Wagen schon finden.« Ellen sieht sich außer Stande, in
ihrem aufgewühlten Zustand den Mercedes zu lenken. Ich notiere den
Standplatz und fahre ohne Kombi mit ihr zurück. Nach unserer
Ankunft übertrage ich Sophie und Steffen, die Aufgabe, den
Leihwagen zu holen.
»Ich finde es unverantwortlich,
dass du Mama noch Auto fahren lässt. Merkst du nicht, wie sie
abgebaut hat?« Ich nehme mir den Vorwurf zu Herzen und stimme
meiner Schwester zu.
»Lass mich mit Sophie fahren.
Ich muss ohnehin Clara von der Schule abholen«, sagt Tobias. Erst
jetzt erblickt er Steffen. Wenig erfreut begrüßt er meinen
Exmann.
»Na, bist du wieder gekommen,
um Marie deine ewige Liebe zu gestehen. So langsam erinnerst du
mich an Bill Murray aus dem Film: Und täglich grüßt das
Murmeltier.«
»Und wie ich sehe, hast du
deine Eifersucht noch immer nicht im Griff, aber es besteht ja noch
Hoffnung. In deinem jugendlichen Alter ist man ja noch
lernfähig«
»Halt die Klappe, Pattex! Deine
Zeit ist abgelaufen. Das musst du doch irgendwann mal begreifen«,
schimpft Ellen. Sophie schüttelt entgeistert den Kopf und ich gehe
genervt in die Küche.
»Wo ist der Salbei,
Arnaud?«
Mit einem Lächeln der
Zufriedenheit kehrt Timo von seinem Ausflug zurück. Er hat einen
Bärenhunger mitgebracht und ich verspüre große Lust, meinen
Schwager in den Hintern zu treten. Clara meckert über das
Mittagessen.
»Ich mag keine
Leber.«
»Komm, wir gehen zu Arnaud in
die Küche. Er macht dir sicherlich etwas anderes«. Zehn Minuten
später erhält sie ein kleines Hähnchen Cordon Bleu mit frittierten
Kartoffelecken.
»Steffen, nach deiner Massage
fühle ich mich wie neugeboren. Das darfst du gerne regelmäßig
machen.« Sophie mischt sich ein.
»Mal sehen, ob Steffen einen
Termin frei hat. Er ist schließlich angereist, um Maries zahlende
Kunden zu behandeln.«
»Das ist der erste vernünftige
Satz, den ich hier heute gehört habe«, sage ich und bringe meinen
leeren Teller in die Küche.
»Danke für die Extra Mühe, die
du dir wegen Clara gemacht hast.«
»Alles, was in meiner
kulinarischen Macht liegt, dich wieder lächeln zu sehen, übernehme
ich mit Freude.«
»Ach Arnaud, du scheinst mir
hier der einzige Normalo zu sein.«
Vier deutsche Touristen nehmen auf der
Terrasse Platz. Die Männer studieren die Speisekarte und winken den
Ober an ihren Tisch.
»Vier Pils und vier Mal
Schnitzel mit Pommes«, bestellt der Älteste der Gruppe. Der Kellner
versteht nicht und fragt auf Französisch und Englisch
nach.
»Vier Pils und vier Mal
Schnitzel mit Pommes«, wiederholt der Deutsche in doppelter
Lautstärke. Ich übernehme den Tisch.
»Die vier Pils gehen in
Ordnung, meine Herren. Allerdings Schnitzel und Pommes werden Sie
bei uns auf der Speisekarte nicht finden.«
»Wenn Ihr Koch son Gedöns
kochen kann, wird er doch wohl in der Lage sein, ein Stück Fleisch
zu panieren.«
»Wenn Sie das Gedöns nicht zu
schätzen wissen, sollten Sie sich ein anderes Lokal zu suchen.
Vielleicht ist die Côte d’Azur nicht der richtige Urlaubsort für
Sie. Versuchen Sie es doch auf Mallorca am Ballermann. Da soll es
hervorragende Schnitzel geben.« Ich lasse das prollige Quartett
unbedient am Tisch zurück. Danach geht es mir auf Anhieb
besser.
»Das war nicht sehr
freundlich«, bemerkt Sophie.
»Der Gast hat einen
unverzeihlichen Fehler begangen und ihren Maître beleidigt«,
frotzelt Tobias. Ich ignoriere die Spitze meines Mannes und fahre
Clara und Ellen nach Hause. Nach einer Stunde Schlaf bin ich bereit
für die zweite Runde.
Stolz zeigt Christina eine neue Kette, die
Timo ihr am Nachmittag geschenkt hat. Mir wird beim Anblick des
Goldschmucks ganz anders zu Mute. Ich frage mich, ob sich meine
Schwägerin dumm stellt oder sie tatsächlich ahnungslos
ist.
»Mit mir könntest du das nicht
machen, mein Lieber«, zischel ich Timo zu.
»Mit dir, hätte ich es auch
nicht nötig, schöne Schwägerin.«
»Wage es nie wieder, unser Boot
als Stundenhotel zu benutzen!« Ich bin außer mir. Timo hat es
praktisch zugegeben. Er ist das Ebenbild seines grabschenden
Vaters. Kurz entschlossen rufe ich meinen Oberkellner zu
mir.
»Du schaffst es heute
sicherlich ohne mich. Wenn alle Stränge reißen, kannst du mich zu
Hause anrufen.« Am Musikertisch befreie ich meinen Mann aus
Valeries Klauen.
»Komm Schatz. Wir fahren heim.
Heute Abend wird gekuschelt!« Es ist schon nach neun und Clara ist
immer noch wach. Gemeinsam mit Ellen sieht sie einen Krimi im
Fernsehen an. Balou hat wieder in die die Diele
gepinkelt.
»Tobi, so geht das nicht. Meine
Mutter ist überfordert und ich habe keine ruhige Minute mehr, wenn
sie allein mit Clara ist.« Wir führen unsere Unterhaltung im
Flüsterton weiter. Wenn bei Ellen auch Gedächtnis und Konzentration
nachgelassen haben, ihr Gehör funktioniert noch einwandfrei. Sie
macht keine Anstalten ins Bett zu gehen. Bis nach Mitternacht
schaut sie fern.
»Alte Leute brauchen weniger
Schlaf.«
Christina lässt sich
von Claire als erste Kundin am Morgen die Haare
aufdrehen.
»Zahlt sie wenigstens bei dir
oder denkt sie, das wäre im All Inklusive Paket enthalten«, flachse
ich. Madame Christbaum führt ihre frisch gewellten Goldlocken auf
die Terrasse. Der Wind kann ihrer Frisur nichts anhaben. Die
Löckchen halten dank einer ganzen Dose Haarspray den Böen
stand.
»Ab heute ist hier
Selbstbedienung angesagt«, bestimme ich. »Mit der Kaffeemaschine
kennst du dich ja aus.« Ich habe es meinen Kellnern untersagt, die
Familie weiterhin zu bedienen. Christina geht in die Küche, um für
sich und ihren noch abwesenden Mann, ein Frühstück zusammen zu
stellen. Florence reicht ihr ofenwarme Croissants und fragt, ob sie
Eier bereiten soll. Die zunächst freundliche Miene von Christina
erstarrt zu Eis, als ihr Blick auf das Delkotee der jungen Sous
Chefin fällt. Die Kette, die den Hals der schönen Bäckerin
schmückt, gleicht ihrem Geschenk vom Vortag bis aufs kleinste
Detail.
»Die Eier bereite ich selber
zu!« sagt Christina und würzt das Omelette mit einer halben Flasche
Tabasco. Sie reißt sich ihre Kette vom Hals und wirft sie in eine
Tasse, die sie anschließend mit einem Café au lait füllt. Mit einem
souveränen Gesichtsausdruck, den nur über Jahre betrogene Ehefrauen
beherrschen, geht sie zurück an den Tisch. Timo hustet und ringt
nach Luft, nachdem er den ersten Bissen der Eierspeise probiert.
Der schnelle Griff zum Kaffee nimmt ihm nicht die Hitze in der
Mundhöhle, sondern spült ihm die Goldschmiedearbeit des
ortsansässigen Juweliers direkt auf die Zunge. Seine Frau würdigt
ihn keines Blickes. Ihre Aufmerksamkeit gilt Steffen. Ihre mit
Geschmeide gezierten Finger gleiten behutsam über seinen Rücken.
Mit rot geschminkten Lippen der Marke Chanel 09 flüstert sie ihm
zu.
»Wirst du mich heute wieder
verwöhnen? Wenn deine strenge Chefin, heute keinen Termin
ermöglichen kann, können wir uns auch nach Feierabend treffen. Die
Matratze in meinem Zimmer ist hart und fest.« Timo traut seinen
Ohren nicht. Sophie und ich schauen uns ebenfalls konsterniert
an.
»Schmerzpatienten haben immer
Vortritt. Das weiß auch Sophie. Also komme nach dem Frühstück
gleich mit mir rüber, ich werde mich um deine Verspannungen
kümmern.« Was geht hier ab? Was geht hier vor? Ich kann und will
nicht glauben, was ich gerade sah und hörte. Mein Exmann und meine
Schwägerin? Meine Sous Chefin und mein Schwager? Spielen denn jetzt
alle verrückt. Ich gehe in die Küche und bestaune Arnauds
Einkäufe.
»Ich dachte, ich hätte schon
das Schlimmste hinter mir. Aber jetzt, drehen sie alle durch. Meine
Mutter ist senil. Meine Schwager geht fremd. Mein Hund pisst in die
Diele. Meine neun jährige Tochter guckt bis spät abends Krimis. Und
zu guter Letzt, hat es meine Schwägerin auf meinen Exmann
abgesehen. Was habe ich verbrochen, dass man mich mit dieser
Familie so bestraft?« Arnaud greift um meine Taille, hebt mich mit
voller Kraft hoch und setzt mich auf den Tisch.
»Du brauchst Kräuter, Aromen
und einen Schuss Rotwein! Gib mir eine Stunde und ich mach dich
wieder froh.« Ich umarme meinen Maître. Er ist der Einzige, der
mich versteht.
Der Mann, der sein schulterlanges Haar mit
einem Band zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hat, schleicht
sich von hinten an mich heran und erschreckt mich mit einem lauten
»Buh«. Jeder andere hätte nach diesem Angriff auf mein
Nervenkostüm, ein Donnerwetter zu hören bekommen. Aber nicht
Gilbert. Unser langjähriger Freund wird mit lautem Kreischen
begrüßt, umarmt und geküsst.
»Gibst du Einen aus? Teilen wir
uns wieder ein Gin Tonic und eine Zigarette, so wie früher?«, lacht
der Gitarrist. Ich bin noch immer aus dem Häuschen und streichel
mit meiner Hand zärtlich über seinen Dreitagebart.
»Komm mit rein, ich zeige dir,
was wir alles neu gemacht haben.« An der Bar bestelle ich zwei Gins
mit Tonic und suche den Tresen nach meinem Handy ab. Mit der
Kurzwahltaste eins, erreiche ich Tobias und bitte ihn, ganz schnell
zu kommen, weil eine »schöne« Überraschung auf ihn
wartet.
»Wirst du diesen Sommer bei uns
auftreten?«
»Ich habe gehofft, dass du mich
engagieren wirst. Benjamins Eltern haben mir das Gästezimmer in
ihrem Haus angeboten. So gesehen, wäre es
perfekt.«
»Es wird alles wieder so
wie früher. So nach und nach kriegen wir das hin. Ach, Gilbert, wie
schön, dass du wieder da bist.« Ich nehme einen kräftigen Zug von
seiner Zigarette und blase den Rauch genüsslich
aus.
»Hast du Hunger? Ich lasse dir in der
Küche etwas Leckeres zaubern. Bleib sitzen. Ich komme gleich
wieder.« Ich bin in Hochstimmung. Das fällt auch Arnaud sofort
auf.
»Wer ist der Mann, der dir auf
Anhieb so gute Laune bereitet?«
»Gilbert ist ein begnadeter
Gitarrist und Arrangeur. Er spielt bekannte Evergreens im Bossanova
Stil. Einfach gigantisch. Du wirst es erleben!« Als ich mit einem
großen Steakteller wieder auf die Terrasse komme, sitzt Tobias
schon an Gilberts Tisch.
»Wo warst du?«
»Ich habe Clara abgeholt und
mit Sophie den Mercedes zur Autovermietung zurück gebracht. Und du
hast schon wieder geraucht. Ich schmecke das doch!« Ich
widerspreche nicht.
Gilberts Anwesenheit beflügelt mich. Ich
lade Sarah, Claire und den ganzen Familienclan zu einem Bossanova
Abend auf die Terrasse ein. Timo und Cristina streiten laut bei
geöffnetem Fenster. Ellen hat keine Lust und bleibt bei ihrer
Enkelin zu Hause. Am reservierten Stammtisch sitze ich mit Mann und
Schwester und wartete auf den Beginn der Musik.
»Sag mal Schwesterherz, was
sagt eigentlich Ulli dazu, dass du solange weg bist. Vermisst ihr
euch gar nicht?«
»Ulli ist schon längst
Vergangenheit. Ich habe ihn abgeschossen.«
»Du hast mit Ulli Schluss
gemacht?«
»Gut gemacht, Schwägerin. Er
war ein arrogantes Arschloch«, sagt Tobi.
»Sprecht ihr über
mich?«
»Nein Steffen, sonst hätte ich
ja »blödes Arschloch« gesagt.«
»Also gut. Wenn wir bei der
Terminologie bleiben wollen. Ich stehe nun mal auf Arschlöcher.
Also hört gut zu! Steffen und ich sind ein Paar, schon über ein
halbes Jahr lang. Ich versuche, es dir seit meiner Ankunft zu
sagen.« Ich bin platt. Entgeistert schaue ich zu Tobias, der über
dieses Neuigkeit gleichermaßen erstaunt ist.
»Und warum hast du solange
gezögert?«
»Ich hatte ja zuerst selber
meine Bedenken. Der Exmann meiner jüngeren Schwester. Und das nach
all den Jahren. Das ist schon speziell. Aber so ist es nun mal. Ich
wollte......... «
»Wir wollten es dir selber
sagen«, sagt Steffen.
»Weiß Mama es
schon?«
»Sag du es ihr, wenn du sie
umbringen willst. Und wenn du gerade dabei bist, sage ihr auch,
dass wir heiraten werden. Noch in diesem Jahr.« Ich bekomme einen
Lachkrampf von unvorstellbarem Ausmaß. In dieser Intensität habe
ich es zuvor noch nie erlebt. Ich quieke in höchsten Tönen. Trotz
der bösen Blicke meiner Schwester kann ich mich nicht wieder
einkriegen. Ich krümme mich und schreie immer wieder, dass ich
keine Luft bekomme. Tobias setzt mit ein. Wir halten uns ständig
die Hand vor den Mund, in der Hoffnung, die Belustigung wird
dadurch abnehmen. Aber es klappt nicht. Jedes Mal, wenn ich ihn
ansehe, zucken unsere Körper erneut und wir gackern weiter.
Beleidigt erheben sich Sophie und Steffen und verlassen das
Bistro.
»Wenn du es Ellen sagst, möchte
ich auf jeden Fall dabei sein«, gluckst Tobias.
»Unbedingt Schatz, denn das
musst du auf Video aufnehmen.«
Ich gehe zu Arnaud in die Küche und Tobias
setzt sich zu Benjamin und Valerie an den
Musikertisch.
»Komm mit raus und lausche der
Musik. Wir machen jetzt Küchenschluss. Du darfst dir Gilbert nicht
entgehen lassen.« Mit einer Flasche Wein setzen mein Maître und ich
uns an einen freien Tisch.
»Dein Mann ist ein
Vollblutmusiker. Er vergeudet sein Talent hier in deinem Lokal«,
bemerkt der Chefkoch, als er Tobias am Piano spielen
hört.
»Ja, er sollte das Angebot von
Benjamin annehmen und mit uns auf Tour gehen«, mischt sich Valerie
vom Nebentisch ein. Das will ich nun aber genauer
wissen.
»Was für eine
Tour?«
»Einen Monat quer durch
Frankreich. Bordeaux, Lyon, Marseille, Paris, usw. 15 Auftritte
quer durch die Republik. Tobias hat leider noch nicht zugesagt.«
Ich bin erstaunt, lasse mir allerdings vor Valerie nichts anmerken.
Ich nehme mir vor, ihn später danach zu fragen. Arnaud will nach
einer halben Stunde aufbrechen. Ich sehe in sein müdes Gesicht und
halte ihn nicht auf. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Mein Maître
hat sich noch keinen Ruhetag gegönnt und arbeitet täglich vierzehn
Stunden am Stück.
»Wann wirst du dir einen Tag
frei nehmen?« Er lächelt und beugt sich zu mir
herunter.
»Wenn ich dein Boeuf Dijon
probiert habe und mir sicher bin, dass ich dir die Küche für einen
Tag allein überlassen kann.« Mit einem Kuss auf die Wange
verabschiedet er sich in den wohlverdienten Feierabend. Sophie
kommt allein zurück auf die Terrasse. Sie ist immer noch beleidigt
und zieht eine Flunsch.
»Steffen hat sich schon
hingelegt. Dein albernes Gegacker hat ihn sehr verletzt und mich
auch. Wir hatten gehofft, dass du dich für uns
freust.«
»Hast du dich wegen Steffen von
Ulli getrennt?»
»Nein, er war nicht der Grund.
Es passte einfach nicht mehr mit uns. Er blieb immer häufiger
abends in Wismar und ich saß allein in Hamburg. Wenn ich segeln
wollte, hatte er keine Zeit. Wenn ich golfen wollte, hatte er keine
Lust. Nur wegen dem schnöden Wochenendsex wollte ich die Beziehung
nicht länger aufrechterhalten.«
»Und was ist mit Steffen
anders?«
»Wir unternehmen ständig etwas
miteinander. Ich höre ihm gern zu. Manchmal passen wir gemeinsam
auf eure Enkel auf. Es ist ein ruhiges und harmonisches
Zusammenleben mit ihm.« Ich werde zunehmend neugieriger und stelle
die Frage aller Fragen.
»Und wie ist der Sex?« Ich
weiß, dass mein Exmann nicht der schlechteste Liebhaber war. Kein
Vergleich zu Tobi. Aber auf einer Skala von eins bis zehn war er
eine gute sieben.
»Nun zier dich nicht so und sag
schon!«
»Ich bin zufrieden. Das sollte
als Antwort reichen.«
»Das reicht nicht. Also sag
schon, wie oft?«
»Ein bis
zweimal.«
»In der Woche oder im
Monat?«
»Am Tag, Marie. Ein bis zweimal
täglich!« Es sind nur noch drei Tische auf der Terrasse besetzt und
ich zeige dem Kellner an, dass es auf Feierabend zu
geht.
»Kannst du noch fahren? Ich
nicht. Ich hatte schon drei Gläser Wein und bin schon
angeschickert.« Tobias schlägt vor, im Appartement zu übernachten.
Schließlich hat er sich genau für diesen Fall, die ganze Mühe
gemacht.
»Warum hast du mir nicht von
Benjamins Angebot, mit ihm auf Tour zu gehen,
erzählt?«
»Das kommt für mich nicht in
Frage. Ich habe keine Lust auf dieses Vagabunden Leben. Schließlich
habe ich Frau und Kind.«
»Valerie sagt, es geht nur um
einen Monat. Kann es sein, dass du mich nicht allein lassen willst,
weil du eifersüchtig bist?«
»Stimmt, ich will dich nicht
allein lassen. Aber der Grund ist ein anderer. Wir waren schon viel
zu oft getrennt. Ich will das nicht mehr. Morgens neben dir
aufzuwachen und abends neben dir einzuschlafen, ist für mich das
Wichtigste. Für dich etwa nicht?«
»Morgens mit dir zu schmusen und
abends mit dir zu kuscheln, würde mir besser
gefallen.«
»Ja, das ist noch viel
besser!«
Nach einem schnellen Kaffee im Stehen, fährt
Tobias nach Hause und holt Kind, Hund und Schwiegermutter ab. Ich
decke den Frühstückstisch auf der Terrasse und höre den Streit
zwischen Timo und Christina durch das geöffnete Fenster. Es geht um
Florence. Timo streitet alles ab und nennt seine Frau
»hysterisch«.
»Ich habe ihren Slip in unserem
Wagen gefunden. Solltest du noch weiter leugnen, stecke ich ihn dir
gleich in dein verlogenes Mundwerk«, höre ich sie schreien. Danach
wird eine Tür geknallt. Minuten später steht meine Schwägerin
völlig aufgelöst vor mir.
»Es reicht. Ich reise ab. Nicht
eine Minute länger kann ich seinen Anblick
ertragen.«
»Statt beleidigt das Feld zu
räumen, solltest du ihm die Hammelbeine lang ziehen!«, empfiehlt
Ellen der Betrogenen. Die Chance das Appartement Nummer zwei
zurückzubekommen, ist mit dieser Empfehlung hinfällig. Gerne hätte
Clara den privaten Ausführungen ihrer Oma weiter zu gehört, aber
ihr Vater bringt sie pünktlich in die Schule.
»Hast du ihn schon einmal
betrogen?« Christina verneint. Sie ist der Ansicht, dass es dafür
jetzt auch zu spät ist.
»Ich bin über fünfzig. Glaubst
du da stehen die Männer noch Schlange?« Mittlerweile haben sich
Sophie, Sarah und Claire zur Damenrunde gesellt. Ellen bringt es
auf den Punkt.
»Leg endlich deinem
übertriebenen Christbaumschmuck ab, lass dir von Claire mal eine
ordentliche Föhnfrisur verpassen, gönne deinen Möpsen mal ein
bisschen Frischluft und vor allen Dingen, lass dein damenhaftes
Getue, dann klappt es auch mit einem Liebhaber. Such dir einen
Jüngeren aus oder einen, der deutlich mehr Geld hat, als Timo. Nur
so kannst du deinen Alten an den Hörnern packen.« Die Damenrunde
nickt zustimmend.
»Und wo soll ich einen Mann
finden?«
»Na, hier auf der Terrasse.
Binde dir eine Schürze um und bediene die Gäste. Schneller findest
du nirgendwo Kontakt.«
»Aber ich schlafe nicht mehr
mit ihm in einem Raum. Sophie, darf ich zu dir ziehen und wir
bitten Steffen, sich das Appartement mit Timo zu teilen?« Nun bin
aber auf die Antwort meiner Schwester gespannt.
»Warum sollte Pattex nicht das
Zimmer mit dir tauschen wollen. Es kann ihm doch egal sein, in
welchem Bett er schläft.« Ich griene und sage: »Ich wüsste ein bis
zwei Gründe, die dagegen sprechen. Du nicht auch, Sophie?« Ich
erhalte einen kräftigen Tritt gegen das Schienbein, der einen
großen, blauen Fleck auf meinem Bein hinterlässt.
»Aua, bist du beknackt, du
feige Nuss. Das tat weh!«, wimmere ich.
Claire startet die Operation »Aus Dame wird
Luder« mit einem pfiffigen Kurzhaarschnitt. Sarah fegt die goldenen
Löckchen zusammen und lobt die gelungene
Verwandlung.
»Du besitzt nicht eine Jeans?«,
fragt sie ungläubig, »dann gehen wir jetzt shoppen.« Mit frechen
Dessous, körpernahen Shirts und zwei Designer Jeans, die Christinas
wohlgeformten Po perfekt in Szene setzen, kommen sie nach zwei
Stunden zurück. Arnaud bestaunt die schöne Fremde an meiner
Seite.
»Der wäre doch schon was für
mich.«
»Mein Maître ist tabu! Er steht
unter meinem persönlichen Artenschutz!«
»Warum denn das?«, will Tobias
wissen, der uns belauscht und mich seinem prüfenden Blick
unterzieht. Ich fühle mich ertappt, aber schlagfertig pariere ich:
»Es reicht doch wohl, was dein Bruder mit meinem Personal anstellt?
Das ist eine Küche und kein Kontakthof für notgeile Silberfüchse in
der Midlife Crisis! Also bringe Timo endlich zur Raison. Oder
billigst du etwa sein Verhalten?« Natürlich billigt er es nicht.
Aber Tobias ist der Ansicht, dass es klüger ist, sich ganz
rauszuhalten.
Timo traut seinen Augen
nicht, als er Cristina dabei zusieht, wie sie ihre Sachen aus dem
Appartement räumt.
»Wo willst du hin und wie
siehst du überhaupt aus?«
»Ich ziehe eine Tür weiter.
Lieber wäre es mir gewesen, ich könnte mir das Bett mit Steffen
teilen, aber der schläft ab heute bei dir. Übrigens, ihm gefällt
mein neuer Look.« Völlig verblüfft lässt sie ihn stehen. Während
sie und Steffen die Zimmer tauschen, schmecke ich meine berühmte
Senfsoße ab. Ich hoffe inständig, dass sie nicht gerinnt. Gerade
diesmal soll sie perfekt sein. Gespannt warte ich auf das Urteil
meines Maîtres.
»Wo hast du so gut kochen
gelernt? Diese Komposition ist hervorragend. Chapeau Madame!«
Arnaud nimmt sich Nachschlag.
»Sag mal Marie, was bedeutet es
eigentlich, unter deinem persönlichen Artenschutz zu stehen?« Ich
werde verlegen.
»Das war nicht für deine Ohren
bestimmt!« Ich merke, dass mir die Röte ins Gesicht schießt. Das
letzte Mal, dass ich rot wurde, war im Alter von 14 und liegt über
vierzig Jahre zurück. Wie peinlich, denke ich und verziehe mich aus
der Küche. Tobias erwartet mich schon.
»Der Hund braucht einen Spaziergang.
Wollen wir jetzt oder erst nach dem Essen?« Christina bietet sich
an, mit Balou an den Strand zu gehen. Sie ist froh, die Mahlzeit
nicht mit ihrem untreuen Mann am Tisch einnehmen zu
müssen.
»Lass ihn nicht von der Leine,
sonst springt er wieder ins Meer und jagt die Vögel«, rufe ich ihr
hinterher. Das Plat du jour besteht aus Spagetti mit Meeresfrüchten
und wird von der ganzen Familie gelobt. Valerie kommt an den Tisch
und fragt, ob sie sich dazu setzen darf.
»Hier isst die Familie. Das
siehst du doch!«, schimpft Clara und Tobias und ich sehen uns
verwundert an. So frech und vorlaut, haben wir unsere Tochter noch
nie erlebt. Valerie geht weiter und Clara isst zufrieden
weiter.
»Das ist allein Ellens Einfluss
zuzuschreiben.« In der Küche stellen wir Clara zur
Rede.
»Warum warst du so frech zu
Valerie? Das war sehr unfreundlich, also warum?«
»Ich mag sie nicht! Sie legt
immer den Arm um Papa. Das gehört sich nicht, schließlich bist du
seine Frau.« Ich lache. Ganz Unrecht hat sie nicht. Dennoch weise
ich sie in die Schranken.
»Warum macht es dir nichts aus,
wenn Valerie mich ständig anbaggert? Das ist schon erstaunlich,
schließlich ist sie ein scharfer Feger.«
»Sie ist kein scharfer Feger,
sondern eine dumme Gans, die nicht begreifen will, dass sie keine
Chance hat. Oder liege ich da falsch?« Ich muss auf seine Antwort
warten. Völlig aufgelöst kommt Christina angerannt. Ohne Balou! Er
ist ihr am Strand »ohne Leine« entwischt. Wir machen uns auf die
Suche. Am Strand ist weit und breit kein Hund zu sehen. Ich schäume
vor Wut. Wir teilen uns auf. Mit Clara suche ich in den Gassen und
Tobias läuft die Hauptstraße ab. Nach zwanzig Minuten kommen wir
unverrichteter Dinge zurück.
»Wenn der Hund überfahren wird,
werde ich ihr den Hals umdrehen. Es reicht mir! Seitdem sich die
Familie hier eingenistet hat, vergeht kein Tag, ohne Schreck und
Aufregung.« Ich habe mich umsonst aufgeregt. Balou ist
zwischenzeitlich wieder da. Monsieur Lemercier brachte ihn zurück
und erhält zum Dank von Christina ein Glas Wein. Sie sitzen
gemeinsam auf der Terrasse und plaudern.
»Nein, mit einem Glas Wein ist
die Sache nicht aus der Welt. Bitte nehmen Sie meine Einladung zum
Abendessen an. Machen Sie mir die Freude und kommen. So gegen 20
Uhr?« Lemercier kann Christina den Wunsch nicht abschlagen und sagt
zu. Sie hat einen Treffer gelandet. Der schöne Franzose ist Single
und ein charmanter Mann in ihrem Alter. Ich kenne ihn aus dem
Bürgerverein und weiß, dass er begeisterter Motorradfahrer ist. Er
liebt nicht nur schnelle Zweiräder, sondern besitzt auch ein
eigenes Motorboot. Und so wie es aussieht, hat er auch eine
Vorliebe für Frauen, die rasant zur Sache gehen.
»Wie sehe ich aus?«,
fragt Christina. Sie trägt ein enges, ärmelloses, schwarzes
Kleid. In Sachen Schmuck wird sie wieder rückfällig und Sarah muss
ihr zwei Ketten und die zahlreichen Armreifen abnehmen. Claire
föhnt ihr die Haare und legt ein zartes Make Up auf ihr Gesicht.
Zufrieden mustert sie sich im großen Spiegel und geht zurück ins
Bistro. Sie stellt ein Reservierungsschild auf einen Zweiertisch
und gibt dem Kellner dreihundert Euro in bar.
»Wenn es nicht ausreicht, dann
ziehe den Rest von der Kreditkarte meines Alten ein. Ich will es
heute krachen lassen.« Timo sollte noch bluten. Christina bestellt
nur vom Feinsten. Immer wieder hört man sie laut lachen. Ihr Mann,
der am Familientisch das Spektakel beobachtet, spielt den
Unbeeindruckten. Sein Gesichtsausdruck ändert sich allerdings
schlagartig, als sie ruft: »Was heißt auf Französisch, ich bin
getrennt lebend.« Ich übersetze meiner Schwägerin wunschgemäß und
kann mir das Grinsen in Richtung Timo nicht verkneifen. Als
Lemercier sich auch noch als ausgezeichneter Tänzer präsentiert,
reicht es ihm. Er verlässt den Tisch mit der Bemerkung: »Ich gehe
mir in der Bar Tabac Zigaretten kaufen.« Als er nach zehn Minuten
zurück kommt, hat sich der Familientisch aufgelöst. Auch seine
flirtende Frau ist nicht mehr auf der Tanzfläche.
»Wo sind denn alle
hin?«
»Vielleicht noch auf einen
Abendspaziergang?« Timo trinkt sein Glas aus und verabschiedet sich
ins Bett, das er sich erstmals mit Steffen teilen soll. Er geht den
Flur entlang und horcht an der Tür der neuen Frauen WG. Die
Geräusche, die er aus dem Appartement eins wahrnimmt, versetzen ihm
einen Schlag. Das leidenschaftliche Stöhnen einer Frauenstimme
macht ihn fassungslos.
»Schlampe«, ruft er laut aus.
Völlig aufgebracht packt er seine Sachen in den Koffer und nimmt
sich ein Zimmer im benachbarten Hotel de la Poste. Tobias stellt
die Stühle an die Tische und ich lösche das Licht in der Küche, als
sich Christina von ihrem Franzosen auf dem Bürgersteig
verabschiedet.
»Ja, sehr gerne. Also bis
Morgen.«
Auf dem Flur der ersten Etage herrscht reger
Verkehr. Steffen bringt seine Sachen wieder zu Sophie und Christina
richtete sich in ihrem alten Appartement ein, das sie nun allein
bewohnt. Mit der festen Absicht, seine Frau zur Rede zu stellen,
kommt Timo um zehn Uhr ins Bistro. Er sieht sie gerade noch auf dem
Rücksitz eines Motorrades abfahren.
»Nun seht euch das an!
Sie hat sich tatsächlich mit diesem Kerl eingelassen. Gleich am
ersten Abend hat sie mit ihm rumgemacht. Ich habe es mit eigenen
Ohren gehört.«
»Hoffe nicht auf unser
Mitgefühl!«, sage ich und lasse ihn stehen. Beleidigt geht er mit
einer Zeitung auf die Terrasse und wartet auf die Rückkehr seiner
schamlosen Frau.
»Gehört hat er Sophie und
Steffen. Aber lass ihn bitte in dem Glauben. Es geschieht ihm
recht!« Tobias verspricht, nicht zu petzen.
Lemercier wird zum
Dauergast und Timo verliert das Interesse an Süßspeisen und der
Frau, die sie zubereitet. Er trinkt schon am Morgen literweise
Rotwein und ist mittags bereits Sternhagel voll. In dieser Stimmung
jammert er seinem Bruder und Steffen die Ohren voll. Die Männer
bringen ihn regelmäßig zurück ins Hotel. Nach drei Stunden Schlaf
wiederholt sich das Schauspiel. Steffen nutzt einen halbwegs
nüchternen Moment aus und redet ihm ins Gewissen.
»Es wird dir nichts nützen,
dich ständig zu besaufen. Damit gewinnst du sie sicherlich nicht
zurück. Reiß dich zusammen und rede endlich mit
ihr.«
»Sie wird meine Entschuldigung
nicht annehmen. Diesmal habe ich den Bogen wohl überspannt.« Er rät
ihm, die Familienkarte auszuspielen. Das hatte bei ihm und mir
früher auch geklappt. Guten Mutes macht er sich auf die Suche nach
seiner Frau.
»Die Kinder fragen, ob wir die
Enkel in der nächsten Woche nehmen könnten. Ich habe
zugesagt.«
»Na, dann wünsche ich dir viel
Spaß. Gebe den Kleinen einen Kuss von mir. Ich bleibe noch. Ich
habe eine Einladung zum Speedboat Rennen. Darauf werde ich auf
keinen Fall verzichten.«
»Du willst mit einem Rennboot
fahren? Ich denke, dir wird auf dem Wasser immer
schlecht!«
»Das kommt ganz auf die
Begleitung an.«
»Komm zur Vernunft, Christina.
Was soll das? Willst du unsere Ehe aufs Spiel
setzen?«
»Dafür ist es wohl schon zu
spät. Das hast du schon längst erledigt. Und nun schleich dich. Ich
habe eine Verabredung!« Christina erhält tobenden Applaus vom
Frauentisch. Alle klatschen mit ihr ab.
»Mit der Weiber Mafia möchte
ich keinen Ärger haben«, sagt Steffen zu Tobias und zeigt mit dem
Finger auf den Fünfer Frauentisch, der von Ellen angeführt wird.
Die Männer nicken sich zustimmend zu. Die beiden so einträchtig zu
sehen, verblüfft mich.
»Ihr habt es Ellen immer noch
nicht gesagt, oder?« Steffen schüttelt den Kopf. Er ist wütend auf
Sophie und ist es leid, das kindische Versteckspiel
fortzusetzen.
»Es ist doch grotesk, dass ich
in meinem Alter eine heimliche Beziehung führen muss, nur weil
Ellen mich nicht leiden kann.«
»Ja, grotesk ist das schon«,
lacht Tobias. Er kann immer noch nicht glauben, dass Pattex sein
Schwager wird.
Benjamin sitzt am Musikertisch und
telefoniert mit seinem Handy. Seine Miene verrät, dass er keine
guten Nachrichten erhält. Er geht zum Bartresen und erkundigt sich
nach Tobias.
»Die Martins haben heute
Familientag und sind mit dem Boot unterwegs«, sagt Florence. Gern
würde sie auch mal wieder in See stechen, doch ihr Verehrer ist
entweder mit der Observierung seiner Frau beschäftigt oder säuft
sich ins Koma. Er ist weder mit Mousse au chocolat noch mit Crème
brûlée zu bezirzen. Am Morgen erteilte er ihr vor den Augen seiner
Christina eine lautstarke Abfuhr, die die Sous Chefin dazu bewog,
ihren Dienst zum Ende des Tages zu quittieren.
»Ich kann hier nicht mehr
kreativ arbeiten«, gesteht sie ihrem Onkel. Arnaud hat nun die
Aufgabe, es mir schonend beizubringen. In allerbester Laune kehre
ich von unserem Segelausflug zurück. Der Maître beschließt, mir mit
seiner Nachricht, nicht den schönen Tag zu verderben und verschiebt
es auf den nächsten Morgen.
»Endlich erwische ich dich«,
sagt Benjamin, der seit Stunden auf Tobias wartet. Er hat ein
großes Problem zu lösen. Sein Pianist ist erkrankt und ihm droht
bei Nichteinhaltung seiner geplanten Tour eine fette
Konventionalstrafe.
»Auf die Schnelle bekomme ich
keinen adäquaten Ersatz. Du bist meine letzte Rettung. Zwei
Auftritte. Drei Tage. Bitte, Tobi, lass mich nicht hängen.« Tobias
macht ein ernstes Gesicht und zieht mich in die
Küche.
»Ben ist unser Freund. Du wirst
ihn doch nicht hängen lassen. Los sag schon zu. Ich fahre mit dir
nach Hause und helfe dir beim Koffer packen.«
»Es kann dir wohl gar nicht
schnell genug gehen, mich los zu werden. Sag mir nur, wie du das
alles allein schaffen willst. Ellen, Clara, Hund und
Geschäft?«
»Machen Sie sich keine Sorgen,
Herr Martin. Ich bin ja auch noch da. Ihre Frau ist bei mir in den
besten Händen. Ich werde mich gut um sie kümmern«, sagt Arnaud. Das
ist kein hilfreicher Beitrag. Gut gemeint aber ganz schlechtes
Timing!
Es gelingt mir nicht, Tobias während der
kurzen Heimfahrt zu besänftigen. Er schweigt. Ohne ein Wort packt
er seine Reisetasche.
»Vergiss es, Tobias Martin. Du
wirst nicht im Streit abreisen.« Ich verschließe die Tür zum
Schlafzimmer von innen und stelle mich demonstrativ vor ihm auf.
»Komm her und küss mich!« Die Abfahrt der Musiker verschiebt sich
um eine volle Stunde.
Der gesamte Frauentisch winkt ihnen zum
Abschied nach. Clara weint. Es passt ihr nicht, ihren Vater mit
Valerie in einem Auto zu sehen.
»Du lässt meinen Bruder
tatsächlich mit dieser scharfen Braut allein auf Tour gehen?«,
fragt Timo und lacht laut. Außer mir vor Wut ziehe ich meinen
Schwager am Arm in die Küche und brülle sofort
los.
»Hast du dir dein letztes Hirn
weggesoffen oder wie kommst du dazu, im Beisein von Clara, so einen
unverschämten Spruch herauszuhauen? Du hast ein Feingefühl wie eine
Planierraupe. Kein Wunder, dass deine Frau sich einen Anderen
gesucht hat.«
In der Nacht kriecht Clara unter meine
Decke. Sie hat schlecht geträumt und klagt über
Bauchschmerzen.
»Hast du von Papa geträumt? Du
machst dir völlig unnötig Sorgen. Er liebt nur uns. Schau mal,
heute Abend hat er uns noch drei Nachrichten geschickt. Immer
schreibt er, wie lieb er uns hat und dass er uns vermisst. Also
wenn ich ihm glaube, dann kannst du das auch.« Beruhigt schlafen
wir weiter.
Als ich am nächsten Morgen am Bistro vorbei
fahre, stehen unzählige Getränkekisten auf dem Bürgersteig vor dem
Lokal. Ich bringe erst Clara zur Schule und gehe mit Ellen
gemeinsam die Küche. Louis ist allein. Der Frühstückskoch meckert
sofort los. »Ich habe nur zwei Hände. Der Fahrer wollte nicht
warten und hat sich geweigert, die Kisten ins Magazin zu bringen.«
Ich schaue auf die Uhr. Mit Timo und Steffen ist noch nicht zu
rechnen. Der Kellner der Frühschicht ist noch allein und mit dem
Servieren der ersten Gäste völlig ausgelastet. Ich bin kein Typ,
der geduldig auf Hilfe wartet und nehme mich der Getränke allein
an. Bei Kiste 18 vernehme ich ein alt bekanntes »Knack« in meinem
Rückgrat und schreie laut auf. Louis, der mir zur Hilfe eilt, ist
völlig überfordert und bringt mir einen Stuhl. »Ich kann mich nicht
setzen. Bitte laufe nach oben und hole Steffen schnell runter.«
Mein Ex behält die Ruhe und fragt: »Ist es wieder die gleiche
Stelle?«
»Nein, der Schmerz ist anders
aber trotzdem kaum auszuhalten.«
»Wo sind deine Notfall
Schmerztabletten?« Ich deute auf den Erste Hilfe Schrank im Flur.
Mit einem Schluck Wasser nehme ich zwei Pillen und hoffe sehnlich
auf Linderung. Nach einer viertel Stunde schleppen Steffen und
Louis mich durch das Bistro ins Spa. In Bauchlage will er mich auf
der Behandlungsliege untersuchen.
»Es wird noch einmal weh tun.
Also bei drei.« Meine Schreie sind bis zum Supermarkt am Ende der
Straße zu hören. Steffen schickt den Koch aus dem Raum und nimmt
sich eine Schere aus der Schublade.
»Dein Shirt und deine Hose
werden dran glauben müssen. Ich muss dich bis zu den Lendenwirbeln
abtasten.«
»Du Ferkel, du willst nur
meinen nackten Hintern betatschen.«
»Deinen alten Hintern kenne ich
zu Genüge. Und ehrlich gesagt, er war schon mal runder und deutlich
praller!« Gerade in dem Moment, als ich ansetze, ihn für diese
Frechheit zu beschimpfen, nutzt er die Gelegenheit uns lässt es
erneut knacken.
»Oah« stöhne ich laut. Aber
erleichtert und fast schmerzfrei stehe ich von der Liege
auf.
»Du bist ein Phänomen, Steffen
Simon. In Situationen, wo ich deine Hilfe brauche, bist du immer
zur Stelle. Ich danke dir.« Als ich meine Anerkennung mit einem
Kuss auf seine Stirn zeige, öffnet sich die Tür. Sophie schaut auf
meinen blanken Po und wundert sich über meinen freien Oberkörper.
Sie kommt gerade von einem Strandlauf zurück und hat von der
Aufregung nichts mitbekommen.
»Was ist denn hier los. Störe
ich etwa? Dein Stöhnen ist bis auf die Straße zu hören. War es
wenigstens schön?«
»Schön? Nein Sophie, es war
gigantisch. Steffen hat mir erst die Klamotten zerrissen und es mir
dann hart auf der Liege besorgt. Es war so wahnsinnig, dass ich
schreien musste. Ich habe vor Schmerzen geschrien, du blöde Pute.
Steffen hat mich wieder eingerenkt. Was hast du denn vermutet?« Ich
nehme mir einen Bademantel aus dem Schrank und verlasse das
Geschäft durch die Ladentür. Ellen fängt mich auf dem Bürgersteig
ab.
»Hast du noch
Schmerzen?«
»Es ist auszuhalten, dank
Steffen. Ich mag mir gar nicht ausmalen, was ich ohne ihn gemacht
hätte.«
»Dann hat es sich ja endlich
einmal ausgezahlt, dass du in seine teure Ausbildung investiert
hast.«
»Du bist eine spitzzüngige,
gehässige, alte Frau. Wann hörst du endlich auf, so feindsinnig
über ihn zu sprechen. Steffen ist ein wunderbarer Mensch. Immer
hilfsbereit und zuverlässig. Warum siehst du das nicht? Macht es
dir Spaß, ihn seit Jahren zu verletzen und zu
demütigen?«
»Du meinst also, er ist ein
guter Mensch.«
»Genau, das meine
ich.«
»Gut genug für
Sophie?«
»Sag bloß, du weißt
es?«
»Ihr denkt, ich wäre verkalkt.
Das bin ich nicht. Hier oben ist noch alles in Ordnung. Das mit den
beiden geht doch schon seit Monaten. Aber sagt es mir einer? Nein!
Nun drehe ich den Spieß um und mache mir einen Spaß daraus, deine
feige Schwester hochzunehmen. Du solltest sehen, wie sie in die
Luft geht, wenn ich etwas Negatives über ihn sage. Das ist einfach
nur komisch. Lass mir doch die Freude und verrate mich
nicht.«
»Du bist garstig und hast einen
Knall. Aber ich hab dich trotzdem lieb. Jetzt muss ich schnell nach
Hause und mich umziehen. Die Leute schauen schon.«
Ich bin gerade
angekommen, als das Telefon klingelt. Es ist die Schulleiterin, die
mich darüber informiert, dass Clara über starke Baumschmerzen
klagt. Ich verspreche, sie sofort abzuholen. Schnell packe ich
Fiberthermometer, Wärmflasche und das Kuschelkissen ein und mache
mich auf den Weg.
»Was hast du
gegessen?
»Nur Toast und Obst, wie
immer.« Ich bringe sie ins Appartement und Ellen setzt sich an ihr
Bett. In der Küche bitte ich den Koch um eine Brühe. Aber Clara
will nichts essen.
»Fieber hat sie nicht, sagt
Ellen und verlässt den Raum. Die Wärmflasche bringt nicht die
erwünschte Besserung. Im Gegenteil. Clara wimmert immer lauter. Es
klopft an die Tür und Steffen kommt rein.
»Ellen sagt, du hast
Bauchschmerzen? Zeig mal, wo genau tut es weh. Er tastet Claras
Bauch ab und drückt seinen Finger rechts oberhalb der Leiste
kräftig in ihre Bauchdecke.
»Tut das weh?« Clara verneint.
Erst als Steffen den Finger wieder herauszieht, schreit sie laut
auf.
»Ich tippe auf den Blinddarm.
Es ist genauso wie damals bei Frederik. Erinnerst du dich? Komm,
wir fahren sie ins Krankenhaus.«
Auf der Fahrt wähle ich
ständig Tobias Handynummer. Es ist immer besetzt. Ich versuche es
schließlich bei Valerie und erreiche sie prompt.
»Ich muss Tobi dringend
sprechen. Wir bringen Clara gerade ins Krankenhaus. Sag ihm bitte,
er soll mich schnell anrufen.« Valerie verspricht es. Wir warten
über eine Stunde in der Aufnahme bis sich der erste Arzt sehen
lässt. Er bestätigt Steffens Verdacht und nimmt Clara stationär
auf. Nach einer weiteren Stunde kommt der Arzt zurück und
informiert darüber, dass ein OP Termin für den nächsten Morgen
anberaumt wurde. Ich bleibe im Krankenhaus und Steffen fährt allein
zurück. Ich bin wütend, dass Tobias sich immer noch nicht zurück
gemeldet hat. Sein Anschluss ist pausenlos besetzt. Das kann doch
wohl nicht sein. Ein Blick auf den Ladezustand meines Akkus macht
mich noch nervöser. Schnell notiere ich die Rufnummer von Benjamin
und Valerie, als sich das Telefon ausstellt. Ich versuche es weiter
vom Münzfernsprecher auf dem Krankenhausflur. Endlich erreiche ich
Benjamin.
»Wo steckt Tobias? Ich warte
seit Stunden auf seinen Rückruf. Hol ihn mir sofort ans Telefon,
bevor ich ausraste!« Eine Krankenschwester kommt auf den Flur und
legt den Zeigefinger auf ihre Lippen. »Psssss. Bitte sprechen Sie
leise. Madame Martin, bitte, das ist das letzte Gespräch, das sie
hier führen können. Das ist eine Kinderstation und hier muss Ruhe
herrschen.« Ich beende das Gespräch. Ich muss mich dringend um ein
aufgeladenes Handy kümmern. Trotz Telefonverbot rufe ich im Bistro
an und bitte meinen Oberkellner, dafür zu sorgen, dass man mir
schnell ein Handy oder mein Ladegerät bringt. Mir ist zum Heulen zu
Mute. Typisch. Immer wenn es ernst ist, ist mein Mann abwesend. In
mir wächst der Verdacht, dass Valerie es ihm gar nicht ausgerichtet
hat. Die soll was erleben, wenn sie zurück ist. Eine halbe Stunde
später klopft es leise an die Tür. Ich bin auf Steffen oder Timo
gefasst, aber Arnaud kommt leise in das Krankenzimmer und schaut
mich mitleidig an.
»Hat Clara noch
Schmerzen?«
»Nein, sie schläft tief und
fest. Sie hat Medikamente bekommen. Aber ich bleibe heute Nacht
hier. Der OP Termin ist schon morgen früh um neun.« Mir kullern die
Tränen über das Gesicht und mein Maître macht das, was eigentlich
mein Mann hätte tun sollen. Er nimmt mich in den Arm und tröstet
mich.
»Ich habe dir etwas zu essen
und zu trinken mitgebracht. Steffen hat mir deine Tabletten
eingepackt. Er meint, du hättest bestimmt wieder Schmerzen.« Ich
trinke ein Wasser und schlucke zwei Pillen, verbinde mein Handy mit
dem Ladegerät und stelle erfreut fest, dass das Display wieder bunt
leuchtet.
»Wie lief das Geschäft.
Konntest du so einfach weg?« Ich schaue auf die Uhr und bemerke,
dass es schon kurz vor Mitternacht ist. Tobias hat nicht
angerufen.
»Hast du Zigaretten dabei?«
Arnaud nickt. Wir gehen auf den Parkplatz und ich spüre, dass er
immer näher kommt.
»Bitte nicht. Ich mag dich,
aber nicht so, wie du es dir vielleicht erhoffst. Mache es bitte
nicht kompliziert. Ich will dich nicht als meinen Maître
verlieren.«
»Ich wünsche mir nur einen
kleinen Kuss von dir. Nur einmal möchte ich zärtlich deine Lippen
berühren und dich schmecken.«
»Gute Nacht, Arnaud. Vielen
Dank für alles. Ich melde mich morgen, wenn Clara wieder wach ist.«
Ich gehe zurück ins Krankenzimmer. Mein erster Blick fällt auf das
Handy. Tobias hat eine Nachricht geschickt. Hallo mein Liebling. Das Konzert war ein
Riesenerfolg. Bin noch ganz beschwipst. Ich vermisse euch. 1000000
Küsse. Bis morgen.
»Der hat ja wohl den letzten Schuss nicht gehört«,
schimpfe ich laut und rufe ihn an. Im Hintergrund ist laute Musik
zu hören und das schrille Lachen ist eindeutig Valerie
zuzuschreiben.
»Hallo Liebling, kannst du
nicht schlafen?«
»Bist du nicht ganz dicht oder
tatsächlich ahnungslos? Ich sitze hier seit acht Stunden im
Krankenhaus und warte auf deinen Rückruf. Clara wird morgen früh
operiert. Entscheide selbst, ob du weiter feiern willst oder hier
aufschlägst.« Ich lege sofort auf und stelle mein Telefon aus,
rücke zwei Sessel zusammen und lege mich darauf, um ein wenig zu
schlafen. Morgen werde ich mich nicht mehr rühren können, weiß ich,
aber ich verzichte auf weitere Schmerztabletten.
Die Nacht ist kurz. Ich werde schon um halb
fünf geweckt. Nicht vom Krankenhauspersonal, sondern von Tobi. Er
steht blass und ungewaschen vor mir.
»Ich bin per Anhalter bis Saint
Maximin gefahren. Den Rest mit dem Taxi. Ich hab in der Nacht
keinen Leihwagen mehr bekommen und die Züge fuhren auch nicht
mehr.
»Hat Valerie dir nicht
ausgerichtet, was passiert war?«
»Dann wäre ich wohl früher hier
gewesen!« Er setzt sich zu Clara ans Bett und streichelt ihr
Gesicht.
»Sie hat einen ganz heißen
Kopf.« Stöhnend erhebe ich mich aus den Sesseln. Die Schmerzen sind
kaum auszuhalten.
»Gib mir bitte meine
Handtasche. Ich brauche dringend zwei Schmerztabletten.« Ich gebe
meinem Mann eine kurze Zusammenfassung der Geschehnisse. Von
Florence Kündigung, den Getränkekisten, Steffens Erster Hilfe und
Sophies Eifersucht. Die Bitte des Maîtres, um einen kleinen Kuss,
behalte ich für mich. Tobias geht Kaffee besorgen. Er kommt nach
einer Weile mit zwei Pappbechern und einem Fiberthermometer zurück.
Der Kaffee schmeckt wie Abwaschwasser und Clara hat 38.9 Fieber.
Laut Aussage der Nachtschwester, kein Grund, die OP
abzusagen.
Clara erwacht gegen elf Uhr. Sie hat Durst,
darf aber noch nicht trinken. Christina und Sophie kommen ins
Krankenzimmer und bringen der Frischoperierten einen CD Player und
verschiedene Hörspiele mit.
»Ihr könnt jetzt eine Pause
machen. Wir bleiben eine Weile hier.« Tobi und ich nehmen das
Angebot dankend an und fahren ins Bistro. Ich dusche im Appartement
und Tobias bringt Ellen und Timo auf den neuesten Stand. Danach
geht er hinüber ins SPA und bedankt sich bei Steffen für seine
Hilfe.
»Du musst besser auf Marie
achten, wenn du vermeiden willst, dass sie irgendwann im Rollstuhl
landet. Sie hat kaum noch Rückenmuskulatur. Ich wette, sie hat
monatelang keine Übungen mehr gemacht hat.«
»Willst du mir damit durch die
Blume sagen, dass du sie nackt gesehen hast? Das weiß ich schon und
es macht mir nichts aus. Ich sehe schon lange keinen Konkurrenten
mehr in dir.«
»Das siehst du richtig! Die
Konkurrenz lauert woanders«. Steffen zeigt mit dem Finger in
Richtung Küche.
»Du meinst ihren
Maître?«
»Er ist schwer
infiziert!«
»Dann wirst du den Burschen für
mich im Auge behalten müssen. Ich reise in einer Stunde ab. Mein
Konzert beginnt um 20 Uhr und ich habe noch drei Stunden Fahrt vor
mir.«
»Du bleibst nicht
hier?«
»Ich kann Ben nicht hängen
lassen. Er braucht mich für die nächsten Auftritte. Nur diesmal
reise ich mit dem eigenen Wagen. Dann kann ich schneller zurück
sein, wenn mal wieder Chaos ausbricht.« Weniger gelassen nehme ich
die Nachricht von seiner Abreise auf. Ich starre ihn fassungslos
an.
»Marie, es war deine Idee, Ben
auszuhelfen. Clara geht es wieder gut und du hast ein ganzes
Netzwerk von Helfern. Warum machst du mir ein schlechtes Gewissen?
Ich bin in spätestens zwei Wochen zurück. Komm und gib mir einen
langen Kuss.« Ich zeige ihm den Stinkefinger und lasse ihn wortlos
stehen.
Sarah klopft an die Fensterscheibe meiner
Ente. Ich habe gerade den Motor angelassen und erschrecke, als ich
meine Freundin mit einem kleinen Blumenstrauß in der Hand neben mir
stehen sehe.
»Fährst du zurück ins
Krankenhaus? Dann nimm mich mit.« Die Beifahrerin krallt ihre
Finger fest in den Sitz und sieht mich verängstigt
an.
»Geh vom Gas oder willst du uns
umbringen? Was ist los mit dir? Ist mit Clara alles in
Ordnung?«
»Es ist Tobias, der mich so
aufregt. Er hat das einmalige Talent, sich in entscheidenden
Momenten zu verdrücken. Ich kann mich vor Schmerzen kaum rühren und
darf mich jetzt um alles allein kümmern!«
»Nun beruhige dich mal! Steffen
und Sophie haben das SPA prima im Griff. Ich helfe dir gern im
Bistro aus. In der Küche klappt dank Arnaud auch alles. Also wo ist
das Problem?« Ich fahre auf den Seitenstreifen und mache eine
Vollbremsung.
»Arnaud wollte mich küssen.
Gestern Abend auf dem Parkplatz.«
»Und? Hast du ihn
gelassen?«
»Natürlich
nicht!«
»Dann ist doch alles in
Ordnung.«
Clara teilt sich das Zimmer mit einem
gleichaltrigen Mädchen. Die beiden sehen von ihren Betten aus fern
und fühlen sich von den vielen Besuchern gestört. Ich lege ihr mein
Handy in den kleinen Nachtschrank und gebe ihr einen Kuss zum
Abschied.
»Ruf mich an, wenn du dich
einsam fühlst. Später kommen noch Timo und Steffen zu Besuch. Also
viel Spaß ihr beiden.«
Für die Vorsaison ist das Bistro
außerordentlich gut besucht. Der Frauentisch auf der Terrasse muss
zahlenden Gästen weichen und die Damenriege setzt sich auf einen
Kaffee an die Bar. Louis kommt an den Tresen und flüstert mir ins
Ohr. »Die Muscheln sind seit 12 Uhr aus. Die waren bei René stets
der Renner. Es sind schon viele Stammgäste angereist, die danach
verlangen. Sie sollten mit dem Maître sprechen. Wenn ich ihm in den
Einkauf reinrede, geht er mir glatt an die Gurgel.« Ich nicke.
Sarah schaut zu mir und macht einen Kussmund. Danach fängt sie laut
an zu gackern. Sofort wird sie von mir mit einem bösen Blick
bestraft, der Ellens, Sophies und Christinas Neugierde
weckt.
»Dem Maître steht der Sinn
nach...«
»Halt die Klappe, Sarah. Du
bist ja ein schlimmeres Plappermaul als Clara. Dir werde ich noch
mal etwas anvertrauen.« Ich gehe in die Küche und Sarah geht
beleidigt in den Salon.
»Hast du einen Moment, Arnaud?
Ich würde gern etwas mit dir besprechen.« Er legt sein Messer aus
der Hand und wäscht sich die Hände. Mit einer Schreibmappe folgt er
mir in den Gastraum.
»Wir sollten uns um Verstärkung
kümmern und Florence Posten neu besetzen. Ich werde morgen ein
Stellenangebot aufgeben. Sag, was muss er oder sie an Erfahrung und
Fähigkeiten mitbringen?« Er überlegt kurz und verspricht, ein
Anforderungsprofil zu schreiben und es mir später zu
geben.
»Mein Vorgänger René war
jahrelang für seine Muscheln Provencal berühmt. Die Stammgäste
fragen danach. Wir sollten uns darauf einstellen und künftig mehr
davon einzukaufen.«
»Ich bin ein Chef de Cuisine
und koche für das Mató. Wenn du eine Muschelbude daraus machen
willst, dann brauchst du weder mich noch einen Sous Chef.« Er nimmt
seine Mappe und verlässt erbost den Tisch. Ich kann kaum glauben,
wie er sich benimmt und folge ihm in die Küche.
»Timo und Louis, lasst mich
einen Moment allein mit dem Maître!« Ich schließe die Tür und gehe
aufgebracht auf Arnaud zu.
»Du lässt mich nicht einfach
stehen. Das ist eine Ungeheuerlichkeit!«
»Gestern hast du mich stehen
lassen«, sagte er im ruhigen Flüsterton. Ihm ist nicht entgangen,
dass die ganze Belegschaft dem Disput vor der Tür
lauscht.
»Du wirst morgen die doppelte
Menge Muscheln einkaufen. Und das ist keine Bitte, sondern eine
Anordnung. Wenn du dir zu schade bist, sie zuzubereiten, dann lass
es. Das schaffe ich auch noch nebenbei!« Ich reiße die Tür auf und
sehe in die erstaunten Gesichter meiner Mitarbeiter. So in Rage
haben sie ihre Chefin zuvor noch nie gesehen.
»Was glotzt ihr? Habt ihr
nichts zu tun?« Ellen reicht mir das Telefon. Tobias will mich
sprechen. Er hat es schon auf dem Handy versucht, aber Clara war
dran.
»Was willst
du?«
»Wissen wie es dir geht, mein
Schatz.«
»Es ging mir nie besser!«,
schreie ich ihn an und knalle den Hörer auf. Danach nehme ich die
Autoschlüssel und rufe Ellen zu: »Komm Mama, wir fahren nach
Hause.«
Die Sonne scheint und
ich bringe die Auflagen für die Liegestühle auf die Terrasse, öffne
eine Flasche Wein und stelle zwei Gläser auf den kleinen Tisch. Ich
will mir für eine Weile Ruhe gönnen. Obwohl ich in der Nacht kaum
geschlafen habe, bin ich nicht müde. Ellen nutzt den privaten
Moment für eine Mutter Tochter Unterredung.
»Wonach steht deinem Maître der
Sinn? Was hat Sarah gemeint? Läuft da was zwischen euch? Muss ich
mir um Tobi und dich Sorgen machen?«
»Grund zur Sorge besteht
nicht.«
»Wenn dein Mann mit dieser
frivolen Singdohle auf Reisen geht und du mit dem Koch flirtest,
besteht kein Grund zur Sorge?«
»Ich flirte nicht! Du siehst
Gespenster!«
»Lass es nicht soweit kommen.
Du siehst ja, wohin es bei Christina und Timo geführt hat. Die
beiden haben es eindeutig zu weit getrieben.«
»Du selbst hast ihr geraten,
sich einen Liebhaber zu suchen.«
»Weder Sophie noch du habt je
auf einen meiner Ratschläge gehört.«
»Ja, wir wussten schon warum«,
lache ich und Ellen setzt mit ein. Steffen unterbricht die lustige
Unterhaltung mit einem Telefonanruf. Warum ich nicht zur Massage
gekommen bin, will er wissen.
»Ich habe Tobi versprochen,
deine Übungen zu überwachen. Du musst dringend etwas
tun.«
»Du brauchst nicht den Wachmann
für meinen abwesenden Mann zu spielen. Und diese blöden Übungen
mache ich auch nicht. Ab morgen gehe ich wieder regelmäßig
schwimmen.«
»Aber kein Brustschwimmen. Nur
in Rückenlage. Und nicht Kraulen!« Ich griene und beende das
Gespräch mit einem Küsschen.
»Steffen ist einfach
einmalig.«
»Ja, dein langjährige Ehemann,
langjähriger Noch Ehemann, langjähriger Ex Ehemann und Schwager in
spe ist schon ein prima Kerl.«
»Das solltest du Sophie und ihm
sagen und nicht mir!«
Louis erklärt mir die Zubereitung der
Muscheln nach alter Rezeptur. Ich beschrifte gerade die
Schiefertafeln im Außenbereich mit zwei Tagesgerichten. Pasta à la
Chef und Muscheln Provencal, als Arnaud von seinem Einkauf zurück
kommt. Er grinst mich frech an, als er die Annonce in Kreideschrift
liest.
»Du willst mich zu einem
Wettkochen herausfordern?«
»Ja. Die Bedingungen sind fair.
Beide Gerichte sind preisgleich. Also, bist du bereit?« Er geht zum
Schrank und zieht eine Kochkluft heraus und wirft sie mir
zu.
»Wie lautet der
Einsatz?«
»Der Gewinner darf bestimmen,
wie wir heute unsere Pause verbringen.« Arnaud grient und ich bin
mir sicher, dass er keinen Grund zur Vorfreude
hat.
»Du bleibst auch heute
ungeküsst«, flüstere ich ihm zu, nehme meine Arbeitskleidung und
verlasse die Küche. Auf dem Weg ins Appartement treffe ich auf
Christina.
»Bist du wieder mit Lemercier
verabredet?«
»Ja, er holt mich in zwei
Stunden ab. Wir wollen gemeinsam zu Mittag essen.«
»Ich hoffe, ihr speist hier.
Ich bitte dich, Muscheln zu wählen. Es gibt einen Wettstreit, den
ich unbedingt gegen Arnaud gewinnen muss. Bitte sag auch den
Anderen Bescheid. MUSCHELN bestellen!«
»Du machst es richtig, Marie.
Du zeigst Tobias gleich, wo der Hammer hängt, wenn er Valerie dir
vorzieht. Genieße es mit deinem Chefkoch.«
»Habt ihr alle den Verstand
verloren? Da läuft weder etwas zwischen Tobias und Valerie noch
zwischen dem Maître und mir. Wir würden uns niemals gegenseitig so
verletzen, wie ihr es gerade macht.« Ich ziehe mir Hose und
Kochjacke an und fummel ungeduldig an den vielen Knöpfen herum.
Christina hilft mir und schaut mich betreten an.
»Du meinst, Timo ist
verletzt?«
»Er leidet offensichtlich. Wenn
du ihm nur eine Lektion erteilen wolltest, dann kannst du jetzt
aufhören. Er hat es begriffen. Ihr beide solltet dringend
miteinander reden und euch den Ursachen eurer Probleme
stellen.«
Ich probiere die erste
Portion und stelle zufrieden fest, dass die Moules Provencal
genauso schmecken, wie zu Renés Zeiten.
»Hm lecker, magst du
probieren?«
»Zuviel Wein«, lautet Arnauds
Urteil. Ich lasse mich nicht irritieren. Um ein Uhr führe ich mit
sieben Gerichten Vorsprung. So langsam komme ich ins Schwitzen und
mein Rücken schmerzt. Ich trinke ein Glas Wasser und schlucke zwei
Tabletten.
»Die Gastroküche ist nichts für
Weicheier«, stänkert er und streicht mir eine lange Haarsträhne aus
dem Gesicht.
»Ich sehe hier kein Weichei,
nur einen scheinbar schlechten Verlierer.« Um zwei Uhr steht das
Ergebnis fest. Ich habe mit fünf Portionen gewonnen. Es waren
Ellen, Sophie, Sarah, Christina und Lemercier, die mir den Sieg
einbrachten.
»Und wo verbringen wir nun
unsere Pause?«
»Am Strand. Ich gehe Schwimmen.
Wenn du dich traust, komme mit. Steffen oder Timo leihen dir
bestimmt eine Badehose.«
Das Meer ist spiegelglatt und so klar, dass
man den Boden sehen kann. Und schön kalt. Bei dieser Temperatur
sollte mein Maître wohl kaum auf dumme Gedanken
kommen.
»Du hast geschummelt«, ruft er
mir zu. »Du hast die Personalessen mitgerechnet.« Zur Strafe
spritzt er mir mit seiner Hand so lange Wasser ins Gesicht, bis ich
mich vom Rücken auf den Bauch drehe. Das Salzwasser brennt in
meinen Augen und weil ich im Tiefen schwimme und keinen Grund unter
den Füßen habe, komme ich ins Trudeln.
»Willst du mich deshalb
ertränken?«, rufe ich aufgebracht. Mit zwei kräftigen Schwimmzügen
ist er bei mir und hält mich fest.
»Küss mich schnell und ich
vergesse deinen Betrug.«
»Du schnallst es nicht, oder?«
Obwohl Steffen es mir ausdrücklich untersagt hat, kraule ich
schnell zurück an den Strand. Ich wickel meinen nassen Körper in
ein großes Badehandtuch ein und beschließe, künftig allein in
unserem Pool zu schwimmen. Wortlos gehen wir beide zurück. Gilbert
wartet vor dem Bistro. Er will von mir wissen, ob ich ihn am Abend
nach Toulon zum Auftritt von Tobi, Ben und Valerie begleiten
will.
»Es sind gerade mal 90 km. In
einer Stunde sind wir da. Vorher fahren wir im Krankenhaus
vorbei.«
Clara schläft schon. Es soll die letzte
Nacht sein, die sie im Krankenhaus verbringen muss. Gilbert kennt
den Weg. Er selbst hat in diesem Club schon oft gespielt. Der
Türsteher winkt uns herein. Es läuft Musik vom Band und ich schaue
auf die leere Bühne. Benjamin hat mich sofort entdeckt und begrüßt
mich mit einer Umarmung.
»Geht es Clara wieder
besser?«
»Wo steckt Tobi?« Ben schickt
mich in den Aufenthaltsraum, der sich am Ende des Ganges befindet.
Schon auf dem Flur höre ich Valeries Stimme.
»Bitte Tobi. Es hat doch so
wunderbar geklappt. Bitte, bitte!« Ich traue meinen Augen nicht.
Die Sängerin sitzt auf dem Schoß meines Mannes und krault seinen
Kopf, während sie ihn weiterhin schmachtend
anbettelt.
»Wenn du nicht willst, dass ich
dir deine Finger breche, dann nimm sofort die Griffel von meinem
Mann. Und solltest du noch einmal die Frechheit besitzen und meinen
Anruf nicht ausrichten, dann Gnade dir Gott.« Ich drehe mich auf
dem Absatz um und verlasse den Club. Tobi folgt
mir.
»Wo steht dein Wagen? Ich will
hier weg. Sofort!«
»Ach Marie, nun bleib mal
ruhig. Es ist doch gar nichts los. Valerie war so in Euphorie über
ein Lied, das wir heute geprobt haben. Das war alles. Aber es freut
mich zu sehen, dass du doch ein bisschen eifersüchtig
bist.«
»Aha, sie war also nur in
Euphorie. Na, das erklärt natürlich alles. Ich bin auch ständig in
Euphorie und trotzdem steige ich nicht auf meinen Koch und tatsche
ihn an. Aber wenn du meinst, dass das kein Grund ist, sich
aufzuregen, dann halte dich auch schön daran, solltest du
irgendwann noch mal nach Hause kommen.« Ich renne die Straße
hinunter und drücke so lange auf den Autoschlüssel, bis ich die
Rücklichter seines Wagens aufleuchten sehe. Ich brauche für die
Rückfahrt nur 50 Minuten.
Das Mató ist bis auf den letzten Platz
gefüllt. Ich sehe schon beim Einparken, dass Sarah und Ellen im
Service aushelfen. Ein Blick über die Tische bringt mich zum
Schmunzeln. Die meisten Gäste essen Muscheln. In der Küche lächele
ich dem Maître freundlich zu. Mit einer Kelle schöpfe ich eine
kleine Portion aus dem großen Topf und probiere.
»Zuwenig Wein«, lache ich.
Arnaud schaut mich irritiert an und kostet auch.
»Findest du
wirklich?«
»Nein, ich mache nur Spaß. Sie
sind perfekt und machen mich ganz euphorisch.« Ich lege meine Arme
um ihn und küsse zärtlich seine Lippen. Timo traut seinen Augen
nicht. Er folgt mir in den Gastraum und schreit mich
an.
»Was war denn das. Spinnst
du?«
»Ich habe meinen Küchenchef
geküsst. Ich habe keine Bootstour mit ihm gemacht und auch nicht
meinen Slip in seinem Wagen vergessen. Also kümmere dich um deine
Angelegenheiten, damit solltest du ausreichend beschäftigt sein.«
Während ich meine Runde mache und die Stammgäste begrüße, wird am
Familientisch über mein schamloses Verhalten getratscht. Es geht
auf Mitternacht zu und Ellen ruft mich zum wiederholten
Mal.
»Eure Meinung interessiert mich
nicht. Haltet euch raus!«
»Tobias hat angerufen. Er ist
mit Gilbert auf dem Weg und wird in der nächsten Stunde hier
eintreffen.«
»Ausgezeichnet, Mama, dann
kannst du ja mit ihm nach Hause fahren. Ich schlafe heute hier.
Gute Nacht.« Ich gehe ins Appartement und nach einer kurzen Dusche
lege ich mich ins Bett.
Ich schlafe noch nicht
und weiß genau, dass es mein Mann ist, der nach einer Stunde an die
Tür klopft.
»Mach endlich auf. Ich will mit
dir reden.« Bevor er die Anderen mit seinem Gebrüll weckt, öffne
ich.
»Wie kindisch ist dein
Verhalten? Weshalb küsst du in aller Öffentlichkeit deinen
Koch?«
»Wäre es dir lieber, ich würde
es heimlich hinter deinem Rücken machen? So wie du es mit deiner
Singdohle machst?«
»Ich bin es leid, ständig für deine
idiotischen Entscheidungen verantwortlich gemacht zu werden. Du
wolltest das Bistro. Ich hatte dir eindringlich davon abgeraten.
Jetzt ist es soweit und du bist völlig überfordert. Statt meine
Hilfe anzunehmen, schickst du mich fort. Sobald ich weg bin, drehst
du durch und bekommst einen deiner peinlichen Wutausbrüche vor
unseren Freunden.«
»Du nennst mich eine
durchgeknallte Idiotin, die dir peinlich ist? Gut zu wissen,
was du für eine Meinung von mir hast. Und jetzt verzieh dich. Ich
will schlafen.« Tobias wird lauter.
»Hör auf, mich ständig
wegzuschicken. Ich bin nicht Balou, der Platz macht, wenn du es ihm
sagst.« Wutschnaubend steige ich aus dem Bett und durchsuche meine
Handtasche nach den Schmerztabletten. Erbost werfe ich die leere
Packung auf den Boden.
»Du bist ein Weltmeister, wenn
es darum geht, Tatsachen zu verdrehen. Aber diesmal kommst du damit
nicht durch. Clara war gerade aus der Narkose erwacht, da hast du
dich schon wieder verdrückt, obwohl du sehen konntest, wie schlecht
es mir ging. Aus zwei Tagen Aushilfe wurde auf einmal ein
Engagement von zwei Wochen. Du gehst auf Tour, obwohl wir selber
ein Musik Bistro betreiben. Ich muss abends CDs spielen, weil mein
Mann es vorzieht, sich vom »scharfen Feger« bezirzen zu
lassen.«
»Ich habe Valerie nicht
geküsst. Sie und ich können auch schon eigenständig mit Messer und
Gabel essen und müssen uns nicht gegenseitig füttern! Und Schwimmen
war ich auch nicht mit ihr.«
»Du bist ja erstaunlich gut
informiert.«
»Solltest du dir das noch
einmal herausnehmen, dann setze ich deinen Maître vor die Tür.« Ich
schlüpfe in meine Schuhe und gehe hinunter in die Küche. Im Erste
Hilfe Schrank suche ich nach Tabletten. Ich finde aber nur
Ibuprofen und spüle drei Tabletten mit einem Glas Wasser hinunter.
Als ich zurück komme, liegt Tobias schon im Bett und stellt sich
schlafend.
In einer Hand den Kaffee, in der anderen
eine Zigarette haltend, stehe ich im Hinterhof und überlege, wer
der Spitzel ist. Da kommt ja wohl jeder in Frage, denke ich und
beschließe den heutigen Tag auf Abstand zur Familie zu gehen. Von
Weitem höre ich bereits die Stimmen von Sophie und Steffen, die zum
Frühstück herunterkommen. Ich schleiche unbemerkt durch den
Lieferanteneingang und steige in meine Ente. Mit mäßigem Tempo
fahre ich zum Krankenhaus und hole Clara ab.
»Möchtest du ins Appartement
oder lieber zu Oma ins Haus?« Ihre Wahl fällt aufs Haus und ich bin
froh über ihre Entscheidung. So bleibt mir Ellen für den heutigen
Tag mit ihrer Anwesenheit und ihren Vorwürfen erspart. Ich nehme
mir eine neue Packung Schmerztabletten aus der Hausapotheke und
sage beim Rausgehen:
»Versprich mir, dass du liegen
bleibst. Spielen mit Balou ist noch nicht erlaubt.« Ich weiche den
fragenden Blicken meiner Mutter aus.
»Ich habe keine Zeit. Ich werde
in der Küche gebraucht.
Ich schnappe mir eine saubere Kochjacke aus
dem Schrank und gehe ins Appartement, um mich umzuziehen. Tobias
ist bereits aufgestanden und sitzt bei den anderen am
Familientisch. Als er mich in den Kochklamotten erblickt, steht er
auf und zieht mich im Gastraum zur Seite.
»Du wirst nicht ernsthaft in
der Küche arbeiten. Willst du mich provozieren?«
»Hörst du mir nicht zu, wenn
ich dir etwas erzähle oder hast du Alzheimer. Dank Timo habe ich
keine Sous Chefin mehr. Wer bitte soll nach deiner kompetenten
Einschätzung das Essen kochen. Arnaud kann zwar gut küssen, aber
hexen kann er auch nicht!« Mit großer Genugtuung schaue ich in das
zornige Gesicht meines Mannes. Das war für die durchgeknallte
Idiotin, mein Bester!
»Ich fahre jetzt zu Clara,«, sagt er
und zieht mit hoch rotem Kopf ab. Ich sehe ihm amüsiert hinterher
und gehe in die Küche. Arnaud hat jedes Wort
mitgehört.
»Und das alles wegen einem
harmlosen Kuss?«
»Harmlos war er ja wohl nicht.
Was stellst du mir denn für ein Zeugnis aus?« Er grinst mich frech
an und geht an seinen Spint.
»Sicherlich wird Tobi jetzt ins
Krankenhaus fahren. Spätestens dort wird er explodieren, wenn er
merkt, dass Clara bereits zu Hause ist.«
»Hier ist das
Anforderungsprofil, um das du mich gebeten hast.« Er zieht einen
roten Schnellhefter aus seiner Aktentasche und reicht ihn mir. Ich
will danach greifen, aber weil mir abrupt schwindelig wird, halte
ich mich an der Tischkante fest. Mein Atem wird schwer und meine
Knie geben nach.
»Was ist mit dir, du bist
kreidebleich!« Er reicht mir ein Glas Wasser und stellt mir einen
Stuhl an den Tisch.
»Hast du schon etwas gegessen?
Hast du Schmerzen? Marie, sprich schon.« Ich deute auf meine
Handtasche. Ohne hinzusehen öffne ich die Tablettenschachtel und
schlucke gleich zwei Schmerzstiller.
»Ärger mit Tobias schlägt mir
immer gleich auf den Magen. Gib mir einen Moment. Gleich wird es
wieder besser.« Arnaud nimmt mir die Schachtel aus der Hand und
geht zu Steffen ins SPA.
»Diese Dinger futtert Marie
seit Tagen wie Bonbons. Sie ist weiß wie eine Wand und wäre fast
umgefallen. Kannst du nicht mit ihr sprechen.« Steffen folgt dem
Maître in die Küche und sie hören, wie Tobias und ich laut
streiten.
»Das hast du doch mit Absicht
gemacht. Ich hab wie ein Idiot vor der Krankenschwester
gestanden.«
»Selbstverständlich habe ich
Clara schon abgeholt. Vielleicht wäre dir wieder ein wichtiger
Termin mit Valerie dazwischen gekommen. Das Risiko wollte ich nicht
eingehen.«
»Du spinnst total!« Tobias
verlässt die Küche und Arnaud geht in den Kühlraum. Nun bin ich mit
Steffen und Timo allein.
»Wer von euch beiden hat
ausgeplaudert, dass ich mit Arnaud schwimmen war?« Ich bekomme
keine Antwort. Laut schimpfend gehe ich auf die Terrasse und stelle
mich vor Christina auf. Sie sitzt gemütlich auf der Bank und nimmt
ein Sonnenbad.
»Komm mit, zu viel Sonne ist
schlecht für den Teint und macht alt. Ich finde, du hast dich genug
ausgeruht. Es wird Zeit, dass du dich mal nützlich machst. Geh in
die Küche und helfe am Muschel Posten.« Entgeistert schaut sie mich
an.
»Du wirst doch wohl ein paar
läppische Miesmuscheln nach Rezept zubereiten können. Wenn nicht,
bleibt die Küche heute kalt. Ich bin raus. Ihr langt mir alle und
ich brauche eine Pause von euch!« Christina traut sich nicht zu
widersprechen und folgt mir.
»Hier ist deine neue Sous
Chefin für heute. Ich fahre jetzt nach Hause und kümmere mich um
das Stelleninserat.« Ich nehme die rote Mappe und fahre nach
Hause.
Clara sitzt auf dem Sofa uns schaut fern.
Der Hund liegt zufrieden an ihrem Fußende und schläft. Ellen und
Tobias sind auf der Terrasse und unterhalten sich über mich. Die
beiden verstummen sofort, als ich zu ihnen nach draußen
trete.
»Oh, ich störe wohl!« Wütend
gehe ich ins Elternschlafzimmer und lege mich aufs Bett.
Fassungslos darüber, dass nicht nur mein Lokal von der Familie
belagert wird, sondern ich mir in meinem eigenen Haus wie ein
Eindringlich vorkommen muss, lösen die ersten Tränen
aus.
»Was war mit dir los? Steffen
sagt, du hattest einen Schwächeanfall?« Tobias legt sich zu mir
aufs Bett und streichelt meinen Rücken. »Wir machen uns
Sorgen!«
»Ihr macht mich alle krank! So
habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich will mein altes Leben
wieder haben. Ohne all die Plagegeister!«
»Ja, unser Plan mit dem Mató
Bistro & SPA ist deutlich in die Hose gegangen. Ich habe es mir
auch anders vorgestellt.« Ich drehe mich um und drücke fünf
Küsschen auf seine Lippen.
»Lass uns die Bande
rausschmeißen. Wir übernehmen wieder!«
»Zuerst kümmern wir uns um
geeignetes Küchenpersonal.« Ich hole den roten Schnellhefter aus
meiner Tasche und werfe ihn Tobias zu.
»Genau das habe ich vor. Lass
uns ein Stellenangebot aufgeben. Lies mal vor, was muss der neue
Sous Chef können.« Tobias liest das Schreiben und blickt erbost zu
mir rüber.
»Wer verarscht hier jetzt
wen?«, fragt er laut und wirft die Mappe zurück aufs Bett. Ich
verstehe nicht und lese selbst.
»Er/Sie muss so sexy sein, wie
du. So begeisterungsfähig sein, wie du. So küssen können, wie du.
So schmecken, wie du. So lachen....... « Ich suche nach Worten. Das ist schon ein starkes Stück.
Ich ärgere mich unbeschreiblich darüber, nicht vorher einen Blick
hineingeworfen zu haben. Aber nun ist es zu spät. Tobi
tobt!
»Genug ist genug! Ich schmeiße
deinen Maître raus. Jetzt sofort.«
»Das wirst du schön bleiben
lassen. Beruhige dich, ich werde mit ihm reden. Arnaud wird sich
einen Scherz erlaubt haben. Ich will nichts von ihm und er weiß es
auch.«
Tobias lässt sich nicht abhalten und ich
begleite ihn. Schon auf der Fahrt wird mir unbeschreiblich übel.
Ich bin mir sicher, dass das bevorstehende Donnerwetter nicht ohne
Folgen bleibt. Das Lokal ist prall gefüllt. Alle Stühle sind
besetzt und ich sehe, dass meine Crew am Schwimmen ist. In der
Küche herrscht Chaos. Sarah bedient die Spülmaschine. Christina hat
ihren Dienst nach 10 Minuten quittiert. Arnaud ist der Alleinkoch
für 120 hungrige Gäste. Er schreit die Kellner an und beschimpft
Sarah, die nicht schnell genug für Teller Nachschub sorgt. Ich
flehe Tobias an.
»Nicht jetzt! Lass uns erst das
Mittagsgeschäft abwarten.« Ich renne ins SPA, um Verstärkung zu
holen. Sophie ist bereit in der Küche auszuhelfen. Steffen
verspricht, sofort nachzukommen, sobald Jean und Carlos
eintreffen.
»Es kommt gleich zu einer
Katastrophe«, wimmere ich und beuge mich verkrampft nach vorn. Ich
übergebe mich, noch bevor ich die Toilette erreichen kann in meine
Hände. Steffen reicht mir einige Zellstofftücher und schaut mich
entgeistert an. Ich habe Blut gespuckt. Völlig aufgelöst laufe ich
in den Waschraum und säubere mein Gesicht und Hände. Ich zittere am
ganzen Körper und betrachte mein schneeweißes Gesicht im
Spiegel.
»Kein Wort zu Tobi! Diesmal
hältst du deine Klappe, du Spitzel.«
»Ich habe kein Sterbenswörtchen
gesagt. Aber das, meine Liebe, das wirst du ernst nehmen. Wir
fahren sofort ins Krankenhaus.« Sophie kommt zurück und ruft nach
mir.
»Was quatscht du hier herum?
Komm sofort rüber! Bei dir läuft gerade der Super Gau ab. Tobias
hat deinen Maître vor die Tür gesetzt.« Ich gehe zu den Kellnern
und trage ihnen auf, die Gäste darüber zu informieren, dass mit
einer Wartezeit von einer halben Stunde zu rechnen ist. Dann
verschaffe ich mir einen Überblick über die zahlreichen Bons und
lege eine neue Reihenfolge fest.
»Sophie, ich brauche Zwiebeln und
Lauch aus dem Kühlraum. Tobias, öffne mir zwei Flaschen von dem
Weißwein. Steffen, du kümmerst dich um die Salate. Wo stecken Timo
und Christina?« In der Küche herrscht ein Ton wie auf einem
Kasernenhof. Aber es traut sich niemand, der Kommandantin zu
widersprechen. Das Mittagsgeschäft endet an diesem Tag statt um
zwei erst um drei Uhr. Ich gehe zu meinen Masseuren ins
SPA.
»Ihr werdet vorerst
durcharbeiten müssen und beide Schichten übernehmen. Es ist ein
Notfall eingetreten. Ich brauche meine Schwester und Steffen in der
Küche.« Danach stampfe ich in den ersten Stock und klopfe laut an
Christinas Tür. Timo öffnet und schaut mich selig
an.
»Euer Langzeiturlaub ist
vorbei. Entweder ihr packt mit an oder ihr packt eure Koffer.
Entscheidet euch. Ihr habt genau eine viertel Stunde Zeit. Entweder
ihr kommt runter und helft endlich, wie ihr es versprochen habt
oder ihr verdrückt euch!«
Steffen passt mich im Treppenhaus
ab.
»Seit wann nimmst du diese
starken Schmerztabletten. Und wie viele schluckst du täglich davon.
Und lüge mich nicht an.«
»Seit meinem ersten
Bandscheibenvorfall. Da habe ich täglich ein bis zwei
genommen.«
»Du willst mir sagen, dass du
diese Hammerpillen seit vier Jahren ununterbrochen schluckst? Habe
ich dir nicht gesagt, dass du sie nach spätestens vierzehn Tagen
absetzen musst. Das sind starke Medikamente, die süchtig machen.
Sie sind für den Notfall gedacht!«
»Hab du mal diese Schmerzen!
Dann redest du anders.«
»Du ignorierst jeglichen Rat.
Rückenprobleme behandelt man mit Krankengymnastik, Akkupunktur und
Massagen. Das solltest du doch wissen. Lange genug habe ich es dir
gepredigt. Du wirst jetzt mit mir ins Krankenhaus fahren und dir
den Magen spiegeln lassen.« Ich wiegele ab und begründe meinen
Entschluss mit dem Küchen Chaos. Ich verspreche einen
Untersuchungstermin beim ortsansässigen Internisten zu vereinbaren
und beschwöre Steffen, auf jeden Fall die Klappe zu
halten.
»Du bist unverbesserlich!«
Zusammen gehen wir an den Familientisch, wo sich Timo und Christina
über meinen Auftritt beschweren.
»Na, ganz Unrecht hat Marie
wohl nicht. Von eurer groß angekündigten Unterstützung habe ich auf
jeden Fall nichts mitbekommen«, sagt Steffen.
»Also morgen müsst ihr die
Küche ohne Marie und mich bewältigen. Wir haben einen Termin bei
einem Winzer, der ist auch wichtig. Also teilt euch die Aufgaben
nach Talent ein. Wer schnibbelt, wer kocht, wer richtet an, wer
kümmert sich um den Abwasch.« Steffen erntet ungläubige
Blicke.
»Marie und du wollt zum Winzer
fahren? Ihr beide seid die einzigen, die kochen könnt!«, sagt
Sophie und erhält allgemeine Zustimmung.
»Den Termin können wir
verschieben«, sage ich und befürchte gleich
aufzufliegen.
»Auf keinen Fall. Wir fahren.
Du hast es versprochen. Oder halten wir beide uns jetzt an keine
Zusagen mehr?« Ich verstehe Steffens Drohung.
»Tobias ist auch ein
ausgezeichneter Koch. Zusammen mit Louis werdet ihr das wohl
hinkriegen.«
Die Notlüge mit dem Winzer ist eine blöde
Ausrede. Aber mein Exmann ist nicht sehr geschickt im Lügen und
schließlich meint er es mal wieder nur gut. Vor dem Schlafengehen
wird es noch einmal zum Thema.
»Ist der Besuch bei dem
Weinonkel wirklich so wichtig, dass du ihn nicht verschieben
kannst?«
»Weißt du Tobi, du hast den
Maître vor die Tür gesetzt, obwohl ich dich gebeten hatte, mich das
regeln zu lassen. Nun seht zu, wie ihr das morgen ohne mich
schafft.«
Pünktlich um halb neun warte ich in der Ente
vor dem Mató. Steffen hat noch am Vortag einen Termin zur
Gastroskopie für mich vereinbart.
»Du wirst eine örtliche
Betäubung bekommen, dann ist es mit dem Schlauch schlucken nicht so
unangenehm.« Während der Befragung durch den Arzt hält er meine
Hand.
»Sie haben schwarzen Stuhl
bemerkt und Blut gespuckt? Rauchen Sie? Nehmen Sie regelmäßig
Medikamente ein? Trinken Sie Alkohol? Hatten Sie in der
Vergangenheit häufiger Stress?«
»Sechsmal Ja!«
»Während der Untersuchung
werden wir eine kleine Gewebeprobe entnehmen und sie im Labor auf
das Bakterium Helicobacter pylori untersuchen. Das ist der
Hauptverursacher von Magengeschwüren.« Ich halte mich
tapfer.
»Frau Martin, wir haben einen
Tumor entdeckt. Die Biopsie wird uns Aufschluss darüber geben, ob
er gutartig ist oder wir es mit einem Magenkarzinom zu tun haben.«
Der Arzt sieht auf die Uhr.
»Wir bringen die Gewebeprobe
sofort ins Labor. In vier bis fünf Tagen liegen verlässliche
Ergebnisse vor. Bis dahin werden sie Medikamente einnehmen, die die
Magensäure neutralisieren. Sie müssen ab sofort auf reizende
Speisen, Alkohol, Kaffee und Nikotin verzichten. Gönnen Sie sich
ein paar Tage Ruhe und bleiben Sie noch einen Moment liegen. Also
wir sehen uns Ende der Woche.« Ich starre an die Decke. Die Worte
Tumor und Magenkarzinom haben mir die Sprache verschlagen. Meine
Atmung wird unruhig und Tränen schießen mir in die
Augen.
»Ich habe vielleicht
Magenkrebs. Hat er das gemeint?« Ich zittere am ganzen Körper.
Steffen drückt meine Hand ganz fest. Auch er ist kreidebleich und
ringt nach Luft. Er schüttelt den Kopf.
»Nein, das hat der Arzt nicht
gesagt. Es geht nur darum, es auszuschließen.
»Ich darf keinen Krebs haben.
Ich bin Mutter einer neunjährigen Tochter. Was wird aus Clara? Oh
Gott, Tobi wird damit nicht klar kommen. Warum ich, Steffen?« Ich
bin kurz davor, den Verstand zu verlieren.
»Werde jetzt nicht
hysterisch!«, schreit er mich an. »Ich weiß, Geduld zählt nicht zu
deinen Stärken, aber du musst jetzt abwarten und darfst nicht den
Kopf verlieren.«
»Steffen, versprich mir, kein
Wort zu niemanden. Wenn alles gut ist, bleibt es unser Geheimnis.
Sollte der schlimme Fall eintreten, werde ich es Tobi sagen.
Versprichst du es mir?«
»Du musst dich schonen! Ab
sofort gehörst du ins Bett. Wie willst du das
erklären?«
»Wir schieben es auf meinen
Rücken. Wenn du mitspielst, wird es klappen.«
Steffen fährt mich direkt nach Hause. Ellen
bemerkt sofort, dass ich geweint habe.
»Es ist wieder mein Scheiß
Kreuz. Ich versuche, mich etwas lang zu machen. Ich lege mich zu
Clara aufs Sofa und kann mich an meinem Mädchen nicht satt
sehen.
»Komm her mein kleiner Schatz
und lass uns schmusen. Ich bleibe jetzt bei dir. Oma wird uns beide
pflegen.« Immer wieder laufen mir Tränen über das Gesicht. »Es hört
gleich auf, Mama, ich habe schon eine Tablette genommen.« Ich lasse
mir von Ellen das Telefon geben und rufe im Bistro an. Sophie nimmt
das Gespräch entgegen.
»Wie seid ihr ohne uns klar
gekommen?«
»Mach dir keine Sorgen. Dein
Louis hat hier alles im Griff. Habt ihr schöne Weine
eingekauft?«
»Ja, der Besuch auf dem Weingut
hat sich gelohnt. Die Rotweine sind ganz hervorragend. Grüß alle
und gebe Tobi einen dicken Kuss von mir.«
Steffen betritt das Bistro und lässt sich
einen doppelten Cognac an der Bar einschenken. Als er Sophie
erblickt, nimmt er sie fest in den Arm und küsst sie auf den
Mund.
»Hat alles geklappt? Haben die
Winters sich wieder gedrückt oder endlich mal mit
angepackt.«
»Beide haben freiwillig
gespült. Ich habe die Garnituren übernommen. Soll ich dir beim
Ausladen der Weine helfen?«
»Nicht nötig, Schatz. Marie hat
nichts eingekauft. Sie bleibt bei ihrem alten
Lieferanten.«
»Du kommst sofort mit mir nach
oben!« Sophie lässt sich nicht frech belügen. Im Appartement stellt
sie ihren Zukünftigen zur Rede. Laut schreit sie ihn
an.
»Was ist das mit Marie und dir
und erzähle mir nicht, dass ihr heute den ganzen Tag auf dem
Weingut gewesen seid. Ihr solltet eure Geschichten besser
absprechen. Sag mir doch klipp und klar, dass es zwischen euch noch
nicht aus ist. Dann brauche ich mich hier nicht zum Deppen zu
machen.«
»Du machst dich gerade selbst
zum Deppen, wenn du denkst, dass wir etwas miteinander
haben.«
»Ich will wissen, wo ihr
gewesen seid. Sage es mir oder ich bin weg.« Tobias hört das laute
Geschrei seiner Schwägerin. Er ist im privaten Appartement nebenan
und hört bei geöffneter Tür, wie Steffen sich
erklärt.
»Ich habe Marie ins Krankenhaus
begleitet. Sie hatte gestern schwere Magenblutungen und wurde heute
untersucht. Sie haben einen Tumor gefunden. Ob es Krebs ist, stellt
sich erst in ein paar Tagen heraus, wenn die Laborergebnisse
vorliegen. Ich habe ihr fest versprechen müssen, nichts zu
sagen.«
»Oh mein Gott«, schreit Sophie
und fängt sofort an zu weinen. Erschrocken schaut sie in Tobis
Gesicht, der regungslos auf dem Flur steht. Steffen dreht sich ab.
Er kann seinen Blick nicht ertragen. Keiner bringt einen Ton
heraus. Tobias schüttelt ständig seinen Kopf und ringt nach
Luft.
»Ich bin ihr Mann. Warum
spricht sie mit dir und nicht mit mir?«
»Weil sie dich liebt. Sie hat
unbändige Angst, dich verlassen zu müssen. Der Gedanke an dich und
Clara hat ihr heute fast einen Nervenzusammenbruch beschert. Ich
weiß es nur, weil sie direkt vor meinen Augen Blut gespuckt hat.
Marie hätte es mir doch nie freiwillig erzählt. Sie hat der
Untersuchung nur unter der Bedingung zugestimmt, dass ich den Mund
halte. Das hat ja super geklappt.« Die drei gehen mit dem
Versprechen, es keinem anderen zu sagen an die Bar und trinken
einen Cognac. Tobias lässt sich überreden, bis Küchenschluss zu
bleiben.
Das Haus ist dunkel, als er gegen elf Uhr
abends heimkehrt. Ich liege noch wach im Bett und frage nach dem
Geschäft.
»Lass mich rasch duschen, dann
bin ich gleich bei dir.« Er braucht den kurzen Moment um sich zu
sammeln.
»Hast du starke Schmerzen?«,
fragt er und rückt ganz nah an mich heran. Ich knipste die
Nachtischleuchte an und sehe in seine mit Tränen gefüllten
Augen.
»Steffen hat gepetzt!« Er nimmt
mich fest in seine Arme und wir beide weinen
bitterlich.
»Ich verlasse dich nicht. Du
wirst mich nicht los. Das habe ich mir fest
vorgenommen.«
»Gut, genau das wollte ich von dir
hören.«
Ellen wundert sich. Sie hat Frühstück nach
Vorschrift zubereitet und keiner greift zu. Ich lehne sogar den
Kaffee ab, was sie richtig stutzig macht.
»Ich trinke gleich einen Kaffee
im Bistro. Wir schauen nur kurz nach dem Rechten und danach stechen
für eine Weile in See. Tobi und ich brauchen einmal Zeit für
uns.«
»Keinen Kaffee, keine
Zigaretten, keinen Alkohol und keine Tabletten. Sag mir bitte, wie
ich es bis Ende der Woche aushalten soll?«
»Lass mich mal machen. Ich
werde unsere trüben Gedanken schon vertreiben.« Wir machen einen
Abstecher ins Mató und ich überzeuge mich, dass es auch ohne mich
rund läuft. Ich koche Tee und stelle einen Korb mit
magenfreundlichen Leckereien zusammen, während Tobias
ununterbrochen mit seinem Handy telefoniert. Sophie nimmt mich fest
in den Arm und zeigt mir, dass sie im Bilde ist.
»Es wird gut ausgehen, ich
spüre das.« Ich nicke und schlucke.
Vor einer kleinen Bucht wirft Tobias den
Anker. Wir legen uns auf das Sonnendeck und blicken in den blauen
Himmel.
»Bevor unsere Mischpoke die
Appartements in Dauerbeschlag genommen hat, hatte ich einen Plan.
Ich hätte gern eines der Studios als kleine Musikschule genutzt.
Clara Klavierspielen beizubringen, macht mir unheimlich viel
Freude. Es wäre kein Fulltime Job und ich wäre nah bei dir. Wenn
wir die Küchenfrage lösen und noch einen zweiten Oberkellner
einstellen, brauchst du dich nur noch um das SPA zu kümmern. In
Teilzeit, denn mit Frank, Jean, Carlos und Sarah sind wir personell
gut bestückt. Wir hätten endlich wieder Zeit für uns und könnten
abends wie Gäste auf der Terrasse sitzen. Wenn wir nach einer Feier
nicht mehr nach Hause fahren wollen oder können, bleibt uns noch
immer unser Appartement.«
»Das klingt
himmlisch.«
»Dann gibst du mir dein OK? Ich
werde alles in die Wege leiten.«
»Du bist doch schon längst
dabei. Oder mit wem hast du heute solange
telefoniert?«
»Du kennst mich, wie kein
anderer.«
»Stimmt und ich liebe dich, wie
kein anderer.«
»Ich weiß, Marie. Das lässt du
mich jeden Tag spüren.« Der Coffein Entzug macht mich ganz
hibbelig. Ich schenke mir einen Becher grünen Tee ein und
stöhne.
»Wie kann Steffen nur diese
Plörre trinken?«
»Steffen ist ein prima Kerl.
Ich weiß gar nicht, warum ich das erst jetzt erkenne. Er und Sophie
passen doch gut zusammen, oder?«
»Ihn endlich glücklich zu
sehen, nimmt mir eine enorme Last von den Schultern, die ich seit
zehn Jahren mit mir rumschleppe. Und dass es Sophie getroffen hat,
ist geradezu perfekt. Sie sind ein wirklich schönes
Paar.«
»Apropos Paar. Du weißt, dass
Christina und Timo sich versöhnt haben? Sie gibt ihm eine
allerletzte Chance.«
»Ich habe es mir gedacht. Dein
Bruder hat so selig geschaut. Diesen Blick kenne ich auch von dir.
So wirst du auch gucken, wenn ich mit dir fertig
bin.«
Am Freitagmorgen um acht Uhr ruft die
Stationsschwester an. Sie bittet zum Gespräch mit dem
behandelnden Gastroenterologen. Das
Resultat der Untersuchung will sie am Telefon nicht Preis
geben.
»Das ist reinste Folter«,
schimpfe ich ins Telefon. Es kann nur ein schlechter Befund sein,
sonst hätte man es mir doch am Telefon gesagt. Nur schlechte
Nachrichten werden persönlich übermittelt. Die Angst hat sich in
alle Glieder verteilt. Gemeinsam fahren wir ins Krankenhaus. Die
lange Wartezeit verbringe ich mit zählen. Von eins bis hundert und
wieder zurück. Tobias betet.
»Frau Martin, guten Morgen. Es
ist ein schöner Morgen. Alles ist gut. Ihr Bösewicht hat sich als
gutartiger Magenpolyp herausgestellt. Üblicherweise werden solche
Polypen durch einen endoskopischen Eingriff abgetragen. Allerdings
ist ihr Exemplar schon recht groß und ich möchte auf Nummer sicher
gehen und das Risiko einer bösartigen Entwicklung minimieren. Ist
es nach der Spiegellung zu weiterem Bluterbrechen
gekommen?«
»Nein, ich hatte keine
Beschwerden mehr und ich habe mich strikt an Ihre Weisungen
gehalten. Sogar Ihr Kaffeeverbot habe ich
befolgt.«
»Respekt, Frau Martin. Ich
könnte das nicht«, lacht der Doktor. Peut à peut kommen die guten
Nachrichten bei Tobias und mir an und unsere Gesichter entkrampfen
sich.
»Aber den Eingriff schieben wir
nicht auf die lange Bank. Innerhalb der nächsten vierzehn Tage
möchte ich Sie auf meinem OP Tisch sehen.« Er lässt uns allein im
Behandlungszimmer zurück. Tobias drückt seine Stirn an meine und
flüstert: »Das ist der glücklichste Tag in meinem
Leben.«
»Ja, lass uns feiern! Oh, Tobi,
ich hatte solche Angst.«
Steffen und Sophie stehen vor dem SPA und
nehmen die freudige Nachricht mit Jubelschreien auf. Nachdem der
Freudentaumel abgeklungen ist, frage ich, wer denn in der Küche
arbeitet.
»Der Koch hat alles im Griff.«
Ich gehe durch den Gastraum und werde von allen Kellnern freudig
begrüßt. Louis winkt mir aus der Küche zu. Ich gehe zu ihm, um ihn
zu begrüßen, als sich die Tür vom Kühlraum öffnete und ich in das
Gesicht von René sehe. Ich bin im ersten Moment völlig sprachlos
und bekomme eine Ganzkörpergänsehaut.
»Du Lump du, du Verräter, du blödes
Arschloch! Wo warst du? Und was machst du hier?«
»Ich freue mich auch, dich zu
sehen.« Tobias grient, denn es sind Freudentränen, die ich
weine.
»Das ist nicht nur der neue
Maître, René ist auch der Betreiber des Mató Bistros. Er hat
gestern seinen Pachtvertrag unterschrieben.«
»Einen Knebelvertrag, wenn ich
das sagen darf. Es ist mir unter Androhung körperlicher Gewalt
untersagt, dich auf den Mund zu küssen. Sollte ich einmal beim
Pokern erwischt werden, fliege ich sofort raus. Dafür, dass Tobi
einmal im Monat kostenlos musiziert, bekommt ihr einen persönlichen
Tisch auf der Terrasse.«
»Es wird alles so wie früher«,
heule ich. Nichts anderes habe ich je gewollt.
»Was feiern wir denn?«, will die Familie am
Abend wissen.
»Das ist eine Abschiedsfeier,
nur für euch. Ihr werdet morgen abreisen. Von nun an schaffen wir
es allein.«