Hiob lässt
grüßen
»Komm rein, Bruno«, rufe ich meinen
zotteligen Mischlingsrüden. Er soll das laute Bellen am Gartenzaun
unterlassen. Es ist schließlich erst sieben Uhr am Morgen, als ich
den Kaffee für mich und meinen Mann Steffen koche. Früher, als
unser Sohn Frederik noch zu Hause wohnte, kümmerte sich mein Mann
um das Frühstück. Er holte täglich frische Brötchen und verband den
Weg zum Bäcker mit einem Hundespaziergang. Mittlerweile besteht
unsere erste Mahlzeit am Tag aus einem Becher Kaffee im Stehen und
der Hund pinkelt in den Garten. Aus dem Küchenfenster beobachte
ich, wie ein großer Möbelwagen umständlich vor dem Nachbarhaus
einparkt.
»Ziehen die Kaltenbachs
aus?«
»Nur Norbert«, sagt Steffen. Er
ist mit den meisten Leuten in der Straße per Du. Als langjähriger
Hausmann kennt er fast alle Anwohner persönlich und ist über die
Geschehnisse in der Straße immer aktuell
informiert.
»Wieder ein Paar, das sich
trennt.«
»Elke bleibt mit den Kindern
hier wohnen. Sie hat ihn mit einer Anderen
erwischt.«
»Diese Kurzstreckenläufer! Die
wissen doch gar nicht, was sie ihren Kindern damit antun.« Ich weiß
es. Ich selbst war ein Scheidungskind. Als ich mit achtzehn Jahren,
gegen den Willen meiner Mutter, meine Jugendliebe heiratete, gaben
mir Freunde und Bekannte nicht den Hauch einer Chance. Das liegt
nun schon 26 Jahre zurück. Seit meiner Silberhochzeit zähle ich
mich stolz zu den Langstreckenläufern.
»Fünfundzwanzig Jahre glücklich
verheiratet. Das gibt es doch nicht. Sie sind doch noch so jung«,
wird mir oft gesagt. Gern würde ich antworten: »Stimmt, jung bin
ich. Aber wer hat hier was von glücklich gesagt?« Seit Frederik vor
vier Jahren mit seiner hochschwangeren Freundin Nadja auszog und
einen eigenen Hausstand gründete, gibt es nur noch zwei Themen
zwischen uns Eheleuten. Die Enkelkinder und die Frage, was es zum
Abendessen geben soll. Mehr gemeinsame Interessen entdecke ich beim
besten Willen nicht. Auch unser Liebesleben hat sich der neuen
Rolle schnell angepasst. Leidenschaft und Erotik finden zwischen
Oma und Opa kaum noch statt.
»Wie kann dieser Egoist nur so
kurz vor Weihnachten ausziehen?« Ich blicke noch einmal verärgert
zu Norbert, der den Möbelpackern auf der Straße lautstarke
Anweisungen gibt.
»Es nützt nichts, ich muss los,
sonst stehe ich wieder stundenlang vor dem Elbtunnel im Stau.« Mit
einem Griff schnappe ich mein Schlüsselbund von der Fensterbank und
verschwinde in die eisige Kälte.
»Guten Morgen, Frau Simon«,
ruft Norbert mir zu und fügt an, »machen Sie es gut.« Aber ich
würdige ihn keines Blickes und wünsche dem Fremdgeher im
Vorbeifahren, ihm möge der Pimmel abfaulen.
Heikes Blumenstübchen ist noch geschlossen.
Ich warte im Auto bei laufendem Motor und ärgere mich darüber, dass
sich die Blumenhändlerin verspätet. Es war doch fest vereinbart,
dass für mich schon vor Ladenöffnung ein kleiner Weihnachtsstrauß
bereit stehen sollte. Im Rückspiegel sehe ich sie mit ihrem grünen
Kleintransporter vorfahren.
»Tut mir wirklich leid, Frau
Simon. Heute war auf dem Blumengroßmarkt der Teufel los. Ich beeile
mich. Kommen Sie doch noch kurz mit rein.« In Windes Eile zaubert
die Floristin aus Blättern, Tanne, Äpfeln, Zimtstangen und weißen
Christrosen ein zauberhaftes Arrangement. »Wunderschön«, lobe ich
sie und bezahle mit einem zwanzig Euro Schein.
Beeilung ist angesagt,
um nicht als Letzte zum Treffen meiner Franzosen anzukommen.
Normalerweise findet mein Sprachkurs wöchentlich am Donnerstagabend
in der Volkshochschule statt und ist die einzige Abwechslung in
meinem eingefahrenen Leben. Gemeinsam mit vier Frauen und zwei
Männern lerne ich seit zwei Jahren französische Vokabeln, Grammatik
und die richtige Aussprache. Zum Jahresabschluss verabredeten wir
uns im Café Wendt zum Frühstücken. Der Blumenstrauß ist als
Dankeschön für die geduldige Kursleiterin gedacht. Hannelore, die
Älteste aus der Gruppe hatte vorgeschlagen, Julklapp zu machen.
Aber die Meisten waren dagegen. »Diese sinnlose Geschenke
Austauscherei ist doch grauenhaft«, fand Gerd. Damit war die Sache
vom Tisch. Zu Silvia entwickelte sich im Laufe der Zeit eine engere
Freundschaft. Sie ist zwei Jahre jünger als ich und glücklich
geschieden. Ihre Tochter lebt beim Exmann in ihrer Heimatstadt
Erfurt, sodass sie sich zu siebzig Prozent ihrem Beruf als
Systemadministratorin widmen kann. Die anderen dreißig Prozent
investiert sie in die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche. Auf keinen
Fall will sie wieder eine feste Beziehung eingehen. In Sachen Blind
Dates ist sie eine Expertin und seit der Trennung verreist sie
vorzugsweise nach Tunesien, was ihren Wunsch nach Perfektion der
französischen Sprache erklärt. Dort verbringt sie die Zeit mit
einem Loverboy, der ihr für ein Trinkgeld die nötige Entspannung
verschafft.
»Mit den Brückentagen zwischen
Weihnachten und Neujahr komme ich auf zwei Wochen wohlverdienten
Liebesurlaub. Karim erwartet mich schon
sehnsüchtig.«
»Das wäre nun gar nichts für
mich.« Aber mehr Entspannung wünsche ich mir auch. »Wir feiern eher
klassisch. Ich freue mich schon wie Bolle auf das Fest. Endlich
wird wieder Trubel im Haus sein. Wenn die ganze Familie kommt,
sitzen vier Generationen am Tisch. Ich habe schon meterlange
Einkaufslisten geschrieben, das Haus geschmückt und kann es kaum
erwarten, endlich mit dem Kochen zu beginnen.« Ich ernte nur ein
verständnisloses Kopfschütteln von meiner Freundin. Nach zwei
Stunden löst sich die Gruppe auf.
»Bleib doch noch einen Moment.«
Ich lege meinen Mantel wieder zurück auf den Stuhl. »Ich habe noch
ein Geschenk für dich.« Wir warten geduldig bis sich alle
verabschieden und wir allein am Tisch sitzen. Gespannt wickel ich
mein Paket aus. Unter vielen kleinen Styroporchips kommt ein
riesiger, fleischfarbiger Gummi Penis zum
Vorschein.
»Bist du
irre?«
»Du kannst ihn tauschen, wenn
dir die Größe nicht zusagt. Er ist noch original verschweißt.«
Silvia redet über den Freudenspender so selbstverständlich, als
wenn sie einen Wollpullover verschenkt hätte.
»Du hast mir tatsächlich einen
Dildo gekauft, eine Brummgurke, einen Elektrolurch?« Ich muss so
laut lachen und johlen, dass sich die Kellnerin aufgefordert fühlt,
zum Tisch zu kommen. Noch bevor die Bedienung den Grund meiner
Albernheit sehen kann, verstecke ich den Giganten in meiner
Handtasche. »Ja, wir möchten zahlen«, sage ich und kann mein Lachen
kaum unterdrücken. »Du bist total beknackt«, gackere ich noch auf
der Straße, als sich meine Freundin mit Küsschen von mir
verabschiedet und ich in die Firma fahre.
»Frau Simon,
Ihre Schwiegermutter auf Leitung eins. Soll
ich durchstellen?«, ruft Maike durch die verschlossene Labor Tür.
Ich bin gerade dabei, einen Ansatz für ein neues Anti Falten Mittel
zu mischen und kann die Arbeit unmöglich
unterbrechen.
»Jetzt bitte nicht. Sagen Sie
ihr doch, ich melde mich gleich zurück.« Zehn Minuten später fülle
ich eine goldgelbe Emulsion in einen Cremetiegel, beschrifte das
Glas mit einem Code aus Datum, Buchstaben und Zahlen und stelle das
Muster in den Inkubator. Ich streife meine engen Latexhandschuhe
ab, hänge den weißen Kittel auf den Bügel und verschwinde aus dem
sterilen Laborraum. Eigentlich bin ich unendlich dankbar, dass
unsere studentische Aushilfe nicht nur in den Semesterferien,
sondern auch zwischen ihren Vorlesungen den Telefondienst
übernimmt. Seitdem sich meine Geschäftspartnerin Sophie
überraschend eine Auszeit nahm, weiß ich nicht, wo mir der Kopf
steht. Sophie Wagenstädter ist nicht nur die gleichberechtigte
Gesellschafterin der SoMa Kosmetik GmbH, sondern auch meine ältere
und einzige Schwester. Wir beide gründeten das Unternehmen vor
zwanzig Jahren und genießen in der Beauty Branche einen
hervorragenden Ruf.
»Ist noch Kaffee da?«, frage
ich auf dem Weg in mein Büro. Maike ist damit beschäftigt, den
Empfang zahlreicher Pakete und Päckchen zu quittieren. Statt mir zu
antworten, flirtete die junge Studentin lieber ungeniert mit dem
knackigen Kurierfahrer weiter. Mit energischen Schritten gehe ich
selbst in die Pantry und setze eine Kanne auf. Geduldig auf
Antworten zu warten, liegt nicht in meinem Naturelle. Mit einem
leisen Stöhnen lasse ich mich in meinen Chefsessel fallen und
greife zum Telefon.
»Hallo Hanna, du hast
angerufen?«
»Oh gut, dass du dich meldest.
Kommst du nach Feierabend vorbei? Steffen ist auch schon da. Hör
mal, Karl und ich wollen euch beiden dringend etwas
erzählen.«
»Na, du machst es ja spannend.
Ich habe noch eine Weile zu tun. Aber ich beeile
mich.«
»Fahr schön vorsichtig, die
haben wieder Glatteis angesagt.« Ich mag meine
Schwiegermutter. Das Verhältnis zu ihr war stets viel enger, als
das zu meiner eigenen Mutter. Mutter Ellen war in zweiter Ehe mit
dem Oberregierungsrat Peter Habicht verheiratet und ist seit drei
Jahren Witwe. Noch zu seinen Lebzeiten kauften sie sich ein halbes
Haus auf einer grünen Golfplatzanlage an der Algarve. Die andere
Hälfte erwarb Schwester Sophie mit Ellens Lieblingsschwiegersohn
Lars. Ellen lebt die meiste Zeit des Jahres in Portugal. Zwei bis
drei Mal im Jahr fliegt sie in Hamburg ein und nimmt an den
Familienfeiern im großen Kreis teil. Für meinen Geschmack ein
völlig ausreichendes Engagement. Mit Entzücken betrachte ich meinen
aktuellen Bildschirmschoner. Frederik schickt mir immer wieder neue
Fotos seiner Zwillinge per Mail zu. Auf diesem Bild tragen die Mini
Simons leuchtend rote Nikolausmützen. Gemeinsam halten die Jungen
ein Schild hoch, auf dem zu lesen steht: Wann kommt denn endlich der Weihnachtsmann?
Ich erfreue mich jedes Mal am Anblick meiner
kleinen Enkel. Obwohl ich nach außen hin, als die knallharte
Geschäftsfrau gelte, bin ich privat ein durch und durch Harmonie
liebender Familienmensch. Ich knipse den PC aus und nehme meinen
warmen Wintermantel aus dem Schrank. »Ich mache doch schon Schluss.
Bis morgen, Maike.« Auf dem Parkplatz ärgere ich mich darüber, erst
einmal Eis kratzen zu dürfen. Hanna hat mal wieder die richtige
Nase gehabt. Oh wie ich es hasse, bei Glatteis Auto zu fahren.
Überhaupt mag ich den Winter nicht. Auf meinem Handy drücke ich die
Kurzwahltaste drei. »Hallo Karl, ich mache mich jetzt auf den Weg.
Hast du schon gestreut oder soll ich den Wagen vor der Einfahrt
parken?« Überflüssig zu fragen, denke ich schon während des
Gesprächs. Selbstverständlich hat er schon gestreut. Karl gehört
nicht zu den Rentnern, die den Tag lethargisch im Sessel
verbringen. Er und Hanna betrieben ihr halbes Leben lang gemeinsam
eine kleine Hotelpension. Er war für den Einkauf und die Küche
zuständig und die fleißige Hanna arbeitete als Zimmermädchen,
Waschfrau, Buchhalterin und Kellnerin. Sie hätten es gern gesehen,
dass Steffen die Nachfolge antritt. Aber mein Mann fand schon früh
heraus, dass Arbeit einem das ganze Leben verderben kann. Von heute
auf morgen wurde der Betrieb an Jannis Chatidakis verpachtet.
Seither ist die Pension Simon ein griechisches
Restaurant.
Mein Auto schliddert
unkontrolliert die Einfahrt hinunter und kommt erst kurz vor Karls
Wagen zum Stehen. Hanna empfängt mich an der offenen
Haustür.
»Das ist ja noch mal gut
gegangen!«
»Ist halt kein Winterauto«.
Ungefragt erhalte ich auch den Klugscheißer Kommentar von
Karl.
»Bei diesem Wetter lässt man
das Auto auch stehen und geht zu Fuß.« Ich wünsche meinem
Schwiegervater auch einen schönen Abend und gehe zum Kamin, um mir
die eiskalten Finger zu wärmen.
»Tee oder Grog?« Zuerst will
ich wissen, wo Steffen steckt.
»Er ist mit dem Hund draußen.
Das arme Tier kriegt hier drinnen ja einen Hitzeschlag, so hat Karl
wieder eingeheizt. Es sind mindestens dreißig Grad in der Bude«,
schimpft sie.
»Nie im Leben Frau, du
übertreibst mal wieder schamlos.« Er steht auf, um sein digitales
Thermometer vom Sekretär zu holen.
»Genau sechsundzwanzig Grad
Raumtemperatur«, verkündet er mit großer Genugtuung. Im Laufe der
Zeit habe ich mich an den ruppigen Umgangston meiner
Schwiegereltern gewöhnt. Aber die Vorstellung, dass Steffen und ich
im Alter auch so barsch miteinander umgehen, lässt mich immer
wieder erschrecken. Die Haustür öffnet sich und mit großen Sprüngen
rennt mein Schnuffelhund auf mich zu.
»Hallo, mein Bester.« Liebevoll
tätschele ich sein helles Fell. Der Hund dreht sich vor Freude drei
Mal um die eigene Achse bis Steffen von hinten ruft: »Nicht so
wild, Bruno!« Er setzt sich zu mir auf das Sofa und nimmt mein
leises Schnuppern wahr. Nach einem kurzen Stirnrunzeln beantworte
ich die Frage nach meinem Getränkewunsch.
»Hanna, ich nehme einen Tee.
Meine Nase verrät mir, dass du für deinen Grog wohl schon einen
Großabnehmer gefunden hast.« Steffen versteht die spitze Bemerkung
sofort und sagt kleinlaut, dass er nun auch nur noch Tee trinken
will.
»Was genau wolltest du uns denn
heute erzählen?«
»Wir haben eine Überraschung
für euch.« Hanna zieht aufgeregt einen großen Umschlag aus der
Schublade ihrer Bauernkommode. »Es geht um Weihnachten. Wir möchten
nicht, dass Marie sich wieder so viel Arbeit macht und haben
beschlossen, die ganze Familie Simon über die Festtage nach Tirol
in den Schnee einzuladen.« Ich hoffe inständig, mich verhört zu
haben.
»Wir würden so gerne mit euch
und den Kindern für zwei Wochen zum Skilaufen fahren. Guckt mal,
heute kam die Antwort aus Österreich.« Hanna öffnet ihren
Umschlag und verkündet stolz, dass in ihrem Stammhotel vom 23.
Dezember bis 6. Januar noch vier Doppelzimmer frei sind. »Was sagt
ihr nun?« Auch das noch! Hilfe! Wintersport! Ich bin kein
Wintertyp und mit Abstand die schlechteste Ski Läuferin rechts und
links der Alpen. Mit Grauen erinnere ich mich an die letzten
Urlaube im Schnee. Ich höre meine Familie noch lästern. »Die Beste
ist sie bestimmt nicht. Aber auf jeden Fall verdient sie den Preis
für die Langsamste.« Nur Frederik zu Liebe, habe ich mich sieben
Mal in Folge breitschlagen lassen und den Urlaub statt im sonnigen
Süden in der eisigen Kälte von Tirol verbracht.
»Über Weihnachten?« Ich
schnappe nach Luft und schaue erst entsetzt zu meinem Mann
und danach in das enttäuschte Gesicht meiner Schwiegermutter.
Hannas Antennen funktionieren noch einwandfrei und sie spürt
sofort, dass ihr Vorschlag bei mir auf wenig Gegenliebe
stößt.
»Ich kann unmöglich zwei Wochen
Urlaub machen. Ihr wisst doch, dass ich ohne Sophie auskommen muss.
Außerdem haben wir bereits Gäste zum Heiligenabend eingeladen. Soll
ich etwa meiner Familie jetzt absagen, nur weil ihr euch fünf Tage
vor dem Fest für Jagartee und Kaiserschmarrn entschieden habt? Erst
gestern habe ich Fleisch und Geflügel beim Schlachter bestellt, den
Wein ausgesucht und einen Tannenbaum gekauft. Ich fasse es einfach
nicht. Das ist wirklich eine tolle Überraschung!« Karl und Hanna
schmollen.
»Ich bekomme langsam Hunger.
Komm, lass uns losfahren.« Noch schneller als ich, ist Bruno an der
Tür. Mit einem kurzen »Tschüss«, gehen wir auseinander. »Die
spinnen doch.« Langsam und vorsichtig fahre ich auf spiegelglatter
Fahrbahn nach Hause. Für mich steht fest, auf keinen Fall mit nach
Österreich zu reisen.
Als am nächsten Morgen
um kurz vor 7.00 Uhr der Wecker klingelt, werde ich von stürmischen
Küssen geweckt. Nicht etwa von Steffen. Der hält noch seinen
Ausnüchterungsschlaf im Dachgeschoss ab. Nach Frederiks Auszug habe
ich das kinderlose Nest neu aufgeteilt und ihn in das frei
gewordene Jugendzimmer im ausgebauten Spitzboden umquartiert. Ich
begründete seinen Umzug damit, ihn nicht immer wecken zu wollen,
wenn ich spät nachts von meinen Geschäftsreisen zurück komme. Der
wahre Grund ist jedoch, dass ich sein Schnarchen nicht länger
ertragen konnte. Sanft wehre ich Brunos Kuss Attacke ab. Müde
schlüpfe ich in meine Hausschlappen, schlurfe in Richtung Küche und
öffne für meinen Schnuffel die Fenstertür zum Garten. Wie jeden
Morgen im Dezember pinkelt er an die weihnachtlich geschmückte
Blautanne, die in der Mitte des Rasens stimmungsvoll leuchtet. Mit
einem Glas Orangensaft setze ich mich an den Küchentisch.
Üblicherweise lese ich morgens an diesem Platz das Hamburger
Abendblatt. Aber an diesem Tag steht mir nicht der Sinn nach
Morgenlektüre. Ich bin noch immer über die kurzfristige
Planänderung meiner Schwiegereltern verärgert. Das Thema muss mit
absoluter Dringlichkeit geklärt werden. Mein Gedankenfluss wird
durch das eindringliche Schellen der Klingel unterbrochen.
Verwundert öffne ich so früh am Morgen die
Haustür.
»Guten Morgen, gut dass du noch
da bist. Ich wollte dich unbedingt persönlich sprechen. Ich habe
nicht viel Zeit. Frederik muss in einer halben Stunde los und passt
noch kurz auf die Kinder auf.« Bevor die schnelle Vielsprecherin
fortfährt, bekomme ich ein Küsschen von Nadja auf die
Wange.
»Hanna hat uns gestern Abend
angerufen und erzählt, dass du dir keinen Urlaub nehmen kannst. Das
ist ja schade für dich. Frederik und ich freuen uns schon so aufs
Snowboarden und wir waren solange nicht im Urlaub. Ich bin
eigentlich nur gekommen, weil ich im Keller nach den Wintersport
Sachen suchen will.«
»Das klingt ja so, als sei das
schon beschlossene Sache?«
»Beschlossen und verkündet«,
schallt es aus dem Keller zurück. Ich kippe den letzten Schluck
Orangensaft herunter und schüttle fassungslos den Kopf über den
eigenmächtigen Beschluss. Nadja, die nun voll bepackt um Flur
steht, will wissen, wo ich meinen alten Ski Anzug
aufbewahre.
»Meiner ist schon etwas eng.«
Sie stellt die Sachen ab und kommt grinsend auf mich zu. Mit ihren
Händen streicht sie sich langsam über den Bauch und stellt sich
seitlich auf.
»Siehst du schon was?«
Didid..didid, tönt das Handy aus ihrer Jackentasche. Sie blickt nur
kurz auf das Display und zieht eine Grimasse. »Dein Herr Sohnemann.
Er ist schon wieder hektisch. Er hat die Jungs jetzt gerade mal
eine halbe Stunde und dreht schon wieder am Rad. Ich muss jetzt
aber. Nur noch eins. Bitte sage Hanna und Karl noch nichts vom
Baby. Wir wollen sie Heiligabend mit der Nachricht überraschen.«
Das sind eindeutig zu viele Informationen auf nüchternen Magen. Ich
bin erschüttert. Im Sommer wollte Nadja doch endlich mit einer
Ausbildung beginnen. Die erste Lehre musste sie wegen der
Schwangerschaft abbrechen. Die Vorstellung, dass Frederik mit
fünfundzwanzig Jahren Vater von drei Kindern sein wird, lässt mich
erschauern. Sein Gehalt reicht doch jetzt schon vorne und hinten
nicht aus. Ich muss es wissen, denn ich schustere seit der Geburt
der Zwillinge Loris und Jasper monatlich einen erheblichen Betrag
bei. Und dann will sie im schwangeren Zustand Snowboarden? Ich
verstehe die Welt nicht mehr und gehe mich duschen. Mit geneigtem
Kopf lasse ich mir das heiße Wasser auf den verspannten Nacken
prasseln. Freude sieht anders aus. Ich nehme ein frisches Handtuch
und wickel es um die nassen Haare und ziehe den gestreiften
Morgenmantel über. Zornig stampfe ich die Treppe in das
Dachgeschoss hinauf, um Steffen zu wecken.
»Hier stinkt es ja wie im
Pumastall!« Angeekelt öffne ich das Fenster und stelle mich ans
Kopfende seines Bettes. »Wach auf! Ich will mit dir über den
wahnwitzigen Plan deiner Eltern sprechen. Nadja war auch schon hier
und hat eine Bombe platzen lassen. Wir werden wieder Großeltern!
Hurra!« Laut knalle ich die Tür hinter mir zu. Er sollte jetzt wach
sein. Es dauert eine halbe Stunde bis Steffen sich im Erdgeschoss
sehen lässt. Ich trinke bereits den zweiten Becher Kaffee und
telefoniere laut und aufgebracht mit meiner
Schwester.
»Ach Sophie, das ist doch
Blödsinn. Wir können doch auch gemütlich im kleinen Kreis feiern.
Seit einer Woche stecke ich in den Vorbereitungen für das Fest. Ich
hab mich so auf euren Besuch gefreut.« Lautlos nicke ich in den
Hörer. Steffen kann meiner Miene steigende Enttäuschung entnehmen.
Als ich das Gespräch beende, trifft ihn mein vorwurfsvoller
Blick.
»Das sind ja wunderbare
Aussichten auf ein schönes Weihnachtsfest. Meine Mutter, Sophie und
Lars bleiben über die Festtage in Portugal und Freddy fährt mit
seiner Familie und deinen Eltern in den Schnee. Nadja hat bereits
die Skisachen abgeholt.« Er zieht die Augenbrauen hoch und schenkt
sich ohne weiteren Kommentar einen Becher Kaffee ein. Aus Erfahrung
weiß er, dass es bei meiner angespannten Stimmung klüger ist, den
Mund zu halten. Wütend reiße ich den Abholschein der Schlachterei
von der Pinnwand und drücke ihn Steffen in die
Hand.
»Wenn du deine Stimme
wiedergefunden hast, dann ruf beim Metzger an und mach die
Bestellung rückgängig!« Ich gehe ins Bad, um mir die Haare zu
föhnen. Mit einer blauen Jeans und einem schwarzen
Rollkragenpullover bekleidet, stehe ich wenig später vor meinem
Mann. Er wirkt genervt und redet sich mal wieder
raus.
»Da ist ständig besetzt. Ich
gebe auf und gehe jetzt mit dem Hund raus. Hoffentlich hast du dich
bis heute Abend wieder beruhigt. Letztendlich wollten Karl und
Hanna uns nur eine Freude machen.« Das ist ihnen auf ganzer Linie
misslungen, denke ich und stecke wütend den Abholschein in mein
Portemonnaie. Wie immer werde ich mich selbst um die Angelegenheit
kümmern und mache mich mit dem Wagen auf den Weg zum Schlachter und
zur Vinothek.
Die Schlange vor dem Geschäft reicht bis auf
die Straße. »Na, das geht ja gut los«, stöhne ich laut. Aber ich
kann direkt vor der Tür einen Parkplatz ergattern. Soll das die
Wende an diesem schrecklichen Tag sein?
»Haben Sie noch etwas
vergessen, Frau Simon?« Vor dieser freundlichen Frage, musste ich
geschlagene 45 Minuten in der Warteschlange verbringen. Nach einer
halben Stunde bestand Hoffnung, endlich gehört zu werden. Es war
nur noch ein Kunde vor mir. Dieser Mann zeigte auf jede einzelne
Aufschnittsorte in der Auslage.
»Was ist das für eine Wurst?
Vom Rind oder Schwein?« Er ließ sich nach ausführlicher Erklärung
stets ein Stück zum Probieren reichen und verkündete danach
seelenruhig, dass er davon gern eine Scheibe nehmen würde. Ich war
kurz vor der Explosion. Die setzte auch prompt ein, als er sich
entschied, das gleiche Spiel noch einmal mit den zahlreichen
Schinken Delikatessen zu wiederholen.
»Das geht zu weit«, poltere ich
in bester Karlscher Art. »So langsam sollten Sie doch mal satt
sein. Merken Sie eigentlich noch was? Sie halten hier seit einer
Ewigkeit den Laden auf. Gucken Sie mal raus! Die Schlange reicht
fast bis zu den Elbbrücken.« Der Einscheiben-Wurst-Besteller dreht
sich um und zieht einen Bonbon aus seiner Manteltasche, den er ihr
mit einem Lächeln überreicht.
»Das ist ein
Kräuterlutschbonbon mit Baldrian. Der sollte Ihnen helfen, sich zu
beruhigen.« Danach wendet er sich wieder der Fleischerfrau zu. Ob
sie ihn auch beim Käse bedienen würde, will er
wissen.
»Nein, mein Herr, dort bedient
Sie mein Mann gern weiter.« Diese kluge und hellsichtige Frau
bewahrt mich davor, schwere Körperverletzung zu
begehen.
»Ich möchte Sie bitten, die
Bestellung für Simon, Eichenalle 17, zu stornieren. Unsere Pläne
haben sich kurzfristig geändert. Tut mir leid.« Ich steige wieder
ins Auto und während meiner Fahrt zur Vinothek, ärgere ich mich
über diesen dreisten Testesser. Schnell wechsel ich das Thema und
denke daran, dass ich bald zum dritten Mal Oma werde. An der roten
Ampel muss ich warten und wickel das Kräuterbonbon aus. Ich lutsche
es kurz an, um es dann mit voller Wucht zu
zerbeißen.
»Nicht genug Baldrian drin, um
die Babynachricht aus dem Kopf zu bekommen!«
Kerstin und Herbert Kunstmann führen nicht
nur die leckersten Weine in ihrem Sortiment. Ihr Geschäft versprüht
auch eine so authentische Atmosphäre, dass ich mich bei ihnen wie
im Süden fühle, wenn ich auf ein Glas bei ihnen einkehre. Ich liebe
es, Herbert zuzuhören, wenn er von seinen Exkursionen in die
mediterranen Weinregionen berichtet. Kerstin begrüßt mich mit
ausgestreckten Armen.
»Willst du heute schon den Wein
abholen?« Ich schüttle den Kopf. Bevor ich in die Einzelheiten
gehen kann, brauche ich dringend ein Glas vom offenen Bardolino.
Ich proste ihr zu und leere das Glas in zwei
Zügen.
»Darf ich mich wundern?«, fragt
Herbert, der eine Sackkarre mit Kisten und Kartons in das Bistro
schiebt. »Ich dachte immer, du bist der leichte Rosé
Typ.«
»Heute ist eben kein normaler
Tag.« Ich berichte von dem nicht stattfindenden Familienfest und
meinem Erlebnis beim Schlachter. Dazu gönne ich mir zwei weitere
Gläser vom roten Rebensaft.
»Möchtest du etwas knabbern?«
Kerstin ist es nicht entgangen, dass ihre einzige Kundin im
Geschäft schon recht beschwipst ist. Obwohl ich ablehne, stellt sie
einen Teller mit Baguette, Salami, Camembert und Oliven auf den
Tisch. »Bitte iss etwas!« Als ich zugreife, fragt sie mich nach
meinen neuen Plänen fürs Weihnachtsfest?
»Auf keinen Fall fahre ich mit
in den Schnee! Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass ich mit
meinem Mann die Festtage allein und ganz in Ruhe verbringen
werde.«
»Mehr Ruhe kann ich Ihnen nur
empfehlen«, sagt eine dunkle Männerstimme. Ich drehe mich um und
bekomme einen Schreck. Dicht hinter mir steht der
Einscheiben-Wurst-Besteller. Ich greife mir an die Stirn und
beginne lauthals los zu lachen.
»Was kommt denn jetzt? Sagen
Sie bloß, Sie wollen sich jetzt auch noch gratis durch das
Weinsortiment trinken.« Ein lautes Lachen durchdringt den
Verkaufsraum.
»Das warst du?« Kerstin stellt
mir den großgewachsenen Mantelträger, als ihren jüngeren Bruder
Thomas vor. Herbert will von seinem Schwager wissen, warum er
seinen Käse woanders kauft.
»Ich hatte einfach Lust auf
deutschen Käse«, verteidigt er sich.
»Thomas lebt in Südfrankreich
und ist nur zu Besuch hier.«
»Das entschuldigt nicht, dass
er sein Geld bei der Konkurrenz lässt«, stichelt Herbert. Thomas
breitet seine Einkäufe auf dem runden Marmortisch aus und bittet
seine Schwester, einen passenden Schluck zu spendieren. Kerstin
klatscht in die Hände und ruft: »Mittagspause!« Herbert schließt
die Ladentür ab.
»Sie haben ja eine
überwältigende Auswahl an Wurst und Käse«, spotte ich. Noch eine
ganze Weile mache ich mich über ihn lustig. Nach zahlreichen
Anekdoten und einer weiteren Flasche Wein ist die Pause wie im Flug
vorbei. Die Ladentür wird wieder geöffnet und die ersten Kunden
treten ein. Ich beschließe, aufzubrechen.
»Aber du fährst nicht mehr mit
dem Auto!« Herbert greift nach meinem Schlüsselbund und verspricht,
mir den Wagen am nächsten Tag wiederzubringen. Thomas bietet sich
an, mich nach Hause zu fahren.
»Die Adresse kenne ich ja,
Eichenallee, oder?« Ich habe keine Wahl und bin auch viel zu
angeschlagen, um lange zu widersprechen. »Merci beaucoup«, bedanke
ich mich vor der Hausnummer 17 und wanke zur geöffneten Haustür.
Steffen erwartet mich schon.
»Wer war das und wo ist dein
Wagen?«
»Das war der
Einscheiben-Wurst-Mann und er hat einem verdammt guten
Käsegeschmack.«
»Du bist ja blau!« Steffen
schaut mich ungläubig an.
»Und du bist wach,
Donnerwetter!« Ich lasse mich sofort aufs Sofa fallen und schlafe
sofort ein.
Mein Mund ist
staubtrocken und ich verspüre einen stechenden Durst, als ich aus
meinem Rausch erwache. Es ist schon dunkel draußen und im
Wohnzimmer brennt kein Licht. Steffen ist also nicht zu Hause,
denke ich beim vorsichtigen Aufstehen. Ich gehe in die Küche und
schnappe mir eine Flasche stilles Wasser aus dem Kühlschrank und
trinke den Inhalt im Stehen aus. Auf dem Küchentisch liegt ein
Zettel.
Bin zur Weihnachtsfeier mit den Kollegen.
Habe Bruno gefüttert!
».. mit den Kollegen«, wiederhole ich höhnisch. Ich
ärgere mich über das Wort »Kollegen«. Steffen hat keine Kollegen.
Wer von Kollegen spricht, sollte auch arbeiten. Steffen arbeitet
aber nicht. Er nimmt seit sechs Jahren an einem kostspieligen
Fernstudium für Naturheilkunde teil, das ich artig in monatlichen
Raten bezahle. Ursprünglich war ich froh darüber, dass er nach fast
zwanzig Jahren Hausmann Tätigkeit endlich den Hintern hoch bekam.
Er lernt fleißig die Anatomie des menschlichen Körpers. Dank
zahlreicher Zusatzkurse kann er sogar schon kluge Reden über die
Ursache und Wirkung negativen Stresses auf die menschliche Psyche
und Physis halten. Noch vor einigen Monaten schimpfte ich laut über
die hohe Rechnung für dieses Sonderseminar.
»Das hätten wir auch billiger haben können. Du hättest
mich nur fragen müssen, ich hätte es dir umsonst erklärt. Ursache
bist du! Wirkung? Du regst mich auf und machst mich krank!« Es
wurmt mich schon lange, dass er nicht aus dem Quark kommt und wie
selbstverständlich von meinem hart verdienten Geld lebt. So langsam
geht mir die Geduld aus. Wie lange soll seine Studiererei noch
gehen? Resigniert stellte meine Mutter vor Kurzem in einem
Telefongespräch mit mir fest: »Dir ist einfach nicht mehr zu
helfen. Dein Mann ist und bleibt ein notorischer Faulpelz. Zeig mir
einen Vater, der zwanzig Jahre Elternzeit nimmt. Und nun
finanzierst du ihm auch noch diese dubiose Ausbildung.« Ich wusste,
dass sie im Recht war. Aber reflexartig stellte ich mich wie eine
Löwin vor meinen Mann.
»Mama!«, fauchte die Löwin, »ich kenne deinen
Standpunkt, aber halte dich bitte an unsere Abmachung. Ich hatte
auch nie das Recht, dir in dein Leben reinzureden.« Ich nehme es
meiner Mutter auch nach 35 Jahren immer noch übel, dass sie sich
von meinem Vater scheiden ließ und ihre Selbstverwirklichungspläne
über die Bedürfnisse ihrer beiden Töchter stellte. Ich schalte den
Fernseher an und lümmel mich aufs Sofa. Mit einem Sprung setzt Hund
Bruno zur gezielten Landung am Fußende an. »Leg dich schön hin«,
erlaube ich meinem Schnuffel. Der Hund dreht sich solange bis er
eine bequeme Liegeposition findet. Ich zappe durch alle Programme,
finde aber nichts, was mich aus meiner Katerstimmung ziehen kann.
Wilde Gedanken kreisen in meinem Kopf herum. Rotwein wirkt immer so
auf mich. Für einen kurzen Moment bringt er mich in Hochstimmung,
aber dann lässt er mich wie ein missglücktes Soufflee
zusammenfallen. Und nach dem Erwachen, versetzt er mich in
depressive Stimmung. Ich nehme mir fest vor, dieses Teufelszeug nie
mehr anzurühren. Für eine letzte Runde gehe ich noch mit dem Hund
um den Block. Als ich zurück komme, steht mein Wagen wieder vor der
Tür. An der Windschutzscheibe klebt eine Visitenkarte. Auf der
Rückseite steht in schönster Handschrift geschrieben,
Die Schlüssel liegen im Briefkasten. War
richtig nett mit dir. Liebe Grüße Thomas. Ich öffne die Haustür und sehe ein kleines Päckchen auf
dem Boden liegen und öffne es neugierig. Neben meinem Schlüsselbund
finde ich auch noch eine Handvoll Kräuterbonbons. Ich muss
schmunzeln und lege die Süßigkeiten mit der Karte in die leere
Obstschale auf den Küchentresen. Was für ein Tag, denke ich und
gehe schlafen.
In der Nacht hat es Schnee gegeben. Soviel
Schnee, dass die Verkehrsdurchsage volle fünf Minuten dauert. »Die
Schulen und Kindergärten bleiben heute geschlossen«, informiert die
Radiofrau. Ich entscheide mich, von zu Hause aus zu arbeiten.
Steffen gesellt sich mit seinem Becher Morgenkaffee zu mir und
berichtet von seiner Weihnachtsfeier. Er erzählt von Christian,
Bärbel und Kurt. Aber ich höre ihm gar nicht richtig zu. Im letzten
Sommer war das Trio zum Grillen bei uns zu Gast. Das ganze
Geschwätz über Magnetfeld Resonanz, Heilsteine, Energiefluss und
Meridiane fand ich gähnend langweilig. Ich halte das Meiste für
Humbug und nenne Steffens Kollegen abfällig die Heilpraktiker
Idioten.
»Hör mir doch mal zu, ich
möchte etwas mit dir besprechen! Christian, Bärbel und Kurt planen,
eine Gemeinschaftspraxis zu eröffnen. Es soll ein Haus der
Gesundheit werden. Sie haben mich gefragt, ob ich mit einsteigen
will.« Verwundert über seinen plötzlichen Tatendrang blicke ich
kurz auf.
»Christian hat das Haus seiner
Eltern geerbt. Es handelt sich um eine Altbau Villa in bester Lage.
Gut per Bus und Bahn zu erreichen. Parkplätze stehen auch
ausreichend zur Verfügung. Das Haus bietet rund 390 Quadratmeter
auf zwei Etagen.«
»Das klingt doch super. Wo ist
der Haken?«
»Es ist noch eine Menge Arbeit
und Geld nötig, um das Privathaus in eine ansprechende Praxis
umzuwandeln. Kurt hat vorgeschlagen, eine GbR oder eine GmbH zu
gründen, in die jeder von uns zunächst fünfzigtausend Euro
einbezahlt.«
»Fünfzigtausend? Die haben wir
nicht. Dafür brauche ich gar nicht erst ins Konto zu
sehen.«
»Bärbel hat einen Businessplan
erstellt.« Steffen reicht mir eine Mappe mit vielen Zahlen und
Tabellen über den Tisch. Ausgerechnet die doofe Bärbel, die kann
doch nicht bis drei zählen, denke ich.
»Wir sind für heute Vormittag
verabredet. Die Drei kommen her und wollen mir ihre Pläne zeigen.«
Ich überlege krampfhaft, wohin ich mich verziehen kann, um nicht
mit den ungeliebten Naturheilkundlern zusammentreffen zu müssen.
Schon der Gedanke an Bärbel mit ihrem strengen Mottenkugelgeruch,
löst in mir sofortige Übelkeit aus. Ich starte den PC und öffne das
Mail Programm.
»Oh, eine Nachricht von Sarah.«
Sarah Riess und ich lernten uns vor drei Jahren in einem noblen
fünf Sterne Wellness und Kongress Hotel an der Nordsee kennen. Mit
Mustern einer Algen Pflegeserie für diesen Kunden war ich zur
Besprechung mit dem Hotelmanager angereist. Sarah war zeitgleich
als Promi Referentin einer Veranstaltung des Forums
Darmkrebsvorsorge eingeladen. Bis in die 90er Jahre war sie das
Aushängeschild einer Schlager und Volksmusik Unterhaltungssendung
eines öffentlich rechtlichen Senders. Als wir uns zufällig abends
an der Hotelbar trafen, wusste ich gar nicht, wer neben mir saß.
Ich kenne mich in der heilen Schunkelwelt nicht aus und bin kein
Fan von dieser Musik. Erst als wir näher ins Gespräch kamen, war es
Sarahs Markenzeichen »das rollende R«, das sie verriet. Fünfzehn
Jahre war sie schon weg vom Schirm. Eine Folge des Jugendwahns, wie
sie behauptet. Ich vertrete jedoch eher die Auffassung, dass es an
ihrem Outing gelegen haben muss. Für eine lesbische Volksmusikanten
Moderatorin war Deutschland in den Neunzigern eben noch nicht
bereit. Seither arbeitet die ehemalige Moderatorin im Stillen. Sie
schreibt unter einem Pseudonym Kinderbücher und malt abstrakte
Bilder, die allerdings in namenlosen Galerien verstauben. Zu
Unrecht, wie ich finde.
Liebe Marie, ich melde mich rasch bei dir
vom Flughafen München. Ich wurde entführt. Es geht gleich
Lastminute in die Sonne. Also, ich muss Schluss machen. Anke zeigt
schon auf die Uhr. Ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest und
einen guten Rutsch. Bis ganz bald. Deine Sarah.
»Beneidenswert! Steffen, wollen
wir beide nicht auch für ein paar Tage in die Sonne fliegen? Das
wäre wenigstens ein angemessener Ersatz für das ausgefallene
Familienfest.« Aber Steffen gibt mir keine Antwort. Er ist vertieft
in Bärbels Zahlenwerk. Ich ziehe mich warm an und gehe mit Bruno
vor die Tür. Mit Ausnahme der Hausnummer 17 sind bereits alle
Bürgersteige der Eichenallee penibel vom Schnee befreit. Als ich
die drei Besucher von Weitem erblicke, greife ich freiwillig zum
Schneeschieber. In der Garage warte ich ab, bis sich die Haustür
wieder schließt und beginne mit der anstrengenden Winterarbeit. Die
Kinder der verlassenen Nachbarin Elke bauen einen Schneemann. Jedes
Mal, wenn die große Kugel zum Stehen kommt, fühlt sich
Schnuffelhund Bruno aufgefordert, dagegen zu pieseln. Ich mache dem
Schauspiel ein Ende und bringe ihn zurück ins Haus. Schon als ich
die Haustür aufschließe, kriecht mir eine strenge Wolke
Mottenkugelduft in die Nase. Steffen sitzt mit seinen Kollegen am
Esstisch.
»Lasst euch von mir nicht
stören.« Nach einem Lächeln in die Runde will ich mich in das
Oberschoss verdrücken, aber Bärbel rückt bereits ihren Stuhl zur
Seite.
»Du störst doch nicht.«
Verwundert denke ich darüber nach, warum die blöde Bärbel mich
duzt. Ich bin mir sicher, beim Grillfest im letzten Sommer noch per
Sie mit ihr gewesen zu sein.
»Wir haben auf dich gewartet.«
Steffen zieht mich an den Tisch und bittet, mich für einen Moment
dazu zu setzen. Christian präsentiert die ersten Entwürfe, die ich
mir unbedingt ansehen soll. Ich sehe die Freude in seinen Augen und
gebe nicht die Spielverderberin. Kurt erklärt mir die Unterlagen
und sieht mich erwartungsvoll an.
»Wow, wirklich beeindruckend.«
Ich habe einfache Schwarzweiß Grundriss Zeichnungen erwartet. Aber
was ich vorfinde, sind professionelle 3D Planungen in Farbe, die
jedes Zimmer, vom Empfang bis in die verschiedenen Behandlungsräume
hinein in fotorealistischer Art darstellen.
»Christian ist nicht nur
staatlich geprüfter Heilpraktiker, sondern auch Innenarchitekt und
ausgebildeter CAD Designer.« Den Idioten nehme ich im Fall
Christian sofort zurück. Steffen erklärt gerade ausführlich die
genaue Aufteilung der Räume, als Bärbel vorschlägt, einen Tee
zuzubereiten.
»Lass mal, ich mach das gleich
selber.« Aber Bärbel ist schon auf dem Weg in die
Küche.
»Bleib ruhig sitzen, ich kenne
mich ja hier aus.« Na so was! Wieso kennt sich die doofe Bärbel in
meiner Küche aus? Das ist der letzte Tee, den du hier kochst, du
alter Stinkmolch, denke ich.
»Du sagst ja gar nichts.
Gefällt es dir nicht?«
»Doch Steffen, es gefällt mir
sogar sehr. Ich bin wirklich beeindruckt. Bitte nicht böse sein,
aber ich habe auch noch Arbeit, die sich nicht von allein macht.«
Ich stehe auf, gehe zum Sofa, stelle mein Notebook auf den flachen
Couchtisch und nehme meine Notizen aus der Handtasche. Ein Auge auf
den Monitor gerichtet, hämmere ich meine Aufzeichnungen in den
Computer. Mit dem anderen Auge nehme ich die blöde Bärbel ins
Visier. Kurt blickt mehrfach zu mir herüber.
»In dieser Sitzposition machst
du dir den Rücken kaputt.« Der staatlich geprüfte Heilpraktiker
Nummer Zwei kennt sich aus.
»Wir stören jetzt auch nicht
länger. Lasst uns jetzt mal aufbrechen.« Ich freue mich über sein
Feingespür und erkenne daraufhin auch Kurt den Idiotenstatus
ab.
Nach dem Abendessen lege ich mich neben
Steffen gemütlich auf die Couch. Wir sehen fern, aber er ist nicht
bei der Sache.
»Fünfzigtausend!«, stöhnt
er.
»Du meinst es wirklich ernst
mit dem Gesundheitshaus? Dann sollten wir im neuen Jahr mit der
Bank sprechen. Wir könnten eine Hypothek auf das Haus aufnehmen.«
Vorsichtig rückt er näher und gibt mir mit geschlossenen Augen
einen kurzen Küschi auf die Wange. Mehr als diesen Bruderkuss kann
ich ihm trotz aufreizender Liegeposition nicht entlocken. Die
Frage, die mich seit dem Mittag beschäftigt, stelle ich ganz
beiläufig.
»Ist Bärbel eigentlich
verheiratet?«
»Bist du etwa
eifersüchtig?«
»Habe ich
Grund?«
»Nein, verheiratet ist sie
nicht. Ich glaub geschieden, auf jeden Fall ist sie Single und ich
fürchte, sie ist auch ein wenig verknallt in mich. Aber du brauchst
dir keine Gedanken zu machen. Ich finde sie nur nett.« Der
Spielfilm läuft gerade seit 10 Minuten, als das Telefon klingelt.
Da Steffen keine Anstalten macht, sich zu erheben, gehe ich ran.
Ich wundere mich über den späten Anruf meiner Mutter und ahne
nichts Gutes. Ellen druckst herum.
»Lars ist vor einer Stunde ins
Krankenhaus gebracht worden. Ich fürchte, es geht mit ihm zu Ende.«
Ich seufze laut. Ich weiß, dass mein Schwager unheilbar an Krebs
erkrankt ist. Das war auch der Grund dafür, dass Sophie sich eine
berufliche Auszeit genommen hat. Aber dass es so schnell geht,
damit hat niemand in der Familie gerechnet.
»Wenn du ihn noch einmal sehen
möchtest, solltest du dich beeilen. Sophie hat mir erzählt, dass
dein Familienessen nicht stattfindet. Vielleicht nutzt du die
Gelegenheit und kommst stattdessen zu uns. Deine Schwester kann
deine Unterstützung gut gebrauchen.« Ich überlege nicht lange und
sage mein Kommen sofort zu. Steffen zeigt Verständnis. Er will mich
allerdings nicht begleiten. Sein Verhältnis zu Ellen ist seit
Jahrzehnten schwierig. Wenn immer es möglich ist, gehen sich die
beiden aus dem Weg. Während er einen Flug bucht, packe ich meine
Koffer.
»Es gibt keinen Direktflug mehr
ab Hamburg. Du kannst aber morgen früh von Frankfurt aus
fliegen.«
Notebook, Handy, Ausweis, Portemonnaie. Ich
bin startklar. Steffen bringt mich zum Flughafen. Während der Fahrt
kreisen meine Gedanken um meinen Schwager. Ich kenne ihn, seitdem
ich ein Kind von neun Jahren war. Er brachte mir das
Schlittschuhfahren bei. Er holte mich am Wochenende abends aus der
Disco ab und tröstete mich bei meinem ersten Liebeskummer. Lars war
wie ein großer Bruder und ein wichtiger Vaterersatz für mich. Ich
muss an Sophie denken. Wenn Lars stirbt, wird sie ganz allein sein.
Ohne Kinder. Ohne Enkelkinder. Es geht nicht anders und ich fange
an, bitterlich zu weinen.
Die Maschine nach Frankfurt ist fertig zum
Boarding und verheult wie ich bin, stelle ich mich in die Reihe zum
Einsteigen an, als ich von hinten angestupst
werde.
»Hallo, Frau Simon. Kaltenbach.
Norbert Kaltenbach. Erkennen Sie mich nicht?« Natürlich erkenne ich
ihn. Es ist mein fremdgehender Ex Nachbar, der seine Familie gerade
verließ, weil er seinen Lümmel nicht unter Kontrolle hatte. Ich
grüße nur knapp zurück und halte Ausschau nach meinem Platz. Laut
Bordkarte 9A. Kaltenbach hat 9B und setzt sich neben
mich.
»Sind sie wieder geschäftlich
unterwegs, Frau Simon?«
»Nein, ich fliege zu meiner
Schwester. Wir haben einen schweren Krankheitsfall in der Familie.«
Kaltenbach liest eine Zeitung und ich schaue aus dem Fenster. Der
Start verläuft wortlos. Als die Stewardess mit den Getränken kommt,
bricht er das Schweigen.
»Meinen Sie nicht, wir sollten
reden?«
»Mir steht wirklich nicht der
Sinn nach einer Unterhaltung, Herr Kaltenbach. Wir waren Jahre lang
Nachbarn und haben uns nie unterhalten. Also, warum bitte
jetzt?«
»Sie sind völlig ahnungslos,
oder?«
»Worüber wollen Sie unbedingt
mit mir reden. Darüber, dass Sie Ihre Familie verlassen haben. Das
habe ich mitgekriegt. Ich stand am Fenster. Dass Sie Ihre Frau
betrogen haben und deshalb wenige Tage vor Weihnachten Ihre beiden
Kinder zurückgelassen haben, weiß ich auch. Also, was wollen
Sie?«
»Ich habe meine Frau nicht
betrogen. Sie hat mich betrogen und zwar mit Ihrem Mann!«
Fassungslos starre ich ihn an.
»Er hat Ihnen nichts gesagt,
dieser Feigling, das sieht ihm ähnlich. Elke und Steffen haben
schon seit Monaten ein Verhältnis.« Mir bleibt die Luft
weg.
»Sehen Sie, Frau Simon, ich bin
genauso stark beruflich engagiert wie Sie. Viel auf Reisen. Immer
erst spät abends daheim. Wir haben uns unsere Ehepartner geradezu
gegenseitig in die Arme getrieben. Ich habe die beiden zusammen
erwischt. In meinem Schlafzimmer. Elke hat mir dann offenbart, dass
ich ausziehen muss. Das ist die Geschichte!« So fühlt es sich
bestimmt an, bevor man ohnmächtig wird, denke ich. Aber ich werde
nicht ohnmächtig. Stattdessen ringe ich nach Luft und habe das
Gefühl zu ersticken.
»Sagen Sie, dass diese
Ungeheuerlichkeit nur ein verunglückter Scherz ist. Erzählen Sie
mir nicht solche Geschichten. Ich kann und will Ihnen das nicht
glauben!«
»Frau Simon, beruhigen Sie
sich.« Er greift nach meinen Händen und drückt sie fest. Die
Maschine befindet sich schon im Landeanflug und mein Herz rast noch
immer.
»Es tut mir wirklich leid, aber
es ist wahr. Bitte nehmen Sie meine Karte. Wenn Sie den Schock
verarbeitet haben und mit mir reden wollen, dann rufen Sie mich
an.« Nach der Landung suche ich die Toiletten auf und übergebe
mich. Mein Anschlussflug nach Faro wird schon zum dritten Mal
aufgerufen, als ich endlich wieder regelmäßig atmen kann. Ich sitze
allein am Fenster und bitte die Stewardess um einen Doppelten.
Immer wieder gehen mir die Worte meines Nachbarn durch den
Kopf.
»Der vögelt vor meinen Augen
die Nachbarin und ich krieg nichts mit!« Wohin soll ich mit der
Wut? Wohin mit dem Schmerz? Wann landete dieser blöde Flieger
endlich!
Mit einem Taxi lasse ich mich direkt ins
Krankenhaus fahren. Auf dem Parkplatz entdecke ich Sophies Wagen.
Lars ist also nicht allein. Orientierungslos streife ich durch die
Gänge bis ich endlich auf Station E vor der Zimmertür 207 stehe.
Meine Beine sind flau. Wie soll ich bloß auf ihn reagieren? Ich
hole zwei Mal tief Luft und klopfe kurz an die Tür und trete ein,
ohne eine Antwort abzuwarten. Sophie liegt neben ihrem kranken Mann
auf dem Bett und streichelt zärtlich seinen Kopf. Sie ist
kreidebleich und hat tiefe, dunkle Augenringe. Beim Anblick meines
unerwarteten Besuches huscht ihr ein leichtes Lächeln über das
Gesicht.
»Wenn ihr nicht zu mir kommt,
komme ich halt zu euch«, sage ich und bin um eine aufmunternde
Miene bemüht. Ich trete an das Krankenbett und erschrecke. Der
Mann, der kraftlos auf dem weißen Laken liegt, hat nichts mehr mit
der Person zu tun, die ich sechs Wochen zuvor in den Langzeiturlaub
verabschiedet habe. Sein Körper ist schmal, sein Gesicht grau und
eingefallen. Wir Schwestern umarmen uns fest und Sophie räumt ihren
Platz. Sie nutzt die Ablösung, um Kaffee zu besorgen. Allein mit
mir, ergreift Lars das Wort. In leisem Flüsterton bittet er mich um
einen letzten Gefallen.
»Pass auf meine Sophie auf. Sie
säuft wie Loch. Wenn ich nicht mehr da bin, dann musst du dafür
sorgen, dass sie wieder in die Spur kommt. Es wird mir leichter
fallen zu gehen, wenn ich weiß, dass du dich um sie kümmerst.
Bitte, lass sie die erste Zeit nicht allein.« Mir stockt der Atem
und es laufen dicke Tränen über mein Gesicht.
»Du bist und bleibst eine
Heulsuse. Aber ich hab dich lieb. Also, versprichst du mir das?« Na
klar, verspreche ich es.
»Du kannst dich ganz fest auf
mich verlassen.« Sophie kommt mit dem Kaffee zurück und stellt zwei
Plastikbecher auf den Nachtschrank. Gezielt greift sie nach ihrer
Handtasche und nimmt eine Flasche Brandy heraus. Völlig unberührt
von meinen erstaunten Blicken, schenkt sie die halbgefüllten Becher
bis zum Rand voll mit Hochprozentigem.
»Anders ist diese Plörre nicht
zu genießen«, erklärt sie ihre Fivty Fivty Mischung und wirft mir
ihren Autoschlüssel zu. »Ich bleibe heute Nacht bei Lars. Wenn du
magst, kannst du mir morgen früh frische Sachen bringen. Solltest
du hungrig sein, bediene dich an unserem Kühlschrank. Ich habe
gestern noch eine Suppe gekocht.«
»Dose oder Tüte?«, lache ich
sie aus. Es ist bekannt, dass sich die Kochkünste meiner Schwester
auf das Erwärmen von Fertiggerichten beschränken.
Auf dem Parkplatz ziehe ich sofort meinen
warmen Wintermantel aus. Der Kaffee mit Schuss hat mein Blut zum
Kochen gebracht und es bilden sich erste Schweißperlen auf meinem
Delkotee. Ich öffne den Kofferraum, um mein Gepäck zu verstauen und
staune nicht schlecht. Vier leere Schnapsflaschen rollen mir von
der Ladefläche entgegen. Lars Befürchtungen sind also nicht
unberechtigt. Nach zwanzig Minuten erreiche ich das Fahrziel. Ich
öffne das Tor zur Wohnanlage mit einem Sender, den Sophie im
Handschuhfach ihres Wagens aufbewahrt. Vorbei an den weiß
getünchten Reihenhäusern lenke ich den Wagen im Schritttempo in die
Straße zu den Doppelhäusern. Ich parke den Wagen in der Auffahrt
der Hausnummer 10 a und b. Ellen sieht mir beim Aussteigen vom
Fenster aus zu und öffnet die Tür.
»Lieb von dir, dass du gleich
gekommen bist.« Sie drückt mich fest an sich und nimmt mir die
große Reisetasche ab. »Bleibst du länger?«, fragt sie beim Anblick
des großen Gepäcks. Ich nicke.
»Seit wann trinkt Sophie diese
harten Sachen?« Meine Mutter kennt die Antwort. Schuld daran ist
der Onkologe Professor Dr. Schmiedel aus dem UK Eppendorf in
Hamburg. Er hat der aufgelösten Sophie nach dem Überbringen des
abschließenden Befundes geraten, die Finger von
Beruhigungstabletten zu lassen und stattdessen lieber einen guten
Cognac zu trinken.
»Davon kommen Sie schneller
wieder los, als von diesen teuflischen Tabletten«, soll sein Rat
gewesen sein.
»Warum hast du dein Handy
ausgeschaltet. Der Faulpelz hat schon drei Mal angerufen, weil er
dich nicht erreichen kann.« Ich bleibe die ehrliche Antwort
schuldig. Noch bin ich nicht bereit, von meinem verlogenen,
fremdgehenden Mistkerl zu berichten. Das wäre nur Wasser auf Ellens
Mühlen. Für ihre Hasstiraden habe ich nun wirklich nicht die
Nerven. Ich stelle mein Mobiltelefon an und schreibe Steffen eine
Kurzmitteilung.
Bin gut gelandet. Nils geht es schlecht.
Werde die nächsten Tage hier bleiben. Fahre du mit in den Schnee.
Vergiss nicht, Bruno mitzunehmen. Frohe Weihnachten.
Danach stelle ich das Telefon
aus.
»Lass uns kochen, Mama. Das
macht den Kopf frei.« Ich inspiziere die Vorräte in der Küche und
mache mich daran, Gemüse zu schneiden, Fleisch zu marinieren, Fisch
zu filetieren und schlage Unmengen an Eigelb für ein üppiges
Dessert mit der Hand auf. Ellen lässt mich gewähren, obwohl sie
sich über die große Auswahl und die riesigen Portionen wundert. Sie
fragt sich, wer das alles essen soll. Aber so bin ich. Eine
leidenschaftliche Köchin, eine genussvolle Feinschmeckerin und eine
hervorragende Gastgeberin mit dem Hang zur übertriebenen
Maßlosigkeit. Mit einem kleinen Weidenkorb und einer Schere
bewaffnet, schreite ich durch den Garten. Ich pflücke frische
Lorbeerblätter und greife mir reife Zitronen und Orangen vom Baum.
Aus dem Kräuterbeet schneide ich kleine Zweige Rosmarin und atmete
den Duft tief durch die Nase ein, als das laute Klingeln des
Telefons mich aufschreckt.
»Wenn das wieder Steffen ist,
sag ihm, ich wäre am Strand. Ich will nicht mit ihm
sprechen!« Der Anrufer ist nicht Steffen, sondern meine
Schwester. Sie ist seit einer halben Stunde Witwe.
Um elf Uhr vormittags hat Sophie schon ihren
zweiten Seelentröster intus. Ich trinke in der gleichen Zeit drei.
Sie erzählt noch einmal von den letzten Minuten mit ihrem Lars und
redet über die anstehende Beerdigung. Wenn die erst mal vorbei ist,
wird sie auch loslassen können.
»Du säufst ja mehr als deine
Schwester! Wer ist denn hier die Witwe?« Auf diesen Zynismus gibt
es nur eine Antwort.
»Ich wünschte, ich wäre die
Witwe!« Aufgebracht schreie ich mir meinen ganzen Frust von der
Seele. Jedes Mal, wenn das Wort »Mistkerl« über meine Lippen kommt,
schenkt Sophie nach. Ellen schimpft mit uns.
»Hört zu, ihr blöden Bälger.
Ich habe euren Vater überlebt, der mich jahrelang betrogen hat. Und
ich habe Peter überlebt, der war zwar treu, aber herzkrank. Euer
Leben geht auch weiter, es sei denn, ihr beschließt, euch hier
heute tot zu saufen. Wenn ihr das vorhabt, dann Beeilung. Der
Termin zur Überführung ist nämlich fix in zwei Wochen.« Mit diesen
Worten nimmt sie die Flaschen vom Tisch und geht zurück ins
Haus.
An Schlafen war die ganze Nacht nicht zu
denken. Am Morgen zeigt mein Handy zehn Anrufe in Abwesenheit. Da
ich aber schon mit Frederik gesprochen habe, kann es nur der
Mistkerl gewesen sein.
»Ich werde mich scheiden
lassen!«
»Meinen Segen hast du.« Dass
meine Mutter das sagt, ist keine große
Überraschung.
»Ich werde keinen Tag länger
mit ihm in unserem Haus wohnen. Ich schmeiße ihn
raus.«
»Dann wollt ihr künftig als
Nachbarn neben einander leben?« Sophie trinkt ihren
Frühstückskaffee mit Schuss. Sie schwört darauf. »Das hilft gegen
den Morgenkater.«
»Auch ein Tipp von Dr.
Schmelzer?« Ellen ist wütend. »Dem sollte man die Approbation
entziehen!«
»Hör zu Schwesterchen, du hast
meinen Hausschlüssel und kannst jederzeit bei mir wohnen«, bietet
Sophie mir an. Ich bleibe bis Neujahr. Wie schön es im Süden ist,
denke ich noch, als Ellen mir zum Abschied
nachwinkt.
In Hamburg gelandet, schalte ich mein Handy
ein. Ungelesen lösche ich 45 neue Nachrichten und 37 Anrufe in
Abwesenheit. Ein Taxi fährt mich in die Eichenallee. Im Vorgarten
der Hausnummer 19 fegt die Frau, der ich am liebsten die Augen
auskratzen würde, Feuerwerkkörper der vergangenen Silvesternacht
zusammen.
»Sie sind aber fleißig, Frau
Kaltenbach.«
»Sind Sie zurück von Ihrer
Schwester? Ihr Mann hat mir vor seiner Abreise davon erzählt. Mein
Beileid, Frau Simon.«
»Ja, es ist schon schlimm, wenn
man von heute auf morgen ohne Mann da steht. Sie kennen das ja auch
irgendwie, wenn auch nicht als Witwe. Haben Sie gar keinen Kontakt
mehr zu Ihrem getrennt lebenden Ehemann?« Ich bin auf beide der
möglichen Antworten vorbereitet und konter mit Variante eins. »Ich
schon! Wir haben uns gerade vor einigen Tagen getroffen und richtig
nett geplaudert. Sie glauben gar nicht, wie aufschlussreich die
Unterhaltung für mich war.« Ich brauche nicht weiter zu sprechen.
Elke weiß genau, was Inhalt dieses Gespräches war. Sie läuft
puterrot an und bleibt stumm.
»Gratuliere. Sie haben es
geschafft, eine 26 jährige Ehe zu zerstören. Aber die gerechte
Strafe folgt auf dem Fuße. Nun haben Sie Steffen an der Backe und
müssen ihn behalten! Irgendwann werden Sie merken, wen Sie sich
geangelt haben. Allerdings ist es dann zu spät, denn vom Umtausch
ist er ausgeschlossen. Das hätten Sie vorher bedenken
sollen!«
Ich schließe die Haustür auf und mache mich
daran, in Ruhe meine Koffer zu packen. Als alle persönlichen Sachen
im Auto verstaut sind, schreibe ich noch einen Zettel, den ich auf
den Küchentresen lege.
Die Idee von der Hypothek kannst du
vergessen! Das Haus wird verkauft. Sollen deine Anwälte doch
ausrechnen, ob oder was dir zusteht. Mit dir bin ich
fertig!
Mein Blick fällt auf die Obstschale, in der
ich die Kräuterbonbons und die Visitenkarte von Thomas aufbewahrt
habe. Mit einem Griff stecke ich alles in meine Manteltasche und
verlasse das Haus.
Ich wohne jetzt in
einer weißen Villa im noblen Stadtteil Blankenese. Weinen kann ich
nicht mehr. Mein Reservoir an Tränen ist aufgebraucht. Zielstrebig
nehme ich mein neues Single Leben in die Hand und steige von
Alkohol auf Apfelsaftschorle um. Ich beauftrage einen
Immobilienmakler mit dem Verkauf des Hauses. Bei der starken
Nachfrage in Hamburg, sollte es kein Problem sein, den Kasten
schnell los zu werden. Auch vereinbare ich einen Termin beim
Gynäkologen, um sicher zu stellen, dass ich mir bei diesem Mistkerl
nichts eingefangen habe. »Alles in Ordnung!« Der Befund lässt mich
wieder ruhiger schlafen.
Steffen ruft mehrmals täglich in der Firma
an. Aber Maike hat strikte Anweisung, keine Gespräche
durchzustellen. Bis zur Trauerfeier hoffe ich, mich ihm entziehen
zu können. Mit voller Kraft stürze ich mich in die Arbeit und
bereite die anstehende Messe in München vor. Mit einem nach
Marzipan duftenden Kirschkernöl probiere ich verschiedene Rezepte
für eine Körperbutter, eine Massagebalm und ein Körpergel aus. Mit
passenden Düften werden die Testansätze mit Essenzen aus
Kirschblüten, Vanille und schwarzem Pfeffer aromatisiert. Die
Duftmuster fülle ich in kleine Braunglasflaschen und gehe zu Maike
an den Empfangstresen.
»Wie findest du das? Ganz
zufrieden bin ich noch nicht.«
»Oh, ich finde es genial, Frau
Simon. Damit werden Sie auf der Beauty Ausstellung brillieren.«
Maike verabschiedet sich in den Feierabend. Solange ich zu tun
habe, geht es mir gut. Sobald es still um mich wird, kriechen diese
beklemmenden Gefühle wieder in meine Brust und ich bekomme das
Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Ich lösche das Licht und
verschließe das Firmengebäude von außen. Als ich in meinen Wagen
steige, steht Steffen plötzlich vor mir.
»Geh mir aus dem Weg oder ich
fahre dich über den Haufen!«
»Rede mit mir!« Mit beiden
Händen stützt er sich auf die Motorhaube und fleht mich an.
Unbeirrt lasse ich den Motor an.
»Ich will mit dir reden!
Entweder jetzt oder ist es dir lieber vor allen Leuten in der
Trauerkapelle!«
»Du Arsch! Du schreckst wohl
vor gar nichts zurück?«
»Ich liebe sie nicht. Mit Elke,
das war nur Sex. Belanglos!« Ich hole tief Luft und sehe ihn
fassungslos an.
»Dann hast du unsere Ehe wegen
belanglosem Sex aufs Spiel gesetzt? Schade, ich hätte nach so
vielen Jahren mit dir einen höheren Einsatz
erwartet.«
»Komm mit nach
Hause!«
»Es gibt kein Zuhause mehr.«
Steffen schüttelt ungläubig den Kopf.
»Du willst wegen so was unsere
Ehe und unser gemeinsames Leben aufgeben.«
»So was? So was war kein One
Night Stand, den ich dir vielleicht hätte verzeihen können. So was,
war eine Beziehung über Monate. Bestimmt wäre das noch ewig so
weitergegangen, hätte ich nicht zufällig Norbert
getroffen.«
»Es war nur Sex! Wie Dampf
ablassen. Da waren nie Gefühle im Spiel!«
»Du brauchtest Elke, um deinen
Dampf abzulassen?« Ich bin entsetzt.
»Du warst ja nie da. Auf
Reisen, in der Firma, müde oder schlecht gelaunt.« Steffen sucht
nach Erklärungen.
»Ich war nie da, weil ich
unseren Lebensunterhalt verdient habe. Müde und schlecht gelaunt
war ich, weil ich den Karren immer ganz allein ziehen musste,
während du dich hier vergnügt hast. Clever Steffen! Eine Frau zu
haben, die dich versorgt und nebenan eine zweite, die es dir
besorgt. Mit mir nicht mehr! Dein feines Leben ist vorbei! Ich bin
raus!«
»So war es doch gar nicht. Nun
lass dir doch erklären«. Ich habe genug gehört.
»Ich denke, es ist alles
gesagt. Ich steige ins Auto und fahre mit quietschenden Reifen
davon.
Die Kapelle ist bis zum
letzten Platz gefüllt. Sophie hält sich tapfer. Sie hat zwar
versprochen, es ohne den Seelentröster zu versuchen, blieb aber
nicht standhaft. Steffen sitzt in der vierten Reihe. Ellen hat ihn
zuvor mit ihren Blicken auf die hinteren Plätze verwiesen. Hanna
und Karl sind auch mit gekommen. Hanna weint bitterlich. Vermutlich
mehr über den Verlust ihrer Schwiegertochter, als über das Ableben
von Lars. Auf dem Parkplatz werde ich von ihr aufgehalten. »Ach
Kind, was macht ihr bloß? Die ganze Familie bricht auseinander. Du
hast Steffen verlassen und Frederik ist bei Nadja ausgezogen. Daran
sind nur wir Schuld. Hätten wir euch nicht mit dem Urlaub
überfallen, wäre noch alles beim Alten.« Ich verstehe kein Wort.
Dass Frederik ausgezogen ist, weiß ich gar nicht. »Du hast nichts
von der Krisenstimmung bei den kleinen Juniors mitbekommen? Nadja
hat in Tirol das Pistenluder gegeben. Erst hat sie ungeniert mit
dem Snowboard Lehrer geflirtet, dann trank sie mit allen Männern
Brüderschaft und morgens hab ich sie aus einem fremden Zimmer
kommen sehen. Sie hat sich aufgeführt wie eine läufige Hündin. Das
war schon nicht mehr schön. Ich glaub, sie kommt ganz nach ihrer
Mutter.« Ich bin sprachlos und mir wird auf der Stelle übel. So
sehr hat mich Hannas Bericht erschüttert.
»Steffen bereut es so. Denk
doch noch einmal darüber nach. 26 Jahre gibt man doch nicht so
einfach auf.« Ich habe kein Interesse an ihren
Versöhnungsversuchen, vielmehr halte ich aufgeregt Ausschau nach
meinem Sohn. Mit vorwurfsvollem Blick steuere ich auf mein
Einzelkind zu und ziehe ihn zur Seite.
»Ich habe dir extra nichts
gesagt. Du hast schließlich eigene Probleme. Für kurze Zeit bin ich
bei Papa untergekrochen.«
»Nadja ist schwanger! Ihr
erwartet euer drittes Kind!«
»Davon, dass ich zum dritten
Mal Vater werde, bin ich nicht mehr überzeugt. Ein Vaterschaftstest
wird nach der Geburt Klarheit schaffen. Bis dahin bin ich
weg.« Mit einem Küsschen verabschiedet er
sich.
Auf der Fahrt in die Firma frage ich mich,
was noch alles passieren soll. »Alles gerät aus den Fugen. Heute
habe ich meinen liebsten Schwager und ältesten Freund beerdigen
müssen, meine Ehe ist gescheitert, die meines Sohnes steht auf der
Kippe und mein Zuhause steht zum Verkauf.« Nach Maikes
Beichte ändert sich meine Stimmung schnell. Selbstmitleid und
Trauer weichen unbändiger Wut. Sie hat es versäumt, ein Hotelzimmer
für mich zu buchen und versucht bereits seit Stunden, noch eine
Unterkunft für die Messezeit zu ergattern. Ich bin stink sauer und
beschließe, bei Sarah anzurufen. Vielleicht hat sie ja noch eine
Idee. Ich erreiche nur den Anrufbeantworter.
»Hallo Sarah. Ich werde morgen
und Sonntag in München auf der Beauty Messe sein. Bist du am
Wochenende zu Hause? Wollen wir uns treffen? Melde dich doch mal
schnell zurück.« Bevor ich auflege, meldet sich eine Stimme.
»Hallo?« Es ist Anke, Sarahs langjährige Lebensgefährtin und die
Liebe ihres Lebens, wie die ehemalige Moderatorin bei jeder sich
bietender Gelegenheit beteuert.
»Grüß dich, Marie«, krächzt es
aus dem Telefon. »Sarah ist im Atelier, soll ich sie für dich
rufen?«
»Bist du
krank?«
»Nein, du hast mich aus dem
Schlaf gerissen. Ich hatte Doppelschicht und bin noch gar nicht
ganz bei mir.« Anke arbeitet als Stationsärztin im Klinikum an der
Isar. Sie ist eine sympathische Mittvierzigerin und besitzt einen
unschlagbaren Humor und Mutterwitz.
»Magst du bei uns übernachten?
Das Geld für dein Hotel können wir doch besser versaufen und
verfuttern.« Das ist typisch Anke. Auch sie kennt das Leben als
Alleinverdienerin. Mit Freude nehme ich die Einladung
an.
Nach 860 gefahrenen Kilometern und zwei
nicht endenden Staus komme ich gehetzt und erschlagen auf dem
Münchner Messegelände an. Es bleibt noch genau eine Stunde Zeit, um
alle Pflegeprodukte zu platzieren, Werbedisplays aufzustellen, zu
dekorieren und die Produktbroschüren in der Pressestelle abzugeben,
bevor sich die Tore zur Beauty Messe öffnen. Der junge Mann vom
Sicherheitsdienst, der in der Nacht für die Standbewachung
zuständig war, spricht mich in seinem warmen bayrischen Akzent an.
»Nur mit der Ruhe, junge Frau. Lassen Sie sich Zeit. Ich kann Ihnen
beim Ausladen und Aufbauen helfen.« Junge Frau! Das habe ich schon
lange nicht mehr gehört. Es gefällt mir, obwohl ich genau weiß,
dass es nur eine freundliche Floskel ist und keinesfalls der
Wahrheit entsprechen kann. Ich sehe nämlich furchtbar aus. Die
lange Nachtfahrt hat ihre Spuren hinterlassen. Gerade der richtige
Look für eine Schönheit Messe denke ich so bei mir, als ich mich im
Toilettenraum noch kurz frisch mache. Gleich werden sie kommen. Die
Nagel Designerinnen, die Kosmetikerinnen, die Fußpflegerinnen und
Scharen von Berufsschülern, die meinen kleinen Messestand belagern
und nach kostenlosen Mustern fragen. Wie gewohnt werden die meist
weiblichen Besucher wieder unheimlich begeistert und entzückt sein.
Den Duft und die Konsistenz der Cremes in höchsten Tönen loben. Nur
kaufen würden sie nichts. Ich warte auf ein ganz anderes Klientel.
Entscheidungsbefugte SPA Manager, Besitzer von Wellness Hotels oder
Grossisten aus dem In- und Ausland. Bis zur Mittagszeit ist noch
kein erfolgsversprechender Kontakt zustande gekommen. Mein Blick
richtet sich auf eine Gruppe Anzug- und Kostümträger. Ein stark
übergewichtiger Kahlkopf im dunkelblauen Zweireiher scheint ihr
Anführer zu sein. Er delegiert seine normal proportionierten
Untertanen nach links und rechts und nimmt dann schließlich selbst
Kurs auf. Direkt auf meinen Stand.
»Guten Tag, mein Name ist John
McEnroe von McEnroe Purchasing Services«. Ich erspare mir die
Anmerkung mit der Namensgleichheit zum ehemaligen Tennisprofi. Es
ist offensichtlich, dass es sich bei diesem Herrn nicht um den
amerikanischen Spitzensportler handelt. Ich setze mein freundliches
Messegesicht auf und begrüße ihn.
»Herzlich willkommen. Was darf
ich Ihnen zeigen?« John erklärt, dass er ist Chef einer
internationalen Einkaufsagentur ist und für seine Großkunden
nach innovativen Hautpflegeprodukten sucht. Das Wort Großkunde löst
bei mir sofort einen kleinen Hitzewall aus. Ich nehme mein
vorbereitetes Pausenschild zur Hand und stelle es mit Nachdruck auf
den Tresen.
»Wollen wir uns setzen?« Ohne
seine Antwort abzuwarten schreite ich zum Besprechungstisch und
weise ihm per Handzeichen einen freien Stuhl zu. Diesen Fisch werde
ich nicht so schnell wieder von der Angel lassen. McEnroe drückt
sein überdimensional ausgestattetes Gesäß in den schmalen,
schwarzen Freischwinger aus Kunstleder.
»Die Produkte, die ich in
diesem Jahr neu entwickelt habe sind klassische
Körperpflegeprodukte für die kaufkraftstarke Zielgruppe der Silver
Ager. Meine Anti Age Pflege ist rein natürlich und wird mit Bio
zertifizierten Wirkstoffen formuliert. Sehen Sie, das ist unser
Body Gelée. Dieses Gel glättet die Haut wie ein Öl und schützt sie
vor schnellem Austrocknen wie eine Lotion. Basis ist ein
kaltgepresstes Kirschkernöl, das exklusiv für uns in der Türkei
produziert wird. Es riecht wunderbar nach Marzipan. Schnuppern Sie
mal! Besonders hervorheben möchte ich den natürlichen
Wirkstoffcocktail aus mikroverkapselten Frischfruchtzellen.«
McEnroe steigt schon bei Marzipan aus. Wenn ich mich für etwas
begeistern kann, rede ich mich leicht in Rage. Habe ich ihn
verschreckt?
»War das zu schnell für den
Moment?«
»Nein, ganz im Gegenteil.« Er
schnuppert immer noch und genießt den einmaligen
Marzipangeruch.
»Mir gefällt es außerordentlich
gut. Haben Sie auch schriftliche Informationen?« Ich reiche ihm
eine Broschüre aus meiner Dokumentenmappe und warte gespannt auf
die Reaktion meines Gegenübers. Er schaut auf seine teure
Armbanduhr.
»Ich treffe mich gleich im
Bistro mit meiner Crew. Dann werden wir Ihr Angebot im Team
besprechen. Wenn es allen gefällt, werde ich sie in den nächsten
zwei Stunden wieder aufsuchen und wir können alles Weitere
besprechen.« Er erhebt sich.
»Ach du liebe Zeit«, platzt es
aus mir heraus. Der schwarze Freischwinger aus Kunstleder klemmt
sein breites Hinterteil ein. Nun klebt der Stuhl fest an seinen
Hüften. Ich halte den Atem an und zähle in Gedanken bis drei. Ohne
diesen Trick hätte ich sofort loskreischen müssen. Souverän und mit
aller Kraft ziehe ich an den geschwungenen Stuhlbeinen und befreie
den Freischwinger von McEnroes Fettarsch. Er scheint von dieser
Peinlichkeit nicht wirklich berührt zu sein. Vermutlich ist es
nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passiert.
»Na, dann vielleicht bis
später.« Ich nehme das Pausenschild vom Tresen und hoffe, dass die
kommenden 120 Minuten schnell, ganz schnell vergehen. Die Prospekte
gehen zur Neige. Soll ich noch Nachschub aus dem Auto holen? Die
Messe ist in weniger als einer Stunde zu Ende. Er kam nicht zurück.
So entscheide ich mich für den Gang zum Parkplatz. In diesem Moment
spricht mich eine zarte Größe 34 im dunkelblauen Kostümchen
an.
»Sabrina Krause, von McEnroe
Purchasing Services.« Sofort bin ich auf Empfang programmiert. »Wir
würden gern mit Ihnen ins Geschäft kommen. Können Sie sich
vorstellen, Ihre Pflegeprodukte im TV zu präsentieren? Unser Kunde
QHS gehört zu den größten TV Shopping Sendern und ist ganz
begeistert von Ihren Artikeln. Wir haben uns heute Mittag mit der
Bereichsleiterin Beauty von Quality Home Shopping hier auf dem
Gelände getroffen und sie hat mich beauftragt, den Kontakt zu Ihnen
herzustellen.«
»TV Shopping? Meinen Sie diese
Verkaufskanäle im Fernsehen, wo Töpfe, Bettdecken und Werkzeuge
verkauft werden?«
»Im Prinzip schon. Aber das
Sortiment ist deutlich umfangreicher als Sie denken. Im Bereich
Beauty werden Umsätze in Millionenhöhe erzielt.« Ich überlege, ob
ich Frau Krause einen Platz anbieten soll, um das Gespräch in Ruhe
fortsetzen zu können. Aber sie kommt mir zuvor.
»Leider hinke ich meinem
heutigen Zeitplan sehr hinterher. Ich möchte noch zwei weitere
Stände besuchen.« Sie übergibt mir eine Visitenkarte mit der Bitte,
mir das Ganze einmal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen und
verabschiedet sich mit dem Wunsch nach einem baldigen
Rückruf.
Die freundliche Stimme
im Navigationsgerät lotst mich nach dreißig Minuten an den
Stadtrand am anderen Ende von München. Sarah und Anke empfangen
mich mit Herzlichkeit und Bussi links und Bussi
rechts.
»Du siehst aber abgekämpft
aus.«
»Ja, meine Füße sind rund wie
ein Ball.« Sarah schnappt sich meinen Koffer und schlägt mir vor,
erst einmal ein schönes Bad zur Entspannung zu
nehmen.
»Da sage ich nicht nein.«
Während im Badezimmer das Wasser einläuft, packe ich meinen kleinen
Reisekoffer aus. Anke und Sarah kümmern sich um das Abendessen und
ich steige in die übergroße Wanne, die von meinen Gastgebern
liebevoll mit brennenden Teelichten dekoriert ist. Lang strecke ich
mich im warmen Wasser aus und atme die ätherischen Öle von Bitter
Orange und Minze tief ein. Gerade schließe ich für einen Augenblick
die Augen, als Anke und Sarah mit drei Gläsern und einer Flasche
Riesling Sekt ins Zimmer treten.
»Sauf uns hier ja nicht ab. Ich
bin froh, dass ich an diesem Wochenende endlich mal dienstfrei
habe. Auf Wiederbelebungsmaßnahmen kann ich heute gut verzichten.«
Die Ärztin setzt sich im Schneidersitz auf die flauschige Badematte
und Sarah pflanzt sich auf einen kleinen Hocker.
»War der Tag erfolgreich für
dich?«
»Das kann ich noch nicht mit
Gewissheit sagen, auf jeden Fall ist mir etwas unglaublich
Komisches passiert.« Ich erzähle von der Begegnung mit McEnroe und
dem Freischwinger und wir brechen in lautes Gelächter
aus.
»Pfui!«, höre ich eine laute
Männerstimme von draußen rufen. Anke steht auf und schließt das
Fenster und zieht die Jalousien runter.
»Der alte Spanner steht schon
wieder im Garten und beobachtet uns«, flucht sie. Diese bayrische
Vorstadtgegend ist nicht tolerant gegenüber lesbischen
Beziehungen.
»In zehn Minuten können wir
essen.« Ich schlüpfe in meine graue Wohlfühlhose und ziehe ein
weites T Shirt über. In der Küche warten drei riesige Wiener
Schnitzel auf ihren Verzehr. Sarah hat dazu ihren weltberühmten
Kartoffelsalat gemacht.
»Wein oder Bier zum Essen?«
Unsere Damenrunde entscheidet sich geschlossen für Wein. Als ich
anfange, vom Global Quality Home Shopping TV zu erzählen, ist Sarah
ganz Ohr. Anke springt vom Tisch auf, läuft in das angrenzende
Wohnzimmer und stellt den großen Flachbildfernseher an. Mit ihrer
Fernbedienung zappt sie solange durch alle Kanäle bis sie auf den
Sendeplatz von QHS trifft.
»Das glaubt ihr nicht. Kommt
schnell rüber!«, ruft sie. Wir staunen nicht schlecht. Es läuft
gerade die Präsentation einer Fett-Weg Unterwäsche Kollektion, die
von einem schmierigen Marktschreier angepriesen
wird.
»Ist das
nicht der WAHNSINN meine Damen draußen an den Schirmen. Essen so
viel man mag, ohne an die Pfunde zu denken. Mit unserer feschen
Fett-Weg-Unterwäsche sehen Sie nicht nur zehn Kilo schlanker aus.
Sie sind auch dabei auch noch sexy angezogen. Ist das nicht der
WAHNSINN meine Ladies. Schauen unser Model Gerda an. Sie trägt
eigentlich Konfektionsgröße 48. Mit der sexy Fett-Weg Unterwäsche
kann sie nun auch Kleider der Größe 44 tragen. Wenn das nicht der
WAHNSINN ist.« Gerda dreht sich mit
einem gequälten Lächeln vor der Kamera von links nach rechts und
klimpert dabei aufgeregt mit den Augen.
»Die kriegt ja gar keine Luft,
die Arme.«
»Ist das
nicht der WAHNSINN«, schreit er jetzt
noch lauter.
»Und sehen
Sie diese WAHNSINNigen Farben an. Schoko, Brombeere, WAHNSINN,
Rose, Pflaume, Schwarz und Nachtblau. Der helle WAHNSINN, sage ich
Ihnen. Oh, ich höre gerade, Schoko und Pflaume sind in den Größen
XL, XXL schon begrenzt. Also ganz schnell ans Telefon meinen Damen.
Schnell hab ich gesagt! Ist das nicht der
WAHNSINN.« Gerda ist zwischenzeitlich
schon nachtblau passend zu ihrem Ganzkörper Fett-Weg-Body
angelaufen. Unter Schnappatmung verlässt sie den Laufsteg. Anke hat
genug gesehen und erhebt sich vom Sofa.
»Spatzl, willst du uns jetzt
auch schnell etwas bestellen. Beeile dich, sonst ist alles
ausverkauft.«
»Ich nehme Pflaume«, gackert
Anke. Ich halte mir den Bauch und kann mich vor Lachen kaum noch
auf dem Sofa halten.
»Der war doch auf Koks!« Als TV
Expertin kennt Sarah sich damit aus. Wir Frauen schnattern noch
eine ganze Weile. Anke erzählt von ihrem tollen Weihnachtsurlaub,
der sie nach Madeira führte. Beide berichten mir von den
Anfeindungen in ihrer Nachbarschaft und schließlich zeigt Sarah
noch ihre neuesten Kunstwerke. Als Anke die vierte Flasche Wein
öffnen will, stehe ich auf.
»Ohne mich. Ich muss jetzt
wirklich in die Falle«. Ich schlafe fest wie ein
Stein.
Die Nacht war kurz und ich hätte glatt
verschlafen, wenn meine Gastgeberin mich nicht mit einem starken
Espresso bewaffnet aus dem Bett geschmissen hätte.
»Frühstückst du noch mit uns?
Anke ist gerade los und holt uns frische Semmeln.« Aber ich muss
ablehnen. Als Anke und Sarah mich am Auto verabschieden, entdecke
ich den Spanner vom Vorabend. Der alte Mann mit Hut steht an seinem
Zaun. Wieder ruft er: »Pfui« und »Dreier« zu uns rüber. Nachdem ich
meinen Koffer auf den Rücksitz gestellt habe, gehe ich
schnurstracks auf ihn zu.
»Dreier? Nein, alter
Mann, einen Dreier haben wir nicht gemacht. Wir haben ein Frauen
Doppel gespielt. Die Vierte hängt noch oben angekettet an der
Wand.« Im Rückspiegel sehe ich, wie Anke dem Alten den Stinkefinger
zeigt. Was es doch nur für schreckliche, intolerante Leute gibt,
wundere ich mich auf dem Weg zur zweiten Runde
Messewahnsinn.
Mit rund dreißig neuen,
vielversprechenden Kontakten fahre ich am Abend erschöpft von
München in Richtung Hamburg zurück. In Höhe Würzburg verlassen mich
die Kräfte und ich steuere vorsichtshalber ein Hotel an. Körperlich
völlig erledigt liege ich auf dem Einzelbett und stelle nach zwei
Tagen das erste Mal wieder mein Handy an. Zehn unbekannte Anrufe in
Abwesenheit. Ich vermute Steffen hinter den anonymen
Kontaktversuchen. Bisher drückte ich seine Anrufe immer erfolgreich
weg. Zwei neue Kurzmitteilungen wecken allerdings mein Interesse.
Die erste SMS ist von Nadja. Sie bittet mich um ein Treffen. Die
zweite Nachricht wird mit der Auslandsvorwahl von Frankreich
angezeigt. Thomas Helmrich, der Einscheiben-Wurst-Mann schreibt mir
kurz aber frech: Seit deinem Satz
»Irgendwann sollten Sie ja mal satt sein«, hab ich mich in dich
verliebt. Was dich angeht, bin ich ein Nimmersatt. Wann darf ich
dich endlich wiedersehen? Thomas. Ungläubig starre ich auf das Display. Ich lese die
Nachricht immer wieder und amüsiere mich köstlich. Zu einer Antwort
kann ich mich allerdings nicht durchringen.
Als ich am Montagmittag im Labor eintreffe,
bin ich noch immer heiser. Der Messemarathon schlägt mir jedes Mal
auf die Stimmbänder. Ich übergebe Maike einen Karton mit Adressen
potentieller Neukunden, die von ihr in die Kartei aufgenommen
werden sollen. Nadja wartet schon in meinem Büro und weint. Sie
sucht krampfhaft nach Erklärungen für ihren Aussetzer, wie sie es
nennt. Dennoch gibt sie zu hundert Prozent Frederik die Schuld
daran.
»Er unterstützt mich gar nicht
und hat nur seinen Sport im Kopf.«
»Wie soll es nun bei euch
weitergehen?«
»Frederik will nicht zurück
kommen. Wir wollten uns gestern aussprechen, haben aber nur
gestritten. Er ist so stur. Warum kann er mir nicht
verzeihen?« Nadja weint lauter.
»Du kannst die Kinder jederzeit
zu mir bringen, egal wie ihr beide euch entscheidet. Ich bleibe
immer die Oma für deine Kinder.« Maike klopft an die Tür und lässt
durch den offenen Türspalt wissen, dass sie einen wichtigen Termin
vereinbart hat.
»Am Freitag, nächster Woche um
elf Uhr dreißig bekommen Sie Besuch von einer Frau Schäfermann aus
dem Hause QHS. Sie wollte zwar, dass sie zu ihr fahren, aber ich
habe ihr gesagt, dass es bei uns üblich ist, Erstgespräche in
unserem Haus stattfinden zu lassen«. Mit einem Gesichtsausdruck der
Zufriedenheit bedanke ich mich für die gute Nachricht. Wenn privat
schon alles den Bach runter geht, soll wenigstens dem
geschäftlichen Erfolg nichts mehr im Wege stehen. Ich verziehe mich
in meinen sterilen Laborraum. Als Perfektionistin bin ich noch
immer nicht mit dem Duft der neuen Kirschserie zufrieden. Unter den
Vorschlägen meines Partners in Aroma Fragen, dem Chefparfumeuer
Monsieur Crouchon aus Grasse, waren auch noch keine 100%igen
Treffer. Ich stelle alle bisherigen Testansätze in einen Karton und
beschließe in die Villa nach Blankenese zu fahren und Sophies
geschulte Nase zu Rate zu ziehen.
Beim Eintreten stolpere ich über drei Koffer
und zwei Reisetaschen, die in der Eingangsdiele stehen. So schnell
habe ich mit der Abreise meiner Schwester nicht gerechnet. Im
Wohnzimmer stelle ich erst einmal den überlauten Fernseher aus.
Sophie schläft tief und fest auf dem großen Sofa und schnauft vor
sich hin. Ein Glas und eine fast geleerte Flasche Cognac auf dem
Tisch lassen erahnen, dass sie den Tag wieder mit ihrem
Seelentröster verbracht hat. Mein Versuch, mein Schwesterchen zu
wecken, bleibt ohne Erfolg.
»Sie hat sich wieder dicht
gesoffen«, schimpfe ich und nehme das Glas und die Flasche vom
Tisch und bringe alles in die Küche. Auf der Arbeitsplatte liegen
ausgebreitet Ausweispapiere, Flugticket, Brieftasche und ein
Adressbuch. Ich nehme das Ticket in die Hand und suche nach den
Flugdaten. Es bestätigt sich, dass sie den Abflug für den nächsten
Tag gebucht hat. Kopfschüttelnd blicke ich auf meine komatöse
Schwester.
»Das denkst aber nur du!« Ich
bin fest entschlossen, sie in dieser Verfassung nicht allein an die
Algarve zurückkehren zu lassen und stelle das Gepäck zurück, bevor
auch ich schlafen gehe.
»Meine Maschine geht in zwei Stunden. Und
ich werde an Bord gehen. Was denkst du dir? Glaubst du ich brauche
einen Aufpasser?« Sophie ist außer sich vor Wut.
»Ist dir vielleicht mal die
Idee gekommen, dass ich dich brauchen könnte? Mein bisheriges Leben
läuft gerade aus dem Ruder und geschäftlich stehen wir vor der
größten Herausforderung seit Firmengründung. Was ist nun? Lässt du
mich hängen oder kann ich auf dich zählen?«, schwindel ich sie an.
Mir ist klar, dass ich sie nur mit dieser Taktik aufhalten kann.
Ich öffne den Karton mit Duftmustern und berichte ausführlich von
der Messe und dem anstehenden Termin mit der Beauty Tante vom
Sender. Sophies Schnupperfähigkeiten sind wohl dem übermäßigen
Genuss von Brandy zum Opfer gefallen. Sie ist in der Aroma Frage
keine große Hilfe. Aber sie rät mir, schnellstens nach Grasse zu
reisen, um mit Crouchon persönlich nach dem perfekten Duft zu
suchen. Ich muss grienen. Nachdem ich meinen Flug nach Nizza
gebucht habe, berichte ich meiner Schwester von dem
Einscheiben-Wurst-Mann und seiner SMS. Ich habe sie noch nicht
gelöscht und lese sie laut gackernd vor.
»Ruf ihn an! Das ist die beste
Möglichkeit, deinen treulosen Mann aus dem Kopf zu bekommen.
Solltet ihr euch treffen, dann spielst du hoffentlich nicht wieder
das Blümchen Rührmichnichtan. Du lässt dir gefälligst von ihm deine
trüben Gedanken aus dem Kopf ficken. Und zwar so oft und so lange
bis du wieder klar bist, hast du verstanden!«
»Du hast eine Wortwahl, seitdem
du säufst. Daran werden wir arbeiten müssen, wenn ich zurück bin.«
Albern wie ein kleines Schulmädchen gluckse ich vor Freude, als ich
die Nachricht an Thomas abschicke.
Hallo Nimmersatt, wenn du mich sehen
willst, dann komme morgen nach Nizza zum Flughafen. Ich lande um
12.20 h. Grüße Marie
Diesmal kann ich keinen Fensterplatz
ergattern. Nach fast drei Stunden Flugzeit landet der Flieger mit
Verspätung. Die Wartezeit auf meinen Koffer kommt mir unendlich
vor. Als ich durch die Glasschiebetür trete, sehe ich den erfreuten
Thomas schon von Weitem winken. Optisch ist er eigentlich nicht
mein Typ. Im Vergleich zu Steffen schneidet er schlechter ab,
obwohl er gute zehn Jahre jünger ist, als der Mistkerl. Sein
lichtes, blondes Haupthaar lässt erahnen, dass seine hohen
Geheimratsecken bereits rasante Fahrt in Richtung Glatze aufnehmen.
Allerdings ist er deutlich höher gewachsen und sein Körper deutet
auf regelmäßige, sportliche Aktivitäten hin. Mit einer Größe von
1,98 überragt er mich um einundeinhalb Köpfe. Er stürmt auf mich zu
und greift mich mit beiden Armen, wirbelt mich hoch in die Luft und
dreht mich schnell und schneller herum. Nach meinem Geschmack ist
die Begrüßung deutlich zu überschwänglich, aber ich lasse mich
darauf ein.
»Du bist wirklich gekommen«,
sagt er, »ich wollte es erst gar nicht glauben, als ich deine
Nachricht heute früh gelesen habe. Du bist da. Wie ich mich freue.«
Seine Augen leuchten und er schlägt vor, schnell von diesem
unromantischen Ort zu verschwinden. Ich bin fest entschlossen, das
Unternehmen Fronkreisch in vollen Zügen
auszukosten.
»Morgen Nachmittag habe ich
einen Termin in Grasse. Bis dahin sollst du bestimmen, was
passiert.« Habe ich das wirklich gesagt? Oh Gott. Dann hätte ich
auch gleich sagen können, bis morgen um zwei möchte ich gern
gefickt werden, danach brauche ich allerdings eine kurze Pause,
denn ich habe noch einen Termin um drei Uhr in
Grasse.
»Lass uns doch bitte die
Landstraße nehmen«, bitte ich ihn, als er die Richtung zur Autobahn
einschlagen will. »In der kurzen Zeit, die mir bleibt, möchte ich
gern die Landschaft an der Küste genießen.« Ich kenne mich in
dieser Region recht gut aus. Als Kind verbrachte ich mit Ellen und
Sophie oft die Ferien auf diesem Küstenabschnitt
»Du hast bestimmt Hunger. Jetzt
ist eine gute Zeit, um dich lecker zum Essen auszuführen. Die
kleinen Strandbistros sind geöffnet und wenn du mit einem Snack
zufrieden bist, dann kenne ich einen schönen Ort.« Thomas fährt
eine kleine Strandbar an. Die in der Wintersaison verglaste
Terrasse ist nur mit zwei Tischen besetzt. Ich setze mich an einen
freien Platz direkt ans Fenster und wähle Muscheln und eine Karaffe
Roséwein dazu. Die direkte Aussicht aufs Meer bringt mich zum
Schwärmen.
»Gibt es etwas Schöneres, als
bei einem guten Essen aufs Meer schauen zu können? Ich wüsste
nichts!«
»Mal sehen, was der Abend noch
bringt.« Thomas lacht und sieht mir dabei tief in die
Augen.
Er biegt von der Küstenstraße ab in Richtung
Berge. Sein Haus liegt auf einem Weingut. Nicht seinem Weingut, wie
er gleich klarstellt. Er wohnt dort zur Miete. Vor Jahren baute er
in Eigenarbeit einen ehemaligen Geräteschuppen zu einem kleinen,
idyllischen Wohnhaus um.
»Ich mache uns den Kamin an.«
Die Abende sind auch in Südfrankreich zu dieser Jahreszeit noch
kalt und ungemütlich. Ich bleibe bei Roséwein. Thomas mustert mich
von oben bis unten.
»Du bist noch viel schöner als
in meiner Erinnerung. Du solltest dich sehen, wie dein Haar in
diesem Licht glänzt.« Ich denke, dass bei dieser Funzel Beleuchtung
selbst meine Schwiegermutter Hanna noch als Schönheit durchgehen
würde. Ich sage aber nichts und beschließe, die Komplimente meines
bemühten Gastgebers zu genießen. Dennoch kriecht langsam die Panik
in mir hoch. Während meiner langen Zeit mit Steffen habe ich noch
nie mit einem anderen Mann geschlafen. Abgesehen von Matthias. Aber
das war vor meiner Ehe und lag schon über 28 Jahre zurück. Thomas
ist betont zärtlich. Zu zärtlich für meinen Geschmack. Es fühlt
sich für mich an, wie eine Untersuchung beim Frauenarzt. Wenn Dr.
Petermann meine Brust nach Knoten und meinen Körper nach anderen
Auffälligkeiten abtastet, ist das gleichermaßen erotisch. Aber was
soll’s? Ist doch nur Sex! Oder was hat Steffen gesagt. Nun werde
ich mal Dampf ablassen, aber es ist nicht mehr als ein laues
Lüftchen.
Am nächsten Morgen führt Thomas mich über
das Weingut. Er legt seinen Arm um mich und gibt beim Gehen die
Richtung vor. Ich habe Schwierigkeiten, ihm mit meinen viel
kürzeren Beinen zu folgen. Macht er einen Schritt, brauche ich
zwei. Wie ein kleiner Dackel hoppele ich neben ihm her. Das
Unternehmen Fronkreisch bringt mir nicht den erwünschten Erfolg.
Selbst die Tatsache, dass ich mich im innig geliebten Süden
befinde, kann die Enttäuschung nicht wett machen. Beim Spaziergang
denke ich, dass ich für eine so lahme Nummer wie in der letzten
Nacht, nie und nimmer meine Ehe aufs Spiel gesetzt hätte. Das steht
fest. Ich packe meine Sachen zusammen und lasse mich von ihm nach
Grasse fahren.
Monsieur Crouchon erwartet mich schon. Wir
beide kennen uns schon seit Jahren vom Telefon. Der ältere,
pummelige François spricht nur gebrochen Deutsch. Aber in einem Mix
aus Französisch, Englisch und Deutsch gelingt es uns, das
Kirschkernöl perfekt zu beduften.
»Nur noch ein kleiner Hauch
Nelkenöl dazu.« Der Vorschlag des charmanten Franzosen zaubert ein
Lächeln auf mein Gesicht. Nun bin ich zufrieden.
»Das, Monsieur Crouchon, das
ist perfekt.«
Für einen Rückflug am gleichen Abend ist es
schon zu spät. Auf keinen Fall will ich wieder mit Thomas zurück
fahren. Die eine Nacht mit ihm war für meinen Geschmack schon mehr
als genug. Er bringt mich nach Nizza und ich suche mir ein zum
Flughafen nahe gelegenes Hotel. Auf die Frage, wann wir uns
wiedersehen, antworte ich mit einem Achselzucken. Vom Hotel aus
rufe ich Sophie an, um ihr zu sagen, dass der Rückflug nicht wie
geplant vonstattengeht. Neugierig will meine Schwester wissen, wie
es war. »Er fickt so, wie er einkauft.« Ich habe Steffen noch immer
im Kopf.
Der Flieger landet am nächsten Morgen früh
in Hamburg bei strahlendem Sonnenschein. Sophie ist pünktlich und
sie erzählt mir, dass der Immobilienmakler bereits zahlreiche
Interessenten hat und er dringend auf meinen Rückruf wartet, um
Besichtigungstermine zu vereinbaren. Wir begutachten die neue
Duftkreation noch während der Autofahrt. Auch Sophie ist vom
Ergebnis fasziniert.
»Lass uns irgendwo nett
frühstücken«, schlägt sie vor. Wir steuern ein kleines Café in
Alsternähe an. Als sie den Arm hebt, um die Kellnerin an den Tisch
zu rufen, staune ich. Die freundliche Bedienung ist Bärbel. Die
doofe Bärbel.
»Ich arbeite schon lange
nebenbei hier. Wie sonst hätte ich mir die ganzen Kurse leisten
können? Also, zweimal Frühstück mit Kaffee, Rührei und Saft.« Sie
schwebt wieder ab in Richtung Küche.
»Wer ist denn das?« Verwundert
schaut Sophie ihr hinterher.
»Das ist Bärbel, eine
Heilpraktikerin aus Steffens Kurs. Stell dir vor, auf sie war ich
sogar einmal eifersüchtig. Da wusste ich aber auch noch nicht, dass
die Gefahr ganz woanders lauert.« Als Sophie kurz verschwindet, um
sich frisch zu machen, ergreift Bärbel die Gelegenheit und setzt
sich zu mir an den Tisch.
»Ich war ganz erschüttert, als
ich von eurer Trennung erfahren habe.«
»Du weißt schon davon?« Ich
wundere mich darüber, wie schnell sich die Nachricht
verbreitet.
»Na, Steffen heult sich doch
schon seit Wochen bei uns aus. Ganz ehrlich Marie, ich kann gar
nicht fassen, dass du einen Neuen hast. Wer ist es? Etwa George
Clooney?«
»Ich habe Steffen nicht
verlassen, weil ich einen Anderen habe. Ich habe ihn verlassen,
weil er meine Nachbarin besteigt.« Die doofe Bärbel ist
entsetzt.
»Das ist ja ein starkes Stück!
Das hätte ich wissen sollen, dann hätte ich ihn gleich weiter
geschickt. Sieben Tage habe ich mir sein Gejammer angehört. Meine
Liebe. Mein Leben. Alles ist kaputt. Letzte Woche habe ich ihn
nachmittags rausgeworfen. Mein Freund aus Münster war auf dem Weg
zu mir. Wir führen eine Fernbeziehung, weißt du. Und irgendwann ist
ja auch mal genug mit Trösten, oder? Jetzt darf sich Christian sein
Heulen und Klagen anhören.«
»Du bist eigentlich sehr nett,
Bärbel.«
»Ich dachte immer, du kannst
mich nicht leiden. Ständig habe ich so negative Schwingungen von
dir empfangen.«
»Ich konnte dich nicht riechen!
Das ist ein Unterschied. Kauf dir mal ein richtiges Parfum. Dann
klappt es auch mit den Schwingungen.«
Gemeinsam mit Sophie fahre ich nach
Blankenese in die männerlose, weiße Villa. Ich denke über die
frischen Informationen nach, die ich von Bärbel erhalten habe. Der
Mistkerl ist also nicht bei Elke. Er war erst bei Bärbel und dann
bei Christian. Seit wann ging das eigentlich mit den beiden? Ich
denke darüber nach, ob ich Norbert anrufen sollte. Er hat mir
schließlich angeboten, mich an ihn zu wenden, wenn ich mich
beruhigt hätte. Ich habe mich zwischenzeitlich beruhigt und suche
in meiner Handtasche nach seiner Visitenkarte. Nach einem kurzen
Zögern, greife ich entschlossen zum Telefon.
»Hallo, Herr Kaltenbach. Hier
spricht Marie Simon. Sind Sie gerade in Hamburg?« Wir sprechen nur
kurz mit einander und verabreden uns für den Abend in einer Kneipe
im Schanzenviertel. Danach melde ich mich beim Immobilienmakler. Er
bittet um zeitnahe Besichtigungstermine. Ich schlage Zeiten am
Wochenende vor. Es nützt also nichts. Ich muss in die Eichenallee
fahren und nach dem Rechten sehen. Vorher mag ich keine fremden
Leute durch das Haus führen.
Die Häuser der Nummern 17 und 19 sind
verwaist. Brunos Hundeleine hängt nicht an der Garderobe und sein
Trinknapf ist leer und trocken. Wo ist mein Hund? Hat Steffen ihn
mit zu Christian genommen? Ich setze mich an den Esstisch und denke
traurig daran, wie oft dort lange und lustig im Kreise der kleinen
Dreierfamilie gespeist wurde. An diesem Tisch machte Frederik
früher seine Hausaufgaben. Hier lernten die Enkel Loris und Jasper,
mit dem Löffel zu essen. An diesem Platz malten sie ihre ersten
Bilder. Ich streiche zärtlich über die massive Tischplatte und
fange an zu flennen. Dieses Haus steckt voller Erinnerungen.
Schöner Erinnerungen! Aber die Geschehnisse der letzten Zeit machen
es mir unmöglich, hier weiter zu wohnen. Ich sauge Staub, putze die
Bäder und poliere die Arbeitsplatte der Küche blank. Danach lege
ich einen Zettel auf den Küchentresen.
Am Samstag finden hier von 10.00 bis 13.00
Uhr Besichtigungen statt. Ich habe alles geputzt.
Mit einer gepackten Tasche verlasse ich mein
altes Zuhause. Mein Weg führt über die Elbbrücken in Richtung City
und ich bin gespannt auf das Treffen mit Norbert Kaltenbach. Er hat
sich schon einen Kaffee und ein Wasser bestellt und ich entscheide
mich für das gleiche Gedeck. Kaltenbach beginnt mit einer
Entschuldigung.
»Wenn ich geahnt hätte, wie
sehr Sie auf diese Nachricht reagieren, hätte ich Ihnen das
im Flieger nie so gesagt. Sie waren wirklich
ahnungslos?«
»Komplett ahnungslos! Herr
Kaltenbach, bitte sagen Sie mir, wie lange geht das Verhältnis
schon.«
»Haben Sie denn noch nicht mit
ihrem Mann gesprochen?«
»Ich bevorzuge es, in Freiheit
zu altern. Ein Zusammentreffen mit ihm, hätte für ihn und für mich
schwerwiegende Folgen.« Kaltenbach lacht und fragt, ob wir nicht
mit dem albernen Sie aufhören wollen.
»Warum nicht, schließlich waren
wir jahrelang Nachbarn.« Norbert erzählt davon, dass seine
Frau Elke schon lange mit ihrem Leben und ihrer Ehe unzufrieden
war. Vor Steffen hatte sie schon zahlreiche Affären. Aber wegen der
Kinder rauften sie sich immer wieder zusammen. Nachdem sie mit
meinem Mann in flagranti erwischt wurde, wollte auch Elke die
Scheidung. Das war im Oktober letzten Jahres.
»Sie will sich wegen Steffen
von dir scheiden lassen?«
»Nein, bestimmt nicht.
Irgendwann muss man sich einfach eingestehen, dass da nichts mehr
ist, was zu kitten ist. Steffen war doch nur der Tropfen, der das
Fass zum überlaufen brachte. Mittlerweile soll sie schon wieder
einen neuen Lover haben.« Diese graue Maus, soll ein Vamp mit
zahlreichen Affären sein? Das kann ich kaum
glauben.
»Es ist doch verwunderlich,
dass die Ehen heutzutage nicht mehr lange halten. In meinem
Bekanntenkreis sind alle Paare geschieden. Bei den meisten
Trennungen ist ein neuer Partner der Anlass. Vorwiegend sind es die
Männer, die eine Neue haben.«
»Ja, genau wie bei
uns.«
»Du denkst ernsthaft über
Scheidung nach?«
»Na, du doch
auch!«
»Bei uns liegt der Fall doch
ganz anders. Ich habe Elke allein nicht genügt. Den ersten und
zweiten Seitensprung konnte ich ihr noch verzeihen. Aber es hörte
nicht auf. Ich musste hier die Notbremse ziehen, das war ich mir
selber schuldig. Und mit Steffen war das Maß eben
voll.«
»Meine Toleranzgrenze liegt
deutlich tiefer. Ich bin nicht bereit, Steffen zu verzeihen.« Ich
bin fest entschlossen.
»Glaubst du tatsächlich daran,
dass man sich ein Leben lang treu sein kann? Meinst du, dass sich
die Paare der Generation unserer Eltern und Großeltern nie betrogen
haben?« Doch, das haben sie sich auch. Ellen trennte sich deshalb
von meinem Vater. Mit dem treuen Peter Habicht führte sie dann
viele Jahre eine glückliche Ehe. Hanna hält durch, obwohl Karl
hinter jedem Rock her war. Und wo steht sie nun? Sie lebt an der
Seite eines lieblosen Stinkstiefels, der ihr jeden Tag auf den
Geist geht.
»Es gibt eben kein
Patentrezept.« Norbert Kaltenbach übernimmt die
Rechnung.
»Ich habe Jahre lang neben
einer so netten Frau gewohnt. Eigentlich schade, dass wir uns jetzt
erst kennen lernen.« Das Gespräch mit Norbert bekommt mir richtig
gut. Es wird doch irgendwo noch einen Peter Habicht für mich geben.
Mit vierundvierzig fühle ich mich noch jung genug, um nach ihm zu
suchen.
Sophie hat Tee gekocht.
»Ich bin beeindruckt.« lobe ich
meine Schwester, nachdem ich mich vergewissert habe, dass wirklich
nur Zucker enthalten ist. Ich erzähle von meiner Begegnung mit
Norbert.
»Seit Lars und du euch immer
treu gewesen?«
»Nein.« Es ist ihr unangenehm,
darüber zu sprechen. Aber ich lasse nicht locker.
»Das liegt schon lange zurück.
Nach den ersten zehn Jahren, als wir uns immer noch ein Kind
wünschten und es nie klappen wollte, schlidderten wir in eine große
Ehekrise. In dieser Phase, waren wir beide nicht treu und dachten
ernsthaft darüber nach, uns zu trennen. Erst als wir uns damit
abgefunden hatten, niemals eigene Kinder zu haben, hörte das
auf.«
»Davon habe ich nie etwas
mitbekommen.«
»Das war auch unsere
Privatsache und ging niemanden etwas an.«
»Dann waren Mama und Peter das
einzige Paar, das sich immer treu war.«
»Peter und treu? Das ich nicht
lache. Der hat doch alle Frauen im Golfclub
angegraben.«
»Aber Mama hat doch
gesagt...« Sophie unterbricht mich.
»Mama hat immer nur das
gesehen, was sie sehen wollte. Wach endlich auf Marie! Das was dir
passiert ist, ist nicht schön, bestimmt nicht. Aber es ist auch
nicht der Weltuntergang. Wenn Steffen nach sechsundzwanzig Jahren
das erste Mal fremd gegangen ist, dann bist du doch noch gut dran.
Was würde ich darum geben, nur noch ein wenig mehr Zeit mit Lars
verbringen zu können. Ich habe es aber nicht in der Hand. Du schon!
Entweder, du entscheidest dich dafür, deine Ehe fortzuführen oder
du handelst wie ein beleidigter Teenager und machst Schluss!« Das
war mal ein Einlauf, denke ich.
Es ist Freitag und
statt wie gewöhnlich um sieben aufzustehen, stehe ich schon um
sechs Uhr auf. Ich durchforste meinen Kleiderschrank und mache mir
Gedanken über die passende Garderobe. Ich verteile viel zu viel
Festiger in die nassen Haare und mühe mich vergeblich mit dem Stroh
auf meinem Kopf ab. An diesem Tag will ich besonders nett aussehen.
Aber das ist gründlich misslungen.
»Warum bist du so aufgeregt.
Das kenne ich gar nicht von dir. Ich denke, es kommt eine Frau vom
TV Shopping Sender. Für die brauchst du dich doch nicht so
aufzuschmücken.«
»Schwesterchen, du hast null
Ahnung. Gerade weil eine Frau meine Gesprächs- und
Verhandlungspartnerin sein wird, ist oberste Perfektion geboten.
Ein Mann sieht nur, oh die hat ja schöne rote Lippen. Eine Frau
denkt, was hat die denn für einen grellen Lippenstift genommen. Der
passt ja gar nicht zur Bluse. So läuft das unter Frauen.«
Damit kenne ich mich aus.
Maike verteilt die aktuellen
Musterkollektionen auf die kubischen Säulen. Frau Schäfermann,
Mitte dreißig, sportlicher Typ stellt sich freundlich am Empfang
vor.
»Schön, das sie da sind, ich
sage Frau Simon sofort Bescheid.« Nach der Vorstellung der
einzelnen Pflegeserien, kommt sie gleich zur
Sache.
»Ich würde gern mit der
Kirschölserie beginnen. Ich denke, dass wir mit dem Gelee, der
Butter, der Balm und einem Duschprodukt starten sollten. Ich bin
sehr zuversichtlich, dass Ihre Serien den Geschmack unserer
Zuschauer treffen werden. Sie sind eine so aufgeschlossene und
sympathische Person. Es wird Ihnen im Nu gelingen, das Herz unserer
Zuschauer zu erobern.«
»Wie bitte? Was hab ich denn
mit den Zuschauern zu tun?«
»Na, Sie präsentieren die
Pflege zusammen mit unserem Moderator.«
»Ich soll ins Fernsehen? Vor
die Kamera?«
»Ja, na sicher. Sie
repräsentieren genau die Zielgruppe, die wir ansprechen. Frau
mittleren Alters. Ehefrau, Mutter und sogar schon Großmutter, wie
ich sehe.« Frau Schäfermann blickt auf die Fotos auf dem
Schreibtisch. Bin ich dann die WAHNSINNIGE oder die blau
angelaufene Gerda, frage ich mich.
»Sie sehen doch ganz passabel
aus und als Entwicklerin bringen Sie das nötige Knowhow mit, um den
fachlichen Part während der Show zu übernehmen. Einen besseren
Experten kann ich mir nicht vorstellen. Lassen Sie mich mal
schauen, wann wir Sie zum nächsten Casting einladen
können.«
»Ich soll zum
Casting?«
»Das ist reine Formsache. Sie
machen das schon.« Frau Schäfermann hinterlässt noch eine dicke
Mappe mit Informationen zur Vertragsgestaltung und zu den Zahlungs-
und Lieferbedingen. Sie verspricht gleich Anfang der neuen Woche
anzurufen und entschwindet in Richtung Bahnhof. Ich bin nicht in
der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Das ist wohl ein Witz
oder sollte es tatsächlich ein ernstgemeintes Angebot sein?
Aufgeregt greife ich zum Telefon. Ich will meiner Schwester
unbedingt sofort davon erzählen. Aber sie meldet sich nicht. Weder
zu Hause in der Villa noch auf dem Handy. Ich laufe Gefahr, zu
platzen, wenn sie nicht auf der Stelle mit jemanden darüber
sprechen kann. Meine Entscheidung fällt auf Sarah. Laut brülle ich
durchs Telefon.
»Ich werde jetzt ein
Fernsehstar im Shopping Kanal!« In aller Ausführlichkeit berichte
ich ihr und sie verspricht, mir bei der Vorbereitung auf das
Casting zu helfen.
»In diesem prima Zustand ist ihre
Kaufpreisforderungen für Ihr Haus viel zu niedrig angesetzt.« Der
Immobilienmakler meint, wir sollten ruhig zehn Prozent
drauflegen.
»Versuchen wir es.« Noch einmal
ordne ich die Kissen und Decken der Betten. Als die Interessenten
eintreffen, gehe ich in den Garten. Ich mag nicht dabei zusehen,
wie wildfremde Leute in meine Schänke schauen und alles anfassen.
Nach einer halben Stunde kommt ein junges Pärchen zu mir auf die
Terrasse und stellt sich vor.
»Wir sind Mike und Sandra
Einhaus. Frau Simon, wie schnell könnten wir Ihr Haus
beziehen?«
»Ich denke, dass ich in sechs
Wochen räumen könnte.« Das verliebte Paar ist aus beruflichen
Gründen nach Hamburg gezogen und wohnt schon wochenlang im
Hotel.
»Wenn es Ihnen möglich wäre,
noch vor dem nächsten Ersten zu übergeben, würden wir noch
zehntausend Euro drauflegen.«
»Das ist ja schon in zwei
Wochen!« Das muss ich erst mit Steffen besprechen. Ich verspreche,
die Einhaus so schnell wie möglich zu informieren. Ich hole tief
Luft und wähle Steffens Mobilnummer.
»Kannst du ins Haus kommen? Wir
müssen etwas Dringendes besprechen.« Er verspricht, gleich los zu
fahren. Der Makler verabschiedet sich in bester Laune. So schnell
hat er selten eine Provision verdient. Ich schreite durch das Haus
und überlege, welche Stücke ich unbedingt behalten will. Meine Wahl
fällt auf die Kommode, den Esstisch und den Sekretär. Ich klebe
kleine gelbe Zettel mit meinem Namen an die Möbel, als Steffen die
Haustür öffnet.
»Wo ist
Bruno?«
»Ich habe ihn zu Hanna und Karl
gebracht.« Er sieht schlecht aus und spricht mit leiser Stimme.
Seinen flehenden Blicken weiche ich aus.
»Ich habe einen Käufer für das
Haus. Er ist bereit, einen guten Preis zu zahlen. Weil ich keinen
Rosenkrieg mit dir will, habe ich entschieden, den Erlös mit dir zu
teilen. Ich brauche das Geld für mein Geschäft. Was du mit deinem
Anteil machen willst, ist mir egal. Voraussetzung ist allerdings,
dass wir binnen einer Woche räumen. Also überlege, welche Sachen du
haben willst. Bis auf die drei Möbel hast du freie Auswahl. Der
Rest kann von mir aus auf den Sperrmüll.«
»Marie, tu das nicht.« Steffen
stellt sich dicht hinter mich. »Verzeih mir bitte«, bettelt er,
aber ich bleibe standhaft.
»Hilfst du mir dabei, das Haus
leer zu räumen oder soll ich eine Firma
beauftragen?«
»Marie, bitte überlege es dir
doch noch einmal.« So langsam verliere ich die Fassung und werde
lauter.
»Steffen, was denkst du dir? Du
kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich in diesem Haus wohnen
bleibe. Auch wenn du alle Fenster der linken Hausseite zumauern
würdest, könnte es nichts daran ändern. Ich weiß nicht, ob ich dir
je verzeihen kann. Nur eines steht fest. Hier kann ich es nicht.«
Er sollte begriffen haben, dass er mich in diesem Moment nicht
umstimmen kann. Er verspricht, sich um alles zu kümmern. Ich nehme
das Telefon zur Hand und rufe den jungen Herrn Einhaus
an.
»Sie können den Makler
informieren, dass er einen Notar Termin vereinbaren kann. Von
unserer Seite klappt es mit dem Auszug. Ja, freut mich
auch.«
Der Termin zum Casting
wurde von mir bereits zweimal verschoben. Ein drittes Mal traue ich
mich nicht, abzusagen. Sarah hat versprochen mich zu begleiten. Sie
reist aus München an und wir verabreden einen Treffpunkt in der
Mitte der Wartehalle des Hamburger Flughafens. Bis zum Abflug nach
Berlin dauert es noch mehr als eine Stunde. Die Wartezeit wollen
wir im Restaurant bei einer Tasse Tee verbringen. Ich habe ihr
vorab einige Produktinformationen zugeschickt, die von der
erfahrenen TV Moderatorin auf Karten übertragen
wurden.
»Warum trägst du diese Brille?
Willst du nicht erkannt werden?«
»Die habe ich schon ganz lange.
Ich fühle mich damit in der Öffentlichkeit gleich sicherer. Es
passiert ja doch hin und wieder, dass ich angesprochen
werde.«
»Hast du etwas zu schreiben
dabei?« Als Sarah aus ihrer Handtasche einen Kugelschreiber zückt,
fange ich an zu lachen.
»Dann schreib mal auf. Sofort
nach der Landung in Berlin eine neue Brille für dich kaufen! Das
Teil auf deiner Nase ist ja zum Fürchten. Die geht ja gar nicht.
Aus welchem Jahrtausend ist die denn? Ich hab noch nie eine so
hässliche Brille gesehen.« Wir lachen uns kaputt und quietschen so
laut, dass alle Reisenden an den Nebentischen zu uns rüber
sehen.
»Morgen steht in der
Bildzeitung, Sarah Riess wegen Geschmacksverirrung am Hamburger
Flughafen verhaftet. Setz das Ding endlich ab, sonst mach ich mir
gleich in die Hose vor Lachen.«
»Ohne Brille, bin ich blind wie
ein Maulwurf.« Sarah nimmt die Augengläser ab und ich führe die
blinde Moderatorin zum Gate. Der Flieger ist fast voll und es sind
keine zwei nebeneinander liegende Sitzplätze mehr frei. Frech beuge
ich mich über einen graumelierten Herrn im feinen Anzug und spreche
ihn im Flüsterton an.
»Reisen Sie allein, mein Herr?«
Er nickt entzückt und freut sich über den unerwarteten
Annäherungsversuch.
»Dann haben Sie bestimmt nichts
dagegen, wenn Sie den Platz vor uns nehmen. So kann ich während des
Fluges neben meiner Freundin sitzen. Sie sind ein Schatz. Vielen
Dank.« Ungern kommt er meiner Aufforderung nach. Wir Frauen kichern
noch, als der Flieger startet.
»Jetzt habe ich gar nichts zum
Kauen dabei. Ich brauche während des Fluges immer etwas für den
Druckausgleich. Hast du Kaugummi?« Ich sehe in meiner Handtasche
nach und kann eine Tüte Lakritz Schnecken anbieten. Als das Zeichen
zum Abschnallen erfolgt, beobachte ich, wie Sarah verzweifelt
versucht, eine lange, schwarze Schnur in den Mund zu
stecken.
»Halt! Das ist keine Lakritze,
die du da kaust. Das ist die Schnur vom Kopfhörer, du Blindfisch.«
Ich schreie vor Lachen das halbe Flugzeug zusammen. »Hauptsache, du
hast dir die Lakritze nicht ins Ohr gesteckt, damit hättest du
nämlich keinen guten Empfang.« Ich trommel laut kreischend gegen
meinen Vordersitz. Der grau melierte Herr, bedauert es erneut, mir
albernen Person seinen Platz überlassen zu haben.
Die Studios liegen außerhalb von Berlin. Wir
brauchen uns kein Taxi zu nehmen, denn wir werden vom Fahrdienst
des Senders persönlich abgeholt. Meine Aufregung nimmt mit jedem
Meter zu. Ich bin es zwar gewohnt, Reden vor einer Gruppe zu
halten, das habe ich auf Messen und Verbandstagungen schon häufig
gemacht. Die Vorstellung, es vor der Kamera zu tun, flößt mir
jedoch enormen Respekt ein.
»Denk nur daran, nicht so
schnell zu sprechen. Ihr Norddeutschen seid immer so fix. Du
brauchst nur auf das rote Lämpchen zu achten. Stell dir vor, die
Kamera wäre ein Gesicht. Ich werde versuchen, mich dahinter zu
stellen und dann siehst du nur in meine Richtung.«
»Wo wird denn eigentlich der
Koks ausgegeben?« Der junge albanische Fahrer versteht die Frage
nicht und kann deshalb auch nicht über den Witz lachen. Sarah und
ich schon.
»Auf dem Bildschirm sieht man
immer fünf Kilo dicker aus, als man in Wirklichkeit
ist.«.
»Jetzt kommst du mir mit deinen
Weisheiten. Warum hast du mir das nicht früher gesagt, dann hätte
ich doch eine Diät machen können.« Kritisch prüfe ich meinen
kleinen Bauchansatz.
»Nicht nötig. Lass dir doch
etwas aus der Fett-Weg-Unterwäsche Kollektion
geben.«
»Bloß nicht. Ich hab doch jetzt
schon Atemprobleme.« Es ist nicht zu übersehen. Ich habe die Hosen
voll.
»Hier geht es zur Maske. Wir treffen uns in
einer halben Stunde in Studio eins. Bitte kommen Sie ganz leise
herein und sprechen Sie nicht. Hier wird pausenlos live gedreht.
Frau Schäfermann kommt auch gleich zu Ihnen«, sagt der hektische
Aufnahmeleiter und überlässt mich meinem
Schicksal.
»Casting?«, lautet die
einsilbige Frage von Christa. Die kleine Maskenbildnerin wartet auf
eine Antwort. Ich nicke schüchtern.
»Haushalt oder
Beauty?«
»Beauty«, antworte ich brav und
frage, worin der Unterschied besteht.
»Na, Sie sind ja gut.
Dazwischen liegen ungefähr drei Kilo mehr Schminke.« Nach einer
viertel Stunde erkenne ich mich nicht wieder. Mein Gesicht gleicht
einer Puppe aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Nun ist mir
klar, warum es Maske heißt. Ich versuche erfolglos Grimassen vor
dem Spiegel zu schneiden. Als Christa die falschen Wimpern in die
Hand nimmt, will ich eingreifen, aber Christa ist stärker. Ich
wünschte mir, ich hätte »Haushalt« gewählt, aber nun ist es dafür
zu spät. Frau Schäfermann begrüßt ihren neuen Shooting Star. Und
meint mich!
»Wir haben ein kleines Problem.
Es ist gerade kein Beauty Moderator da. Wir müssen ein wenig
improvisieren. Ich hoffe, dass Volker kommt. Volker macht
eigentlich Werkzeug. Aber heute ist ja nur ein Test.« Ich lasse
mich von der vorherrschenden Hektik anstecken. Mein Puls rast auf
hundertachtzig und schlägt mir bis in den Hals.
»Sie brauchen nicht aufgeregt
zu sein. Sie antworten nur auf die Fragen des Moderators und
schauen dabei freundlich in die Kameras. Kamera eins nimmt nur Sie
auf. Kamera zwei zeigt Sie und Volker am Tisch. Wenn Sie also
sehen, dass die rote Lampe leuchtet, dann schauen Sie immer nur
dort direkt hinein. Der junge Mann mit der Handkamera ist für die
Nahaufnahmen zu ständig. Wenn Sie Ihr Produkt in die Hand nehmen,
um es dem Zuschauer zu zeigen, dann kommt Kevin mit seiner Kamera.
Immer schon die Hände ruhig halten! Zittrige Hände mag Kevin gar
nicht. Nie hektischen Bewegungen machen, Frau Simon! Das kommt gar
nicht gut. Sprechen Sie ganz natürlich! So als würden Sie mit ihrer
Freundin reden. Alles klar? Auf diesem Kontrollmonitor können Sie
genau sehen, welche Bildeinstellung als nächstes vorgesehen ist.
Aber schauen Sie möglichst nicht zu oft nach unten, dass macht
keinen guten Eindruck. Also los jetzt! Auf drei.« Der Werkzeug
Volker trägt unter seiner Latzhose ein buntes Hemd mit großen
rot-weißen Karos. Er erinnert mich an Bob den Baumeister, von dem
meine Enkel einige Lesebücher haben. Dem fehlt ja nur noch der
gelbe Helm, denke ich und muss bei »drei« erst einmal laut
loslachen. Der strenge Aufnahmeleiter tadelt mich.
»Das darf Ihnen in der Live
Show aber nicht passieren. Nochmal auf drei!«
»Ja meine lieben Zuschauer. Da
sind wir endlich wieder. Mit einer tollen Überraschung. Die Damen,
die uns regelmäßig zuschauen wissen es ja schon. Heute feiern wir
die Premiere der neuen Kosmetikserie Küss mich Kirsche. Unsere
Expertin ist die Entwicklerin dieser tollen Pflegeserie, Frau Marie
Simon. Hallo Marie«, sagt Bob der Baumeister, »ich freue mich, dass
Sie da sind. Was haben Sie uns denn tolles
mitgebracht?«
»Danke für den netten Empfang,
Volker. Heute möchte ich die erste Körperpflegeserie vorstellen,
die mit einem ganz besonderen Fruchtsamenöl formuliert wird.
Nämlich mit einem kaltgepresstem Kirschkernöl.«
»Das habe ich ja noch nie
gehört. Ein Öl aus Kirschkernen? Was ist denn das besondere an
diesem Öl und wie wird es hergestellt.« Der Knoten ist geplatzt.
Von nun an kann ich hemmungslos meine Kenntnisse in die Kameras
sprechen.
»Volker«, sage ich in seine
Richtung, »Sie kennen das doch bestimmt auch. Das Problem trockener
Haut ist ja kein ausschließliches Frauenproblem.« Danach wechsel
ich den Blick in Kamera eins und spreche direkt zu den Zuschauern.
»Sie duschen am Morgen und mittags spannt Ihre Haut schon wieder.
Mit diesem Body Gelee bleibt die Haut bis zum Abend genährt. Das
Tolle daran ist…«
»Stopp!«, ruft der
Aufnahmeleiter, »das reicht.« Sarah zeigt mit beiden Händen Daumen
hoch.
»Sie sind ja ein Naturtalent«.
Kevin ist zufrieden. Meine Hände zitterten nicht. Auch der
hektische Aufnahmeleiter meint, dass ich richtig gut war. Einen
zweiten Durchgang wollen wir uns sparen. Kevin tuschelt mit den
Kollegen von der Technik und kommt kurz darauf auf uns Frauen
zu.
»Sind Sie Frau Riess, Frau
Sarah Riess?« Sarah hatte sich bis dahin bewusst im Hintergrund
gehalten. Sie genießt es jedoch merklich, erkannt worden zu sein.
Auch der Aufnahmeleiter empfängt die Nachricht zwischenzeitlich
über sein Headset und gesellt sich zu unserer Gruppe. Während Frau
Schäfermann mich zur Sichtung der Bänder in den Regieraum
begleitet, essen Sarah und der Aufnahmeleiter zu Mittag. Nun ist es
amtlich. Ich habe das Casting mit Bravour bestanden und erhalte
einen Vertrag, der bereits von der Geschäftsführung unterzeichnet
ist. Frau Schäfermann öffnet eine Flasche Sekt.
»Lassen Sie uns auf eine
erfolgreiche Zusammenarbeit anstoßen.« Ich setze meine Unterschrift
unter die Vereinbarung und proste ihr erleichtert zu. Ein zweites
Glas Sekt lehne ich ab. Ich will den Geschäftsabschluss lieber
ausgiebig mit Sarah im Berliner Nachtleben feiern. Sarah ist noch
ganz aus dem Häuschen.
»Du warst sensationell. Stell
dir vor, die haben mir ein Angebot gemacht. Ich soll mir überlegen,
ob ich nicht die Beauty Moderation übernehmen
will.«
»Das ist ja der Hammer!« Sarah
verspricht, sich das Ganze einmal durch den Kopf gehen zu lassen.
Ein festes monatliches Einkommen ist ja nicht zu
verachten.
Noch immer trage ich das starke TV Make-up
im Gesicht. Ich versuche bereits zum zweiten Mal, mich von
Camouflage, Puder und Rouge zu befreien, als es an ihrer
Hotelzimmertür klopft. Sarah war zum Telefonieren mit ihrer
Liebsten auf den Flur gegangen. Nun steht sie wieder vor mir und
sagt: »Anke meint, ich sollte zusagen.«
»Dann höre auf das, was sie
sagt. Stell dir doch mal vor, wir beide zusammen. Wir werden ein
unschlagbares Team sein. Das wird der WAHNSINN.« Ich bin in
unvorstellbarer Hochstimmung.
»Hast du deinen Mann auch schon
angerufen?«
»Nein!« Es ist zu spüren, dass
diese Frage das vorläufige Ende meiner Euphorie bedeutet. Ganz
private oder gar intime Gespräche fanden zwischen uns beiden bisher
nie statt. Ich überlege deshalb genau, ob ich Sarah von meinen
Problemen mit Steffen erzählen soll. Ich entscheide mich, kein
Geheimnis daraus zu machen und berichte ihr in allen Einzelheiten.
Für einen Zug durch die Berliner Kneipen ist es mittlerweile zu
spät. Wir beschließen, den Rest des Abends gemütlich auf dem
Doppelbett kauernd zu verbringen, die Minibar zu leeren und zu
quatschen, was das Zeug hält. Sarah spricht das erste Mal offen
über das Scheitern ihrer Ehe. Es war nicht so, dass sie den Vater
ihres einzigen Sohnes nicht liebte. Sie liebte ihn als Freund,
Kumpel und Weggefährten. Aber leidenschaftliche Gefühle konnte sie
zu diesem Mann nicht aufbringen. Zu keinem Mann. Deshalb
entschieden die beiden, sich in aller gebotenen Ehrlichkeit und
Freundschaft zu trennen.
»Empfindest du denn noch Lust
auf deinen Steffen?«
»Schon.« Die Erfahrung mit
Thomas hat mir deutlich vor Augen geführt, dass ich bei Steffen in
besseren Händen war. Steffen wusste immer genau, welche Knöpfe er
bei mir drücken musste, um mich schwach zu machen. Allerdings
machte er im Laufe der letzten Jahre zunehmend weniger Gebrauch
davon. Früher liebte ich es, wenn er die Richtung und das Tempo
vorgab. In Alltagsfragen hatte ich den Hut auf. Beim Sex bestimmte
er.
»Er hat mich so verletzt. Ich
weiß nicht, ob ich ihm verzeihen kann.«
»Die Zeit wird es
zeigen.«
Am übernächsten Morgen läuft der Fernseher.
Ich habe den QHS Kanal angeschaltet, sitze im Schneidersitz vor der
Glotze und löffel eine Pampelmuse. Gebannt lausche ich der
Vorführung einer Haarpflege Serie. Der schmierige WAHNSINNIGE ist
wohl in der Entzugsklinik, vermute ich. Statt seiner führt eine
nette Frau durch die Sendung. Aber ihr ständiges Kichern, geht mir
schon nach fünf Minuten auf den Geist und ich stelle den Ton
leiser. Frederik fährt vor und hat für einen frisch Getrennten
erstaunlich gute Laune. Er überrascht mich und seine Tante mit
neuen Nachrichten. Er soll befördert werden.
»Mehr Verantwortung sprich mehr
Gehalt.« Er verschweigt zunächst den Haken an der Sache, muss
aber meinem Blick entnehmen, dass er mich nicht länger auf die
Folter spannen darf.
»Ich werde vom nächsten Ersten
an in Düsseldorf arbeiten. Klar, die Kinder kann ich dann nur an
den Wochenenden sehen. Da ich aber ab sofort unterhaltsverpflichtet
bin, bleibt mir nur dieser Weg.«
»Wollt ihr es nicht noch einmal
zusammen probieren?«
»Mama, das ist eine ganz klare
Sache für mich. Ich weiß, dass sie mich betrogen hat und daher
ziehe ich nur meine Konsequenzen.« Natürlich macht es mich traurig,
dass die Ehe der kleinen Juniors nun bald Geschichte sein soll.
Aber ich kann meinen Sohn auch gut verstehen. Schließlich habe ich
ihn mit genau diesen Moralvorstellungen erzogen.
»Düsseldorf ist nicht aus der
Welt. Am Wochenende bin ich immer hier in Hamburg. Nicht traurig
sein.« Frederik nimmt mich fest in den Arm.
Seit zwei Tagen drücke ich die Anrufe des
Mistkerls nicht mehr weg. Schließlich hält er mich über den
Fortschritt der Ausräumarbeiten auf dem Laufenden.
»Besenrein reicht doch? Ich
habe noch zwei Umzugskartons mit ganz persönlichen Sachen von uns
zusammen gepackt. Die wollte ich der Spedition nicht übergeben. Da
sind unsere Fotoalben, Papiere und andere wichtige Unterlagen drin.
Entscheide du, ob du sie mitnehmen willst oder ich sie bei Hanna
und Karl unterstellen soll.«
»Wir können uns vor dem Notar
Termin noch einmal im Haus treffen. Dann sehe ich es mir an.« Ich
mache mich auf den allerletzten Weg in die Eichenallee 17. Im
Vorgarten blühen Krokusse und weiße Schneeglöckchen. Ich denke
daran, wie ich die Blumenzwiebeln gemeinsam mit den Enkeln im
letzten Herbst in die Erde gesetzt habe. Genau in dieser Zeit lief
das Verhältnis zur männertollen Elke an. Die gelbe Blüte der
Narzissen werden die jungen Einhaus genießen können. Ich hole tief
Luft und gehe durch den Vorgarten zum Haus. Steffen öffnet mir
wortlos die Tür. Traurig streifen wir durch die leeren Räume. Es
ist nichts mehr da, was an die zurückliegende Zeit erinnert. Die
beiden Kartons enthalten die gesammelten 26 Jahre unseres
gemeinsamen Lebens.
»Ich nehme die Sachen mit.«
Unglücklich verschließt er die Tür und sagt: »Hier hat die Liebe
gewohnt.«
Nach der Beurkundung schlage ich vor, einen
Spaziergang zu machen. »Wir müssen über Bruno sprechen. Es ist kein
Zustand, dass der arme Hund unter unserer Trennung leiden muss.
Außerdem vermisse ich ihn so sehr.« Zusammen fahren wir zu Hanna
und Karl. Der Schnuffelhund hat sich unter Karls übertriebener
Fürsorge zu einer dicken Fleischwurst entwickelt. Das
übergewichtige Tier stürmt auf mich zu und heult in höchster
Tonlage vor Freude.
»Er sieht ja aus wie ein
Mastschwein!«.
»Karl füttert den Hund ständig
am Tisch«, petzt Hanna.
»Das ist reiner Kummerspeck,
der geht wieder weg. Seid ihr endlich wieder bei Sinnen? Wenn
nicht, bleibt der Hund hier. Hanna und ich geben ihn erst wieder
her, wenn bei euch wieder Vernunft eingekehrt ist«, poltert
Karl.
»Halte dich daraus!«, sagt
Hanna.
»Du willst mir doch wohl nicht
den Mund verbieten!«
»Der Ton macht die Musik, mein
Lieber!«
»Wenn dir mein Ton nicht passt,
kannst du ja gehen. Das ist ja bei den Frauen in unserer Familie
momentan so Gang und Gebe!« Steffen nimmt die Hundeleine und
schüttelt den Kopf über seine laut streitenden
Eltern.
»Komm, bloß schnell raus hier.«
Er lässt den Hund auf den Rücksitz springen.
»Wald oder Heide?« Mir ist es
egal, nur schnell weg.
»Wirst du das Geld nutzen, um
bei Kurt und Christian einzusteigen?«
»Sie hätten mich auch ohne
Beteiligung genommen. Wir eröffnen in vier Wochen. Würdest du
kommen?« Ich bleibe die Antwort schuldig. Steffen entscheidet sich
für eine Fahrt in den Wald. Wir laufen fast zwei Stunden über
schmale Wanderwege, ohne ein Wort zu wechseln. Auf der Rückfahrt
stellt er das Radio aus.
»Ist dir auch schon einmal
aufgefallen, dass immer traurige Musik läuft, wenn einem das Herz
schmerzt.« Ich schweige weiter. »Rede doch endlich mit mir! Frag
mich, beschimpf mich, aber bitte höre auf, mich anzuschweigen.
Liebst du mich noch?«
»Du weißt nicht, was du uns
angetan hast. Ob ich dich noch liebe? Wenn du damit meinst, ob ich
an dich denke, ob ich mich um dich sorge, mich danach sehne, von
dir berührt zu werden. Dann ist es so. Wenn du aber wissen willst,
ob ich dir je wieder glauben kann oder dir bedingungslos vertrauen
kann, dann lautet die Antwort: Nein. Also sag du mir, was zu einer
Liebe gehört.«
»Drei von fünf Punkten sind
doch keine schlechte Ausgangsposition. Es gibt Paare, die müssen
sich mit weniger zufrieden geben.«
»Damit wärst du
zufrieden?«
»Ich bekomme seit Wochen keinen
klaren Gedanken mehr zusammen. Ich denke nur noch an dich. Ich will
dir zeigen, dass wir zusammen gehören. Ich werde dich nie gehen
lassen, Marie. Ich will nicht ohne dich leben.« Ich! Ich! Ich!
Nicht ein einziges Mal hat er gefragt, was ich will. Aber das soll
er bald erfahren.
Gemeinsam bringen wir den hechelnden Hund
zurück in die Mastanstalt. Bei Simon Senior herrscht gedrückte
Stimmung. Karl sitzt in seinem Sessel und liest die Bildzeitung.
Angesichts der fortgeschrittenen Zeit, ist es wahrscheinlich, dass
er die Lektüre bereits zum wiederholten Mal studiert. Hanna sitzt
vor ihrem Computer und informiert sich bei Facebook darüber, wie
sich ihr Enkel in Düsseldorf einlebt. Die beiden sprechen kein Wort
miteinander. Ich betrachte das Paar, das nun mehr als fünfzig Jahre
verheiratet ist und mir wird schlagartig klar, dass mein Leben im
Alter völlig anders aussehen muss. Wenn ich jetzt voreilig wieder
mit Steffen zusammen gehe, wird es aber genau darauf
hinauslaufen.
»Einen Kaffee hätten sie uns ja
anbieten können.«
»Ich bin froh, dass ich diese
schlechte Stimmung nicht länger ertragen muss. Wenn du willst,
fahren wir gemeinsam in die Firma und ich koche uns dort einen
Kaffee.« Wo sonst hätte ich einen Kaffee für Steffen kochen können?
Die Schlüssel für das Haus in der Eichenallee liegen beim Notar. In
Sophies Villa will ich ihn nicht einladen. Ich bin mir sicher, wenn
er dort erst seinen Fuß einstellt, werde ich ihn nicht mehr los
werden.
Maike hat schon Feierabend gemacht. Wir
beide sind allein. Ich zähle fünf gehäufte Löffel Kaffeepulver in
den Filter der Maschine, als ich seinen heißen Atem in meinem
Nacken spüre. »Komm her«, haucht er und drückt sich fest an meinen
Körper. »Komm doch zu mir!« Seine Hände greifen nach meinen Brüsten
und umfassen sie fest. Lustvoll küsst er meinen Hals. Ich drehe
mich um und beginne, langsam die Knöpfe meiner Bluse zu öffnen. Das
ist das Zeichen auf das er so lange gewartet hat. Wir lieben uns
auf dem Boden vor dem Küchentresen. Steffen liebkost mich genau an
den Stellen, wo ich es gern habe. Unser Stöhnen und Keuchen ist bis
auf die Straße zu hören. Völlig erschöpft und befriedigt liegen wir
neben einander.
»Wie gut es tut, einmal richtig
Dampf abzulassen«, sage ich zu ihm. Verschwitzt erhebe ich mich, um
zwei Becher Kaffee einzuschenken. Steffen schaut mich ungläubig
an.
»Drei von fünf Punkten. Ich
denke, damit kann ich leben. Allerdings nicht mehr mit dir zusammen
unter einem Dach.«
Sophie steht am Küchenfenster und wartet
darauf, dass der Kaffee fertig wird, als sie mich mit Bruno auf die
Villa zukommen sieht. Ich kaufe fast jeden Morgen frische Brötchen
und der Hund bekommt seinen ersten Spaziergang. Die Ära Kaffee im
Stehen und Pippi im Garten gehört der Vergangenheit
an.
»Es ist wunderbares Wetter
draußen. Es ist schon fast sommerlich.« Entsprechend gut ist meine
Laune.
»Fahren wir zusammen in die
Firma?«
»Heute nicht. Steffen feiert
Eröffnung. Ich werde kurz am Gesundheitshaus vorbei fahren und
einen Diener machen.« Frisch geduscht und nach Marzipan mit
Kirschblüte duftend, durchforste ich den Kleiderschrank. Meine Wahl
fällt auf ein hellblaues Polo Kleid und flache Ballerina Schuhe. Im
Esszimmer verpacke ich eine Flasche Eau de Toilette zu einem
Geschenk. Extra für Bärbel habe ich einen neuen Duft mit
natürlichen Essenzen von Orange, Mandarine und Grapefruit kreiert
und hoffe, dass sie ihn auch benutzen wird.
Der Platz vor der Praxis ist bereits mit
zahlreichen Autos zugeparkt. Ich stelle meinen Wagen in der
Nebenstraße ab und nehme den Strauß Blumen, den ich zuvor auf dem
Markt gekauft habe, vom Rücksitz. Von den rund fünfzig Gästen, die
sich in kleinen und größeren Gruppen um die Stehtische drängen,
kenne ich nicht einen Menschen. Ich suche nach einem bekannten
Gesicht in der Menge und freue mich, bei Kurt endlich fündig zu
werden.
»Marie, wie schön. Da wird
Steffen sich aber freuen.« Er gibt mir zur Begrüßung einen Kuss auf
die linke Wange.
»Richtig schön ist es geworden.
Ich bin wirklich begeistert.«
»Steffen ist im Energieraum im
ersten Stock. Soll ich dich rauf bringen?«
»Nicht nötig. Ich werde ihn
schon finden.« Auf der Treppe kommt mir Bärbel entgegen und ich
übergebe ihr das kleine Mitbringsel mit einem
Augenzwinkern.
»Hm, das duftet ja wunderbar.
So frisch. Danke, das ist wirklich unheimlich nett von dir.« Sie
freut sich aufrichtig.
Als Steffen meine Stimme hört, kommt er aus
seinem Behandlungsraum und blickt mich freudestrahlend
an.
»Oh, mein Mädchen ist da.« Er
ist sichtlich erleichtert und küsst mich auf den Mund. Schwungvoll
nimmt er meine Hand und zieht mich aufgeregt in sein
Zimmer.
»Das ist mein neues Reich.« Ich
will wissen, warum das Behandlungszimmer Energieraum heißt. Steffen
zeigt auf eine breite Therapieliege.
»Das ist eine Energie Matratze
mit Magnetfeld-Resonanz-Stimulation und Mikrovibration.« Dabei
strahlt er wie unsere Enkel zu Weihnachten.
»Stimulation und Vibration? Das
könnte mir gefallen.« Ich lache und werfe mich schwungvoll auf das
Behandlungsbett, schlüpfe aus meinen Schuhen und drehe mich
aufreizend auf die Seite. Steffen kennt diesen Blick und versteht
meine Signale sofort.
»Ich vermisse dich, Marie. Wann
sehe ich dich wieder?«
»Am Freitag um zehn. Du
brauchst nur den QHS Kanal anzustellen.« Ich greife nach meiner
Handtasche und werfe Steffen zum Abschied einen flüchtigen Handkuss
zu.
Mit Küss mich
Kirsche lande ich einen Volltreffer.
Sarahs sympathische und professionelle Moderation trägt wesentlich
zum Erfolg der Verkaufssendung bei. Schon nach den ersten drei
Ausstrahlungen haben wir das gesamte Startsortiment am ersten Tag
verkauft. Der Sender ist begeistert und mir fällt ein Stein vom
Herzen. Sarah bemerkt, dass ich wie ausgewechselt
wirke.
»Seit dem du deine privaten
Probleme im Griff hast, strahlst du wieder
richtig.«
Steffen
zog kurz nach der Eröffnung des
Gesundheitshauses in ein 95 qm großes Appartement im noblen
Schickimicki Viertel mit Blick auf den Hamburger Hafen. Bärbel hat
ihm beim Einrichten geholfen.
»Das ist nicht zu übersehen.
Geschmack ist eben nicht erlernbar«, sage ich zu ihm. Ich frage
mich ständig, wie es angehen kann, dass jemand ein so gezieltes
Händchen für No-Gos hat. Ich kenne Bärbel nur in übergroßen
Lagenlook Kleidern. Geschmückt von unzähligen Holzperlenketten, die
über ihren flachen, ungestützten Busen wippen. Ihre fleischigen
Füße stecken auch im Winter in offenen Römer Sandalen. Bärbels
Haare gleichen einem Dämmmaterial aus dem Baumarkt. Ich bin mir
nicht sicher, ob Holz- oder Glaswolle. Schuld daran sind ihre
häufigen Hennatönungen. Bärbel liebt die Farbe Lila. Diese Liebe
ist auch in Steffens neuer Behausung nicht zu übersehen. Aber für
die kurzen Schäferstündchen kann ich leicht darüber hinweg sehen.
Ich habe ohnehin die meiste Zeit die Augen geschlossen. Seitdem ich
den Konzertbesuch absagen musste, den ich Steffen vor unserer
Trennung geschenkt habe, herrsch allerdings Funkstille zwischen
uns. Ich musste mich zwischen Sir Elton John in Düsseldorf und
Herrn Dr. Ulrich Lambert in Wismar entscheiden. Meine Wahl fiel auf
den Inhaber des Produktionsbetriebes. Regelmäßige Kontrollbesuche
bei Ulli, wie ich ihn nenne, gehören nun zu meinen
Aufgaben.
»Deine Vorsätze, weniger auf
Reisen zu gehen, hast du ja super umgesetzt!« Steffen brüllte so
laut durch das Telefon, dass ich befürchtete, einen Hörsturz
erlitten zu haben. Nun wird es aber Zeit, das Schweigen zu beenden.
Ich will endlich wissen, wie er seinen 50. Geburtstag feiern will.
Ich habe ihm schon mehrmals auf die Mailbox gesprochen, aber er
rief nicht zurück. Ich werde ins Gesundheitshaus fahren und ihn
direkt fragen.
Der Empfangsraum ist nicht besetzt. Ich
klopfe an die Tür des Behandlungszimmers eins im Erdgeschoss und
rufe leise durch den Spalt. »Hallo Bärbel?« Eine durchtrainierte
Mittzwanzigerin erscheint im Foyer. Sie trägt einen knappen,
bauchfreien Sportanzug, der ihre enorm großen Möpse bestens zur
Geltung bringt.
»Hallo, ich bin Judith. Yoga
für Anfänger?«
»Nein, ich möchte zu Herrn
Simon.« Judith beugt sich gelenkig wie eine Kunstturnerin über den
Tresen, um dann mit gestreckten Fingerspitzen an den Knopf der
Telefonanlage zu kommen.
»Steffen, Spatzi, dein nächster
Termin wartet hier unten. Darf ich dir die Dame raufschicken?« Ich
staune nicht schlecht über das herzliche Betriebsklima im
Gesundheitshaus.
»Sie dürfen schon raufgehen,
Frau Meissner. Ich wünsche Ihnen angenehme Entspannung.« Die hat
sich ja wohl das Hirn in die Titten verpflanzen lassen, denke ich.
Oder wie kommt sie dazu, mich als Frau Meissner
anzukündigen.
»Ich bin nicht Frau Meissner,
meine Liebe, ich bin Frau Spatzi!« Ich gehe in den ersten
Stock.
»Mahlzeit, mein Lieber. Danke,
dass du zurück gerufen hast.« Steffen sitzt an seinem Schreibtisch
und macht keine Anstalten aufzustehen, um mich zur Begrüßung zu
küssen. Er ist also noch immer beleidigt und fragt mich, ohne
seinen Kopf zu erheben: »Wie komme ich denn zu der Ehre?« Ich habe
überhaupt keine Lust auf diese Spielchen und komme gleich zur
Sache.
»Es geht um deinen Geburtstag.
Wie hast du dir das Fest vorgestellt. Hast du schon genaue
Vorstellungen?«
»Ich werde überrascht. Bärbel
und Judith haben etwas für mich geplant. Ich weiß nur so viel,
Treffen ist am Samstagabend um 19.00 Uhr hier vor der
Praxis.«
»Was hast du? Dein Ton ist so
merkwürdig?« Ich betrachte meinen Heilpraktiker Gatten in seinem
schneeweißen Outfit.
»Komme oder komme nicht. Nur
denke nicht, dass ich auf dich warte. Bitte entschuldige mich
jetzt, ich habe gleich eine Patientin.« Er steht auf und öffnet mir
die Tür. Ich sehe, wie die Busenfrau flink über den Flur huscht.
Hat sie gelauscht? Was ist hier los? Wie kommt Steffen dazu, mir so
eine Abfuhr zu erteilen? Am Empfangstresen steht die junge Yoga
Judith und blättert im Tischkalender.
»Ist Bärbel heute auch
da?«
»Da kommt sie gerade.« Ich gehe
ihr draußen auf der Zufahrt entgegen, ergreife ihren Arm und ziehe
sie zur Seite.
»Was geht hier mit eurer Yoga
Tussi ab? Läuft da was zwischen Steffen und ihr?« Bärbel versucht,
ihren Arm wieder zu befreien.
»Glaube ich nicht, aber ich
habe auch schon bemerkt, dass sie sehr vertraut miteinander
umgehen.« Ich empöre mich.
»Sie könnte seine Tochter sein!
Wieso planst du mit dieser Tittenfrau den Geburtstag meines
Mannes?«
»Marie, beruhige dich! Steffen
wollte gar nicht feiern. Deshalb haben wir überlegt, ihm ein Fest
auszurichten. Er kann sich doch unmöglich an seinem Fünfzigsten
allein in seiner Wohnung vergraben. Ich habe schon mit Frederik und
seinen Eltern gesprochen. Die kommen auch. Judith kennt den Wirt
vom Strandlokal am Elbwanderweg. Sie hat für dreißig Personen
reserviert. Das war ein Glück, denn so kurzfristig hätten wir
nichts anderes auf die Beine stellen können.«
»Wunderbar! Dann werde ich ja
nicht mehr gebraucht.«
»Na, aber du kommst
doch?«
»Ich glaube, meine Anwesenheit
ist gar nicht erwünscht.«
Zu Hause telefoniere ich mit Dr. Ulrich
Lambert. »So eiskalt hat mich noch niemand im Preis gedrückt. Die
dermatologischen Tests für die Gesichtslinie sind auch schon
abgeschlossen. Glückwunsch, sie zeigen hervorragende Ergebnisse.
Ich sende sie dir gleich per Mail zu. Wir haben heute eine
Abfüllung deiner Augencreme zur Probe laufen lassen. Ich denke,
hier müssen wir schnellstens an der Viskosität arbeiten. Wann
kannst du kommen? Dieses Problem müssen wir dringend angehen.« Ich
schaue auf meinen Terminkalender.
»Ich kann ab Freitagmittag.
Sagen wir so gegen 12.00 Uhr. Ich freue mich auch. Bis dann.« Ich
lege den Hörer auf und gehe in die Diele, wo ein wandhoher Spiegel
hängt und mustere mich von allen Seiten. Eindeutig zu dick und zu
weich, lautet mein niederschmetterndes Urteil. Mit dieser Yoga
Tante kann ich es auf keinen Fall aufnehmen. Frustriert setze ich
mich auf den Boden und mache einige Bauch Beine Po Übungen und
beschließe, künftig mehr auf mich achten. Bodenturnen ist nicht
meine Disziplin, stelle ich nach wenigen Minuten fest und ich
spaziere lieber mit Bruno noch eine kurze Runde durch die schwüle
Sommerhitze.
»Mir gefällt die Konsistenz.« Mich
beschleicht das dumme Gefühl, dass Ulli mich nur unter einem
Vorwand gerufen hat. Ich spüre seine Blicke auf meinem Hintern, als
ich über den Tisch gebeugt, die Augencreme prüfe.
»Das kann so bleiben. Und dafür
hast du mich tatsächlich herbestellt?« Ich schenke dem jungen
Doktor der Dermatologie ein kurzes Lächeln. Ulli ist ein sehr
gutaussehendes Exemplar von Mann. Er übernahm im Alter von vierzig
Jahren das Unternehmen von seinem Vater in dritter Generation. Das
war vor zwei Jahren. Lieber hätte er als niedergelassener Hautarzt
praktiziert. Aber der Druck aus der Familie war
größer.
»Ich möchte dich zum Essen
einladen. Komme mir nicht wieder mit Ausreden!«
»Wenn du magst, können wir uns
morgen Abend in Hamburg treffen. Ich bin zwar zum Geburtstag
eingeladen, habe aber nicht vor, lange dort zu bleiben. Ich werde
nur kurz mein Geschenk abgeben und danach können wir irgendwo
lecker essen.« Der verliebte, schöne und doch arme, Doktor kann
nicht ahnen, dass er nur als Mittel zum Zweck missbraucht wird. Ich
bin fest entschlossen, meinem Mistkerl Steffen zu zeigen, dass sich
das Warten auf mich gelohnt hätte. Ich höre ihn schon sagen: »Wie
kannst du es wagen, mit deinem Lover hier aufzukreuzen.« Dann wird
er schäumen vor Wut. Diese Vorstellung bereitet mir kindliche
Vorfreude. Ulli wird mich um 18.00 Uhr mit seinem Sportwagen vor
der Villa abholen.
Ich gönne mir ein
Traubenkern Ganzkörper Peeling unter der Dusche und versiegel meine
Haut mit einer reichhaltigen Body Butter aus eigener Produktion,
die einen leichten Goldschimmer auf meiner gebräunten Haut
hinterlässt. Schon gegen halb sechs bin ich fertig geschminkt. Ich
wechsel noch dreimal die Schuhe und nehme dann doch wieder die
flachen Ballerinas. Mit hochhackigen Pumps am Strand hin und her zu
wackeln, würde meinen Plan des perfekten Auftritts nur
durcheinander bringen. Als ich die Autohupe höre, greife ich rasch
nach meiner Handtasche und den Schlüsseln. Freudig springe ich die
Stufen der Außentreppe herunter.
»Hallo Ulli. Du bist ja auf die
Minute pünktlich.« Ich lotse ihn durch die Hamburger Elbvororte zum
Endziel Gesundheitshaus.
Der Kundenparkplatz ist wieder gerammelt
voll und ich ärgere mich, dass mein Auftritt nicht die gewünschte
Aufmerksamkeit erfährt. Unbemerkt steige ich aus dem
Auto.
»Parke doch schnell in der
Nebenstraße. Ich warte hier auf dich.« Hanna und Karl haben mich
schon erblickt.
»Hübsch siehst du aus,
Marie.«
»Hallo Mama.« Frederik küsst
mich zur Begrüßung. Nun nimmt auch Steffen Notiz von seiner Familie
und kommt mit der jungen Yogatante auf uns zu.
»Guten Abend, Frau Spatzi«,
werde ich von Judith begrüßt. Die Busenfrau lacht albern. Die ist
entweder strohblöd oder schon völlig besoffen, denke
ich.
»Herzlichen Glückwunsch,
Steffen.« Ich dibbere darauf, dass Ulli endlich dazu stößt und
lächle dem Geburtstagskind nur kurz zu. Einen Kuss bekommt er auf
gar keinen Fall.
»Mein Geschenk für dich«, sage
ich kurz und übergebe ihm einen Umschlag.
»Willst du wieder mit mir auf
ein Konzert gehen?«, fragt er schnippisch und öffnet das
Kuvert.
»Ein Seminar Gutschein zum
Thema Personalführung!« Er bricht in lautes Lachen
aus.
»Da kannst du die richtigen
Umgangsformen gegenüber weiblichen Mitarbeitern lernen, Spatzi!«
Endlich trifft Ulli ein.
»Da bist du ja. Ich hab dich in
der Menschenmenge gar nicht gleich wieder gefunden. Guten Abend,
mein Name ist Ulrich Lambert.«
»Dr. Ullrich Lambert«,
verbessere ich ihn stolz und stelle mich demonstrativ noch enger an
meinen Begleiter. Wie ernten entsetzte Blicke von den Senior Simons
und auch Frederik ist irritiert.
»Und Sie sind wer?«, will
Sohnemann vom Doktor wissen.
»Ulli ist mein enger
Geschäftspartner.« Gespannt warte ich auf Steffens
Ausbruch.
»Guten Abend«, sagt auch
Steffen freundlich und gibt Ulli die Hand. »Ich bin Steffen Simon.
Wir feiern gleich am Elbstrand meinen Geburtstag. Kommen Sie doch
dazu. Es würde mich sehr freuen. Fahren Sie Marie und mir einfach
hinterher. Es sind nur zehn Minuten von hier, also bis gleich.« Ich
bin komplett verblüfft. Mit dieser Reaktion habe ich nie und nimmer
gerechnet. Steffen greift nach meiner Hand und zieht mich bis zur
Praxistür hinter sich her.
»Hör mir genau zu! Ich werde
mich zum Fünfzigsten von dir nicht mit einem blöden Gutschein
abspeisen lassen. Ich will ab heute alle fünf Punkte von dir. Ich
will, dass du an mich denkst. Ich will dass du dich um mich sorgst.
Ich will dass du von mir berührt werden willst. Ich will dass du
mir glaubst und mir wieder vertraust. Alle fünf, verstehst du? Ich
tue das nämlich auch. Ich will endlich wieder mit dir zusammen
wohnen. Ich hab mich lange genug von dir bestrafen lassen. Und
jetzt komm endlich. Ich will mit meiner Frau feiern!» Ich bin immer
noch sprachlos und zähle nach, wie oft er wieder einen Satz mit
»Ich« angefangen hat.
Steffen lässt mich nicht wieder los. Er hält
meine Hand eine geschlagene halbe Stunde fest umklammert und küsst
mich ständig auf die Wange und auf den Mund. Den fremden Menschen
stellt er mich, als sein Mädchen vor, mit dem er schon fast 27
Jahre glücklich verheiratet ist. Frederik kommt zu uns
herüber.
»Nadja hat vor einer Stunde das
Baby zur Welt gebracht. Es ist ein Mädchen. Ich fahre sofort ins
Krankenhaus.« Ulli bietet sich an, den frisch gebackenen Vater zu
fahren.
»Du bist wieder
Oma.«
»Stimmt, Opi. Aber dein
Appartement ist für unsere wachsende Familie eindeutig zu klein.
Für eine Dauerfrau mit drei Enkelkindern und Hund brauchst du ein
größeres Zuhause.