Tante Berta ist tot, wie schade!
 

Odette und Frank kennen sich gut. Sie sind seit Jahren Arbeitskollegen und arbeiteten schon zusammen für namenhafte SPAs in Europa und Übersee. Die beiden Physiotherapeuten sind kein Liebenspaar, wie Odette immer wieder betont. Es ist allerdings nicht zu übersehen, dass Frank das gern ändern würde. Im Alter von Ende dreißig hat er die Nase voll von der Weltenbummelei und wünscht sich, sesshaft zu werden und eine Familie zu gründen. Vorzugsweise mit Odette. Sie hat andere Pläne. Mit spätestens vierzig will sie ein eigenes Geschäft eröffnen. Was ihr zur Erfüllung ihres Traumes fehlt, ist ein Mann, der ihr das nötige Startkapital sichert. Odette ist auf der Pirsch. Die Côte d’Azur ist ihrer Meinung nach der beste Ort, um nach einem passenden Finanzier zu suchen. So kümmert sie sich vornehmlich um die männlichen Kunden und um den Produktverkauf. Ihr kurzer Short bringt ihre strammen, durchtrainierten Beine prima zur Geltung. Wenn sie die oberen drei Knöpfe ihres Polohemdes öffnet und sie Einblick in ihr üppiges Delkotee freigibt, ist sie sich ihrer Wirkung auf Männer stets bewusst. Sie flirtet, was das Zeug hergibt. Mir gefällt ihre Balzerei nicht, obwohl ich mich über den steigenden Umsatz nicht beschweren will. Für die verbleibenden Wochen will ich jedoch kein Fass aufmachen. Schließlich kümmert sich Frank kompetent um Tobis Schulter. Regelmäßige Krankengymnastik hilft ihm, sich von Tag zu Tag besser zu fühlen. Im gleichen Maß, wie sich seine Verspannungen lösen, kommt auch seine Fröhlichkeit wieder zum Vorschein. Ceciles Ehemann, der Kotzbrocken Sebastian, kommt täglich zur Massage. Während Frank mit Tobi im Behandlungszimmer eins Übungen macht, höre ich verdächtige Geräusche aus der Kabine zwei. Kurz darauf verlässt Sebastian mit einem breiten Grinsen den Laden und steckt Odette einen Schein in den Ausschnitt. Betreten lauscht Frank der strengen Drohung seiner Arbeitgeberin.
   »Du machst hier doch keinen Puff aus meinem SPA?« Odette errötet, widerspricht allerdings nicht. Ich mache ihr eindeutig klar, dass ich ihr im Wiederholungsfall sofort kündigen werde.
   »Und dann soll Steffen etwa wieder übernehmen?«, fragt Tobias sichtlich aufgeregt, als wir mit dem Auto nach Hause fahren. Ich kann meinen Mann schnell beruhigen. Bevor ich Steffen noch einmal um Hilfe bitte, schließe ich das SPA lieber. Vor meiner Abreise hat er mir einen langen Brief hinterlassen. In blumigen Worten gestand er mir seine aufrichtige Liebe und bat mich inständig, endlich zu ihm zurück zu kommen. Im Zuge der neuen Offenheit im Hause Martin habe ich Tobias die Zeilen gezeigt. Es soll keine Geheimnisse mehr zwischen uns geben. Seine Vermutungen hatten sich wieder bestätigt. Steffen wird nie Ruhe geben! Tobis Rückfall in miese Stimmung dauert nur kurz an. Nach einer Umarmung von mir kehrt sein unwiderstehliches Lächeln wieder zurück. Wir halten uns an den festen Vorsatz, die Sommerzeit ohne Clara in vollen Zügen zu genießen. Auf keinen Fall will Tobias daran schuld sein, mir auch diesen Sommer zu verderben. Dafür sorgt Odette schon. Sie meldet sich nach meiner Standpauke gleich am kommenden Tag krank und nun darf ich selbst zur Arbeit antreten. In einer Behandlungspause spreche ich Frank an, der merklich traurig in der kleinen Küche eine Dose Redbull trinkt.
   »Was ist das mit dir und Odette?«
   »Ich kann tun und lassen was ich will, sie liebt mich einfach nicht.« Unerwiderte Liebe. Da bin ich die falsche Ratgeberin. Dennoch schlage ich meinen mütterlichen Ton an und nehme den Trauerkloß in den Arm.
   »Du bist ein gutaussehender, charmanter Mann im besten Alter. Hör endlich auf, einem Phantom hinterher zu laufen und genieße die Zeit. Nutze die Abende und gehe dich amüsieren. Schau mal auf Renés Terrasse. Da sitzen mindestens vier hübsche Frauen, die gern von dir angesprochen werden wollen.« Er will sich damit herausreden, dass er abends zu müde ist und außerdem niemanden im Ort kennt.
   »Dumme Ausreden!« Ich lasse ihn so lange nicht vom Haken, bis er mit der Wahrheit heraus rückt.
   »Ich bin zu schüchtern. Einfach Frauen ansprechen, das kann ich nicht.«
   »Dann wird es aber höchste Zeit, es zu lernen.« Ich öffne die Kasse und ziehe einen fünfzig Euroschein heraus. Grinsend fuchtel ich damit vor seinen Augen herum, ergreife seinen Arm und ziehe ihn in den Türrahmen.
   »Welche der vier Schönheiten soll es denn sein? Gucci, Versace, Dior oder Dolce & Gabbana?« Er traut sich nicht, zu widersprechen und wählt die Dame mit der Versace Sonnenbrille. Ich gebe ihm den Fuffi und eine Stunde frei. Meine Finger öffnen die obersten Knöpfe von seinem weißen Poloshirt und ich trage ihm auf, eine aufrechte Körperhaltung einzunehmen.
   »Würden Sie mir meine Pause versüßen und etwas mit mir trinken?«, fragt er die junge Frau, genau wie ich es ihm aufgetragen habe. Versace bekommt einen Sex On The Beach und Frank trinkt einen Milchkaffee. Nach dem zweiten Cocktail beginnt sie laut zu kichern. Er verabschiedet Sich und erhält ein Küsschen mit den Worten, bis nachher!
   »Geht doch«, sagt die Kupplerin stolz.
   »Sie ist strohblöd. Außerdem schielt sie! Die geht gar nicht!« Ich will mich kaputt lachen und gluckse noch immer, als Tobi mich zu Feierabend abholt. Er lässt sich über den Grund der Belustigung aufklären und blickt zu den Sonnenbrillenträgerinnen.
   »Gucci wäre die bessere Wahl gewesen. Die ist heiß, brandheiß!« Tobi erntet einen bösen Blick und merkt sofort, dass er mit seiner unüberlegten Bemerkung zu weit gegangen ist.
   »Ich meinte die Brille, was hast du denn gedacht.«
   »Dass du ein verdammt schlechter Lügner bist.«

Der Kotzbrocken fährt Odette in seinem offenen Zweisitzer vor. An ihrer linken Hand trägt sie einen auffälligen Verband, in der rechten eine weitere Krankmeldung.
   »Sehnenscheidenentzündung!«, klagt sie.
   »Typische Berufskrankheit. Das kommt von der vielen Handarbeit«, sage ich und werfe ihr einen stechenden Blick zu. Ich bin mir sicher, dass Odette bis zur Schließung weiterhin krank spielen wird. Natascha betritt braun gebrannt das Ladengeschäft und begrüßt mich mit einer festen Umarmung. Sie kommt gerade von einem Segeltörn zurück, den sie als Gästebetreuerin begleitet hat. Sie erkundigte sich nach Tobias und will wissen, wann Clara zurück ist.
   »Unser Plappermäulchen kommt morgen endlich wieder. Frederik bringt sie mit der Abendmaschine aus Hamburg.« Ich frage, ob sie für die restliche Ferienzeit ihre Vertretung im SPA übernehmen würde. Ich habe Clara schließlich zwei unbeschwerte Wochen Familienurlaub versprochen.
   »Tut mir leid, da muss ich passen. Meinem Vater geht es nicht gut. Ich werde in die Schweiz reisen und ihn besuchen. Meine Mutter meint, es wird Zeit dass ich mich mal wieder sehen lasse.« Ich habe es stets vermieden, Natascha nach ihrem und Tobias Vater zu befragen. Er ist ein dunkelrotes Tuch für ihn und er lehnt es strikt ab, über ihn zu sprechen.
   »Was fehlt ihm?«
   »Er leidet an Multipler Sklerose. Seit einem Jahr ist er an den Rollstuhl gefesselt. Es ist furchtbar für ihn, aber für meine Mutter noch schlimmer. Er war ein so vitaler und aktiver Mann. Jetzt mault er den ganzen Tag und lässt seine schlechte Laune an ihr aus.« Das kenne ich gut. In diesem Punkt ist Tobi seinem Vater sehr ähnlich. Ich will wissen, wie mein Schwiegervater aussieht und frage Natascha nach einem Foto. Sie kramt in ihrer Brieftasche und zieht ein verknittertes Bild heraus.
   »Das war an seinem 75. Geburtstag. Links daneben steht Natalie, meine jüngere Schwester. Sein Augenstern. Sie ist sein jüngstes Kind. Er verwöhnt sie nach Strich und Faden. Auf dem Foto war sie erst zwölf, aber unser Pummelchen ist jetzt mit fünfzehn noch genauso fett!« Ich bin mehr am Aussehen des alten Mannes interessiert. An seinen Augen kann man die Ähnlichkeit zu Tobias gut erkennen. In jungen Jahren war er bestimmt ein sehr attraktiver Mann.
   »War dir Paul ein guter Vater?«
   »Er war nie da. Ich habe die meiste Zeit im Internat verbracht. So eine liebevolle Familie, wie du sie mit Tobi und Clara hast, hatte ich nicht. Gutenachtgeschichten kannte ich nur aus dem Fernsehen. Umarmungen und Küsse waren mir fremd. Vielleicht hole ich das aus diesem Grund jetzt so überschwänglich nach«, sagte sie mit Blick auf ihren Neuen, der vor der Tür ungeduldig auf sie wartet.
   »Alles können deine Eltern nicht verkehrt gemacht haben. Sonst wäre aus dir nicht so ein liebenswerter Mensch geworden.«

Odette hat die vierte Krankschreibung abgegeben. Sarah bietet sich an, für drei Tage meine Schichten zu übernehmen. Gleich darauf stechen wir mit Clara zu einem Kurztrip in See. Überglücklich unser Mädchen wieder bei uns zu haben, lauschen wir ihren Urlaubsgeschichten. Sie redet ohne Punkt und Komma, bis sie am frühen Abend erschöpft ins Bett fällt. Nie wieder werden wir erlauben, dass unser Schatz für so lange Zeit weg ist. Da sind Tobi und ich uns einig.

»Deine kleine Nutte vögelt seit Wochen meinen Mann. Was gedenkst du, dagegen zu unternehmen«, fragt Cecile erbost, als ihre Detox Körperpackung unter der Wärmedecke einwirkt.
   »Was soll ich dagegen tun? Ich zahle ihr seit Wochen ein Gehalt, ohne dass sie arbeitet. Ich habe schon überlegt, deinem Sebastian eine Rechnung zu stellen. Als Puffmutter hat man doch Anspruch auf Prozente, oder? Cecile, trete deinen Alten endlich in den Hintern und schieße ihn in den Wind. Du hast es nun wirklich nicht nötig, dich von ihm demütigen zu lassen!« Cecile weiß, dass ich Recht habe. Aber zwischen Theorie und Praxis liegen Welten.
   »Würdest du dich von Tobi trennen, wenn er fremd geht?« Ohne lange zu überlegen antworte ich: »Sofort! Und ohne Diskussion!«

Ich fahre über die Schließzeit nach Hause. Ein strenger Knoblauchgeruch springt mir schon beim Aussteigen entgegen. Tobi hat gekocht und steht in der Küche. Clara überfällt mich mit der Neuigkeit des Tages.
   »Tante Berta ist tot. Wie schade!«
   »Wer ist Tante Berta?«
   »Berta, war meine Tante. Nach dem Tod meiner Mutter habe ich noch drei Jahre bei ihr gewohnt. Sie war die Schwester meines Vaters. Heute kam ein Schreiben von einem Lübecker Notar. Die Trauerfeier und anschließende Testamentsverkündung ist am 20. September.«
   »Willst du fahren?«
   »Ich denke, das bin ich ihr schuldig. Kommst du mit?«
   »Clara hat Schule und das Geschäft ist auch noch für zwei Wochen geöffnet. Der Zeitpunkt ist wirklich ungünstig. Aber wenn es dir wichtig ist, dann kriegen wir das schon hin.« Nichts anderes hat Tobi von mir erwartet. Er weiß, dass er sich in jeder Situation auf mich verlassen kann. Ich prüfe meinen Kleiderschrank. Etwas Passendes für eine Trauerfeier finde ich nicht unter meiner Garderobe. Die schwarzen Mató Kleider sind für einen traurigen Anlass gänzlich ungeeignet.
   »Wir brauchen beide etwas zum Anziehen. Du wirst dir wohl oder übel einen dunklen Anzug zulegen müssen«, lache ich. Die Vorstellung, Tobi das erste Mal im schwarzen Zwirn zu sehen, amüsiert mich. Er ist nicht der Typ Anzugträger. Sein Stil war schon immer leger. Jeans und Shirt. Und wenn er mal ein Hemd anzieht, dann trägt er es offen über der Hose. So kenne und mag ich ihn. So habe ich ihn sogar geheiratet.
   »Lass uns zwei Tage früher in Hamburg anreisen. Dann können wir die Familie treffen und haben genug Zeit zum shoppen und vielleicht sogar ein bisschen für Kultur«, schlägt er vor. Danke Berta, denke ich. Ihr habe ich es zu verdanken, endlich meine Enkel einmal wieder zu sehen.

»Ich sehe aus wie ein Spätkonfirmand«, schimpft Tobi als er sich im Spiegel bei einem Hamburger Herrenausstatter betrachtet. Der tiefschwarze Einreiher in Größe 48 spannt über der Brust. Widerwillig nimmt er das gleiche Modell in Größe 50 entgegen.
   »Vergessen Sie doch die Größenangaben. Das ist ein italienischer Anzug. Da dürfen Sie gern ein zwei Nummern runter rechnen«, sagt der bemühte Verkäufer. Er steckt ihm die Hosenbeine und Ärmel ab, die jeweils um einen Zentimeter gekürzt werden müssen. Tobias ist grantig. Er sieht es nicht ein, so viel Geld für einen Anzug auszugeben, den er definitiv nur einmal tragen wird. Nun will ich ihm auch noch spießige Lederschuhe andrehen. Völlig überflüssig findet er diese Aktion. Seine tote Tante Berta kann ihn nicht mehr sehen. Nur wegen ihr ist er schließlich angereist.
   »Mir gefällst du in dem Anzug. Ich finde dich darin unheimlich scharf«, flirte ich ihn an. Allein durch diese Aussage lässt er sich zu dem unnötigen Kauf überreden. Meine Wahl fällt auf einen schwarzen Klassiker. Ein enges Etuikleid mit passendem Blazer. Ich will nicht den ganzen Tag mit der Kleiderfrage vertrödeln, denn Clara ist bereits ungeduldig. Gemeinsam mit ihr plane ich, noch zwei Ausstellungen zu besuchen. Tobias Vorschlag, sie bei Sabrina zu lassen, lehnte ich vehement ab.
   »Wie soll sie einen Zugang zur Kunst bekommen, wenn wir sie nie mitnehmen. Was wir in frühen Jahren nicht wecken, wird uns später nicht mehr gelingen.« Clara wäre viel lieber bei Sabrina und Tula geblieben. Total gelangweilt beobachtet sie ihre Eltern dabei, wie sie bunte Bilder an weißen Wänden bestaunen. Die entsprechenden Erklärungen ihres Vaters würdigt sie mit schielenden Grimassen.
   »Willst du sie heute noch an der Kunsthochschule anmelden oder dürfen wir jetzt endlich ins Hotel zurück?«, albert Tobias und ich gebe auf.

Als Clara schläft sagt er mit ernster Miene: »Für den Fall, dass wir morgen auf meinen Vater treffen, bitte ich dich inständig, dich zurück zu halten. Ich möchte keinen Kontakt zu ihm und schon gar keine Versöhnung. Ich kenne dich. Du wirst dich von ihm einlullen lassen. Er ist ein Charmeur. Ein Frauenheld.«
   »Er ist ein 78 jähriger alter, kranker Mann, der im Rollstuhl sitzt. Aber danke für deine Verhaltensregeln. Wenn du befürchtest, dass ich mich nicht benehmen kann, warum bist du dann nicht allein hergekommen?« Ich bin beleidigt. Tobias ist verwundert.
   »Woher weißt du, dass er im Rollstuhl sitzt?«
   »Er hat MS. Natascha hat es mir erzählt. Und du brauchst dich nicht weiter aufzuregen, mehr haben wir nicht über ihn gesprochen.«

Tobias macht seinen Mädchen Beine. Er will rechtzeitig aufbrechen, um noch eine Rundfahrt durch Lübeck zu machen. Clara und ich sollen sehen, wo er seine Kindheit verbracht hat. Wir fahren vor seine alte Schule, er parkt vor einer weißen Villa, in der er mit seiner Mutter wohnte und schließlich geht es zum Domizil von Tante Berta.
   »Das war ursprünglich das Haus meiner Großeltern. Berta hatte es als ältestes Kind von ihnen geerbt.«
   »Das sieht ja aus wie ein Schloss«, sagt Clara und ist ganz fasziniert von dem Anwesen. Das imposante Rotklinker Herrenhaus mit weißen Sprossenfenstern und zahlreichen Erkern und Türmchen steht auf einem parkähnlichen Grundstück und ist von hohen Mauern umgeben.
   »Du kommst aus einem richtig reichen Stall«, sage ich ungläubig.
  »Alter Lübecker Geldadel«, sagt Tobias. Was immer hier vorgefallen ist, es muss ihn übermäßig verletzt haben, denke ich. Warum sonst, hat er Lübeck den Rücken gekehrt und jahrzehntelang auf Familie, Geld und Wohlstand verzichtet.
Die Friedhofskapelle ist bis zur Tür gefüllt. Natascha hat in der ersten Reihe auf der rechten Bank drei Plätze für uns frei gehalten. Vor der linken Bank sitzt Paul Martin im Rollstuhl. Neben ihm seine Frau, die pummelige Natalie, die ich vom Foto kenne und Natascha. Das Paar, das neben uns auf der rechten Bank Platz genommen hat, kenne ich nicht. Während der Trauerrede muss ich meinen Sitznachbarn immer wieder im Profil anschauen. Er sieht aus wie Tobi. Zwar hat er einen anderen Haarschnitt, aber die Gesichtszüge sind unverkennbar ähnlich. Nach einer halben Stunde hat der Pastor seine Rede beendet und die Orgelmusik setzt ein. Berta war also kinderlos. Sie führte eine Musikschule und unterrichtete talentierte Schüler auch unentgeltlich. Sie war Ehrenmitglied beim Deutschen Roten Kreuz und großzügige Spenderin der SOS Kinderdörfer. Außerdem war sie Mitbegründerin der Lübecker Tafel. War sie eine Heilige? Das nun nicht, aber sie gab Tobias nach dem Tod seiner Mutter ein Zuhause. Ein Zuhause, dass er sofort nach Erreichen der Volljährigkeit verließ und nie wieder aufsuchte. Was verheimlicht er mir? Die Trauergesellschaft erhebt sich und ich grüße meine Sitznachbarn auf der rechten Bank mit einem Lächeln. Sprechen ist mir ja untersagt. Auf dem Vorplatz der Kapelle steht ein Herr mit Aktentasche, der laut nach Tobias Martin ruft. Er ist der Notar, der sich für sein Kommen bedankt.
   »Ich bitte nun die Familien Martin und Winter zu mir. Bitte fahren sie mir in die Räume meiner Kanzlei nach. Um 14.00 Uhr wird dort die Testamentseröffnung stattfinden.« Ich blinzle Natascha zu. Sie folgt mir auf der Suche nach einem Toilettenraum für Clara.
   »Wer sind die Winters«, will ich von ihr wissen.
   »Timo ist Tobis älterer Bruder und Marita seine jüngere Schwester. Seine Geschwister aus der DDR.«
   »Du meinst seine Halbgeschwister?« Sie schüttelt den Kopf. Als sie meinen ungläubigen Blick bemerkt, sagt sie: »Lass es dir von Tobi selbst erklären. Ich will mich hier nicht in die Nesseln setzen.« Ich nehme Clara an die Hand und gehe zur Kapelle zurück. Die Trauergemeinde hat sich schon aufgelöst und Tobias wartet bei laufendem Motor im Wagen.
   »Hat er dich angequatscht?« Nervös zieht er während der Fahrt an seiner Krawatte herum, bis sich der Knoten endlich lockert und er das überteuerte Seidending über den Kopf ziehen kann und es im hohen Bogen auf den Rücksitz wirft. »Das Teil schnürt mir die ganze Luft ab«, schimpft er. In so einer Stimmung habe ich ihn zuvor noch nie erlebt. Er ist sichtlich aufgewühlt und atmet unregelmäßig und laut.
   »Soll ich fahren?«, biete ich an, aber Tobias lehnt ab. Kurz darauf lenkt er den Wagen rechts ran und schlägt mit seinen Händen drei Mal auf das Lenkrad.
   »Der ganze alte Mist kommt wieder hoch. Es war eine blöde Idee, hierher zu kommen. Marie, lass uns zurück fahren. Das Testament interessiert mich nicht. Ich hätte das Erbe sowieso ausgeschlagen.«
   »Dann lass uns fahren«, sage ich und drücke seine Hand. Dankbar darüber, dass ich keine Diskussion anfange, setzt er die Fahrt fort. Mit der Abendmaschine kommen wir in Nizza an. Ich räume ihm stillschweigend zwei Tage ein. Würde er bis dahin nicht freiwillig reden, werde ich ihn nach seiner Vergangenheit befragen.

Odette arbeitet wieder. Sie darf Cecile die obligatorische Packung auftragen. Die betrogene Ehefrau genießt es, die Ahnungslose zu spielen und Odette nach Strich und Faden vorzuführen.
   »Sind Sie verheiratet, Kindchen? Mein Mann betrügt mich schon seit Wochen. Er hat sich in diesem Sommer wieder eine junge Gespielin zugelegt. Ich habe die Scheidung eingereicht. Demnächst wird er unter der Brücke schlafen müssen. Denn Geld bekommt er keins von mir. Wir haben einen Ehevertrag. Daran sollten sie auch immer denken, wenn sie mal heiraten wollen.« Die Saison ist vorbei und Odette hat ihr Ziel verfehlt. Sie hat zwar gutes Geld mit wenig Arbeit verdient, aber ihren Millionär muss sie weiter suchen. Ich biete Frank an, sich im nächsten Jahr wieder zu melden. Ihn würde ich jederzeit gern wieder beschäftigen. Zusammen mit Tobias räume ich die restliche Ware zusammen und schließe das Geschäft. Fünf Monate Winterpause liegen nun vor uns.

Ich nehme mir vor, Tobi nun endlich zu befragen. Nachdem ich Clara in die Schule gebracht habe, spreche ich ihn in aller Ruhe an.
   »Wer sind Timo und Marita Winter?«
   »Seine Kinder aus der DDR.«
   »Deine Geschwister oder deine Halbgeschwister?« Erschrocken sieht er auf. Ich bettele ihn an, mir doch endlich reinen Wein einzuschenken. Aber er bleibt stumm.
   »Wie kann es sein, dass ihr die gleichen Eltern habt, wenn du im Westen aufgewachsen bist und die anderen beiden im Osten groß geworden sind? Das war doch noch alles vor Öffnung der Mauer. Warum kannst du deinem Vater nicht verzeihen? Er ist ein alter, gebrechlicher und schwerkranker Mann. Weshalb bist du nie wieder nach Lübeck zurück gegangen? Warum willst du das Erbe nicht antreten?«
   »Weil ich achtzehn Jahre lang mit einer Lüge gelebt habe. Die Frau, die ich beerdigt hatte, war nicht meine Mutter. Sie war die ehemalige Sekretärin meines Vaters. Er hatte sie nur geheiratet, damit sie mich groß zieht und ich den Namen Martin tragen konnte. Mein eigener Vater hat mich im Alter von einem Jahr meiner leiblichen Mutter weggenommen. In einem Messecontainer hat er mich in die BRD geschmuggelt, weil er in Lübeck einen Stammhalter für seine Scheiß Firma brauchte. Meine leibliche Mutter kam deshalb hochschwanger in den berüchtigten Frauenknast Schloss Hoheneck. Man hatte ihr vorgeworfen, mich getötet zu haben. Timo kam ins Heim. Marita auch gleich nach ihrer Geburt.« Ich bin schockiert und will wissen, ob seine leibliche Mutter noch lebt. Tobi schüttelt den Kopf.
   »Sie starb 1978. Ich habe sie nicht mehr kennenlernen können.« Berta hatte ihm das Geheimnis an seinem achtzehnten Geburtstag verraten. Daraufhin kam es zum endgültigen Bruch mit seinem Vater.
   »Hattest du Kontakt zu deinen Geschwistern?«
   »Ich habe sie in der letzten Woche das erste Mal gesehen. Wenn es nach mir geht, auch das letzte Mal. Ich will den Mist nicht ständig mit mir herumtragen. Die letzten Jahre mit dir habe ich nicht einmal daran denken müssen. Erst als ich mit Clara weg war und sie solches Heimweh nach dir hatte, da kamen die Gedanken wieder zurück. Sie sollte nicht mit einer Lüge groß werden. Deshalb habe ich ihr von Birgit erzählt.« Ich verstehe nun, warum Tobias keinen Kontakt zu seinem Vater will. Bestürzt über seine Worte nehme ich ihn in den Arm. Ich habe noch so viele Fragen, aber ich stelle sie nicht.
   »Marie ich bin so glücklich mit dir. Wir zwei und Clara sind wir doch eine tolle Familie. Bitte lass es uns dabei bewenden.«

Tobias ist in der Bootshalle und arbeitet mit Julian gemeinsam an den Yachten. Ich säubere den Steinboden unserer Terrasse mit einem Hochdruckreiniger, als Natascha vor dem Eingangstor klingelt. »Warum war Tobi nicht bei der Testamentseröffnung? Wir haben über eine Stunde auf euch gewartet. Ihr hättet wenigstens einen Ton sagen können.«
   »Tobi hatte sich anders entschieden.«
   »Mein Vater war sehr enttäuscht. Er hatte gehofft, mit ihm sprechen zu können.« Ich schlucke, denn ich weiß, sollte ich das Gespräch mit Natascha weiterführen, wird es im Streit enden. Ich stehe ganz auf der Seite meines Mannes und habe ihm versprochen, das Thema ruhen zu lassen. Auf keinen Fall werde ich hinter seinem Rücken mit Natascha darüber sprechen.
   »Willst du gar nicht wissen, was er gerbt hat?«
   »Nein. Ich bitte dich, dieses Thema nicht mehr anzusprechen. Tobi hat damit abgeschlossen und ich teile seine Meinung. Wenn wir weiterhin netten Umgang mit einander pflegen wollen, dann halte auch du dich daran.« Natascha schüttelt ungläubig den Kopf. Ihre langen Haare, die mittlerweile über ihren Po gewachsen sind, weht der milde Herbstwind völlig durcheinander. Sie bittet darum, reingehen zu dürfen, um einen Kaffee zu kochen. Ich folge ihr nach einigen Minuten.
   »Natalie und ich haben umfangreiche Laboruntersuchungen hinter uns. Meine Mutter bestand darauf, dass wir uns testen lassen. Zwar ist MS keine nachgewiesene Erbkrankheit, aber viele Ärzte nehmen an, dass es einen engen Zusammenhang gibt. Ich erzähle es dir nur im Hinblick auf Clara. Die meisten Erkrankungen werden bei Frauen und Mädchen festgestellt. Mein Vater ist ein eher untypischer Fall. Er ist männlich und MS wurde bei ihm erst im späteren Alter diagnostiziert.« Verängstigt höre ich ihr zu. Was hat dieser Mistkerl von Paul noch auf Lager? Hat er nicht schon genug Unglück über die Familie gebracht. Ich sehe auf die Uhr und wähle die Nummer des Kinderarztes. Gleich für den kommenden Tag vereinbare ich einen Termin. Nachdem Natascha mich mit dieser Schreckensmeldung allein zurück lässt, suche ich im Internet nach einschlägigen Informationen über das Krankheitsbild. Nach zwei Stunden bin ich kein Deut schlauer. Im Gegenteil. Die widersprüchlichen Aussagen verwirren mich und verursachen eine ständig zunehmende Panik in mir. Ungeduldig warte ich bis zum Abend. Tobias teilt meine Sorge. Zusammen wollen wir den Termin beim Arzt wahrnehmen.

»Wenn es nach mir gehen würde, hätte ich das Internet schon längst abgeschafft. Zumindest, was die zahllosen pseudomedizinischen Seiten über Gesundheit und Krankheit angeht. Das führt doch nur dazu, dass Patienten sich selbst diagnostizieren. Mit fatalen Folgen. Gut, dass Sie gleich gekommen sind. So kann ich Ihnen Ihre Besorgnis gleich abnehmen. Erstens ist Clara noch viel zu jung und zweitens gibt es derzeit gar keine Tests, die zu aussagefähigen Ergebnissen führen könnten. Die Krankheit ist tückisch. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie überhaupt gefährdet ist, ist verschwindend gering. Ihre Tochter ist kerngesund und zeigt keine Anzeichen für irgendwelche Auffälligkeiten.« Erleichtert fahren wir heim.

Wir haben die Aufregungen der letzten Tage gerade verdaut, als Post aus Lübeck wieder den Finger in die Wunde legt. Der Notar schickt eine Abschrift des letzten Willens. Berta hatte verfügt, das Anwesen und ihr Vermögen zu gleichen Teilen an Tobi, Timo und Marita zu vererben, vorausgesetzt alle Geschwister würden sich mit ihrem Vater versöhnen. Andernfalls wird das Erbe mit Ablauf von sechs Monaten wohltätigen Zwecken zugeführt.
   »Da kann sich das Rote Kreuz schon mal die Hände reiben«, ist Tobias kurzer Kommentar. Nachdem er das Schreiben laut vorgelesen hat, zerreißt er den Brief und bringt die Schnipsel in den Müll. Er setzt ein gequältes Lächeln auf und fragt mich, ob ich Lust auf Kino habe. Ich habe keine Lust. Mein Rücken schmerzt von der anstrengenden Gartenarbeit der letzten Tage und ich bitte ihn um eine kurze Massage. Schon nach wenigen Augenblicken muss Tobias seine Arbeit unterbrechen. Der Hund Balou stellt sich vor ihm auf und bellt ihn lautstark an. Es ist seine neue Masche. Sobald Tobias mich berührt, fängt er an zu kläffen. Zur Strafe wird er in den Garten gebracht. Allerdings ist das keine Dauerlösung. Der übertriebene Beschützer Instinkt unseres Schnuffels geht Tobias auf die Nerven und er schlägt vor, mit ihm eine Hundeschule aufzusuchen. »Es wird Zeit, ihm klar zu machen, wer hier der Herr im Hause ist.«

Für das alljährliche Grünkohl Essen im November hat Schwiegertochter Sabrina die Einkäufe in meinem Auftrag erledigt. Sie hat Kasseler, Kohlwurst, Speck und Bauchfleisch vom Hamburger Schlachter besorgt und uns per Express Paket zugeschickt. Der Duft, der sich beim Zubereiten im Haus breit macht, wird von Clara mit einem lauten »Bäh« kommentiert. Sobald sie ihr Zimmer verlässt, steckt sie sich den Zeigefinger in den geöffneten Mund und demonstriert so ihre Ablehnung für dieses schreckliche Essen. Tobias läuft das Wasser im Mund zusammen und auch ich freue mich auf das Essen. Der riesige Topf, den ich zubereite, soll für mindestens zwanzig Portionen ausreichen. Wir haben Sarah und Claire zum ersten Grünkohlschmaus eingeladen. Ich stelle drei Sorten Senf auf den Tisch, als das Telefon klingelt.
   »Guten Abend, Frau Martin. Hier spricht Marita Winter. Wir haben uns kürzlich in Lübeck gesehen. Ich hätte gern Tobias gesprochen.« Ich erschrecke und sage, ich müsste erst schauen, ob er überhaupt im Hause ist. Leise gehe ich zurück in die Küche und flüstere ihm zu, wer ihn sprechen will. Tobias macht eine abweisende Handbewegung. Ich bin ratlos. Was soll ich Marita sagen. Er ist nicht da. Dann würde sie wieder anrufen. Er will nicht mit dir sprechen? Das soll er selber übernehmen. Ich entscheide mich für die Halbwahrheit. »Tut mir leid. Wir erwarten gleich Gäste zum Abendessen. Tobias ist wohl schon los, um sie abzuholen. Kann ich etwas ausrichten?« Marita will es am nächsten Tag noch einmal versuchen. Sie bedankt sich und legt auf. Ich bin mir sicher, am nächsten Tag nicht ans Telefon zu gehen.
   »Ich habe heute für dich geschwindelt. Das war eine Ausnahme. Wenn sie wieder anruft, wirst du mit ihr sprechen müssen.«
Sarah speist mit großem Appetit, während die Französin Claire mehr aus Höflichkeit aufisst. Die Verdauung des deftigen Essens wird mit einem kalten Kümmelschnaps angeregt, der mir sofort zu Kopf steigt. Ich öffne noch zwei Flaschen kaltes Pils für meine Gäste, als Claire davon berichtet, dass sie sich ein weiteres Ladenlokal im Nachbarort zulegen möchte. Seitdem die symbiotische Zusammenarbeit zwischen Friseur und SPA so erfolgreich einschlug, traut sie sich diesen Schritt zu.
   »Los Marie, die Lage ist super und zusammen wuppen wir den Abstand und die Miete.« Ich bin weniger begeistert. Die Personalprobleme für ein Geschäft reichen mir völlig. Ich will nicht nur kürzer treten, ich muss es auch. In meinem Alter habe ich nicht mehr so viel Elan, wie die zehn Jahre jüngere Claire. Mit den Einnahmen aus Tobis Yachtcharter und meinem Geschäft können wir zwar keine Reichtümer erwirtschaften, aber immerhin sorgenfrei leben. Mehr habe ich nie gewollt.
   »Anschauen können wir uns das Ladenlokal ja einmal«, sagt Tobias und beendet das Thema für den Moment. Wir verabreden uns für den nächsten Morgen vor den Räumen.

»Das ist reine Zeitverschwendung«, sage ich während der Fahrt dorthin. Ich bin mir sicher, kein weiteres Geschäft betreiben zu wollen.
   »Du sollst es nicht betreiben. Du sollst es verkaufen. Die Idee eine Mató Kette aufzubauen, schwebt mir schon lange im Sinn. Dein Konzept ist doch ideal aufgegangen. Wir statten leere Läden aus und verkaufen sie an Franchise Nehmer weiter. Ich baue die Läden. Du schulst die neuen Besitzer. Zusammen verkaufen wir das komplette Konzept. Die Franchise Nehmer erhalten ein ausgestattetes SPA und du hast regelmäßigen Absatz für deine Pflegeprodukte.« Entgeistert schaue ich ihn an. Mein Mann scheint den Geschäftssinn des Vaters geerbt zu haben. Die Idee ist nicht übel. Keine Hardcore Saison mehr ohne einen freien Tag. Keine Suche mehr nach Vertretungen. Keine Arbeit mehr im Stehen.
   »Mit diesem Laden fangen wir an. Kurz über lang baue ich dir Mató SPA’s entlang der ganzen Küste. Von Marseille bis Menton.« Seine Augen funkeln vor Begeisterung. Wie kann ich bei dieser Euphorie noch Bedenken äußern. Zu Hause markiert Tobias eine Karte mit bunten Nadeln. Genau in der Reihenfolge will er die Suche nach geeigneten Ladenlokalen aufnehmen. In seiner Begeisterung übersieht er das Blinken des Anrufbeantworters. Ich höre die Nachrichten ab. Marita hat zweimal um Rückruf gebeten.

Der Hund erhält täglich zwei Stunden lang Lektionen. Tobias geht selbst mit ihm an den Strand, durch den Ort und an der Küstenstraße entlang. So lernt er bei Fuß zu gehen und den Kommandos Sitz, Platz und Bleib zu gehorchen. Mittlerweile folgt er aufs Wort. Stolz wird mir vorgeführt, wie Balou auf die Befehle seines Trainers reagiert. Als Tobias sich seinen Lohn für die erfolgreiche Hundeflüster Arbeit abholen will, setzt das laute Bellen sofort wieder ein.
   »Schluss Balou, geh in deinen Korb«, befehle ich und zeige mit dem Finger in Richtung Diele. Der Schnuffelhund hört sofort.
   »Da zeigt mir einer ganz deutlich, wer hier im Haus das Sagen hat«, lacht Tobias. Das Telefon klingelt und ich sehe zunächst die Rufnummer auf dem Display an. 0049 341..Der Anruf kommt aus Leipzig.
   »Wie lange soll das noch so weiter gehen? Geh doch endlich ans Telefon und sprich mit ihr. Irgendwann ist Clara am Telefon. Was willst du dann machen?« Endlich gibt Tobias nach. Ich verfolge das Gespräch mit weit ausgestreckten Lauschern von der Küche aus. Marita scheint mehr zu sprechen als er, denn ich höre nur: »Das tut mir leid. Ich verstehe das. Das ist wirklich nicht schön.« Er schaut ständig an die Decke und verzieht dabei das Gesicht. Als sein Kopfschütteln immer stärker wird, sagt er schließlich: »Es tut mir wirklich leid, Marita. Aber es ändert nichts an meinem Entschluss. Ich werde mich mit Paul auf keinen Fall versöhnen. Für kein Geld der Welt! Und wenn du nur einen Funken Stolz im Leib hast, dann siehst du das genauso wie ich. Ich wünsche dir alles Gute.« Tobias legt das Telefon zurück auf die Station. »Sie will, dass wir das Erbe antreten. Marita ist in Geldschwierigkeiten. Sie hat drei Kinder, die sie allein und ohne Alimente durchfüttern muss. Trotzdem! Wie kann sie sich mit ihm aussöhnen wollen. Es war doch auch ihre Mutter, die er auf dem Gewissen hat. Sollte sie nochmal anrufen, dann lege auf. Es ist alles gesagt.«

Von nun an klingelte das Telefon ständig. Tobias hat sämtliche Immobilienmakler mit Anfragen nach gewerblichen Flächen bombardiert. Das einstige Künstleratelier verwandelt sich in ein Planungsbüro. Ich drucke Exposés aus den Mail Anhängen aus und lege sie ihm auf den Tisch. Gemeinsam entscheiden wir, zunächst die Städte Cannes und Nizza ins Auge zu fassen. Die Entfernung erlaubt Besichtigungen, während Clara in der Schule ist. Die geforderten Ablösesummen sind gigantisch und ich zeige meinem Mann einen Vogel. Die Besessenheit mit der er vorgeht, macht mir Angst. Es kann ihm nicht schnell genug gehen. Die Objekte werden immer größer. Ich muss die Notbremse ziehen. Bei einer Tasse Tee in Sarahs Appartement klage ich: »Er ist wie von Sinnen. Wie er sich in die neue Geschäftsidee verbeißt ist nicht mehr normal.«
   »Vermutlich kompensiert er seinen Vater Komplex mit dieser Arbeit. Er will seinem Alten wohl auf seine letzten Tage zeigen, dass er es auch ohne sein Geld zu etwas bringen kann?«
   »Tobias muss nichts beweisen. Wir haben alles was wir brauchen.«
   »Ich weiß es. Du weißt es. Weiß er es auch? Du hast mir selbst von seinem Loverboy Trauma erzählt.«

Tobias wartet schon gespannt auf meine Rückkehr. Er hat das passende Objekt für das SPA Nummer 3 gefunden. Auf seinem Notebook zeigt er mir die Fotos, die er von den Räumlichkeiten am Vormittag angefertigt hat.
   »Mindestens acht bis zehn Behandlungskabinen können wir hier einplanen. Zum Laden gehören sogar drei Parkplätze in der Tiefgarage. Das ist eine absolute Seltenheit und ein enormer Pluspunkt für die VIP Kunden. Sie können mit dem Fahrstuhl direkt und unbemerkt in den Laden fahren. Was sagst du?«
   »Ich sage, dass du spinnst. Du bist größenwahnsinnig. Wie willst du das finanzieren?« Ich sehe die Kaufpreisforderung und schüttel den Kopf.
   »Wir nehmen eine Hypothek auf das Haus auf. Nur für ein Jahr. Ich habe alles durchgerechnet.«
   »Nur über meine Leiche! Das Haus bleibt raus! Was denkst du dir?«
   »Du traust mir ein Geschäft dieser Größenordnung nicht zu, oder? Du meinst, ich wäre zu blöd, um etwas Großes auf die Beine zu stellen. Das schafft nur Marie Simon und vielleicht noch ihr Sohn Frederik!«
   »Ich heiße Martin! Seitdem ich mit einem freischaffenden Fotografen verheiratet bin. Einem Mann, der mit mir das Leben genießen wollte. Darin waren wir beide uns immer einig. Seit wann reicht dir das nicht mehr?«
   »Warum legst du mir Steine in den Weg? Ich mache das doch nur für uns. Du sollst keine 200 Tage mehr am Stück durcharbeiten, abends müde und geschafft aus dem Geschäft kommen. Wir leben im Süden und der Sommer geht an uns vorbei. Um Sonne zu tanken, müssen wir im Winter für zwei Wochen auf die Kanaren reisen. Willst du das?« Auf jeden Fall will ich den Streit beenden.
   »Geht es nicht eine Nummer kleiner und einen Schritt langsamer? Ich würde mich dabei wohler fühlen.« Beleidigt stimmt er zu. Mit meinem Wohlergehen habe ich das schlagkräftigste aller Argumente geliefert.

Die Entscheidung fällt auf Claires Objekt und wir unterzeichnen den Kaufvertrag für das SPA Nummer Zwei. Schon am nächsten Tag beginnt er mit den Arbeiten für den Innenausbau. Das SPA Nummer Eins steht zum Verkauf. Wir erhalten zahlreiche Anfragen von Kaufinteressenten. Jean, der den ersten Weihnachtstag bei uns verbrachte, will mit seiner Bank sprechen. Gern möchte er es gemeinsam mit Carlos übernehmen. Ich vertröste daher alle anderen Interessenten auf die erste Januar Woche. Als Jean, weder zusagen noch absagen kann, beginne ich mit den ersten Besichtigungen. Ich verabschiede gerade einen Masseur aus Lyon, als sich die Tür zum Laden öffnet und ich den eintretenden Mann als Timo Winter erkenne.
   »Guten Tag, Frau Martin. Ich bin Timo. Weil ich bei Ihnen im Haus niemanden angetroffen habe, komme ich jetzt hierher. Ihre Nachbarn haben mir gesagt, wo ich Sie finden kann.« Ich weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Seine freundliche Begrüßung lässt nur ein Verhalten zu. Ich biete ihm einen Platz und einen Kaffee an. Immer wieder betrachte ich sein Gesicht. Die verblüffende Ähnlichkeit mit Tobias macht mich sprachlos. Nur wenn er redet, ist zu merken, dass es sich um eine völlig andere Person handelt. Seine Dialektfärbung verrät seine Herkunft sofort. Natürlich will er mit Tobias sprechen. Obwohl es mir sehr unangenehm ist, sage ich: »Ich glaube Timo, das ist keine gute Idee. Tobias will keinen Kontakt. Er hat sich auch Marita gegenüber so geäußert. Es ist nicht meine Angelegenheit und ich mische mich auch nicht ein, aber ich kann ihn gut verstehen.«
   »Deshalb bin ich hier. Ich verstehe ihn nämlich nicht. Es war eine andere Zeit. Wer die DDR nicht selbst erlebt hat, kann sich das heute nicht mehr vorstellen. Paul hatte doch gar keine andere Wahl!« Ich hebe meine Hände in die Luft. In dieser Haltung signalisiere ich meinem Schwager, nicht weiter zu sprechen.
   »Es tut mir leid, Timo. Aber ich lasse mich da nicht hineinziehen. Ich habe es Tobias fest versprochen. Bitte sage mir nichts mehr.« Ich nehme mein Telefon und gehe vor die Tür, aber ich kann meinen Mann nicht erreichen. Auf seiner Mailbox hinterlasse ich ihm die Nachricht über den unerwarteten Besucher. »Er meldet sich nicht. Lass mir deine Nummer da. Ich werde sie Tobi geben. Vielleicht ruft er dich an. Nur darauf verlassen würde ich mich nicht.«
   »Natascha hat mir ein Hotel empfohlen. Ich bleibe noch zwei Tage. Bitte Marie, ich will nur mit ihm sprechen. Kann ich auf deine Hilfe zählen?« Ich verspreche, es zu versuchen und ärgere mich darüber, dass ich mich nun doch zwischen zwei Stühle gesetzt habe.

»Woher weiß er, wo wir wohnen?«
  »Er hat Kontakt zu Natascha. Sie hat ihm eine Unterkunft besorgt. Tobi, sprich mit ihm, damit das hier endlich ein Ende hat. Er ist wirklich nett. Ich finde ihn sehr sympathisch. Kein Wunder, er sieht aus wie du, wenn du deinen Anzug trägst. Höre ihn doch wenigstens an. Das hat mit deiner Entscheidung doch nichts zu tun. Willst du ihn wirklich ohne ein Wort abreisen lassen? Diesen Fehler hast du schon einmal gemacht. Erinnerst du dich? Danach war acht Monate Funkstille zwischen uns. Komm, sei nicht so stur. Er ist dein Bruder. Was hat er dir getan?« Endlich habe ich ihn soweit. Tobi ruft ihn an und verabredet sich für den nächsten Morgen bei René. Ein leises Halleluja huscht über meine Lippen.

Ich fahre ihn in seinen dreckigen Malerklamotten in den Ort. Als ich die Ente vor dem SPA einparke, sehe ich Timo schon an einem der Tische sitzen. Im dunklen Anzug trinkt er einen Kaffee und telefoniert mit seinem Handy. Ich winke ihm zu und schließe die Ladentür zu meinem Geschäft auf. Ich will der Unterhaltung nicht beiwohnen. Luchse aber gespannt durch das Seitenfenster auf die Restaurant Terrasse. Überneugierig verfolge ich die förmliche Begrüßung per Handschlag. Die verspannte Körperhaltung meines Mannes löst sich nach dem zweiten Kaffee. Nach seinem ersten Lachen stoße ich dazu.
   »Timo begleitet mich nach Sainte Maxime. Er hilft mir beim Anbringen der Trockenbauwände. Ich habe ihm angeboten, für diese Nacht unser Gästezimmer zu bewohnen. Es ist dir doch recht, oder?« Ich nicke erfreut und biete an, für die zwei schönsten Männer im Ort ein leckeres Essen zu kochen. Gut gelaunt treffen die Brüder am Abend ein. Ich zeige Timo das Gästezimmer und flüstere ihm leise zu: »Habt ihr euch aussprechen können?«
   »Es war ein schöner Tag mit meinem kleinen Bruder. Nur über Paul durfte ich nicht reden. Das war seine Bedingung.« Timo erzählt, dass er seit sechsundzwanzig Jahren mit Christina verheiratet ist. Er hat zwei Töchter, die ihn schon zum doppelten Großvater gemacht haben. Er zeigt Fotos von seinem Haus und seiner Familie. Auf die Frage, was er beruflich macht, antwortet er nur zögerlich.
   »Ich bin Geschäftsführer einer internationalen Spedition.« Tobias weiß sofort, welcher Firma er vorsteht und lässt keine weiteren Nachfragen zu. Er erzählt Timo, wie er mich kennen gelernt hat und demonstriert seinem Bruder mit ständigen Blicken und Küssen, dass ich das Glück seines Lebens bin. Die Lebenssituation von Marita ist weniger glücklich. Sie hat drei Kinder von drei Männern, die sich weigern, sich am Lebensunterhalt ihrer Söhne zu beteiligen. Sie arbeitet als Friseurin. Ganztags zu einem Hungerlohn. Die Eigentumswohnung, die ihr von einem Mann, dessen Namen nicht genannt werden darf, vor vielen Jahren bezahlt wurde, ist bereits haushoch beliehen und steht kurz vor der Zwangsversteigerung.
   »Sie braucht das Geld aus Bertas Erbschaft wirklich dringend. Wenn es einen Verlierer unter uns Geschwistern gibt, dann ist es Marita.« Tobias erhebt sich vom Tisch und bringt Clara ins Bett. Nach einer halben Stunde kommt er mit einer Flasche Cognac an den Tisch zurück.
   »Timo ich freue mich, dass wir uns nach so vielen Jahren kennenlernen. Du bist mein Bruder. Das ist nicht zu übersehen. Aber wir können die Zeit nicht zurück drehen. Ich will das auch nicht. Wenn du dir deine verkorkste Kindheit mit einem Job als Geschäftsführer abkaufen lässt, dann ist es dein Bier. Ich werde es Paul nie verzeihen, was er uns als Familie angetan hat.«
   »Du hast deine Kindheit doch nicht im Heim verbracht. Das waren doch Marita und ich. Dich hat er doch rechtzeitig gerettet.« Tobias will aufstehen, aber ich halte ihn zurück. Er soll nun endlich erfahren, wie es sich aus der Sicht seines Vaters tatsächlich abgespielt hat.
   »Unsere Mutter arbeitete für die Messe in Leipzig, als sie sich in Paul verliebte. Sie hatte bereits, seit sie mit mir schwanger war, mehrere Ausreiseanträge gestellt. Zusammen wollten sie in Lübeck leben. Dass wir beide einen »Wessi Vater« hatten, verschwieg sie. In unseren DDR Papieren stand Vater unbekannt. Das allein genügte damals, um einer unverheirateten Frau, die Kinder wegzunehmen. Als Mutter mit Marita schwanger wurde, planten sie die gemeinsame Flucht. Ihre Absichten sickerten aber durch. Am Tag der geplanten Abreise wurde sie verhaftet. Zeitgleich wurde ich aus dem Kindergarten abgeholt. Nur weil du an dem Tag Fiber hattest, warst du bei einer Nachbarin. Paul hat dich in letzter Minute geschnappt. Statt zusammen mit uns dreien ist er allein mit dir im Container über die Grenze. Danach bekam er Einreiseverbot. Über das Auswärtige Amt hatte er jahrelang um uns gekämpft. Ich kenne die Akten. Du solltest sie auch endlich lesen.« Ich trinke einen doppelten Cognac und lasse die Männer allein am Tisch zurück. Diese Familiengeschichte ist so unglaublich, dass ich kein Auge zu machen kann.

Mit den Worten »Danke Marie«, verabschiedet Timo sich. Es ist ihm gelungen, Tobias umzustimmen. Die Geschwister wollen kurzfristig einen Termin beim zuständigen Notar vereinbaren, um gemeinsam mit Paul noch rechtzeitig die erforderliche Erklärung zu unterzeichnen. Das Rote Kreuz soll also leer ausgehen. Blut ist eben doch dicker als Wasser, denke ich und bin froh, dass Tobi sich seinem Vater endlich stellen will. Er reist allein nach Lübeck und bleibt zwei Tage. Ich kann seine Rückkehr kaum erwarten und bin bereits eine Stunde vor seinem Eintreffen am Flughafen.
   »Neben dir sitzt jetzt eine richtig gute Partie. Ich habe reichlich Schotter geerbt. Du wirst mir künftig die jungen Odettes und andere Erbschleicherinnen vom Hals halten müssen«, lacht er. In diesem Punkt bin ich unbesorgt. Dieser Aufgabe sehe ich mich gewachsen. Ich bin vielmehr am Gespräch zwischen ihm und Paul interessiert.
   »Du hattest völlig Recht. Er ist ein alter, gebrechlicher Mann. Aber im Kopf ist er noch völlig klar und fit. Er will dich und Clara bald kennen lernen. Wir sollen ihn in seinem Haus am Genfer See besuchen. Er plant ein großes Familienfest mit allen Kindern, Enkeln und Urenkeln. Ich hab schon zugesagt. Es ist dir doch recht, oder?« Ich nicke zustimmend und gebe Gas. Wir haben noch genau eine Stunde Zeit unser Wiedersehen gebührend zu feiern, bevor Clara aus der Schule kommt.

Für die SPA‘s Nummer Eins und Zwei liegen bereits zahlreiche Angebote vor. Ich zögere noch mit dem Verkauf, denn ich hoffe noch immer auf einen positiven Bescheid von Jean und Carlos. Tobi legt seine Malerkleidung ab und bittet mich, mit ihm nach Cannes zu fahren. Für das anstehende Familienfest will er sich freiwillig einen zweiten Anzug anschaffen.
   »Ich fürchte, es wird zunächst sehr förmlich zugehen. Mein Vater legt großen Wert auf Etikette. Ich will nicht wie ein Exot unter den Anzugträgern auftreten.« Erstaunt sehe ich ihn an. Hat er das wirklich gesagt? Tobias steuert die Nobel Einkaufsmeile an. Er parkt den Wagen in der Nähe des Ladens, den er für das SPA Nummer Drei ins Auge gefasst hatte und für den er sogar bereit war, das Haus zu beleihen. Die Scheiben sind von innen mit braunem Packpapier verklebt und ein roter Folienaufkleber zeigt an, dass das Gewerbeobjekt verkauft ist. Gott sei Dank, denke ich und wundere mich über den zielgerichteten Marsch direkt auf die CHANEL Boutique.
   »Auf keinen Fall«, entsetze ich mich. Nie werde ich in diesem Schickimicki Laden einkaufen und so viel Geld für ein Kleid ausgeben. Ich denke an Nane in ihrem lächerlichen Haute Couture Outfit. Tobias gibt sich geschlagen und kauft für sich einen Armani Anzug, zwei passende Hemden und eine neue Krawatte. Ohne zu murren zahlt er den Preis, für den er beim Hamburger Herrenausstatter zwei Anzüge, drei Hemden und drei Krawatten bekommen hätte. Auf dem Boulevard de la Croisette essen wir in einem Bistro zu Mittag.
   »Ich freue mich darauf, dich meinem Vater endlich vorstellen zu können. Er ist schon ganz gespannt auf dich und hat mir schon Löcher in den Bauch gefragt. Ihr werdet euch mögen.«
   »Keine Verhaltensregeln? Darf ich frei sprechen?« Tobias lacht.
   »Solange du nicht ausrastest, habe ich keine Befürchtungen, was dein Benehmen angeht.« Dann reiz mich nicht!

Wir fahren heim und ich staune nicht schlecht. Ein neuer Mercedes Offroader parkt vor der Einfahrt. Das schwarze Geschütz wird von zwei jungen Männern im Blaumann noch auf Hochglanz poliert. Sie übergeben Tobias die Wagenschlüssel und eine Mappe mit Fahrzeugpapieren.
   »Du hast extra einen Wagen geliehen?«
   »Nein, ich habe einen gekauft. Wolltest du etwa mit der Ente nach Genf fahren? Bitte erst im Haus ausrasten, das wäre schon mal eine gute Übung in Sachen Etikette!«
   »Zu wem reisen wir in die Schweiz. Zu Familie Klatten, Flick oder Quandt?«
   »Schlimmer! Zu Paul Martin!« Mir wird es Angst und Bange. Ich habe keine Lust mehr, überhaupt mitzufahren. Aber für einen Rückzieher ist es zu spät. Während Tobias seine neue M Klasse Probe fährt, recherchiere ich im Internet nach Paul Martin und seinen Vorfahren. Der Großvater war ein erfolgreicher Reeder. Später hatte Paul das Imperium um eine Internationale Spedition erweitert und in die Martin Holding umgewandelt. Auf der Liste der zwanzig reichsten Deutschen ist er nicht aufgeführt, erfahre ich erleichtert.
  
»Du brauchst nicht nervös zu sein. Ich habe nur Spaß gemacht. Das wird sicherlich sehr schön. Ein bunter Haufen. Du solltest dir Marita ansehen. Die schlägt völlig aus der Art. Notfalls hältst du dich an Natascha und Timo. Und ich bin ja auch noch da.«
Tobi schafft die rund 561 km in weniger als fünf Stunden, wie er Timo stolz in der Einfahrt berichtet. Er vergisst zu erwähnen, dass er zwei Mal geblitzt wurde. In naher Zukunft werde ich die M Klasse fahren und er wird auf dem Beifahrersitz Platz nehmen müssen. Die Haustür wird von einer älteren Dame im grauen Kleid mit weißer Schürze geöffnet. Sie nimmt uns die Mäntel ab und weist den Weg ins Wohnzimmer.
   »Kein Buttler? Ich bin enttäuscht«, flüstere ich meinem Mann zu, der im aufrechten Gang in seinem neuen Armani Anzug voraus geht. Thea, die Frau des Hausherrn begrüßt uns mit einem warmen Händedruck. Sie ist vermutlich plus minus 10 Jahre in meinem Alter und trägt CHANEL. Die vielen Faceliftings und Botox Behandlungen lassen keine genaueren Schätzungen auf ihr tatsächliches Geburtsjahr zu. Paul sitzt in seinem Rollstuhl. Er lenkt ihn auf mich und schaut mich freundlich an. Ein mildes Lächeln empfängt auch Clara von ihm.
   »Ihr seid also Tobias Mädchen. Ich hatte ja schon einmal einen kurzen Blick auf euch werfen können, aber jetzt bei näherer Betrachtung muss ich sagen, ihr seid noch viel hübscher als in meiner Erinnerung.« Da ist sie also. Pauls charmante Art, vor der Tobi mich so eindringlich gewarnt hatte.
   »Vielen Dank für die Einladung.« Meine Ehrfurcht ist verschwunden. Ich begrüße Natascha mit einem Küsschen und werde Natalie und Marita vorgestellt. Marita ist mir auf Anhieb sympathisch. Sie ist flippig und unkonventionell und trägt eine Jeans Latzhose mit einem kurzärmeligem T Shirt, das den Blick auf ihre rot grünen Tattoos freigibt. »Bin ich hier die Einzige angeheiratete Martin? Wo ist deine Frau Timo? Und wo sind eure Kinder?«
   »Christina konnte nicht kommen. Meine Mädchen reisen mit der Bahn an. Ich hole sie später vom Bahnhof ab.« Zum Smalltalk reicht die gute Seele des Hauses ein Tablett mit Schampus und Orangensaft. Ich nehme Saft. Thea bittet alle Gäste an der gedeckten Tafel Platz zu nehmen. In steifer Atmosphäre wird ein »Süppchen« gereicht. Die Gespräche verstummen. Claras lautes Schlürfen tadelt Tobias mit einem bösen Blick. Verunsichert legt sie den Löffel ab und rutscht auf dem Stuhl hin und her.
   »Was zappelst du so? Hast du Hummeln im Hintern?«, fragt ihr Vater und bringt sie mit seiner Bloßstellung vor all den Fremden zum Weinen. Ich blicke Tobias erzürnt an. Was soll sein blödes Getue vor seinem Vater.
   »Mir ist es lieber, sie hat Hummeln im Hintern als einen Stock im Arsch. Was soll dein arrogantes Gehabe?«, sage ich in die Totenstille. Marita bricht in lautes Lachen aus und Paul stimmt mit ein.
   »Natascha hat mir schon von deinem Temperament berichtet. Du gefällst mir, Marie. Du nimmst kein Blatt vor den Mund.«
   »Sag mal, Clara, kannst du auch so gut Klavier spielen wie dein Papa?« Clara schüttelt den Kopf. Auch ich bin ahnungslos. Tobi hatte schon als Fünfjähriger von Tante Berta Klavier und Geigenunterricht bekommen. Mit seinem Talent sollte er das Musikkonservatorium besuchen, aber dann kam alles anders. Auf Pauls Bitte, etwas zu spielen, ziert er sich.
   »Ich habe schon seit Jahren kein Klavier mehr gespielt. Er blickt zum Flügel, der im Nebenzimmer steht und fragt: »Ist das mein alter Steinway?« Paul nickt.
   »Er hat ihn dreißig Jahre gehütet wie einen Schatz. Genau wie deine Geige. Dein Vater hatte immer gehofft, dich darauf noch einmal spielen zu hören«, sagt Thea.
   »Vielleicht später.« Timo und Marita spielen kein Instrument. Sie waren Sport Asse. Timo im Schwimmen und Marita als Leichtathletin. Allerdings auch nur in ihrer Jugend. Ich begleite meine Schwägerin auf eine Zigarette in den Garten.
   »Timo hat mir erzählt, dass wir es dir zu verdanken haben, dass Tobias zugestimmt hat. Ohne das Erbe wäre ich ganz schön im Eimer gewesen. An Paul konnte ich mich unmöglich wieder wenden. Er hat mich in der Vergangenheit schon so oft unterstützt. Aber dank Berta habe ich jetzt ausgesorgt. Ich werde Leipzig verlassen und hierher an den Genfer See ziehen. Paul und Thea suchen schon ein Haus für mich und meine Kinder.« Ich schaue sie ungläubig an. Wenn Marita sich am Genfer See ein Haus leisten kann, ist das Erbe wohl wirklich recht üppig. Ich habe Tobias noch gar nicht gefragt, was und wie viel er bekommen hat. Timo gesellt sich dazu. Die Art, wie er mich anlächelt, ist unbeschreiblich.
   »Ihr seht euch so ähnlich. Ich kann mich gar nicht satt sehen.«
   »Ich bin der Schönere. Tobias ist der Reichere, denn er hat dich!« Ich verstehe nicht. Marita legt den Arm um ihren Bruder.
   »Christina ist vor sechs Wochen ausgezogen. Sie hat Timo verlassen.«
   »Ja, sie hatte mich oft genug gewarnt. Es waren die vielen Geschäftsreisen. Sie war es leid ständig allein zu Hause zu sitzen und darauf zu warten, dass ich nach Hause komme.«
   »Selbst schuld! Euch Männern wird immer erst klar, dass Frau und Familie wichtiger sind als der Job, wenn es zu spät ist. Mir ist es mit meinem ersten Mann ähnlich ergangen. Aber dann kam Tobi und der weiß, wie man eine Frau glücklich macht.«
   »Dann hoffe ich für dich, dass es so bleibt. Denn wenn er jetzt ins Unternehmen einsteigt, wird er auch viel häufiger auf Reisen sein als früher.« Meine Miene verzieht sich schlagartig.
   »In welches Unternehmen steigt Tobias ein?« Timo erzählt mir, dass Paul ihm einen Posten angeboten hat. Zusammen mit seinem Bruder soll er gleichberechtigt das Familienunternehmen weiterführen.
   »Die Unternehmenszentrale ist in Lübeck. Es geht also bald wieder in Richtung Norden. Du kannst schon mal die Koffer packen.« Ich kann Timos Freude nicht teilen und halte nach Tobias Ausschau. Klavierklänge lassen vermuten, dass er am Flügel sitzt. Nicht vor den Verwandten ausrasten, sage ich mir immer wieder. Ich zähle dreimal von zehn rückwärts und schaue den Chopin darbietenden Pianisten mit eingefrorenem Grinsen an. Gleich bist du fällig mein Lieber. Solltest du noch ein Lied anstimmen, werde ich dich hier vor deiner versammelten Mischpoke vom Klavierhocker schubsen.
   »Es war sehr holperig«, entschuldigt sich Tobias. Paul hat Tränen in den Augen. Er bedankt sich bei »seinem Jungen« für die große Freude, die er ihm damit bereitet hat.
   »Nimm ihn. Es ist dein Steinway. Du solltest öfter darauf spielen. Vielleicht hat Clara dein Talent geerbt und du bringst es ihr bei.« Ich ziehe ihn zur Seite und flüstere in sein Ohr: »Wo willst den Flügel denn hinstellen. In unser Haus in Frankreich oder in die Firmenzentrale in Lübeck?« Tobias kennt diesen Blick. Er hofft, es noch rechtzeitig mit mir nach draußen zu schaffen, bevor ich meinen Tobsuchtanfall bekomme. Aber ich brülle nicht. Ich jammere unter Tränen. »Wann wolltest du die Katze aus dem Sack lassen? Soll sich die New York Geschichte jetzt etwa wiederholen?»
   »Schatz, die Katze lasse ich erst heute Abend aus dem Sack, wenn ich allein mit meinem Vater sprechen kann. Ich hatte nie vor, sein Angebot anzunehmen. Es bleibt alles wie es war. Nur dass wir jetzt einen Flügel bekommen werden und ich dich mit meinen Übungen nerven werde.« Erleichtert falle ich ihm um den Hals. Fest an seine Brust gedrückt kann ich mich rasch wieder fangen. Timo hat zwischenzeitlich seine beiden Töchter vom Bahnhof abgeholt. Juliane und Sandra haben ihre Babies dabei, die sie dem Patriarchen Paul auf den Schoß setzen.
   »Mit Jonas und Felix ist die Erbfolge schon für die übernächste Generation gesichert«, verkündet er stolz. Clara schläft im Zimmer bei der dicken Natalie. Paul ruft Tobias und mich zu sich in die Bibliothek. Auf dem Weg zu ihm, miaue ich leise. Tobi sollte verstanden haben, was ich jetzt von ihm erwarte.
   »Euch beide so glücklich zu sehen, erfüllt mich mit Freude. Mir war es nicht vergönnt, mit der Liebe meines Lebens zusammen zu sein. Aber heute ist ein guter Tag. Alle meine Kinder unter meinem Dach zu wissen, ist etwas ganz Besonderes. Dass du jetzt in die Firmenleitung einsteigst, ist die Krönung des Ganzen. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet, mein Junge.« Tobias schnaubt.
   »Es tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber ich werde dein Angebot nicht annehmen. Marie und ich verfolgen andere Pläne. Wir wollen unser Leben nicht ändern. So wie es ist, gefällt es uns. Timo hat es bisher auch ohne mich geschafft. Deine Firma ist bei ihm in guten Händen.«
   »Diesen Eigensinn hat er von seiner Mutter geerbt. Ich gebe mich geschlagen. Aber das gute Aussehen hat er von mir, oder Marie?«
   »Ganz eindeutig, Paul!«
   »Und den guten Geschmack, was schöne Frauen angeht auch.« Er fährt uns im Rollstuhl hinterher und kneift frech in meinen Hintern. Erschrocken schaue ich zu ihm herunter.
   »Bei einem schönen Po kann ich trotz meines Alters einfach nicht widerstehen. Bist du jetzt böse?«
  »Wenn es zutrifft, dass der Apfel nicht weit vom Stamm fällt, dann bedanke ich mich bei dir für die rosigen Aussichten, die du mir gerade bereitet hast. Sollte ich allerdings Tobi dabei erwischen, wie er einer anderen Frau in den Po kneift, bleibt der Steinway ein Möbelstück, denn mit gebrochenen Fingern wird er nicht spielen können.« Paul und Tobi lachen, denn sie nehmen an, ich würde einen Scherz machen. Zum Abschied versprechen sich Vater und Sohn, einmal wöchentlich miteinander telefonieren zu wollen.

Während ich mich ausschlafen darf, bringt Tobi Clara morgens mit seinem neuen Wagen in die Schule. Wenn er mittags zurück kommt, hält er stets eine Einkaufstasche in der Hand. Sein Schrank zählt am Valentinstag zehn Armani Anzüge. Die neuen Hemden, Krawatten und Schuhe müssen teilweise in meinem Bereich Platz finden. Ich werde zum Tag der Verliebten mit einer protzigen Uhr überrascht. Und ich bin tatsächlich überrascht und frage mich, ob sein Kaufrausch eine vorübergehende Phase darstellt oder ob sich hier ein dauerhaftes Problem auftut. Für den Abend bestellt er Natascha. Sie soll auf Clara aufpassen, damit er mich ausführen kann.
   »Ein bisschen eleganter solltest du dich für den Anlass schon anziehen. Ich führe dich heute sehr nobel aus.« Ich schlucke bei dem Wort »nobel«. Es ist mittlerweile Tobis Lieblingswort und es kommt in jedem dritten Satz einmal vor. Ich verfolge seine Wandlung mit Besorgnis. Lange werde ich mir sein Gebaren nicht mehr stillschweigend mit ansehen. An der Mautstelle der Autobahn verbindet er mir die Augen mit einem schwarzen Tuch. »Lass dich von mir überraschen. Nur noch ein paar Minuten Geduld. Dann hast du es geschafft.« Mir wird übel. Seine rasante Fahrweise ist schon mit geöffneten Augen eine Mutprobe. Ich presse die Lippen fest zusammen und zähle lautlos immer wieder bis hundert. Endlich kommt der Wagen zum Stehen und ich darf das Tuch abnehmen. Helles Neonlicht blendet meine Augen und ich habe keinen Schimmer, wohin er mich gebracht hat. Er öffnet die Beifahrertür und zieht mich vom Wagen weg, hinüber zu einem Fahrstuhl. Als sich die Tür schließt, drückt er den Nothalt. Er sieht mir tief in die Augen während seine Hand unter meinen Rock greift. Er stöhnt leise und fordert mich auf, ihm zu flüstern, wie lieb ich ihn habe. Als ich seinem Wunsch entspreche, setzt er den Lift wieder in Bewegung. Die Tür öffnet sich im Erdgeschoss. Es ist stock dunkel und ich kann nichts erkennen. Tobias tastet die Wand nach dem Lichtschalter ab und erleuchtet die Etage. Ich traue meinen Augen nicht. Ich stehe vor einem runden Tresen und starre auf eine helle Wand mit dem metergroßen Mató Beauty & SPA Logo.
   »Es ist fertig geworden. Die Handwerker haben Tag und Nacht gearbeitet, damit ich es dir heute zeigen kann.« Tobias führt mich durch das SPA Nummer 3. Die neun Behandlungskabinen haben alle Blick aufs Meer.
   »Wir haben Räume für Paare und Einzelpersonen, teils mit Wannenbad, teils mit Dusche.« Er rennt vorweg und öffnet jede Tür. Im oberen Bereich hat er eine Lounge eingerichtet. Auf noblen Liegen können hier Gäste bei leiser Musik und Drinks entspannen.
   »Komm mit, Marie. Jetzt zeige ich dir das Highlight.« Er fährt mit mir in die dritte Etage und zeigt ein voll möbliertes Appartement. Büro, Schlafzimmer, Küche und Bad. »Hier werden wir unsere Pausen verbringen und die ein oder andere Nacht, wenn es zu spät wird, um nach Hause zu fahren. Ich will heute mit dir das Bett einweihen. Ich bin so scharf. Komm schnell her zu mir.« Ich komme nicht, sondern gehe drei Schritte zurück und ringe nach Luft.
   »Du hast es tatsächlich gekauft«, sage ich nüchtern. »Heimlich! Obwohl du wusstest, wie ich dazu stehe. Du hast die ganze Planung ohne mich gemacht. Alles hinter meinem Rücken. Das ist kein Mató, das ist ein tó! Herzlichen Glückwunsch. Ich hoffe, du findest bald einen Käufer für diesen noblen Prunkpalast.«
   »Das erste Jahr sollten wir es selbst betreiben. Deshalb habe ich die Wohnung gleich mit dazu genommen. Marie freust du dich gar nicht?«
   »Ich bin entsetzt! Wie konntest du mich so hintergehen?«
   »Ich habe unser Haus nicht beliehen. Es wurde alles mit Bertas Erbe finanziert. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen.«
   »Bist so naiv oder stellst du dich nur so? Weißt du wie viele Mitarbeiter du für ein SPA dieser Größenordnung brauchst? Sag mir nicht, wie viel Geld du neben dem utopischen Kaufpreis auch noch in den Ausbau und das Equipment gesteckt hast. Die Rechnung wird nie aufgehen. Du hättest Bertas Erbe besser dem Roten Kreuz überlassen. Dann wäre wenigstens etwas Sinnvolles damit passiert.«
   »Du bist derartig negativ. Was ist der Grund? Gönnst du mir den Erfolg nicht?«
   »Tobi, du hast die Bodenhaftung verloren. Das Erbe ist dir zu Kopf gestiegen. Nur weil du jetzt Armani Anzüge trägst und ein protziges Auto fährst, bist noch kein SPA Manager. Guck dich doch mal um. Das hier ist Disney World und hat mit dem normalen Leben überhaupt nichts mehr zu tun. Weißt du an wen du mich erinnerst? An Nane! Du schlägst genau ihren Weg ein. Einen Weg, den du kürzlich noch als abscheulich bezeichnet hast. Für wen machst du das? Für deinen Vater, um ihm zu imponieren oder brauchst du es tatsächlich für dein Ego?«
   »Ich habe es für dich gemacht!«
   »Nein Tobias, du lügst dir in die eigene Tasche. Ich habe so etwas nie gewollt. Das war nie meine Welt und es wird nie meine Welt. Und du hättest es wissen müssen.«
   »Heißt das, du steigst hier nicht mit ein. Du schulst die neuen Mitarbeiter nicht und stehst auch nicht als Leitung zur Verfügung?« Ich fasse mir an den Kopf.
   »Du drängst mich dazu, mein kleines Geschäft aufzugeben, um mehr Zeit für die Familie zu haben und jetzt soll ich diesen Palast leiten? Cannes ist über sechzig Kilometer von zu Hause entfernt. Kannst du mir bitte sagen, wie ich das mit Clara hinkriegen soll? Hast du dir überhaupt einmal Gedanken gemacht, wie das funktionieren soll?«
   »Wir werden eine Nanny und eine Haushaltshilfe fest einstellen.«
   »Eine im grauen Kleid und weißer Schürze? So wie bei Paul?« Ich schnaube tief durch. Ungläubig schüttele ich immer wieder den Kopf. »Lass uns nach Hause fahren. Ich muss hier schnellstens raus.«

Während der Autofahrt befrage ich ihn. »Wann wolltest du eröffnen?«
   »Mitte März. Da bleiben uns knapp vier Wochen für den Probelauf, bevor die Ostersaison anfängt.«
   »Du musst dich dringend um Personal kümmern. Am besten du schaltest gleich morgen Annoncen.«
   »Das ist schon passiert. Ich habe dir zwanzig Bewerbungen in den Schreibtisch gelegt. Ich hatte gehofft, du hilfst mir bei der Auswahl. Was ist Schatz, bist du mit dabei oder lässt du mich hängen?«
   »Hab ich dich je hängen lassen?« Er stoppt den Wagen. Mit beiden Händen umfasst er mein Gesicht und presst seine Stirn an meine.
   »Zusammen schaffen wir das. Ich bin mir ganz sicher!« Ich kann seinen Optimismus nicht teilen.

Ich trinke noch einen Tee mit Natascha und lasse mir den Streit, den sie mit ihrem Neuen hat in kurzen Worten erklären. Gern würde ich mit ihr tauschen. Alles Pillepalle gemessen an dem, was mir hier gerade geboten wird. Tobi hat seinen Armani Anzug gegen Calvin Klein Boxershorts getauscht. Mit freiem Oberkörper sitzt er vor dem Fernseher und wartet darauf, dass ich mir die Bewerbungen ansehe. Aus den zwanzig Mappen sortiere ich sechszehn aus.
   »Diese vier Bewerberinnen kannst du zum Gespräch einladen. Wenn du Glück hast, bleibt eine übrig und ist tatsächlich geeignet. Warum haben sich nur Frauen gemeldet? Du brauchst ein gemischtes Team, sonst ist der Ärger vorprogrammiert. Außerdem sind diese Mädchen alle viel zu jung und haben noch keinerlei Berufserfahrung. Wichtig ist, dass auch Fachkräfte dabei sind, die deine Kunden auf Augenhöhe behandeln. Eine reife Frau mit Cellulitis will sich nicht vor einer strammen und faltenlosen Achtzehnjährigen nackig machen.«
   »Also Claudine, Annabelle, Francoise und Antoinette. Was ist mit den beiden hier? Die fand ich recht gut.«
   »In einem SPA deiner Kategorie brauchst du Mitarbeiter, die wenigstens eine Fremdsprache beherrschen. Oder wie willst du deine internationale Kundschaft adäquat bedienen?«
   »Gut«, sagt er und legt seine beiden Favoritinnen beiseite. »Das war bisher kein wirklich schöner Valentinstag.«
   »Stimmt! Wir hatten schon bessere.« Ich gebe ihm einen Gutenachtkuss auf die Stirn und gehe allein ins Bett.


Der Anrufer, der mich bereits kurz nach sieben Uhr morgens aus dem Bett klingelt, ist der Masseur aus Lyon. Er sagt sein Interesse für das SPA Nummer Eins ab. Ich bin allein zu Hause und nach dem Gespräch bereits hell wach. Mit einer Tasse Kaffee mache ich mich ran und inseriere mein neu formuliertes Stellenangebot in verschiedenen Internet Jobbörsen. So haben Jean und ich auch zueinander gefunden. Gerade als ich an ihn denke, klingelt das Telefon wieder.
   »Du hast wohl telepathische Fähigkeiten.« Enttäuscht muss auch er absagen. Seine Freunde können ihm eine so hohe Summe nicht leihen. »Dann bleibt es für dieses Jahr wie abgesprochen. Du startest im März und über den Verkauf sprechen wir, wenn die Zeit reif ist.« Mit einer Mail an Frank wiederhole ich mein Angebot, ihn gern wieder einstellen zu wollen. Schon mittags kommt seine Antwort. Sein »Ja, sehr gerne und vielen Dank«, trägt fünf grinsende Smilies. Die Personalfrage für das Mató Nummer Eins ist an einem Vormittag gelöst. Das Projekt Cannes wird Wochen in Anspruch nehmen. Mir ist es schwer ums Herz und ich muss meinen Frust und meine Enttäuschung über Tobias wahnwitzigen Alleingang unbedingt mit Sarah bequatschen. Ich fahre zum Salon und klage meiner Freundin mein Leid.
   »Du hast keinen Beamten geheiratet. Du liebtest das aufregende Leben an seiner Seite doch immer so. Keine Lust mehr auf Abenteuer? Wirst du alt, Marie?«
   »Ich bin alt. Aber du hast noch mehr Jahre auf deinem runden Buckel.«
   »Gerade wollte ich dir meine Unterstützung für die Nummer Eins anbieten, aber wenn du mir so kommst? Nein, im Ernst, ob ich hier während der Öffnungszeiten bei Claire auf dem Sofa sitze oder für dich den Verkauf im Laden übernehme, macht für mich keinen großen Unterschied. Ich helfe dir gern.« Sarah ist eine tolle Freundin. Auf sie ist seit Jahren Verlass. René soll nun auch erfahren, dass ich meine Verkaufsabsichten aufgeschoben habe. Ich gehe zu ihm in die Küche und berichte von meiner jüngsten Entscheidung.
   »Du bleibst der arbeitenden Klasse erhalten. Nichts anderes habe ich von dir erwartet. Du bist nicht der Typ einer abgehobenen Millionärsgattin. Schön, dass du dich nicht verändert hast!« Ich verstehe die spitze Bemerkung sofort. Unser guter Freund René hat also auch bemerkt, dass Tobi nicht mehr der Alte ist.

Bis auf Claudine und Annabelle hat mein Mann nach meiner Meinung nur Pfeifen eingestellt. Ich schule in die leeren Köpfe der neuen Mitarbeiter bereits in der zweiten Woche. Sofort nachdem ich Clara in die Schule bringe, fahre ich nach Cannes und verlasse den SPA Tempel meines Mannes wieder rechtzeitig, um pünktlich vor der Schule zu stehen. Den Vorschlag, sein schnelleres Auto zu nehmen, lehne ich mit hochgezogenen Augenbrauen ab.
   »Meine Ente fährt! Wenn ich sie irgendwann schieben muss, sage ich dir Bescheid.« Oft nehme ich das Mittagessen mit der Kleinen bei René ein. Die eingesparte Zeit nutze ich, um mit Clara Hausaufgaben zu machen und mich um die Ausarbeitung der Behandlungsprogramme und Schulungsunterlagen zu kümmern. Tobi kommt nie vor elf Uhr abends heim. Er findet das Haus meist dunkel vor und seine Mädchen schlafen schon fest. Bei einem gemeinsamen Frühstück präsentiert er stolz die neue Kluft seiner »Mató Girls«. Er hat knappe bordeaux farbige Shorts und enge Poloshirts ausgewählt. Die Schuhfrage dürfen sie selbst bestimmen.
   »Du redest wie ein Nachtclub Betreiber. Hörst du dir eigentlich selber noch mal zu, Herr Armani?«
   »Sollen die Mädchen deiner Meinung nach eine Burka tragen, damit du keinen Grund zur Eifersucht hast?«
   »Was sie tragen ist mir völlig egal. Ich kann dein Gequatsche nicht mehr länger ertragen. Schon wie du da stehst in deinem Konfirmandenanzug, lässig mit einer Hand in der Hosentasche. Dein neuer Tonfall und deine überhebliche Art zu blicken. Ich denke, ich habe Clausen vor mir stehen.« Ich trinke meinen Kaffee auf der Terrasse. Den eisigen Wind ziehe ich der Gesellschaft meines Mannes vor. Clara will den Grund der schlechten Stimmung wissen. Ich erkläre ihr, dass es nur mit dem Stress und der vielen Arbeit für Papas neues Geschäft zu tun hat. Nach der Eröffnung wird alles wieder so werden wie es war. Zumindest Clara glaubt daran.

Am Abend vor der Eröffnung kommt Tobias aufgekratzt nach Hause. Ich habe im Wohnzimmer auf ihn gewartet. Er küsst mich freudestrahlend auf den Mund und ich rieche sogleich seine Fahne, die ihm vorauseilt.
   »Ich habe der Mannschaft heute noch einen ausgegeben. Ab morgen wird es ernst, Marie. Kein Probelauf mehr. Ab morgen machen wir Kasse. Wir fahren doch zusammen, oder? Ich denke, Clara kann ruhig einmal die Schule schwänzen.«
   »Bist du in diesem angetrunkenen Zustand selber mit dem Auto gefahren?«
   »Ich hatte nur zwei, drei Glas Schampus über den Tag verteilt.«
   »Du bist blau und hättest besser in deinem Appartement übernachtet!«
   »Dann wäre dir das hier heute Abend entgangen.«
   »Einen Fick von einem Besoffenen kann ich um diese Uhrzeit an jeder Ecke bekommen. Dafür hättest du dich nicht extra bemühen müssen. Lass die Finger von mir und gehe ins Bett!«
   »Was ist mit dir los? Warum redest du seit Tagen so mit mir?«
   »Ich denke, du kennst jeden Gedanken, der mich quält. Das hattest du doch Steffen vollmundig gegenüber all unseren Freunden verkündet. Also, warum fragst du?« Ich hole meine Bettdecke aus dem Schlafzimmer und lege mich aufs Sofa.


Clara schwänzt nicht, sondern wird pünktlich von mir zur Schule gebracht. Nach Unterrichtende werde ich mit ihr nach Cannes fahren. Den Vormittag verbringe ich bei Claire und lasse mir die Haare schneiden. Ich klöne noch eine Runde mit Jean bis ich mich auf den Weg mache. Die drei Parkplätze in der Tiefgarage sind belegt und ich suche entlang des Boulevard de la Croisette nach einer Abstellmöglich für meinen Wagen. Claudine und eine junge Kollegin, deren Namen ich nicht kenne, stehen hinter dem Tresen.
   »Na, wie ist es bisher gelaufen?«
   »Der Verkauf von Pflegeprodukten geht besser als die Behandlungen. Aber es ist ja noch früh. Ich könnte ein wenig mehr Wechselgeld gebrauchen. Würden Sie Ihren Mann noch einmal darum bitten? Er ist oben und wollte mir Silbergeld holen.« Ich fahre allein in den dritten Stock, während Clara sich von der unbekannten Tresenhilfe Papas neues Reich zeigen lässt. Mit meinem Schlüssel öffne ich die Tür und trete leise und unbemerkt in das Büro, wo ich Tobi und eines seiner Mädchen antreffe. Sie trägt keinen bordeaux farbigen Short, sondern einen weißen Spitzen Tanga und liegt mit gespreizten Beinen auf seinem Schreibtisch. Was Tobias mit seinen Händen zwischen ihren Schenkeln sucht, ist mit Sicherheit kein Kleingeld.
   »Na, wie lieb hat sie dich? Tut mir leid, dass ich deine Flüsterspiele unterbrechen muss, aber unten wird Wechselgeld gebraucht.« Ich wundere mich selbst darüber, dass ich in diesem Moment in der Lage bin, überhaupt einen Ton herauszubringen. Ich steige in den Fahrstuhl und suche aufgebracht nach Clara im Erdgeschoss. Tobi folgt mir wenige Augenblicke später. Als er Clara erblickt, will er sie umarmen, aber ich reiße sie von ihm los.
   »Wasch dir erst die Hände!« Mit dem Kind an der Hand laufe ich zurück zum Wagen. Ich erkläre unseren übereilten Aufbruch damit, dass wir vergessen haben, mit Balou spazieren zu gehen. »Der arme Hund muss bestimmt ganz dringend raus.«

Clara übernimmt den Spaziergang und ich packe neun Armani Anzüge und diverse Hemden, Schuhe und Krawatten in Koffer und Kartons. Als ich seine Toilettenartikel in einen Kulturbeutel stecke, steht Tobias dicht hinter mir im Bad.
   »Was machst du da?«
   »Ich habe dir bereits alles gepackt. Du brauchst nur deine Sachen zu nehmen. Hau ab, bitte!«
   »Ich werde nicht gehen. Die Zeiten in denen du mich für die Tür setzen konntest sind vorbei. Mir gehört die Hälfte des Hauses. Ich bleibe und du beruhigst dich erst einmal.«
   »Ich bin ganz ruhig. Soweit ist es mit uns gekommen. Dass mich der Anblick, wie du eine andere Frau fingerst noch nicht einmal mehr aus der Fassung bringt.« Ich gehe ins Wohnzimmer. Die Nähe zu ihm kann ich nicht länger ertragen.
   »Warum gehst du nicht? Du hast die kleine Wohnung in Cannes. Clara und ich bleiben hier. Das ist doch die einfachste Lösung.«
   »Ich werde nicht von euch weggehen. Ihr seid meine Familie.«
   »Begreif es doch endlich. Es ist vorbei! Ich liebe dich nicht mehr.« Ich nehme das Herz, das er mir zu Weihnachten geschenkt hat in die Hand und werfe es auf den harten Terracotta Boden. Es zerspringt genau vor seinen Füßen in zwei Teile.
   »Brauchst du noch mehr Symbolik?« Aus dem Fenster sehe ich Clara kommen. Sie ist nur noch wenige Meter vom Haus entfernt. Für eine abschließende Diskussion ist nicht mehr genügend Zeit. So entscheide ich, selbst zu gehen.
   »Früher hätte ich für dieses Zuhause alles getan. Ab heute bedeutet es mir nichts mehr. Es sollte dir ja nicht schwer fallen, mich auszuzahlen. Werde glücklich hier, aber ohne mich.« Ich werfe seine teuren Anzüge auf den Boden und fülle die Koffer mit meinen wichtigsten Sachen. Wortlos gehe ich an Tobias und Clara vorbei und fahre in den Ort.

Nummer Eins ist noch geöffnet und René bedient selbst auf der wenig gefüllten Terrasse. Ich gehe auf ihn zu und lasse mich umarmen. Erst in seiner Küche fließen die ersten Tränen. Er gibt mir seinen Schlüssel für die Wohnung, die er über dem Restaurant bewohnt. Ich schleppe meine beiden Koffer die Treppe hinauf und betrete nach acht Jahren fester Freundschaft das erste Mal seine Privaträume. Bunt, chaotisch, französisch, eben typisch René. Sein durchwühltes Bett steht in der Mitte des Raumes. Wie viele Frauen hat er in den letzten Jahren auf dieser Matratze beglückt? Ich wähle das Sofa, nehme seine dreckigen Kochklamotten runter und baue mir ein Bett direkt unter dem Fenster. Durch das geöffnete Fenster höre ich die Musik aus seinem Lokal und Essensdüfte kriechen in meine Nase. Im Liegen schaue ich durch das Fenster in einen Platanenbaum, der direkt vor dem Haus steht. Er trägt noch keine Blätter. Im Sommer muss dieser Platz unbeschreiblich schön sein. Ich lausche den Stimmen der vorbei gehenden Passanten. Zwischendurch wird die Ruhe durch lautes Hupen, knatternde Roller und rufende Jugendliche unterbrochen. Ich bin unendlich erleichtert darüber, die Nummer Eins nicht verkauft zu haben. Von Tobi werde ich meinen Anteil für das Haus bald erwarten können. Dafür werde ich mir ein Appartement in Strandlage kaufen. Statt im Pool gehe ich im Meer baden. Nicht mehr täglich kochen, sondern einfach bei René einkehren. Die Sommerabende mit Freunden auf seiner Terrasse verbringen. Ab und zu in Etappen mit ihrer Ente nach Hamburg fahren und die Familie besuchen. Und jetzt ein Glas Wein trinken. Ich schleiche vorsichtig in den Gastraum und halte Ausschau. René lacht herüber und sagt: »Er ist schon wieder weg. Er hat dich in der Eins gesucht und bei mir nur kurz in den Laden geguckt. Alles wieder gut?«
   »Alles bestens. Lass uns auf einen heißen Sommer trinken.«
   »Zuerst kommt der Frühling. Damit fangen wir beide an.«

Wenn Tobias mit Töchterchen morgens das Haus verlässt, fahre ich hinauf und gehe mit Balou spazieren. Natascha holt Clara täglich von der Schule ab und bringt sie zu mir in die Eins. Gemeinsam gehen wir Mittagessen und quatschen. Natascha versorgt Kind, Hund und Haushalt bis zum Abend. Es klappt alles ohne Absprache.