Hiob lässt grüßen


»Komm rein, Bruno«, rufe ich meinen zotteligen Mischlingsrüden. Er soll das laute Bellen am Gartenzaun unterlassen. Es ist schließlich erst sieben Uhr am Morgen, als ich den Kaffee für mich und meinen Mann Steffen koche. Früher, als unser Sohn Frederik noch zu Hause wohnte, kümmerte sich mein Mann um das Frühstück. Er holte täglich frische Brötchen und verband den Weg zum Bäcker mit einem Hundespaziergang. Mittlerweile besteht unsere erste Mahlzeit am Tag aus einem Becher Kaffee im Stehen und der Hund pinkelt in den Garten. Aus dem Küchenfenster beobachte ich, wie ein großer Möbelwagen umständlich vor dem Nachbarhaus einparkt.
   »Ziehen die Kaltenbachs aus?« 
   »Nur Norbert«, sagt Steffen. Er ist mit den meisten Leuten in der Straße per Du. Als langjähriger Hausmann kennt er fast alle Anwohner persönlich und ist über die Geschehnisse in der Straße immer aktuell informiert.
   »Wieder ein Paar, das sich trennt.«
   »Elke bleibt mit den Kindern hier wohnen. Sie hat ihn mit einer Anderen erwischt.«
   »Diese Kurzstreckenläufer! Die wissen doch gar nicht, was sie ihren Kindern damit antun.« Ich weiß es. Ich selbst war ein Scheidungskind. Als ich mit achtzehn Jahren, gegen den Willen meiner Mutter, meine Jugendliebe heiratete, gaben mir Freunde und Bekannte nicht den Hauch einer Chance. Das liegt nun schon 26 Jahre zurück. Seit meiner Silberhochzeit zähle ich mich stolz zu den Langstreckenläufern.
   »Fünfundzwanzig Jahre glücklich verheiratet. Das gibt es doch nicht. Sie sind doch noch so jung«, wird mir oft gesagt. Gern würde ich antworten: »Stimmt, jung bin ich. Aber wer hat hier was von glücklich gesagt?« Seit Frederik vor vier Jahren mit seiner hochschwangeren Freundin Nadja auszog und einen eigenen Hausstand gründete, gibt es nur noch zwei Themen zwischen uns Eheleuten. Die Enkelkinder und die Frage, was es zum Abendessen geben soll. Mehr gemeinsame Interessen entdecke ich beim besten Willen nicht. Auch unser Liebesleben hat sich der neuen Rolle schnell angepasst. Leidenschaft und Erotik finden zwischen Oma und Opa kaum noch statt.
   »Wie kann dieser Egoist nur so kurz vor Weihnachten ausziehen?« Ich blicke noch einmal verärgert zu Norbert, der den Möbelpackern auf der Straße lautstarke Anweisungen gibt.
   »Es nützt nichts, ich muss los, sonst stehe ich wieder stundenlang vor dem Elbtunnel im Stau.« Mit einem Griff schnappe ich mein Schlüsselbund von der Fensterbank und verschwinde in die eisige Kälte.
   »Guten Morgen, Frau Simon«, ruft Norbert mir zu und fügt an, »machen Sie es gut.« Aber ich würdige ihn keines Blickes und wünsche dem Fremdgeher im Vorbeifahren, ihm möge der Pimmel abfaulen.

Heikes Blumenstübchen ist noch geschlossen. Ich warte im Auto bei laufendem Motor und ärgere mich darüber, dass sich die Blumenhändlerin verspätet. Es war doch fest vereinbart, dass für mich schon vor Ladenöffnung ein kleiner Weihnachtsstrauß bereit stehen sollte. Im Rückspiegel sehe ich sie mit ihrem grünen Kleintransporter vorfahren.
   »Tut mir wirklich leid, Frau Simon. Heute war auf dem Blumengroßmarkt der Teufel los. Ich beeile mich. Kommen Sie doch noch kurz mit rein.« In Windes Eile zaubert die Floristin aus Blättern, Tanne, Äpfeln, Zimtstangen und weißen Christrosen ein zauberhaftes Arrangement. »Wunderschön«, lobe ich sie und bezahle mit einem zwanzig Euro Schein.
 

Beeilung ist angesagt, um nicht als Letzte zum Treffen meiner Franzosen anzukommen. Normalerweise findet mein Sprachkurs wöchentlich am Donnerstagabend in der Volkshochschule statt und ist die einzige Abwechslung in meinem eingefahrenen Leben. Gemeinsam mit vier Frauen und zwei Männern lerne ich seit zwei Jahren französische Vokabeln, Grammatik und die richtige Aussprache. Zum Jahresabschluss verabredeten wir uns im Café Wendt zum Frühstücken. Der Blumenstrauß ist als Dankeschön für die geduldige Kursleiterin gedacht. Hannelore, die Älteste aus der Gruppe hatte vorgeschlagen, Julklapp zu machen. Aber die Meisten waren dagegen. »Diese sinnlose Geschenke Austauscherei ist doch grauenhaft«, fand Gerd. Damit war die Sache vom Tisch. Zu Silvia entwickelte sich im Laufe der Zeit eine engere Freundschaft. Sie ist zwei Jahre jünger als ich und glücklich geschieden. Ihre Tochter lebt beim Exmann in ihrer Heimatstadt Erfurt, sodass sie sich zu siebzig Prozent ihrem Beruf als Systemadministratorin widmen kann. Die anderen dreißig Prozent investiert sie in die Erfüllung ihrer sexuellen Wünsche. Auf keinen Fall will sie wieder eine feste Beziehung eingehen. In Sachen Blind Dates ist sie eine Expertin und seit der Trennung verreist sie vorzugsweise nach Tunesien, was ihren Wunsch nach Perfektion der französischen Sprache erklärt. Dort verbringt sie die Zeit mit einem Loverboy, der ihr für ein Trinkgeld die nötige Entspannung verschafft.
   »Mit den Brückentagen zwischen Weihnachten und Neujahr komme ich auf zwei Wochen wohlverdienten Liebesurlaub. Karim erwartet mich schon sehnsüchtig.«
   »Das wäre nun gar nichts für mich.« Aber mehr Entspannung wünsche ich mir auch. »Wir feiern eher klassisch. Ich freue mich schon wie Bolle auf das Fest. Endlich wird wieder Trubel im Haus sein. Wenn die ganze Familie kommt, sitzen vier Generationen am Tisch. Ich habe schon meterlange Einkaufslisten geschrieben, das Haus geschmückt und kann es kaum erwarten, endlich mit dem Kochen zu beginnen.« Ich ernte nur ein verständnisloses Kopfschütteln von meiner Freundin. Nach zwei Stunden löst sich die Gruppe auf.
   »Bleib doch noch einen Moment.« Ich lege meinen Mantel wieder zurück auf den Stuhl. »Ich habe noch ein Geschenk für dich.« Wir warten geduldig bis sich alle verabschieden und wir allein am Tisch sitzen. Gespannt wickel ich mein Paket aus. Unter vielen kleinen Styroporchips kommt ein riesiger, fleischfarbiger Gummi Penis zum Vorschein.
   »Bist du irre?«
   »Du kannst ihn tauschen, wenn dir die Größe nicht zusagt. Er ist noch original verschweißt.« Silvia redet über den Freudenspender so selbstverständlich, als wenn sie einen Wollpullover verschenkt hätte.
   »Du hast mir tatsächlich einen Dildo gekauft, eine Brummgurke, einen Elektrolurch?« Ich muss so laut lachen und johlen, dass sich die Kellnerin aufgefordert fühlt, zum Tisch zu kommen. Noch bevor die Bedienung den Grund meiner Albernheit sehen kann, verstecke ich den Giganten in meiner Handtasche. »Ja, wir möchten zahlen«, sage ich und kann mein Lachen kaum unterdrücken. »Du bist total beknackt«, gackere ich noch auf der Straße, als sich meine Freundin mit Küsschen von mir verabschiedet und ich in die Firma fahre.
 

»Frau Simon, Ihre Schwiegermutter auf Leitung eins. Soll ich durchstellen?«, ruft Maike durch die verschlossene Labor Tür. Ich bin gerade dabei, einen Ansatz für ein neues Anti Falten Mittel zu mischen und kann die Arbeit unmöglich unterbrechen.
   »Jetzt bitte nicht. Sagen Sie ihr doch, ich melde mich gleich zurück.« Zehn Minuten später fülle ich eine goldgelbe Emulsion in einen Cremetiegel, beschrifte das Glas mit einem Code aus Datum, Buchstaben und Zahlen und stelle das Muster in den Inkubator. Ich streife meine engen Latexhandschuhe ab, hänge den weißen Kittel auf den Bügel und verschwinde aus dem sterilen Laborraum. Eigentlich bin ich unendlich dankbar, dass unsere studentische Aushilfe nicht nur in den Semesterferien, sondern auch zwischen ihren Vorlesungen den Telefondienst übernimmt. Seitdem sich meine Geschäftspartnerin Sophie überraschend eine Auszeit nahm, weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Sophie Wagenstädter ist nicht nur die gleichberechtigte Gesellschafterin der SoMa Kosmetik GmbH, sondern auch meine ältere und einzige Schwester. Wir beide gründeten das Unternehmen vor zwanzig Jahren und genießen in der Beauty Branche einen hervorragenden Ruf.
   »Ist noch Kaffee da?«, frage ich auf dem Weg in mein Büro. Maike ist damit beschäftigt, den Empfang zahlreicher Pakete und Päckchen zu quittieren. Statt mir zu antworten, flirtete die junge Studentin lieber ungeniert mit dem knackigen Kurierfahrer weiter. Mit energischen Schritten gehe ich selbst in die Pantry und setze eine Kanne auf. Geduldig auf Antworten zu warten, liegt nicht in meinem Naturelle. Mit einem leisen Stöhnen lasse ich mich in meinen Chefsessel fallen und greife zum Telefon.
   »Hallo Hanna, du hast angerufen?«
   »Oh gut, dass du dich meldest. Kommst du nach Feierabend vorbei? Steffen ist auch schon da. Hör mal, Karl und ich wollen euch beiden dringend etwas erzählen.«
   »Na, du machst es ja spannend. Ich habe noch eine Weile zu tun. Aber ich beeile mich.«
   »Fahr schön vorsichtig, die haben wieder Glatteis angesagt.«  Ich mag meine Schwiegermutter. Das Verhältnis zu ihr war stets viel enger, als das zu meiner eigenen Mutter. Mutter Ellen war in zweiter Ehe mit dem Oberregierungsrat Peter Habicht verheiratet und ist seit drei Jahren Witwe. Noch zu seinen Lebzeiten kauften sie sich ein halbes Haus auf einer grünen Golfplatzanlage an der Algarve. Die andere Hälfte erwarb Schwester Sophie mit Ellens Lieblingsschwiegersohn Lars. Ellen lebt die meiste Zeit des Jahres in Portugal. Zwei bis drei Mal im Jahr fliegt sie in Hamburg ein und nimmt an den Familienfeiern im großen Kreis teil. Für meinen Geschmack ein völlig ausreichendes Engagement. Mit Entzücken betrachte ich meinen aktuellen Bildschirmschoner. Frederik schickt mir immer wieder neue Fotos seiner Zwillinge per Mail zu. Auf diesem Bild tragen die Mini Simons leuchtend rote Nikolausmützen. Gemeinsam halten die Jungen ein Schild hoch, auf dem zu lesen steht: Wann kommt denn endlich der Weihnachtsmann? Ich erfreue mich jedes Mal am Anblick meiner kleinen Enkel. Obwohl ich nach außen hin, als die knallharte Geschäftsfrau gelte, bin ich privat ein durch und durch Harmonie liebender Familienmensch. Ich knipse den PC aus und nehme meinen warmen Wintermantel aus dem Schrank. »Ich mache doch schon Schluss. Bis morgen, Maike.« Auf dem Parkplatz ärgere ich mich darüber, erst einmal Eis kratzen zu dürfen. Hanna hat mal wieder die richtige Nase gehabt. Oh wie ich es hasse, bei Glatteis Auto zu fahren. Überhaupt mag ich den Winter nicht. Auf meinem Handy drücke ich die Kurzwahltaste drei. »Hallo Karl, ich mache mich jetzt auf den Weg. Hast du schon gestreut oder soll ich den Wagen vor der Einfahrt parken?« Überflüssig zu fragen, denke ich schon während des Gesprächs. Selbstverständlich hat er schon gestreut. Karl gehört nicht zu den Rentnern, die den Tag lethargisch im Sessel verbringen. Er und Hanna betrieben ihr halbes Leben lang gemeinsam eine kleine Hotelpension. Er war für den Einkauf und die Küche zuständig und die fleißige Hanna arbeitete als Zimmermädchen, Waschfrau, Buchhalterin und Kellnerin. Sie hätten es gern gesehen, dass Steffen die Nachfolge antritt. Aber mein Mann fand schon früh heraus, dass Arbeit einem das ganze Leben verderben kann. Von heute auf morgen wurde der Betrieb an Jannis Chatidakis verpachtet. Seither ist die Pension Simon ein griechisches Restaurant.
 

Mein Auto schliddert unkontrolliert die Einfahrt hinunter und kommt erst kurz vor Karls Wagen zum Stehen. Hanna empfängt mich an der offenen Haustür.
   »Das ist ja noch mal gut gegangen!«
   »Ist halt kein Winterauto«. Ungefragt erhalte ich auch den Klugscheißer Kommentar von Karl.
   »Bei diesem Wetter lässt man das Auto auch stehen und geht zu Fuß.« Ich wünsche meinem Schwiegervater auch einen schönen Abend und gehe zum Kamin, um mir die eiskalten Finger zu wärmen.
   »Tee oder Grog?« Zuerst will ich wissen, wo Steffen steckt.
   »Er ist mit dem Hund draußen. Das arme Tier kriegt hier drinnen ja einen Hitzeschlag, so hat Karl wieder eingeheizt. Es sind mindestens dreißig Grad in der Bude«, schimpft sie.
   »Nie im Leben Frau, du übertreibst mal wieder schamlos.« Er steht auf, um sein digitales Thermometer vom Sekretär zu holen.
   »Genau sechsundzwanzig Grad Raumtemperatur«, verkündet er mit großer Genugtuung. Im Laufe der Zeit habe ich mich an den ruppigen Umgangston meiner Schwiegereltern gewöhnt. Aber die Vorstellung, dass Steffen und ich im Alter auch so barsch miteinander umgehen, lässt mich immer wieder erschrecken. Die Haustür öffnet sich und mit großen Sprüngen rennt mein Schnuffelhund auf mich zu.
   »Hallo, mein Bester.« Liebevoll tätschele ich sein helles Fell. Der Hund dreht sich vor Freude drei Mal um die eigene Achse bis Steffen von hinten ruft: »Nicht so wild, Bruno!« Er setzt sich zu mir auf das Sofa und nimmt mein leises Schnuppern wahr. Nach einem kurzen Stirnrunzeln beantworte ich die Frage nach meinem Getränkewunsch.
   »Hanna, ich nehme einen Tee. Meine Nase verrät mir, dass du für deinen Grog wohl schon einen Großabnehmer gefunden hast.« Steffen versteht die spitze Bemerkung sofort und sagt kleinlaut, dass er nun auch nur noch Tee trinken will.
   »Was genau wolltest du uns denn heute erzählen?«
   »Wir haben eine Überraschung für euch.« Hanna zieht aufgeregt einen großen Umschlag aus der Schublade ihrer Bauernkommode. »Es geht um Weihnachten. Wir möchten nicht, dass Marie sich wieder so viel Arbeit macht und haben beschlossen, die ganze Familie Simon über die Festtage nach Tirol in den Schnee einzuladen.« Ich hoffe inständig, mich verhört zu haben.
   »Wir würden so gerne mit euch und den Kindern für zwei Wochen zum Skilaufen fahren. Guckt mal, heute kam die Antwort aus Österreich.«  Hanna öffnet ihren Umschlag und verkündet stolz, dass in ihrem Stammhotel vom 23. Dezember bis 6. Januar noch vier Doppelzimmer frei sind. »Was sagt ihr nun?«  Auch das noch! Hilfe! Wintersport! Ich bin kein Wintertyp und mit Abstand die schlechteste Ski Läuferin rechts und links der Alpen. Mit Grauen erinnere ich mich an die letzten Urlaube im Schnee. Ich höre meine Familie noch lästern. »Die Beste ist sie bestimmt nicht. Aber auf jeden Fall verdient sie den Preis für die Langsamste.« Nur Frederik zu Liebe, habe ich mich sieben Mal in Folge breitschlagen lassen und den Urlaub statt im sonnigen Süden in der eisigen Kälte von Tirol verbracht.
   »Über Weihnachten?« Ich schnappe nach Luft und schaue erst entsetzt zu meinem  Mann und danach in das enttäuschte Gesicht meiner Schwiegermutter. Hannas Antennen funktionieren noch einwandfrei und sie spürt sofort, dass ihr Vorschlag bei mir auf wenig Gegenliebe stößt.
   »Ich kann unmöglich zwei Wochen Urlaub machen. Ihr wisst doch, dass ich ohne Sophie auskommen muss. Außerdem haben wir bereits Gäste zum Heiligenabend eingeladen. Soll ich etwa meiner Familie jetzt absagen, nur weil ihr euch fünf Tage vor dem Fest für Jagartee und Kaiserschmarrn entschieden habt? Erst gestern habe ich Fleisch und Geflügel beim Schlachter bestellt, den Wein ausgesucht und einen Tannenbaum gekauft. Ich fasse es einfach nicht. Das ist wirklich eine tolle Überraschung!« Karl und Hanna schmollen.
   »Ich bekomme langsam Hunger. Komm, lass uns losfahren.« Noch schneller als ich, ist Bruno an der Tür. Mit einem kurzen »Tschüss«, gehen wir auseinander. »Die spinnen doch.« Langsam und vorsichtig fahre ich auf spiegelglatter Fahrbahn nach Hause. Für mich steht fest, auf keinen Fall mit nach Österreich zu reisen.
 

Als am nächsten Morgen um kurz vor 7.00 Uhr der Wecker klingelt, werde ich von stürmischen Küssen geweckt. Nicht etwa von Steffen. Der hält noch seinen Ausnüchterungsschlaf im Dachgeschoss ab. Nach Frederiks Auszug habe ich das kinderlose Nest neu aufgeteilt und ihn in das frei gewordene Jugendzimmer im ausgebauten Spitzboden umquartiert. Ich begründete seinen Umzug damit, ihn nicht immer wecken zu wollen, wenn ich spät nachts von meinen Geschäftsreisen zurück komme. Der wahre Grund ist jedoch, dass ich sein Schnarchen nicht länger ertragen konnte. Sanft wehre ich Brunos Kuss Attacke ab. Müde schlüpfe ich in meine Hausschlappen, schlurfe in Richtung Küche und öffne für meinen Schnuffel die Fenstertür zum Garten. Wie jeden Morgen im Dezember pinkelt er an die weihnachtlich geschmückte Blautanne, die in der Mitte des Rasens stimmungsvoll leuchtet. Mit einem Glas Orangensaft setze ich mich an den Küchentisch. Üblicherweise lese ich morgens an diesem Platz das Hamburger Abendblatt. Aber an diesem Tag steht mir nicht der Sinn nach Morgenlektüre. Ich bin noch immer über die kurzfristige Planänderung meiner Schwiegereltern verärgert. Das Thema muss mit absoluter Dringlichkeit geklärt werden. Mein Gedankenfluss wird durch das eindringliche Schellen der Klingel unterbrochen. Verwundert öffne ich so früh am Morgen die Haustür.
   »Guten Morgen, gut dass du noch da bist. Ich wollte dich unbedingt persönlich sprechen. Ich habe nicht viel Zeit. Frederik muss in einer halben Stunde los und passt noch kurz auf die Kinder auf.« Bevor die schnelle Vielsprecherin fortfährt, bekomme ich ein Küsschen von Nadja auf die Wange.
   »Hanna hat uns gestern Abend angerufen und erzählt, dass du dir keinen Urlaub nehmen kannst. Das ist ja schade für dich. Frederik und ich freuen uns schon so aufs Snowboarden und wir waren solange nicht im Urlaub. Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich im Keller nach den Wintersport Sachen suchen will.«
   »Das klingt ja so, als sei das schon beschlossene Sache?«
   »Beschlossen und verkündet«, schallt es aus dem Keller zurück. Ich kippe den letzten Schluck Orangensaft herunter und schüttle fassungslos den Kopf über den eigenmächtigen Beschluss. Nadja, die nun voll bepackt um Flur steht, will wissen, wo ich meinen alten Ski Anzug aufbewahre.
   »Meiner ist schon etwas eng.« Sie stellt die Sachen ab und kommt grinsend auf mich zu. Mit ihren Händen streicht sie sich langsam über den Bauch und stellt sich seitlich auf.
   »Siehst du schon was?« Didid..didid, tönt das Handy aus ihrer Jackentasche. Sie blickt nur kurz auf das Display und zieht eine Grimasse. »Dein Herr Sohnemann. Er ist schon wieder hektisch. Er hat die Jungs jetzt gerade mal eine halbe Stunde und dreht schon wieder am Rad. Ich muss jetzt aber. Nur noch eins. Bitte sage Hanna und Karl noch nichts vom Baby. Wir wollen sie Heiligabend mit der Nachricht überraschen.« Das sind eindeutig zu viele Informationen auf nüchternen Magen. Ich bin erschüttert. Im Sommer wollte Nadja doch endlich mit einer Ausbildung beginnen. Die erste Lehre musste sie wegen der Schwangerschaft abbrechen. Die Vorstellung, dass Frederik mit fünfundzwanzig Jahren Vater von drei Kindern sein wird, lässt mich erschauern. Sein Gehalt reicht doch jetzt schon vorne und hinten nicht aus. Ich muss es wissen, denn ich schustere seit der Geburt der Zwillinge Loris und Jasper monatlich einen erheblichen Betrag bei. Und dann will sie im schwangeren Zustand Snowboarden? Ich verstehe die Welt nicht mehr und gehe mich duschen. Mit geneigtem Kopf lasse ich mir das heiße Wasser auf den verspannten Nacken prasseln. Freude sieht anders aus. Ich nehme ein frisches Handtuch und wickel es um die nassen Haare und ziehe den gestreiften Morgenmantel über. Zornig stampfe ich die Treppe in das Dachgeschoss hinauf, um Steffen zu wecken.
   »Hier stinkt es ja wie im Pumastall!« Angeekelt öffne ich das Fenster und stelle mich ans Kopfende seines Bettes. »Wach auf! Ich will mit dir über den wahnwitzigen Plan deiner Eltern sprechen. Nadja war auch schon hier und hat eine Bombe platzen lassen. Wir werden wieder Großeltern! Hurra!« Laut knalle ich die Tür hinter mir zu. Er sollte jetzt wach sein. Es dauert eine halbe Stunde bis Steffen sich im Erdgeschoss sehen lässt. Ich trinke bereits den zweiten Becher Kaffee und telefoniere laut und aufgebracht mit meiner Schwester.
   »Ach Sophie, das ist doch Blödsinn. Wir können doch auch gemütlich im kleinen Kreis feiern. Seit einer Woche stecke ich in den Vorbereitungen für das Fest. Ich hab mich so auf euren Besuch gefreut.« Lautlos nicke ich in den Hörer. Steffen kann meiner Miene steigende Enttäuschung entnehmen. Als ich das Gespräch beende, trifft ihn mein vorwurfsvoller Blick. 
   »Das sind ja wunderbare Aussichten auf ein schönes Weihnachtsfest. Meine Mutter, Sophie und Lars bleiben über die Festtage in Portugal und Freddy fährt mit seiner Familie und deinen Eltern in den Schnee. Nadja hat bereits die Skisachen abgeholt.« Er zieht die Augenbrauen hoch und schenkt sich ohne weiteren Kommentar einen Becher Kaffee ein. Aus Erfahrung weiß er, dass es bei meiner angespannten Stimmung klüger ist, den Mund zu halten. Wütend reiße ich den Abholschein der Schlachterei von der Pinnwand und drücke ihn Steffen in die Hand.
   »Wenn du deine Stimme wiedergefunden hast, dann ruf beim Metzger an und mach die Bestellung rückgängig!« Ich gehe ins Bad, um mir die Haare zu föhnen. Mit einer blauen Jeans und einem schwarzen Rollkragenpullover bekleidet, stehe ich wenig später vor meinem Mann. Er wirkt genervt und redet sich mal wieder raus.
   »Da ist ständig besetzt. Ich gebe auf und gehe jetzt mit dem Hund raus. Hoffentlich hast du dich bis heute Abend wieder beruhigt. Letztendlich wollten Karl und Hanna uns nur eine Freude machen.« Das ist ihnen auf ganzer Linie misslungen, denke ich und stecke wütend den Abholschein in mein Portemonnaie. Wie immer werde ich mich selbst um die Angelegenheit kümmern und mache mich mit dem Wagen auf den Weg zum Schlachter und zur Vinothek.

Die Schlange vor dem Geschäft reicht bis auf die Straße. »Na, das geht ja gut los«, stöhne ich laut. Aber ich kann direkt vor der Tür einen Parkplatz ergattern. Soll das die Wende an diesem schrecklichen Tag sein?
   »Haben Sie noch etwas vergessen, Frau Simon?« Vor dieser freundlichen Frage, musste ich geschlagene 45 Minuten in der Warteschlange verbringen. Nach einer halben Stunde bestand Hoffnung, endlich gehört zu werden. Es war nur noch ein Kunde vor mir. Dieser Mann zeigte auf jede einzelne Aufschnittsorte in der Auslage.
   »Was ist das für eine Wurst? Vom Rind oder Schwein?« Er ließ sich nach ausführlicher Erklärung stets ein Stück zum Probieren reichen und verkündete danach seelenruhig, dass er davon gern eine Scheibe nehmen würde. Ich war kurz vor der Explosion. Die setzte auch prompt ein, als er sich entschied, das gleiche Spiel noch einmal mit den zahlreichen Schinken Delikatessen zu wiederholen.
   »Das geht zu weit«, poltere ich in bester Karlscher Art. »So langsam sollten Sie doch mal satt sein. Merken Sie eigentlich noch was? Sie halten hier seit einer Ewigkeit den Laden auf. Gucken Sie mal raus! Die Schlange reicht fast bis zu den Elbbrücken.« Der Einscheiben-Wurst-Besteller dreht sich um und zieht einen Bonbon aus seiner Manteltasche, den er ihr mit einem Lächeln überreicht.
   »Das ist ein Kräuterlutschbonbon mit Baldrian. Der sollte Ihnen helfen, sich zu beruhigen.« Danach wendet er sich wieder der Fleischerfrau zu. Ob sie ihn auch beim Käse bedienen würde, will er wissen.
   »Nein, mein Herr, dort bedient Sie mein Mann gern weiter.« Diese kluge und hellsichtige Frau bewahrt mich davor, schwere Körperverletzung zu begehen.
   »Ich möchte Sie bitten, die Bestellung für Simon, Eichenalle 17, zu stornieren. Unsere Pläne haben sich kurzfristig geändert. Tut mir leid.« Ich steige wieder ins Auto und während meiner Fahrt zur Vinothek, ärgere ich mich über diesen dreisten Testesser. Schnell wechsel ich das Thema und denke daran, dass ich bald zum dritten Mal Oma werde. An der roten Ampel muss ich warten und wickel das Kräuterbonbon aus. Ich lutsche es kurz an, um es dann mit voller Wucht zu zerbeißen.
   »Nicht genug Baldrian drin, um die Babynachricht aus dem Kopf zu bekommen!«

Kerstin und Herbert Kunstmann führen nicht nur die leckersten Weine in ihrem Sortiment. Ihr Geschäft versprüht auch eine so authentische Atmosphäre, dass ich mich bei ihnen wie im Süden fühle, wenn ich auf ein Glas bei ihnen einkehre. Ich liebe es, Herbert zuzuhören, wenn er von seinen Exkursionen in die mediterranen Weinregionen berichtet. Kerstin begrüßt mich mit ausgestreckten Armen.
   »Willst du heute schon den Wein abholen?« Ich schüttle den Kopf. Bevor ich in die Einzelheiten gehen kann, brauche ich dringend ein Glas vom offenen Bardolino. Ich proste ihr zu und leere das Glas in zwei Zügen.
   »Darf ich mich wundern?«, fragt Herbert, der eine Sackkarre mit Kisten und Kartons in das Bistro schiebt. »Ich dachte immer, du bist der leichte Rosé Typ.«
   »Heute ist eben kein normaler Tag.« Ich berichte von dem nicht stattfindenden Familienfest und meinem Erlebnis beim Schlachter. Dazu gönne ich mir zwei weitere Gläser vom roten Rebensaft.
   »Möchtest du etwas knabbern?« Kerstin ist es nicht entgangen, dass ihre einzige Kundin im Geschäft schon recht beschwipst ist. Obwohl ich ablehne, stellt sie einen Teller mit Baguette, Salami, Camembert und Oliven auf den Tisch. »Bitte iss etwas!« Als ich zugreife, fragt sie mich nach meinen neuen Plänen fürs Weihnachtsfest?
   »Auf keinen Fall fahre ich mit in den Schnee! Es wird wohl darauf hinauslaufen, dass ich mit meinem Mann die Festtage allein und ganz in Ruhe verbringen werde.«
   »Mehr Ruhe kann ich Ihnen nur empfehlen«, sagt eine dunkle Männerstimme. Ich drehe mich um und bekomme einen Schreck. Dicht hinter mir steht der Einscheiben-Wurst-Besteller. Ich greife mir an die Stirn und beginne lauthals los zu lachen.
   »Was kommt denn jetzt? Sagen Sie bloß, Sie wollen sich jetzt auch noch gratis durch das Weinsortiment trinken.« Ein lautes Lachen durchdringt den Verkaufsraum.
   »Das warst du?« Kerstin stellt mir den großgewachsenen Mantelträger, als ihren jüngeren Bruder Thomas vor. Herbert will von seinem Schwager wissen, warum er seinen Käse woanders kauft.
   »Ich hatte einfach Lust auf deutschen Käse«, verteidigt er sich.
   »Thomas lebt in Südfrankreich und ist nur zu Besuch hier.«
   »Das entschuldigt nicht, dass er sein Geld bei der Konkurrenz lässt«, stichelt Herbert. Thomas breitet seine Einkäufe auf dem runden Marmortisch aus und bittet seine Schwester, einen passenden Schluck zu spendieren. Kerstin klatscht in die Hände und ruft: »Mittagspause!« Herbert schließt die Ladentür ab.
   »Sie haben ja eine überwältigende Auswahl an Wurst und Käse«, spotte ich. Noch eine ganze Weile mache ich mich über ihn lustig. Nach zahlreichen Anekdoten und einer weiteren Flasche Wein ist die Pause wie im Flug vorbei. Die Ladentür wird wieder geöffnet und die ersten Kunden treten ein. Ich beschließe, aufzubrechen.
   »Aber du fährst nicht mehr mit dem Auto!« Herbert greift nach meinem Schlüsselbund und verspricht, mir den Wagen am nächsten Tag wiederzubringen. Thomas bietet sich an, mich nach Hause zu fahren.
   »Die Adresse kenne ich ja, Eichenallee, oder?« Ich habe keine Wahl und bin auch viel zu angeschlagen, um lange zu widersprechen. »Merci beaucoup«, bedanke ich mich vor der Hausnummer 17 und wanke zur geöffneten Haustür. Steffen erwartet mich schon.
   »Wer war das und wo ist dein Wagen?«
   »Das war der Einscheiben-Wurst-Mann und er hat einem verdammt guten Käsegeschmack.«
   »Du bist ja blau!« Steffen schaut mich ungläubig an.
   »Und du bist wach, Donnerwetter!« Ich lasse mich sofort aufs Sofa fallen und schlafe sofort ein.
 

Mein Mund ist staubtrocken und ich verspüre einen stechenden Durst, als ich aus meinem Rausch erwache. Es ist schon dunkel draußen und im Wohnzimmer brennt kein Licht. Steffen ist also nicht zu Hause, denke ich beim vorsichtigen Aufstehen. Ich gehe in die Küche und schnappe mir eine Flasche stilles Wasser aus dem Kühlschrank und trinke den Inhalt im Stehen aus. Auf dem Küchentisch liegt ein Zettel.
Bin zur Weihnachtsfeier mit den Kollegen. Habe Bruno gefüttert! 
   ».. mit den Kollegen«, wiederhole ich höhnisch. Ich ärgere mich über das Wort »Kollegen«. Steffen hat keine Kollegen. Wer von Kollegen spricht, sollte auch arbeiten. Steffen arbeitet aber nicht. Er nimmt seit sechs Jahren an einem kostspieligen Fernstudium für Naturheilkunde teil, das ich artig in monatlichen Raten bezahle. Ursprünglich war ich froh darüber, dass er nach fast zwanzig Jahren Hausmann Tätigkeit endlich den Hintern hoch bekam. Er lernt fleißig die Anatomie des menschlichen Körpers. Dank zahlreicher Zusatzkurse kann er sogar schon kluge Reden über die Ursache und Wirkung negativen Stresses auf die menschliche Psyche und Physis halten. Noch vor einigen Monaten schimpfte ich laut über die hohe Rechnung für dieses Sonderseminar.
   »Das hätten wir auch billiger haben können. Du hättest mich nur fragen müssen, ich hätte es dir umsonst erklärt. Ursache bist du! Wirkung? Du regst mich auf und machst mich krank!« Es wurmt mich schon lange, dass er nicht aus dem Quark kommt und wie selbstverständlich von meinem hart verdienten Geld lebt. So langsam geht mir die Geduld aus. Wie lange soll seine Studiererei noch gehen? Resigniert stellte meine Mutter vor Kurzem in einem Telefongespräch mit mir fest: »Dir ist einfach nicht mehr zu helfen. Dein Mann ist und bleibt ein notorischer Faulpelz. Zeig mir einen Vater, der zwanzig Jahre Elternzeit nimmt. Und nun finanzierst du ihm auch noch diese dubiose Ausbildung.« Ich wusste, dass sie im Recht war. Aber reflexartig stellte ich mich wie eine Löwin vor meinen Mann.
   »Mama!«, fauchte die Löwin, »ich kenne deinen Standpunkt, aber halte dich bitte an unsere Abmachung. Ich hatte auch nie das Recht, dir in dein Leben reinzureden.« Ich nehme es meiner Mutter auch nach 35 Jahren immer noch übel, dass sie sich von meinem Vater scheiden ließ und ihre Selbstverwirklichungspläne über die Bedürfnisse ihrer beiden Töchter stellte. Ich schalte den Fernseher an und lümmel mich aufs Sofa. Mit einem Sprung setzt Hund Bruno zur gezielten Landung am Fußende an. »Leg dich schön hin«, erlaube ich meinem Schnuffel. Der Hund dreht sich solange bis er eine bequeme Liegeposition findet. Ich zappe durch alle Programme, finde aber nichts, was mich aus meiner Katerstimmung ziehen kann. Wilde Gedanken kreisen in meinem Kopf herum. Rotwein wirkt immer so auf mich. Für einen kurzen Moment bringt er mich in Hochstimmung, aber dann lässt er mich wie ein missglücktes Soufflee zusammenfallen. Und nach dem Erwachen, versetzt er mich in depressive Stimmung. Ich nehme mir fest vor, dieses Teufelszeug nie mehr anzurühren. Für eine letzte Runde gehe ich noch mit dem Hund um den Block. Als ich zurück komme, steht mein Wagen wieder vor der Tür. An der Windschutzscheibe klebt eine Visitenkarte. Auf der Rückseite steht in schönster Handschrift geschrieben, Die Schlüssel liegen im Briefkasten. War richtig nett mit dir. Liebe Grüße Thomas. Ich öffne die Haustür und sehe ein kleines Päckchen auf dem Boden liegen und öffne es neugierig. Neben meinem Schlüsselbund finde ich auch noch eine Handvoll Kräuterbonbons. Ich muss schmunzeln und lege die Süßigkeiten mit der Karte in die leere Obstschale auf den Küchentresen. Was für ein Tag, denke ich und gehe schlafen.

In der Nacht hat es Schnee gegeben. Soviel Schnee, dass die Verkehrsdurchsage volle fünf Minuten dauert. »Die Schulen und Kindergärten bleiben heute geschlossen«, informiert die Radiofrau. Ich entscheide mich, von zu Hause aus zu arbeiten. Steffen gesellt sich mit seinem Becher Morgenkaffee zu mir und berichtet von seiner Weihnachtsfeier. Er erzählt von Christian, Bärbel und Kurt. Aber ich höre ihm gar nicht richtig zu. Im letzten Sommer war das Trio zum Grillen bei uns zu Gast. Das ganze Geschwätz über Magnetfeld Resonanz, Heilsteine, Energiefluss und Meridiane fand ich gähnend langweilig. Ich halte das Meiste für Humbug und nenne Steffens Kollegen abfällig die Heilpraktiker Idioten.
   »Hör mir doch mal zu, ich möchte etwas mit dir besprechen! Christian, Bärbel und Kurt planen, eine Gemeinschaftspraxis zu eröffnen. Es soll ein Haus der Gesundheit werden. Sie haben mich gefragt, ob ich mit einsteigen will.« Verwundert über seinen plötzlichen Tatendrang blicke ich kurz auf.
   »Christian hat das Haus seiner Eltern geerbt. Es handelt sich um eine Altbau Villa in bester Lage. Gut per Bus und Bahn zu erreichen. Parkplätze stehen auch ausreichend zur Verfügung. Das Haus bietet rund 390 Quadratmeter auf zwei Etagen.«
   »Das klingt doch super. Wo ist der Haken?«
   »Es ist noch eine Menge Arbeit und Geld nötig, um das Privathaus in eine ansprechende Praxis umzuwandeln. Kurt hat vorgeschlagen, eine GbR oder eine GmbH zu gründen, in die jeder von uns zunächst fünfzigtausend Euro einbezahlt.«
   »Fünfzigtausend? Die haben wir nicht. Dafür brauche ich gar nicht erst ins Konto zu sehen.«
   »Bärbel hat einen Businessplan erstellt.« Steffen reicht mir eine Mappe mit vielen Zahlen und Tabellen über den Tisch. Ausgerechnet die doofe Bärbel, die kann doch nicht bis drei zählen, denke ich.
   »Wir sind für heute Vormittag verabredet. Die Drei kommen her und wollen mir ihre Pläne zeigen.« Ich überlege krampfhaft, wohin ich mich verziehen kann, um nicht mit den ungeliebten Naturheilkundlern zusammentreffen zu müssen. Schon der Gedanke an Bärbel mit ihrem strengen Mottenkugelgeruch, löst in mir sofortige Übelkeit aus. Ich starte den PC und öffne das Mail Programm.
   »Oh, eine Nachricht von Sarah.« Sarah Riess und ich lernten uns vor drei Jahren in einem noblen fünf Sterne Wellness und Kongress Hotel an der Nordsee kennen. Mit Mustern einer Algen Pflegeserie für diesen Kunden war ich zur Besprechung mit dem Hotelmanager angereist. Sarah war zeitgleich als Promi Referentin einer Veranstaltung des Forums Darmkrebsvorsorge eingeladen. Bis in die 90er Jahre war sie das Aushängeschild einer Schlager und Volksmusik Unterhaltungssendung eines öffentlich rechtlichen Senders. Als wir uns zufällig abends an der Hotelbar trafen, wusste ich gar nicht, wer neben mir saß. Ich kenne mich in der heilen Schunkelwelt nicht aus und bin kein Fan von dieser Musik. Erst als wir näher ins Gespräch kamen, war es Sarahs Markenzeichen »das rollende R«, das sie verriet. Fünfzehn Jahre war sie schon weg vom Schirm. Eine Folge des Jugendwahns, wie sie behauptet. Ich vertrete jedoch eher die Auffassung, dass es an ihrem Outing gelegen haben muss. Für eine lesbische Volksmusikanten Moderatorin war Deutschland in den Neunzigern eben noch nicht bereit. Seither arbeitet die ehemalige Moderatorin im Stillen. Sie schreibt unter einem Pseudonym Kinderbücher und malt abstrakte Bilder, die allerdings in namenlosen Galerien verstauben. Zu Unrecht, wie ich finde.

Liebe Marie, ich melde mich rasch bei dir vom Flughafen München. Ich wurde entführt. Es geht gleich Lastminute in die Sonne. Also, ich muss Schluss machen. Anke zeigt schon auf die Uhr. Ich wünsche dir ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch. Bis ganz bald. Deine Sarah.

   »Beneidenswert! Steffen, wollen wir beide nicht auch für ein paar Tage in die Sonne fliegen? Das wäre wenigstens ein angemessener Ersatz für das ausgefallene Familienfest.« Aber Steffen gibt mir keine Antwort. Er ist vertieft in Bärbels Zahlenwerk. Ich ziehe mich warm an und gehe mit Bruno vor die Tür. Mit Ausnahme der Hausnummer 17 sind bereits alle Bürgersteige der Eichenallee penibel vom Schnee befreit. Als ich die drei Besucher von Weitem erblicke, greife ich freiwillig zum Schneeschieber. In der Garage warte ich ab, bis sich die Haustür wieder schließt und beginne mit der anstrengenden Winterarbeit. Die Kinder der verlassenen Nachbarin Elke bauen einen Schneemann. Jedes Mal, wenn die große Kugel zum Stehen kommt, fühlt sich Schnuffelhund Bruno aufgefordert, dagegen zu pieseln. Ich mache dem Schauspiel ein Ende und bringe ihn zurück ins Haus. Schon als ich die Haustür aufschließe, kriecht mir eine strenge Wolke Mottenkugelduft in die Nase. Steffen sitzt mit seinen Kollegen am Esstisch.
   »Lasst euch von mir nicht stören.« Nach einem Lächeln in die Runde will ich mich in das Oberschoss verdrücken, aber Bärbel rückt bereits ihren Stuhl zur Seite.
   »Du störst doch nicht.« Verwundert denke ich darüber nach, warum die blöde Bärbel mich duzt. Ich bin mir sicher, beim Grillfest im letzten Sommer noch per Sie mit ihr gewesen zu sein.
   »Wir haben auf dich gewartet.« Steffen zieht mich an den Tisch und bittet, mich für einen Moment dazu zu setzen. Christian präsentiert die ersten Entwürfe, die ich mir unbedingt ansehen soll. Ich sehe die Freude in seinen Augen und gebe nicht die Spielverderberin. Kurt erklärt mir die Unterlagen und sieht mich erwartungsvoll an.
   »Wow, wirklich beeindruckend.« Ich habe einfache Schwarzweiß Grundriss Zeichnungen erwartet. Aber was ich vorfinde, sind professionelle 3D Planungen in Farbe, die jedes Zimmer, vom Empfang bis in die verschiedenen Behandlungsräume hinein in fotorealistischer Art darstellen.
   »Christian ist nicht nur staatlich geprüfter Heilpraktiker, sondern auch Innenarchitekt und ausgebildeter CAD Designer.« Den Idioten nehme ich im Fall Christian sofort zurück. Steffen erklärt gerade ausführlich die genaue Aufteilung der Räume, als Bärbel vorschlägt, einen Tee zuzubereiten.
   »Lass mal, ich mach das gleich selber.« Aber Bärbel ist schon auf dem Weg in die Küche.
   »Bleib ruhig sitzen, ich kenne mich ja hier aus.« Na so was! Wieso kennt sich die doofe Bärbel in meiner Küche aus? Das ist der letzte Tee, den du hier kochst, du alter Stinkmolch, denke ich.
   »Du sagst ja gar nichts. Gefällt es dir nicht?«
   »Doch Steffen, es gefällt mir sogar sehr. Ich bin wirklich beeindruckt. Bitte nicht böse sein, aber ich habe auch noch Arbeit, die sich nicht von allein macht.« Ich stehe auf, gehe zum Sofa, stelle mein Notebook auf den flachen Couchtisch und nehme meine Notizen aus der Handtasche. Ein Auge auf den Monitor gerichtet, hämmere ich meine Aufzeichnungen in den Computer. Mit dem anderen Auge nehme ich die blöde Bärbel ins Visier. Kurt blickt mehrfach zu mir herüber.
   »In dieser Sitzposition machst du dir den Rücken kaputt.« Der staatlich geprüfte Heilpraktiker Nummer Zwei kennt sich aus.
   »Wir stören jetzt auch nicht länger. Lasst uns jetzt mal aufbrechen.« Ich freue mich über sein Feingespür und erkenne daraufhin auch Kurt den Idiotenstatus ab.

Nach dem Abendessen lege ich mich neben Steffen gemütlich auf die Couch. Wir sehen fern, aber er ist nicht bei der Sache.
   »Fünfzigtausend!«, stöhnt er.
   »Du meinst es wirklich ernst mit dem Gesundheitshaus? Dann sollten wir im neuen Jahr mit der Bank sprechen. Wir könnten eine Hypothek auf das Haus aufnehmen.« Vorsichtig rückt er näher und gibt mir mit geschlossenen Augen einen kurzen Küschi auf die Wange. Mehr als diesen Bruderkuss kann ich ihm trotz aufreizender Liegeposition nicht entlocken. Die Frage, die mich seit dem Mittag beschäftigt, stelle ich ganz beiläufig.
   »Ist Bärbel eigentlich verheiratet?«
   »Bist du etwa eifersüchtig?«
   »Habe ich Grund?«
   »Nein, verheiratet ist sie nicht. Ich glaub geschieden, auf jeden Fall ist sie Single und ich fürchte, sie ist auch ein wenig verknallt in mich. Aber du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Ich finde sie nur nett.« Der Spielfilm läuft gerade seit 10 Minuten, als das Telefon klingelt. Da Steffen keine Anstalten macht, sich zu erheben, gehe ich ran. Ich wundere mich über den späten Anruf meiner Mutter und ahne nichts Gutes. Ellen druckst herum.
   »Lars ist vor einer Stunde ins Krankenhaus gebracht worden. Ich fürchte, es geht mit ihm zu Ende.« Ich seufze laut. Ich weiß, dass mein Schwager unheilbar an Krebs erkrankt ist. Das war auch der Grund dafür, dass Sophie sich eine berufliche Auszeit genommen hat. Aber dass es so schnell geht, damit hat niemand in der Familie gerechnet.
   »Wenn du ihn noch einmal sehen möchtest, solltest du dich beeilen. Sophie hat mir erzählt, dass dein Familienessen nicht stattfindet. Vielleicht nutzt du die Gelegenheit und kommst stattdessen zu uns. Deine Schwester kann deine Unterstützung gut gebrauchen.« Ich überlege nicht lange und sage mein Kommen sofort zu. Steffen zeigt Verständnis. Er will mich allerdings nicht begleiten. Sein Verhältnis zu Ellen ist seit Jahrzehnten schwierig. Wenn immer es möglich ist, gehen sich die beiden aus dem Weg. Während er einen Flug bucht, packe ich meine Koffer.
   »Es gibt keinen Direktflug mehr ab Hamburg. Du kannst aber morgen früh von Frankfurt aus fliegen.«

Notebook, Handy, Ausweis, Portemonnaie. Ich bin startklar. Steffen bringt mich zum Flughafen. Während der Fahrt kreisen meine Gedanken um meinen Schwager. Ich kenne ihn, seitdem ich ein Kind von neun Jahren war. Er brachte mir das Schlittschuhfahren bei. Er holte mich am Wochenende abends aus der Disco ab und tröstete mich bei meinem ersten Liebeskummer. Lars war wie ein großer Bruder und ein wichtiger Vaterersatz für mich. Ich muss an Sophie denken. Wenn Lars stirbt, wird sie ganz allein sein. Ohne Kinder. Ohne Enkelkinder. Es geht nicht anders und ich fange an, bitterlich zu weinen.

Die Maschine nach Frankfurt ist fertig zum Boarding und verheult wie ich bin, stelle ich mich in die Reihe zum Einsteigen an, als ich von hinten angestupst werde.
   »Hallo, Frau Simon. Kaltenbach. Norbert Kaltenbach. Erkennen Sie mich nicht?« Natürlich erkenne ich ihn. Es ist mein fremdgehender Ex Nachbar, der seine Familie gerade verließ, weil er seinen Lümmel nicht unter Kontrolle hatte. Ich grüße nur knapp zurück und halte Ausschau nach meinem Platz. Laut Bordkarte 9A. Kaltenbach hat 9B und setzt sich neben mich.
   »Sind sie wieder geschäftlich unterwegs, Frau Simon?«
   »Nein, ich fliege zu meiner Schwester. Wir haben einen schweren Krankheitsfall in der Familie.« Kaltenbach liest eine Zeitung und ich schaue aus dem Fenster. Der Start verläuft wortlos. Als die Stewardess mit den Getränken kommt, bricht er das Schweigen.
   »Meinen Sie nicht, wir sollten reden?«
   »Mir steht wirklich nicht der Sinn nach einer Unterhaltung, Herr Kaltenbach. Wir waren Jahre lang Nachbarn und haben uns nie unterhalten. Also, warum bitte jetzt?«
   »Sie sind völlig ahnungslos, oder?«
   »Worüber wollen Sie unbedingt mit mir reden. Darüber, dass Sie Ihre Familie verlassen haben. Das habe ich mitgekriegt. Ich stand am Fenster. Dass Sie Ihre Frau betrogen haben und deshalb wenige Tage vor Weihnachten Ihre beiden Kinder zurückgelassen haben, weiß ich auch. Also, was wollen Sie?«
   »Ich habe meine Frau nicht betrogen. Sie hat mich betrogen und zwar mit Ihrem Mann!« Fassungslos starre ich ihn an.
   »Er hat Ihnen nichts gesagt, dieser Feigling, das sieht ihm ähnlich. Elke und Steffen haben schon seit Monaten ein Verhältnis.« Mir bleibt die Luft weg.
   »Sehen Sie, Frau Simon, ich bin genauso stark beruflich engagiert wie Sie. Viel auf Reisen. Immer erst spät abends daheim. Wir haben uns unsere Ehepartner geradezu gegenseitig in die Arme getrieben. Ich habe die beiden zusammen erwischt. In meinem Schlafzimmer. Elke hat mir dann offenbart, dass ich ausziehen muss. Das ist die Geschichte!« So fühlt es sich bestimmt an, bevor man ohnmächtig wird, denke ich. Aber ich werde nicht ohnmächtig. Stattdessen ringe ich nach Luft und habe das Gefühl zu ersticken.
   »Sagen Sie, dass diese Ungeheuerlichkeit nur ein verunglückter Scherz ist. Erzählen Sie mir nicht solche Geschichten. Ich kann und will Ihnen das nicht glauben!«
   »Frau Simon, beruhigen Sie sich.« Er greift nach meinen Händen und drückt sie fest. Die Maschine befindet sich schon im Landeanflug und mein Herz rast noch immer.
   »Es tut mir wirklich leid, aber es ist wahr. Bitte nehmen Sie meine Karte. Wenn Sie den Schock verarbeitet haben und mit mir reden wollen, dann rufen Sie mich an.« Nach der Landung suche ich die Toiletten auf und übergebe mich. Mein Anschlussflug nach Faro wird schon zum dritten Mal aufgerufen, als ich endlich wieder regelmäßig atmen kann. Ich sitze allein am Fenster und bitte die Stewardess um einen Doppelten. Immer wieder gehen mir die Worte meines Nachbarn durch den Kopf.
   »Der vögelt vor meinen Augen die Nachbarin und ich krieg nichts mit!« Wohin soll ich mit der Wut? Wohin mit dem Schmerz? Wann landete dieser blöde Flieger endlich!

Mit einem Taxi lasse ich mich direkt ins Krankenhaus fahren. Auf dem Parkplatz entdecke ich Sophies Wagen. Lars ist also nicht allein. Orientierungslos streife ich durch die Gänge bis ich endlich auf Station E vor der Zimmertür 207 stehe. Meine Beine sind flau. Wie soll ich bloß auf ihn reagieren? Ich hole zwei Mal tief Luft und klopfe kurz an die Tür und trete ein, ohne eine Antwort abzuwarten. Sophie liegt neben ihrem kranken Mann auf dem Bett und streichelt zärtlich seinen Kopf. Sie ist kreidebleich und hat tiefe, dunkle Augenringe. Beim Anblick meines unerwarteten Besuches huscht ihr ein leichtes Lächeln über das Gesicht.
   »Wenn ihr nicht zu mir kommt, komme ich halt zu euch«, sage ich und bin um eine aufmunternde Miene bemüht. Ich trete an das Krankenbett und erschrecke. Der Mann, der kraftlos auf dem weißen Laken liegt, hat nichts mehr mit der Person zu tun, die ich sechs Wochen zuvor in den Langzeiturlaub verabschiedet habe. Sein Körper ist schmal, sein Gesicht grau und eingefallen. Wir Schwestern umarmen uns fest und Sophie räumt ihren Platz. Sie nutzt die Ablösung, um Kaffee zu besorgen. Allein mit mir, ergreift Lars das Wort. In leisem Flüsterton bittet er mich um einen letzten Gefallen.
   »Pass auf meine Sophie auf. Sie säuft wie Loch. Wenn ich nicht mehr da bin, dann musst du dafür sorgen, dass sie wieder in die Spur kommt. Es wird mir leichter fallen zu gehen, wenn ich weiß, dass du dich um sie kümmerst. Bitte, lass sie die erste Zeit nicht allein.« Mir stockt der Atem und es laufen dicke Tränen über mein Gesicht.
   »Du bist und bleibst eine Heulsuse. Aber ich hab dich lieb. Also, versprichst du mir das?« Na klar, verspreche ich es.
   »Du kannst dich ganz fest auf mich verlassen.« Sophie kommt mit dem Kaffee zurück und stellt zwei Plastikbecher auf den Nachtschrank. Gezielt greift sie nach ihrer Handtasche und nimmt eine Flasche Brandy heraus. Völlig unberührt von meinen erstaunten Blicken, schenkt sie die halbgefüllten Becher bis zum Rand voll mit Hochprozentigem.
   »Anders ist diese Plörre nicht zu genießen«, erklärt sie ihre Fivty Fivty Mischung und wirft mir ihren Autoschlüssel zu. »Ich bleibe heute Nacht bei Lars. Wenn du magst, kannst du mir morgen früh frische Sachen bringen. Solltest du hungrig sein, bediene dich an unserem Kühlschrank. Ich habe gestern noch eine Suppe gekocht.«
   »Dose oder Tüte?«, lache ich sie aus. Es ist bekannt, dass sich die Kochkünste meiner Schwester auf das Erwärmen von Fertiggerichten beschränken.

Auf dem Parkplatz ziehe ich sofort meinen warmen Wintermantel aus. Der Kaffee mit Schuss hat mein Blut zum Kochen gebracht und es bilden sich erste Schweißperlen auf meinem Delkotee. Ich öffne den Kofferraum, um mein Gepäck zu verstauen und staune nicht schlecht. Vier leere Schnapsflaschen rollen mir von der Ladefläche entgegen. Lars Befürchtungen sind also nicht unberechtigt. Nach zwanzig Minuten erreiche ich das Fahrziel. Ich öffne das Tor zur Wohnanlage mit einem Sender, den Sophie im Handschuhfach ihres Wagens aufbewahrt. Vorbei an den weiß getünchten Reihenhäusern lenke ich den Wagen im Schritttempo in die Straße zu den Doppelhäusern. Ich parke den Wagen in der Auffahrt der Hausnummer 10 a und b. Ellen sieht mir beim Aussteigen vom Fenster aus zu und öffnet die Tür.
   »Lieb von dir, dass du gleich gekommen bist.« Sie drückt mich fest an sich und nimmt mir die große Reisetasche ab. »Bleibst du länger?«, fragt sie beim Anblick des großen Gepäcks. Ich nicke.
   »Seit wann trinkt Sophie diese harten Sachen?« Meine Mutter kennt die Antwort. Schuld daran ist der Onkologe Professor Dr. Schmiedel aus dem UK Eppendorf in Hamburg. Er hat der aufgelösten Sophie nach dem Überbringen des abschließenden Befundes geraten, die Finger von Beruhigungstabletten zu lassen und stattdessen lieber einen guten Cognac zu trinken.
   »Davon kommen Sie schneller wieder los, als von diesen teuflischen Tabletten«, soll sein Rat gewesen sein.
   »Warum hast du dein Handy ausgeschaltet. Der Faulpelz hat schon drei Mal angerufen, weil er dich nicht erreichen kann.« Ich bleibe die ehrliche Antwort schuldig. Noch bin ich nicht bereit, von meinem verlogenen, fremdgehenden Mistkerl zu berichten. Das wäre nur Wasser auf Ellens Mühlen. Für ihre Hasstiraden habe ich nun wirklich nicht die Nerven. Ich stelle mein Mobiltelefon an und schreibe Steffen eine Kurzmitteilung.

Bin gut gelandet. Nils geht es schlecht. Werde die nächsten Tage hier bleiben. Fahre du mit in den Schnee. Vergiss nicht, Bruno mitzunehmen. Frohe Weihnachten. Danach stelle ich das Telefon aus.

   »Lass uns kochen, Mama. Das macht den Kopf frei.« Ich inspiziere die Vorräte in der Küche und mache mich daran, Gemüse zu schneiden, Fleisch zu marinieren, Fisch zu filetieren und schlage Unmengen an Eigelb für ein üppiges Dessert mit der Hand auf. Ellen lässt mich gewähren, obwohl sie sich über die große Auswahl und die riesigen Portionen wundert. Sie fragt sich, wer das alles essen soll. Aber so bin ich. Eine leidenschaftliche Köchin, eine genussvolle Feinschmeckerin und eine hervorragende Gastgeberin mit dem Hang zur übertriebenen Maßlosigkeit. Mit einem kleinen Weidenkorb und einer Schere bewaffnet, schreite ich durch den Garten. Ich pflücke frische Lorbeerblätter und greife mir reife Zitronen und Orangen vom Baum. Aus dem Kräuterbeet schneide ich kleine Zweige Rosmarin und atmete den Duft tief durch die Nase ein, als das laute Klingeln des Telefons mich aufschreckt.
   »Wenn das wieder Steffen ist, sag ihm, ich wäre am Strand. Ich will nicht mit ihm sprechen!«  Der Anrufer ist nicht Steffen, sondern meine Schwester. Sie ist seit einer halben Stunde Witwe.

Um elf Uhr vormittags hat Sophie schon ihren zweiten Seelentröster intus. Ich trinke in der gleichen Zeit drei. Sie erzählt noch einmal von den letzten Minuten mit ihrem Lars und redet über die anstehende Beerdigung. Wenn die erst mal vorbei ist, wird sie auch loslassen können.
   »Du säufst ja mehr als deine Schwester! Wer ist denn hier die Witwe?« Auf diesen Zynismus gibt es nur eine Antwort.
   »Ich wünschte, ich wäre die Witwe!« Aufgebracht schreie ich mir meinen ganzen Frust von der Seele. Jedes Mal, wenn das Wort »Mistkerl« über meine Lippen kommt, schenkt Sophie nach. Ellen schimpft mit uns.
   »Hört zu, ihr blöden Bälger. Ich habe euren Vater überlebt, der mich jahrelang betrogen hat. Und ich habe Peter überlebt, der war zwar treu, aber herzkrank. Euer Leben geht auch weiter, es sei denn, ihr beschließt, euch hier heute tot zu saufen. Wenn ihr das vorhabt, dann Beeilung. Der Termin zur Überführung ist nämlich fix in zwei Wochen.« Mit diesen Worten nimmt sie die Flaschen vom Tisch und geht zurück ins Haus.

An Schlafen war die ganze Nacht nicht zu denken. Am Morgen zeigt mein Handy zehn Anrufe in Abwesenheit. Da ich aber schon mit Frederik gesprochen habe, kann es nur der Mistkerl gewesen sein.
   »Ich werde mich scheiden lassen!«
   »Meinen Segen hast du.« Dass meine Mutter das sagt, ist keine große Überraschung.
   »Ich werde keinen Tag länger mit ihm in unserem Haus wohnen. Ich schmeiße ihn raus.«
   »Dann wollt ihr künftig als Nachbarn neben einander leben?« Sophie trinkt ihren Frühstückskaffee mit Schuss. Sie schwört darauf. »Das hilft gegen den Morgenkater.«
   »Auch ein Tipp von Dr. Schmelzer?« Ellen ist wütend. »Dem sollte man die Approbation entziehen!«  
   »Hör zu Schwesterchen, du hast meinen Hausschlüssel und kannst jederzeit bei mir wohnen«, bietet Sophie mir an. Ich bleibe bis Neujahr. Wie schön es im Süden ist, denke ich noch, als Ellen mir zum Abschied nachwinkt.

In Hamburg gelandet, schalte ich mein Handy ein. Ungelesen lösche ich 45 neue Nachrichten und 37 Anrufe in Abwesenheit. Ein Taxi fährt mich in die Eichenallee. Im Vorgarten der Hausnummer 19 fegt die Frau, der ich am liebsten die Augen auskratzen würde, Feuerwerkkörper der vergangenen Silvesternacht zusammen.
   »Sie sind aber fleißig, Frau Kaltenbach.«
   »Sind Sie zurück von Ihrer Schwester? Ihr Mann hat mir vor seiner Abreise davon erzählt. Mein Beileid, Frau Simon.«
   »Ja, es ist schon schlimm, wenn man von heute auf morgen ohne Mann da steht. Sie kennen das ja auch irgendwie, wenn auch nicht als Witwe. Haben Sie gar keinen Kontakt mehr zu Ihrem getrennt lebenden Ehemann?« Ich bin auf beide der möglichen Antworten vorbereitet und konter mit Variante eins. »Ich schon! Wir haben uns gerade vor einigen Tagen getroffen und richtig nett geplaudert. Sie glauben gar nicht, wie aufschlussreich die Unterhaltung für mich war.« Ich brauche nicht weiter zu sprechen. Elke weiß genau, was Inhalt dieses Gespräches war. Sie läuft puterrot an und bleibt stumm.
   »Gratuliere. Sie haben es geschafft, eine 26 jährige Ehe zu zerstören. Aber die gerechte Strafe folgt auf dem Fuße. Nun haben Sie Steffen an der Backe und müssen ihn behalten! Irgendwann werden Sie merken, wen Sie sich geangelt haben. Allerdings ist es dann zu spät, denn vom Umtausch ist er ausgeschlossen. Das hätten Sie vorher bedenken sollen!«

Ich schließe die Haustür auf und mache mich daran, in Ruhe meine Koffer zu packen. Als alle persönlichen Sachen im Auto verstaut sind, schreibe ich noch einen Zettel, den ich auf den Küchentresen lege.

Die Idee von der Hypothek kannst du vergessen! Das Haus wird verkauft. Sollen deine Anwälte doch ausrechnen, ob oder was dir zusteht. Mit dir bin ich fertig!

Mein Blick fällt auf die Obstschale, in der ich die Kräuterbonbons und die Visitenkarte von Thomas aufbewahrt habe. Mit einem Griff stecke ich alles in meine Manteltasche und verlasse das Haus.
 

Ich wohne jetzt in einer weißen Villa im noblen Stadtteil Blankenese. Weinen kann ich nicht mehr. Mein Reservoir an Tränen ist aufgebraucht. Zielstrebig nehme ich mein neues Single Leben in die Hand und steige von Alkohol auf Apfelsaftschorle um. Ich beauftrage einen Immobilienmakler mit dem Verkauf des Hauses. Bei der starken Nachfrage in Hamburg, sollte es kein Problem sein, den Kasten schnell los zu werden. Auch vereinbare ich einen Termin beim Gynäkologen, um sicher zu stellen, dass ich mir bei diesem Mistkerl nichts eingefangen habe. »Alles in Ordnung!« Der Befund lässt mich wieder ruhiger schlafen.

Steffen ruft mehrmals täglich in der Firma an. Aber Maike hat strikte Anweisung, keine Gespräche durchzustellen. Bis zur Trauerfeier hoffe ich, mich ihm entziehen zu können. Mit voller Kraft stürze ich mich in die Arbeit und bereite die anstehende Messe in München vor. Mit einem nach Marzipan duftenden Kirschkernöl probiere ich verschiedene Rezepte für eine Körperbutter, eine Massagebalm und ein Körpergel aus. Mit passenden Düften werden die Testansätze mit Essenzen aus Kirschblüten, Vanille und schwarzem Pfeffer aromatisiert. Die Duftmuster fülle ich in kleine Braunglasflaschen und gehe zu Maike an den Empfangstresen.
   »Wie findest du das? Ganz zufrieden bin ich noch nicht.«
   »Oh, ich finde es genial, Frau Simon. Damit werden Sie auf der Beauty Ausstellung brillieren.« Maike verabschiedet sich in den Feierabend. Solange ich zu tun habe, geht es mir gut. Sobald es still um mich wird, kriechen diese beklemmenden Gefühle wieder in meine Brust und ich bekomme das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Ich lösche das Licht und verschließe das Firmengebäude von außen. Als ich in meinen Wagen steige, steht Steffen plötzlich vor mir.
   »Geh mir aus dem Weg oder ich fahre dich über den Haufen!«
   »Rede mit mir!« Mit beiden Händen stützt er sich auf die Motorhaube und fleht mich an. Unbeirrt lasse ich den Motor an.
   »Ich will mit dir reden! Entweder jetzt oder ist es dir lieber vor allen Leuten in der Trauerkapelle!«
   »Du Arsch! Du schreckst wohl vor gar nichts zurück?«
   »Ich liebe sie nicht. Mit Elke, das war nur Sex. Belanglos!« Ich hole tief Luft und sehe ihn fassungslos an.
   »Dann hast du unsere Ehe wegen belanglosem Sex aufs Spiel gesetzt? Schade, ich hätte nach so vielen Jahren mit dir einen höheren Einsatz erwartet.«
   »Komm mit nach Hause!«
   »Es gibt kein Zuhause mehr.« Steffen schüttelt ungläubig den Kopf.
   »Du willst wegen so was unsere Ehe und unser gemeinsames Leben aufgeben.«
   »So was? So was war kein One Night Stand, den ich dir vielleicht hätte verzeihen können. So was, war eine Beziehung über Monate. Bestimmt wäre das noch ewig so weitergegangen, hätte ich nicht zufällig Norbert getroffen.«
   »Es war nur Sex! Wie Dampf ablassen. Da waren nie Gefühle im Spiel!«
   »Du brauchtest Elke, um deinen Dampf abzulassen?« Ich bin entsetzt.
   »Du warst ja nie da. Auf Reisen, in der Firma, müde oder schlecht gelaunt.« Steffen sucht nach Erklärungen.
   »Ich war nie da, weil ich unseren Lebensunterhalt verdient habe. Müde und schlecht gelaunt war ich, weil ich den Karren immer ganz allein ziehen musste, während du dich hier vergnügt hast. Clever Steffen! Eine Frau zu haben, die dich versorgt und nebenan eine zweite, die es dir besorgt. Mit mir nicht mehr! Dein feines Leben ist vorbei! Ich bin raus!«
   »So war es doch gar nicht. Nun lass dir doch erklären«. Ich habe genug gehört.
   »Ich denke, es ist alles gesagt. Ich steige ins Auto und fahre mit quietschenden Reifen davon.
 

Die Kapelle ist bis zum letzten Platz gefüllt. Sophie hält sich tapfer. Sie hat zwar versprochen, es ohne den Seelentröster zu versuchen, blieb aber nicht standhaft. Steffen sitzt in der vierten Reihe. Ellen hat ihn zuvor mit ihren Blicken auf die hinteren Plätze verwiesen. Hanna und Karl sind auch mit gekommen. Hanna weint bitterlich. Vermutlich mehr über den Verlust ihrer Schwiegertochter, als über das Ableben von Lars. Auf dem Parkplatz werde ich von ihr aufgehalten. »Ach Kind, was macht ihr bloß? Die ganze Familie bricht auseinander. Du hast Steffen verlassen und Frederik ist bei Nadja ausgezogen. Daran sind nur wir Schuld. Hätten wir euch nicht mit dem Urlaub überfallen, wäre noch alles beim Alten.« Ich verstehe kein Wort. Dass Frederik ausgezogen ist, weiß ich gar nicht. »Du hast nichts von der Krisenstimmung bei den kleinen Juniors mitbekommen? Nadja hat in Tirol das Pistenluder gegeben. Erst hat sie ungeniert mit dem Snowboard Lehrer geflirtet, dann trank sie mit allen Männern Brüderschaft und morgens hab ich sie aus einem fremden Zimmer kommen sehen. Sie hat sich aufgeführt wie eine läufige Hündin. Das war schon nicht mehr schön. Ich glaub, sie kommt ganz nach ihrer Mutter.« Ich bin sprachlos und mir wird auf der Stelle übel. So sehr hat mich Hannas Bericht erschüttert.
   »Steffen bereut es so. Denk doch noch einmal darüber nach. 26 Jahre gibt man doch nicht so einfach auf.« Ich habe kein Interesse an ihren Versöhnungsversuchen, vielmehr halte ich aufgeregt Ausschau nach meinem Sohn. Mit vorwurfsvollem Blick steuere ich auf mein Einzelkind zu und ziehe ihn zur Seite.
   »Ich habe dir extra nichts gesagt. Du hast schließlich eigene Probleme. Für kurze Zeit bin ich bei Papa untergekrochen.«
   »Nadja ist schwanger! Ihr erwartet euer drittes Kind!«
   »Davon, dass ich zum dritten Mal Vater werde, bin ich nicht mehr überzeugt. Ein Vaterschaftstest wird nach der Geburt Klarheit schaffen. Bis dahin bin ich weg.«  Mit einem Küsschen verabschiedet er sich.

Auf der Fahrt in die Firma frage ich mich, was noch alles passieren soll. »Alles gerät aus den Fugen. Heute habe ich meinen liebsten Schwager und ältesten Freund beerdigen müssen, meine Ehe ist gescheitert, die meines Sohnes steht auf der Kippe und mein Zuhause steht zum Verkauf.«  Nach Maikes Beichte ändert sich meine Stimmung schnell. Selbstmitleid und Trauer weichen unbändiger Wut. Sie hat es versäumt, ein Hotelzimmer für mich zu buchen und versucht bereits seit Stunden, noch eine Unterkunft für die Messezeit zu ergattern. Ich bin stink sauer und beschließe, bei Sarah anzurufen. Vielleicht hat sie ja noch eine Idee. Ich erreiche nur den Anrufbeantworter.
   »Hallo Sarah. Ich werde morgen und Sonntag in München auf der Beauty Messe sein. Bist du am Wochenende zu Hause? Wollen wir uns treffen? Melde dich doch mal schnell zurück.« Bevor ich auflege,  meldet sich eine Stimme. »Hallo?« Es ist Anke, Sarahs langjährige Lebensgefährtin und die Liebe ihres Lebens, wie die ehemalige Moderatorin bei jeder sich bietender Gelegenheit beteuert.
   »Grüß dich, Marie«, krächzt es aus dem Telefon. »Sarah ist im Atelier, soll ich sie für dich rufen?«
   »Bist du krank?«
   »Nein, du hast mich aus dem Schlaf gerissen. Ich hatte Doppelschicht und bin noch gar nicht ganz bei mir.« Anke arbeitet als Stationsärztin im Klinikum an der Isar. Sie ist eine sympathische Mittvierzigerin und besitzt einen unschlagbaren Humor und Mutterwitz.
   »Magst du bei uns übernachten? Das Geld für dein Hotel können wir doch besser versaufen und verfuttern.« Das ist typisch Anke. Auch sie kennt das Leben als Alleinverdienerin. Mit Freude nehme ich die Einladung an.

Nach 860 gefahrenen Kilometern und zwei nicht endenden Staus komme ich gehetzt und erschlagen auf dem Münchner Messegelände an. Es bleibt noch genau eine Stunde Zeit, um alle Pflegeprodukte zu platzieren, Werbedisplays aufzustellen, zu dekorieren und die Produktbroschüren in der Pressestelle abzugeben, bevor sich die Tore zur Beauty Messe öffnen. Der junge Mann vom Sicherheitsdienst, der in der Nacht für die Standbewachung zuständig war, spricht mich in seinem warmen bayrischen Akzent an. »Nur mit der Ruhe, junge Frau. Lassen Sie sich Zeit. Ich kann Ihnen beim Ausladen und Aufbauen helfen.« Junge Frau! Das habe ich schon lange nicht mehr gehört. Es gefällt mir, obwohl ich genau weiß, dass es nur eine freundliche Floskel ist und keinesfalls der Wahrheit entsprechen kann. Ich sehe nämlich furchtbar aus. Die lange Nachtfahrt hat ihre Spuren hinterlassen. Gerade der richtige Look für eine Schönheit Messe denke ich so bei mir, als ich mich im Toilettenraum noch kurz frisch mache. Gleich werden sie kommen. Die Nagel Designerinnen, die Kosmetikerinnen, die Fußpflegerinnen und Scharen von Berufsschülern, die meinen kleinen Messestand belagern und nach kostenlosen Mustern fragen. Wie gewohnt werden die meist weiblichen Besucher wieder unheimlich begeistert und entzückt sein. Den Duft und die Konsistenz der Cremes in höchsten Tönen loben. Nur kaufen würden sie nichts. Ich warte auf ein ganz anderes Klientel. Entscheidungsbefugte SPA Manager, Besitzer von Wellness Hotels oder Grossisten aus dem In- und Ausland. Bis zur Mittagszeit ist noch kein erfolgsversprechender Kontakt zustande gekommen. Mein Blick richtet sich auf eine Gruppe Anzug- und Kostümträger. Ein stark übergewichtiger Kahlkopf im dunkelblauen Zweireiher scheint ihr Anführer zu sein. Er delegiert seine normal proportionierten Untertanen nach links und rechts und nimmt dann schließlich selbst Kurs auf. Direkt auf meinen Stand.
   »Guten Tag, mein Name ist John McEnroe von McEnroe Purchasing Services«. Ich erspare mir die Anmerkung mit der Namensgleichheit zum ehemaligen Tennisprofi. Es ist offensichtlich, dass es sich bei diesem Herrn nicht um den amerikanischen Spitzensportler handelt. Ich setze mein freundliches Messegesicht auf und begrüße ihn.
   »Herzlich willkommen. Was darf ich Ihnen zeigen?«  John erklärt, dass er ist Chef einer internationalen Einkaufsagentur ist  und für seine Großkunden nach innovativen Hautpflegeprodukten sucht. Das Wort Großkunde löst bei mir sofort einen kleinen Hitzewall aus. Ich nehme mein vorbereitetes Pausenschild zur Hand und stelle es mit Nachdruck auf den Tresen.
   »Wollen wir uns setzen?« Ohne seine Antwort abzuwarten schreite ich zum Besprechungstisch und weise ihm per Handzeichen einen freien Stuhl zu. Diesen Fisch werde ich nicht so schnell wieder von der Angel lassen. McEnroe drückt sein überdimensional ausgestattetes Gesäß in den schmalen, schwarzen Freischwinger aus Kunstleder.
   »Die Produkte, die ich in diesem Jahr neu entwickelt habe sind klassische Körperpflegeprodukte für die kaufkraftstarke Zielgruppe der Silver Ager. Meine Anti Age Pflege ist rein natürlich und wird mit Bio zertifizierten Wirkstoffen formuliert. Sehen Sie, das ist unser Body Gelée. Dieses Gel glättet die Haut wie ein Öl und schützt sie vor schnellem Austrocknen wie eine Lotion. Basis ist ein kaltgepresstes Kirschkernöl, das exklusiv für uns in der Türkei produziert wird. Es riecht wunderbar nach Marzipan. Schnuppern Sie mal! Besonders hervorheben möchte ich den natürlichen Wirkstoffcocktail aus mikroverkapselten Frischfruchtzellen.«  McEnroe steigt schon bei Marzipan aus. Wenn ich mich für etwas begeistern kann, rede ich mich leicht in Rage. Habe ich ihn verschreckt?
   »War das zu schnell für den Moment?«
   »Nein, ganz im Gegenteil.« Er schnuppert immer noch und genießt den einmaligen Marzipangeruch.
   »Mir gefällt es außerordentlich gut. Haben Sie auch schriftliche Informationen?« Ich reiche ihm eine Broschüre aus meiner Dokumentenmappe und warte gespannt auf die Reaktion meines Gegenübers. Er schaut auf seine teure Armbanduhr.
   »Ich treffe mich gleich im Bistro mit meiner Crew. Dann werden wir Ihr Angebot im Team besprechen. Wenn es allen gefällt, werde ich sie in den nächsten zwei Stunden wieder aufsuchen und wir können alles Weitere besprechen.« Er erhebt sich.
   »Ach du liebe Zeit«, platzt es aus mir heraus. Der schwarze Freischwinger aus Kunstleder klemmt sein breites Hinterteil ein. Nun klebt der Stuhl fest an seinen Hüften. Ich halte den Atem an und zähle in Gedanken bis drei. Ohne diesen Trick hätte ich sofort loskreischen müssen. Souverän und mit aller Kraft ziehe ich an den geschwungenen Stuhlbeinen und befreie den Freischwinger von McEnroes Fettarsch. Er scheint von dieser Peinlichkeit nicht wirklich berührt zu sein. Vermutlich ist es nicht das erste Mal, dass ihm so etwas passiert.
   »Na, dann vielleicht bis später.« Ich nehme das Pausenschild vom Tresen und hoffe, dass die kommenden 120 Minuten schnell, ganz schnell vergehen. Die Prospekte gehen zur Neige. Soll ich noch Nachschub aus dem Auto holen? Die Messe ist in weniger als einer Stunde zu Ende. Er kam nicht zurück. So entscheide ich mich für den Gang zum Parkplatz. In diesem Moment spricht mich eine zarte Größe 34 im dunkelblauen Kostümchen an.
   »Sabrina Krause, von McEnroe Purchasing Services.« Sofort bin ich auf Empfang programmiert. »Wir würden gern mit Ihnen ins Geschäft kommen. Können Sie sich vorstellen, Ihre Pflegeprodukte im TV zu präsentieren? Unser Kunde QHS gehört zu den größten TV Shopping Sendern und ist ganz begeistert von Ihren Artikeln. Wir haben uns heute Mittag mit der Bereichsleiterin Beauty von Quality Home Shopping hier auf dem Gelände getroffen und sie hat mich beauftragt, den Kontakt zu Ihnen herzustellen.«
   »TV Shopping? Meinen Sie diese Verkaufskanäle im Fernsehen, wo Töpfe, Bettdecken und Werkzeuge verkauft werden?«
   »Im Prinzip schon. Aber das Sortiment ist deutlich umfangreicher als Sie denken. Im Bereich Beauty werden Umsätze in Millionenhöhe erzielt.« Ich überlege, ob ich Frau Krause einen Platz anbieten soll, um das Gespräch in Ruhe fortsetzen zu können. Aber sie kommt mir zuvor.
   »Leider hinke ich meinem heutigen Zeitplan sehr hinterher. Ich möchte noch zwei weitere Stände besuchen.« Sie übergibt mir eine Visitenkarte mit der Bitte, mir das Ganze einmal in Ruhe durch den Kopf gehen zu lassen und verabschiedet sich mit dem Wunsch nach einem baldigen Rückruf.
 

Die freundliche Stimme im Navigationsgerät lotst mich nach dreißig Minuten an den Stadtrand am anderen Ende von München. Sarah und Anke empfangen mich mit Herzlichkeit und Bussi links und Bussi rechts.
   »Du siehst aber abgekämpft aus.«
   »Ja, meine Füße sind rund wie ein Ball.« Sarah schnappt sich meinen Koffer und schlägt mir vor, erst einmal ein schönes Bad zur Entspannung zu nehmen.
   »Da sage ich nicht nein.« Während im Badezimmer das Wasser einläuft, packe ich meinen kleinen Reisekoffer aus. Anke und Sarah kümmern sich um das Abendessen und ich steige in die übergroße Wanne, die von meinen Gastgebern liebevoll mit brennenden Teelichten dekoriert ist. Lang strecke ich mich im warmen Wasser aus und atme die ätherischen Öle von Bitter Orange und Minze tief ein. Gerade schließe ich für einen Augenblick die Augen, als Anke und Sarah mit drei Gläsern und einer Flasche Riesling Sekt ins Zimmer treten.
   »Sauf uns hier ja nicht ab. Ich bin froh, dass ich an diesem Wochenende endlich mal dienstfrei habe. Auf Wiederbelebungsmaßnahmen kann ich heute gut verzichten.« Die Ärztin setzt sich im Schneidersitz auf die flauschige Badematte und Sarah pflanzt sich auf einen kleinen Hocker.
   »War der Tag erfolgreich für dich?«
   »Das kann ich noch nicht mit Gewissheit sagen, auf jeden Fall ist mir etwas unglaublich Komisches passiert.« Ich erzähle von der Begegnung mit McEnroe und dem Freischwinger und wir brechen in lautes Gelächter aus.
   »Pfui!«, höre ich eine laute Männerstimme von draußen rufen. Anke steht auf und schließt das Fenster und zieht die Jalousien runter.
   »Der alte Spanner steht schon wieder im Garten und beobachtet uns«, flucht sie. Diese bayrische Vorstadtgegend ist nicht tolerant gegenüber lesbischen Beziehungen.
   »In zehn Minuten können wir essen.« Ich schlüpfe in meine graue Wohlfühlhose und ziehe ein weites T Shirt über. In der Küche warten drei riesige Wiener Schnitzel auf ihren Verzehr. Sarah hat dazu ihren weltberühmten Kartoffelsalat gemacht.
   »Wein oder Bier zum Essen?« Unsere Damenrunde entscheidet sich geschlossen für Wein. Als ich anfange, vom Global Quality Home Shopping TV zu erzählen, ist Sarah ganz Ohr. Anke springt vom Tisch auf, läuft in das angrenzende Wohnzimmer und stellt den großen Flachbildfernseher an. Mit ihrer Fernbedienung zappt sie solange durch alle Kanäle bis sie auf den Sendeplatz von QHS trifft.
   »Das glaubt ihr nicht. Kommt schnell rüber!«, ruft sie. Wir staunen nicht schlecht. Es läuft gerade die Präsentation einer Fett-Weg Unterwäsche Kollektion, die von einem schmierigen Marktschreier angepriesen wird.
»Ist das nicht der WAHNSINN meine Damen draußen an den Schirmen. Essen so viel man mag, ohne an die Pfunde zu denken. Mit unserer feschen Fett-Weg-Unterwäsche sehen Sie nicht nur zehn Kilo schlanker aus. Sie sind auch dabei auch noch sexy angezogen. Ist das nicht der WAHNSINN meine Ladies. Schauen unser Model Gerda an. Sie trägt eigentlich Konfektionsgröße 48. Mit der sexy Fett-Weg Unterwäsche kann sie nun auch Kleider der Größe 44 tragen. Wenn das nicht der WAHNSINN ist.« Gerda dreht sich mit einem gequälten Lächeln vor der Kamera von links nach rechts und klimpert dabei aufgeregt mit den Augen.
   »Die kriegt ja gar keine Luft, die Arme.«
»Ist das nicht der WAHNSINN«, schreit er jetzt noch lauter.
»Und sehen Sie diese WAHNSINNigen Farben an. Schoko, Brombeere, WAHNSINN, Rose, Pflaume, Schwarz und Nachtblau. Der helle WAHNSINN, sage ich Ihnen. Oh, ich höre gerade, Schoko und Pflaume sind in den Größen XL, XXL schon begrenzt. Also ganz schnell ans Telefon meinen Damen. Schnell hab ich gesagt! Ist das nicht der WAHNSINN.« Gerda ist zwischenzeitlich schon nachtblau passend zu ihrem Ganzkörper Fett-Weg-Body angelaufen. Unter Schnappatmung verlässt sie den Laufsteg. Anke hat genug gesehen und erhebt sich vom Sofa.
   »Spatzl, willst du uns jetzt auch schnell etwas bestellen. Beeile dich, sonst ist alles ausverkauft.«
   »Ich nehme Pflaume«, gackert Anke. Ich halte mir den Bauch und kann mich vor Lachen kaum noch auf dem Sofa halten.
   »Der war doch auf Koks!« Als TV Expertin kennt Sarah sich damit aus. Wir Frauen schnattern noch eine ganze Weile. Anke erzählt von ihrem tollen Weihnachtsurlaub, der sie nach Madeira führte. Beide berichten mir von den Anfeindungen in ihrer Nachbarschaft und schließlich zeigt Sarah noch ihre neuesten Kunstwerke. Als Anke die vierte Flasche Wein öffnen will, stehe ich auf.
   »Ohne mich. Ich muss jetzt wirklich in die Falle«. Ich schlafe fest wie ein Stein.

Die Nacht war kurz und ich hätte glatt verschlafen, wenn meine Gastgeberin mich nicht mit einem starken Espresso bewaffnet aus dem Bett geschmissen hätte.
   »Frühstückst du noch mit uns? Anke ist gerade los und holt uns frische Semmeln.« Aber ich muss ablehnen. Als Anke und Sarah mich am Auto verabschieden, entdecke ich den Spanner vom Vorabend. Der alte Mann mit Hut steht an seinem Zaun. Wieder ruft er: »Pfui« und »Dreier« zu uns rüber. Nachdem ich meinen Koffer auf den Rücksitz gestellt habe, gehe ich schnurstracks auf ihn zu.
   »Dreier?  Nein, alter Mann, einen Dreier haben wir nicht gemacht. Wir haben ein Frauen Doppel gespielt. Die Vierte hängt noch oben angekettet an der Wand.« Im Rückspiegel sehe ich, wie Anke dem Alten den Stinkefinger zeigt. Was es doch nur für schreckliche, intolerante Leute gibt, wundere ich mich auf dem Weg zur zweiten Runde Messewahnsinn.
 

Mit rund dreißig neuen, vielversprechenden Kontakten fahre ich am Abend erschöpft von München in Richtung Hamburg zurück. In Höhe Würzburg verlassen mich die Kräfte und ich steuere vorsichtshalber ein Hotel an. Körperlich völlig erledigt liege ich auf dem Einzelbett und stelle nach zwei Tagen das erste Mal wieder mein Handy an. Zehn unbekannte Anrufe in Abwesenheit. Ich vermute Steffen hinter den anonymen Kontaktversuchen. Bisher drückte ich seine Anrufe immer erfolgreich weg. Zwei neue Kurzmitteilungen wecken allerdings mein Interesse. Die erste SMS ist von Nadja. Sie bittet mich um ein Treffen. Die zweite Nachricht wird mit der Auslandsvorwahl von Frankreich angezeigt. Thomas Helmrich, der Einscheiben-Wurst-Mann schreibt mir kurz aber frech: Seit deinem Satz »Irgendwann sollten Sie ja mal satt sein«, hab ich mich in dich verliebt. Was dich angeht, bin ich ein Nimmersatt. Wann darf ich dich endlich wiedersehen? Thomas. Ungläubig starre ich auf das Display. Ich lese die Nachricht immer wieder und amüsiere mich köstlich. Zu einer Antwort kann ich mich allerdings nicht durchringen.

Als ich am Montagmittag im Labor eintreffe, bin ich noch immer heiser. Der Messemarathon schlägt mir jedes Mal auf die Stimmbänder. Ich übergebe Maike einen Karton mit Adressen potentieller Neukunden, die von ihr in die Kartei aufgenommen werden sollen. Nadja wartet schon in meinem Büro und weint. Sie sucht krampfhaft nach Erklärungen für ihren Aussetzer, wie sie es nennt. Dennoch gibt sie zu hundert Prozent Frederik die Schuld daran.
   »Er unterstützt mich gar nicht und hat nur seinen Sport im Kopf.« 
   »Wie soll es nun bei euch weitergehen?«
   »Frederik will nicht zurück kommen. Wir wollten uns gestern aussprechen, haben aber nur gestritten. Er ist so stur. Warum kann er mir nicht verzeihen?«  Nadja weint lauter.
   »Du kannst die Kinder jederzeit zu mir bringen, egal wie ihr beide euch entscheidet. Ich bleibe immer die Oma für deine Kinder.« Maike klopft an die Tür und lässt durch den offenen Türspalt wissen, dass sie einen wichtigen Termin vereinbart hat.
   »Am Freitag, nächster Woche um elf Uhr dreißig bekommen Sie Besuch von einer Frau Schäfermann aus dem Hause QHS. Sie wollte zwar, dass sie zu ihr fahren, aber ich habe ihr gesagt, dass es bei uns üblich ist, Erstgespräche in unserem Haus stattfinden zu lassen«. Mit einem Gesichtsausdruck der Zufriedenheit bedanke ich mich für die gute Nachricht. Wenn privat schon alles den Bach runter geht, soll wenigstens dem geschäftlichen Erfolg nichts mehr im Wege stehen. Ich verziehe mich in meinen sterilen Laborraum. Als Perfektionistin bin ich noch immer nicht mit dem Duft der neuen Kirschserie zufrieden. Unter den Vorschlägen meines Partners in Aroma Fragen, dem Chefparfumeuer Monsieur Crouchon aus Grasse, waren auch noch keine 100%igen Treffer. Ich stelle alle bisherigen Testansätze in einen Karton und beschließe in die Villa nach Blankenese zu fahren und Sophies geschulte Nase zu Rate zu ziehen.

Beim Eintreten stolpere ich über drei Koffer und zwei Reisetaschen, die in der Eingangsdiele stehen. So schnell habe ich mit der Abreise meiner Schwester nicht gerechnet. Im Wohnzimmer stelle ich erst einmal den überlauten Fernseher aus. Sophie schläft tief und fest auf dem großen Sofa und schnauft vor sich hin. Ein Glas und eine fast geleerte Flasche Cognac auf dem Tisch lassen erahnen, dass sie den Tag wieder mit ihrem Seelentröster verbracht hat. Mein Versuch, mein Schwesterchen zu wecken, bleibt ohne Erfolg.
   »Sie hat sich wieder dicht gesoffen«, schimpfe ich und nehme das Glas und die Flasche vom Tisch und bringe alles in die Küche. Auf der Arbeitsplatte liegen ausgebreitet Ausweispapiere, Flugticket, Brieftasche und ein Adressbuch. Ich nehme das Ticket in die Hand und suche nach den Flugdaten. Es bestätigt sich, dass sie den Abflug für den nächsten Tag gebucht hat. Kopfschüttelnd blicke ich auf meine komatöse Schwester.
   »Das denkst aber nur du!« Ich bin fest entschlossen, sie in dieser Verfassung nicht allein an die Algarve zurückkehren zu lassen und stelle das Gepäck zurück, bevor auch ich schlafen gehe.

»Meine Maschine geht in zwei Stunden. Und ich werde an Bord gehen. Was denkst du dir? Glaubst du ich brauche einen Aufpasser?« Sophie ist außer sich vor Wut.
   »Ist dir vielleicht mal die Idee gekommen, dass ich dich brauchen könnte? Mein bisheriges Leben läuft gerade aus dem Ruder und geschäftlich stehen wir vor der größten Herausforderung seit Firmengründung. Was ist nun? Lässt du mich hängen oder kann ich auf dich zählen?«, schwindel ich sie an. Mir ist klar, dass ich sie nur mit dieser Taktik aufhalten kann. Ich öffne den Karton mit Duftmustern und berichte ausführlich von der Messe und dem anstehenden Termin mit der Beauty Tante vom Sender. Sophies Schnupperfähigkeiten sind wohl dem übermäßigen Genuss von Brandy zum Opfer gefallen. Sie ist in der Aroma Frage keine große Hilfe. Aber sie rät mir, schnellstens nach Grasse zu reisen, um mit Crouchon persönlich nach dem perfekten Duft zu suchen. Ich muss grienen. Nachdem ich meinen Flug nach Nizza gebucht habe, berichte ich meiner Schwester von dem Einscheiben-Wurst-Mann und seiner SMS. Ich habe sie noch nicht gelöscht und lese sie laut gackernd vor.
   »Ruf ihn an! Das ist die beste Möglichkeit, deinen treulosen Mann aus dem Kopf zu bekommen. Solltet ihr euch treffen, dann spielst du hoffentlich nicht wieder das Blümchen Rührmichnichtan. Du lässt dir gefälligst von ihm deine trüben Gedanken aus dem Kopf ficken. Und zwar so oft und so lange bis du wieder klar bist, hast du verstanden!«
   »Du hast eine Wortwahl, seitdem du säufst. Daran werden wir arbeiten müssen, wenn ich zurück bin.« Albern wie ein kleines Schulmädchen gluckse ich vor Freude, als ich die Nachricht an Thomas abschicke.

Hallo Nimmersatt, wenn du mich sehen willst, dann komme morgen nach Nizza zum Flughafen. Ich lande um 12.20 h. Grüße Marie

Diesmal kann ich keinen Fensterplatz ergattern. Nach fast drei Stunden Flugzeit landet der Flieger mit Verspätung. Die Wartezeit auf meinen Koffer kommt mir unendlich vor. Als ich durch die Glasschiebetür trete, sehe ich den erfreuten Thomas schon von Weitem winken. Optisch ist er eigentlich nicht mein Typ. Im Vergleich zu Steffen schneidet er schlechter ab, obwohl er gute zehn Jahre jünger ist, als der Mistkerl. Sein lichtes, blondes Haupthaar lässt erahnen, dass seine hohen Geheimratsecken bereits rasante Fahrt in Richtung Glatze aufnehmen. Allerdings ist er deutlich höher gewachsen und sein Körper deutet auf regelmäßige, sportliche Aktivitäten hin. Mit einer Größe von 1,98 überragt er mich um einundeinhalb Köpfe. Er stürmt auf mich zu und greift mich mit beiden Armen, wirbelt mich hoch in die Luft und dreht mich schnell und schneller herum. Nach meinem Geschmack ist die Begrüßung deutlich zu überschwänglich, aber ich lasse mich darauf ein.
   »Du bist wirklich gekommen«, sagt er, »ich wollte es erst gar nicht glauben, als ich deine Nachricht heute früh gelesen habe. Du bist da. Wie ich mich freue.« Seine Augen leuchten und er schlägt vor, schnell von diesem unromantischen Ort zu verschwinden. Ich bin fest entschlossen, das Unternehmen Fronkreisch in vollen Zügen auszukosten.
   »Morgen Nachmittag habe ich einen Termin in Grasse. Bis dahin sollst du bestimmen, was passiert.« Habe ich das wirklich gesagt? Oh Gott. Dann hätte ich auch gleich sagen können, bis morgen um zwei möchte ich gern gefickt werden, danach brauche ich allerdings eine kurze Pause, denn ich habe noch einen Termin um drei Uhr in Grasse.
   »Lass uns doch bitte die Landstraße nehmen«, bitte ich ihn, als er die Richtung zur Autobahn einschlagen will. »In der kurzen Zeit, die mir bleibt, möchte ich gern die Landschaft an der Küste genießen.« Ich kenne mich in dieser Region recht gut aus. Als Kind verbrachte ich mit Ellen und Sophie oft die Ferien auf diesem Küstenabschnitt
   »Du hast bestimmt Hunger. Jetzt ist eine gute Zeit, um dich lecker zum Essen auszuführen. Die kleinen Strandbistros sind geöffnet und wenn du mit einem Snack zufrieden bist, dann kenne ich einen schönen Ort.« Thomas fährt eine kleine Strandbar an. Die in der Wintersaison verglaste Terrasse ist nur mit zwei Tischen besetzt. Ich setze mich an einen freien Platz direkt ans Fenster und wähle Muscheln und eine Karaffe Roséwein dazu. Die direkte Aussicht aufs Meer bringt mich zum Schwärmen.
   »Gibt es etwas Schöneres, als bei einem guten Essen aufs Meer schauen zu können? Ich wüsste nichts!«
   »Mal sehen, was der Abend noch bringt.« Thomas lacht und sieht mir dabei tief in die Augen.

Er biegt von der Küstenstraße ab in Richtung Berge. Sein Haus liegt auf einem Weingut. Nicht seinem Weingut, wie er gleich klarstellt. Er wohnt dort zur Miete. Vor Jahren baute er in Eigenarbeit einen ehemaligen Geräteschuppen zu einem kleinen, idyllischen Wohnhaus um.
   »Ich mache uns den Kamin an.« Die Abende sind auch in Südfrankreich zu dieser Jahreszeit noch kalt und ungemütlich. Ich bleibe bei Roséwein. Thomas mustert mich von oben bis unten.
   »Du bist noch viel schöner als in meiner Erinnerung. Du solltest dich sehen, wie dein Haar in diesem Licht glänzt.« Ich denke, dass bei dieser Funzel Beleuchtung selbst meine Schwiegermutter Hanna noch als Schönheit durchgehen würde. Ich sage aber nichts und beschließe, die Komplimente meines bemühten Gastgebers zu genießen. Dennoch kriecht langsam die Panik in mir hoch. Während meiner langen Zeit mit Steffen habe ich noch nie mit einem anderen Mann geschlafen. Abgesehen von Matthias. Aber das war vor meiner Ehe und lag schon über 28 Jahre zurück. Thomas ist betont zärtlich. Zu zärtlich für meinen Geschmack. Es fühlt sich für mich an, wie eine Untersuchung beim Frauenarzt. Wenn Dr. Petermann meine Brust nach Knoten und meinen Körper nach anderen Auffälligkeiten abtastet, ist das gleichermaßen erotisch. Aber was soll’s? Ist doch nur Sex! Oder was hat Steffen gesagt. Nun werde ich mal Dampf ablassen, aber es ist nicht mehr als ein laues Lüftchen.

Am nächsten Morgen führt Thomas mich über das Weingut. Er legt seinen Arm um mich und gibt beim Gehen die Richtung vor. Ich habe Schwierigkeiten, ihm mit meinen viel kürzeren Beinen zu folgen. Macht er einen Schritt, brauche ich zwei. Wie ein kleiner Dackel hoppele ich neben ihm her. Das Unternehmen Fronkreisch bringt mir nicht den erwünschten Erfolg. Selbst die Tatsache, dass ich mich im innig geliebten Süden befinde, kann die Enttäuschung nicht wett machen. Beim Spaziergang denke ich, dass ich für eine so lahme Nummer wie in der letzten Nacht, nie und nimmer meine Ehe aufs Spiel gesetzt hätte. Das steht fest. Ich packe meine Sachen zusammen und lasse mich von ihm nach Grasse fahren.

Monsieur Crouchon erwartet mich schon. Wir beide kennen uns schon seit Jahren vom Telefon. Der ältere, pummelige François spricht nur gebrochen Deutsch. Aber in einem Mix aus Französisch, Englisch und Deutsch gelingt es uns, das Kirschkernöl perfekt zu beduften.
   »Nur noch ein kleiner Hauch Nelkenöl dazu.« Der Vorschlag des charmanten Franzosen zaubert ein Lächeln auf mein Gesicht. Nun bin ich zufrieden.
   »Das, Monsieur Crouchon, das ist perfekt.«

Für einen Rückflug am gleichen Abend ist es schon zu spät. Auf keinen Fall will ich wieder mit Thomas zurück fahren. Die eine Nacht mit ihm war für meinen Geschmack schon mehr als genug. Er bringt mich nach Nizza und ich suche mir ein zum Flughafen nahe gelegenes Hotel. Auf die Frage, wann wir uns wiedersehen, antworte ich mit einem Achselzucken. Vom Hotel aus rufe ich Sophie an, um ihr zu sagen, dass der Rückflug nicht wie geplant vonstattengeht. Neugierig will meine Schwester wissen, wie es war. »Er fickt so, wie er einkauft.« Ich habe Steffen noch immer im Kopf.
Der Flieger landet am nächsten Morgen früh in Hamburg bei strahlendem Sonnenschein. Sophie ist pünktlich und sie erzählt mir, dass der Immobilienmakler bereits zahlreiche Interessenten hat und er dringend auf meinen Rückruf wartet, um Besichtigungstermine zu vereinbaren. Wir begutachten die neue Duftkreation noch während der Autofahrt. Auch Sophie ist vom Ergebnis fasziniert.
   »Lass uns irgendwo nett frühstücken«, schlägt sie vor. Wir steuern ein kleines Café in Alsternähe an. Als sie den Arm hebt, um die Kellnerin an den Tisch zu rufen, staune ich. Die freundliche Bedienung ist Bärbel. Die doofe Bärbel.
   »Ich arbeite schon lange nebenbei hier. Wie sonst hätte ich mir die ganzen Kurse leisten können? Also, zweimal Frühstück mit Kaffee, Rührei und Saft.« Sie schwebt wieder ab in Richtung Küche.
   »Wer ist denn das?« Verwundert schaut Sophie ihr hinterher.
   »Das ist Bärbel, eine Heilpraktikerin aus Steffens Kurs. Stell dir vor, auf sie war ich sogar einmal eifersüchtig. Da wusste ich aber auch noch nicht, dass die Gefahr ganz woanders lauert.« Als Sophie kurz verschwindet, um sich frisch zu machen, ergreift Bärbel die Gelegenheit und setzt sich zu mir an den Tisch.
   »Ich war ganz erschüttert, als ich von eurer Trennung erfahren habe.«
   »Du weißt schon davon?« Ich wundere mich darüber, wie schnell sich die Nachricht verbreitet.
   »Na, Steffen heult sich doch schon seit Wochen bei uns aus. Ganz ehrlich Marie, ich kann gar nicht fassen, dass du einen Neuen hast. Wer ist es? Etwa George Clooney?«
   »Ich habe Steffen nicht verlassen, weil ich einen Anderen habe. Ich habe ihn verlassen, weil er meine Nachbarin besteigt.« Die doofe Bärbel ist entsetzt.
   »Das ist ja ein starkes Stück! Das hätte ich wissen sollen, dann hätte ich ihn gleich weiter geschickt. Sieben Tage habe ich mir sein Gejammer angehört. Meine Liebe. Mein Leben. Alles ist kaputt. Letzte Woche habe ich ihn nachmittags rausgeworfen. Mein Freund aus Münster war auf dem Weg zu mir. Wir führen eine Fernbeziehung, weißt du. Und irgendwann ist ja auch mal genug mit Trösten, oder? Jetzt darf sich Christian sein Heulen und Klagen anhören.«
   »Du bist eigentlich sehr nett, Bärbel.«
   »Ich dachte immer, du kannst mich nicht leiden. Ständig habe ich so negative Schwingungen von dir empfangen.«
   »Ich konnte dich nicht riechen! Das ist ein Unterschied. Kauf dir mal ein richtiges Parfum. Dann klappt es auch mit den Schwingungen.«

Gemeinsam mit Sophie fahre ich nach Blankenese in die männerlose, weiße Villa. Ich denke über die frischen Informationen nach, die ich von Bärbel erhalten habe. Der Mistkerl ist also nicht bei Elke. Er war erst bei Bärbel und dann bei Christian. Seit wann ging das eigentlich mit den beiden? Ich denke darüber nach, ob ich Norbert anrufen sollte. Er hat mir schließlich angeboten, mich an ihn zu wenden, wenn ich mich beruhigt hätte. Ich habe mich zwischenzeitlich beruhigt und suche in meiner Handtasche nach seiner Visitenkarte. Nach einem kurzen Zögern, greife ich entschlossen zum Telefon.
   »Hallo, Herr Kaltenbach. Hier spricht Marie Simon. Sind Sie gerade in Hamburg?« Wir sprechen nur kurz mit einander und verabreden uns für den Abend in einer Kneipe im Schanzenviertel. Danach melde ich mich beim Immobilienmakler. Er bittet um zeitnahe Besichtigungstermine. Ich schlage Zeiten am Wochenende vor. Es nützt also nichts. Ich muss in die Eichenallee fahren und nach dem Rechten sehen. Vorher mag ich keine fremden Leute durch das Haus führen.

Die Häuser der Nummern 17 und 19 sind verwaist. Brunos Hundeleine hängt nicht an der Garderobe und sein Trinknapf ist leer und trocken. Wo ist mein Hund? Hat Steffen ihn mit zu Christian genommen? Ich setze mich an den Esstisch und denke traurig daran, wie oft dort lange und lustig im Kreise der kleinen Dreierfamilie gespeist wurde. An diesem Tisch machte  Frederik früher seine Hausaufgaben. Hier lernten die Enkel Loris und Jasper, mit dem Löffel zu essen. An diesem Platz malten sie ihre ersten Bilder. Ich streiche zärtlich über die massive Tischplatte und fange an zu flennen. Dieses Haus steckt voller Erinnerungen. Schöner Erinnerungen! Aber die Geschehnisse der letzten Zeit machen es mir unmöglich, hier weiter zu wohnen. Ich sauge Staub, putze die Bäder und poliere die Arbeitsplatte der Küche blank. Danach lege ich einen Zettel auf den Küchentresen.

Am Samstag finden hier von 10.00 bis 13.00 Uhr Besichtigungen statt. Ich habe alles geputzt.

Mit einer gepackten Tasche verlasse ich mein altes Zuhause. Mein Weg führt über die Elbbrücken in Richtung City und ich bin gespannt auf das Treffen mit Norbert Kaltenbach. Er hat sich schon einen Kaffee und ein Wasser bestellt und ich entscheide mich für das gleiche Gedeck. Kaltenbach beginnt mit einer Entschuldigung.
   »Wenn ich geahnt hätte, wie sehr Sie auf diese Nachricht  reagieren, hätte ich Ihnen das im Flieger nie so gesagt. Sie waren wirklich ahnungslos?«
   »Komplett ahnungslos! Herr Kaltenbach, bitte sagen Sie mir, wie lange geht das Verhältnis schon.«
   »Haben Sie denn noch nicht mit ihrem Mann gesprochen?«
   »Ich bevorzuge es, in Freiheit zu altern. Ein Zusammentreffen mit ihm, hätte für ihn und für mich schwerwiegende Folgen.« Kaltenbach lacht und fragt, ob wir nicht mit dem albernen Sie aufhören wollen.
   »Warum nicht, schließlich waren wir jahrelang Nachbarn.«  Norbert erzählt davon, dass seine Frau Elke schon lange mit ihrem Leben und ihrer Ehe unzufrieden war. Vor Steffen hatte sie schon zahlreiche Affären. Aber wegen der Kinder rauften sie sich immer wieder zusammen. Nachdem sie mit meinem Mann in flagranti erwischt wurde, wollte auch Elke die Scheidung. Das war im Oktober letzten Jahres.
   »Sie will sich wegen Steffen von dir scheiden lassen?«
   »Nein, bestimmt nicht. Irgendwann muss man sich einfach eingestehen, dass da nichts mehr ist, was zu kitten ist. Steffen war doch nur der Tropfen, der das Fass zum überlaufen brachte. Mittlerweile soll sie schon wieder einen neuen Lover haben.« Diese graue Maus, soll ein Vamp mit zahlreichen Affären sein? Das kann ich kaum glauben.
   »Es ist doch verwunderlich, dass die Ehen heutzutage nicht mehr lange halten. In meinem Bekanntenkreis sind alle Paare geschieden. Bei den meisten Trennungen ist ein neuer Partner der Anlass. Vorwiegend sind es die Männer, die eine Neue haben.«
   »Ja, genau wie bei uns.«
   »Du denkst ernsthaft über Scheidung nach?«
   »Na, du doch auch!«
   »Bei uns liegt der Fall doch ganz anders. Ich habe Elke allein nicht genügt. Den ersten und zweiten Seitensprung konnte ich ihr noch verzeihen. Aber es hörte nicht auf. Ich musste hier die Notbremse ziehen, das war ich mir selber schuldig. Und mit Steffen war das Maß eben voll.«
   »Meine Toleranzgrenze liegt deutlich tiefer. Ich bin nicht bereit, Steffen zu verzeihen.« Ich bin fest entschlossen.
   »Glaubst du tatsächlich daran, dass man sich ein Leben lang treu sein kann? Meinst du, dass sich die Paare der Generation unserer Eltern und Großeltern nie betrogen haben?« Doch, das haben sie sich auch. Ellen trennte sich deshalb von meinem Vater. Mit dem treuen Peter Habicht führte sie dann viele Jahre eine glückliche Ehe. Hanna hält durch, obwohl Karl hinter jedem Rock her war. Und wo steht sie nun? Sie lebt an der Seite eines lieblosen Stinkstiefels, der ihr jeden Tag auf den Geist geht.
   »Es gibt eben kein Patentrezept.« Norbert Kaltenbach übernimmt die Rechnung.
   »Ich habe Jahre lang neben einer so netten Frau gewohnt. Eigentlich schade, dass wir uns jetzt erst kennen lernen.« Das Gespräch mit Norbert bekommt mir richtig gut. Es wird doch irgendwo noch einen Peter Habicht für mich geben. Mit vierundvierzig fühle ich mich noch jung genug, um nach ihm zu suchen.

Sophie hat Tee gekocht.
   »Ich bin beeindruckt.« lobe ich meine Schwester, nachdem ich mich vergewissert habe, dass wirklich nur Zucker enthalten ist. Ich erzähle von meiner Begegnung mit Norbert.
   »Seit Lars und du euch immer treu gewesen?«
   »Nein.« Es ist ihr unangenehm, darüber zu sprechen. Aber ich lasse nicht locker.
   »Das liegt schon lange zurück. Nach den ersten zehn Jahren, als wir uns immer noch ein Kind wünschten und es nie klappen wollte, schlidderten wir in eine große Ehekrise. In dieser Phase, waren wir beide nicht treu und dachten ernsthaft darüber nach, uns zu trennen. Erst als wir uns damit abgefunden hatten, niemals eigene Kinder zu haben, hörte das auf.«
   »Davon habe ich nie etwas mitbekommen.«
   »Das war auch unsere Privatsache und ging niemanden etwas an.«
   »Dann waren Mama und Peter das einzige Paar, das sich immer treu war.«
   »Peter und treu? Das ich nicht lache. Der hat doch alle Frauen im Golfclub angegraben.«
   »Aber Mama hat doch gesagt...«  Sophie unterbricht mich.
   »Mama hat immer nur das gesehen, was sie sehen wollte. Wach endlich auf Marie! Das was dir passiert ist, ist nicht schön, bestimmt nicht. Aber es ist auch nicht der Weltuntergang. Wenn Steffen nach sechsundzwanzig Jahren das erste Mal fremd gegangen ist, dann bist du doch noch gut dran. Was würde ich darum geben, nur noch ein wenig mehr Zeit mit Lars verbringen zu können. Ich habe es aber nicht in der Hand. Du schon! Entweder, du entscheidest dich dafür, deine Ehe fortzuführen oder du handelst wie ein beleidigter Teenager und machst Schluss!« Das war mal ein Einlauf, denke ich.
 

Es ist Freitag und statt wie gewöhnlich um sieben aufzustehen, stehe ich schon um sechs Uhr auf. Ich durchforste meinen Kleiderschrank und mache mir Gedanken über die passende Garderobe. Ich verteile viel zu viel Festiger in die nassen Haare und mühe mich vergeblich mit dem Stroh auf meinem Kopf ab. An diesem Tag will ich besonders nett aussehen. Aber das ist gründlich misslungen.
   »Warum bist du so aufgeregt. Das kenne ich gar nicht von dir. Ich denke, es kommt eine Frau vom TV Shopping Sender. Für die brauchst du dich doch nicht so aufzuschmücken.«
   »Schwesterchen, du hast null Ahnung. Gerade weil eine Frau meine Gesprächs- und Verhandlungspartnerin sein wird, ist oberste Perfektion geboten. Ein Mann sieht nur, oh die hat ja schöne rote Lippen. Eine Frau denkt, was hat die denn für einen grellen Lippenstift genommen. Der passt ja gar nicht zur Bluse. So läuft das unter Frauen.«  Damit kenne ich mich aus.

Maike verteilt die aktuellen Musterkollektionen auf die kubischen Säulen. Frau Schäfermann, Mitte dreißig, sportlicher Typ stellt sich freundlich am Empfang vor. 
   »Schön, das sie da sind, ich sage Frau Simon sofort Bescheid.« Nach der Vorstellung der einzelnen Pflegeserien, kommt sie gleich zur Sache.
   »Ich würde gern mit der Kirschölserie beginnen. Ich denke, dass wir mit dem Gelee, der Butter, der Balm und einem Duschprodukt starten sollten. Ich bin sehr zuversichtlich, dass Ihre Serien den Geschmack unserer Zuschauer treffen werden. Sie sind eine so aufgeschlossene und sympathische Person. Es wird Ihnen im Nu gelingen, das Herz unserer Zuschauer zu erobern.«
   »Wie bitte? Was hab ich denn mit den Zuschauern zu tun?«
   »Na, Sie präsentieren die Pflege zusammen mit unserem Moderator.«
   »Ich soll ins Fernsehen? Vor die Kamera?«
   »Ja, na sicher. Sie repräsentieren genau die Zielgruppe, die wir ansprechen. Frau mittleren Alters. Ehefrau, Mutter und sogar schon Großmutter, wie ich sehe.« Frau Schäfermann blickt auf die Fotos auf dem Schreibtisch. Bin ich dann die WAHNSINNIGE oder die blau angelaufene Gerda, frage ich mich.
   »Sie sehen doch ganz passabel aus und als Entwicklerin bringen Sie das nötige Knowhow mit, um den fachlichen Part während der Show zu übernehmen. Einen besseren Experten kann ich mir nicht vorstellen. Lassen Sie mich mal schauen, wann wir Sie zum nächsten Casting einladen können.«
   »Ich soll zum Casting?«
   »Das ist reine Formsache. Sie machen das schon.« Frau Schäfermann hinterlässt noch eine dicke Mappe mit Informationen zur Vertragsgestaltung und zu den Zahlungs- und Lieferbedingen. Sie verspricht gleich Anfang der neuen Woche anzurufen und entschwindet in Richtung Bahnhof. Ich bin nicht in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Das ist wohl ein Witz oder sollte es tatsächlich ein ernstgemeintes Angebot sein? Aufgeregt greife ich zum Telefon. Ich will meiner Schwester unbedingt sofort davon erzählen. Aber sie meldet sich nicht. Weder zu Hause in der Villa noch auf dem Handy. Ich laufe Gefahr, zu platzen, wenn sie nicht auf der Stelle mit jemanden darüber sprechen kann. Meine Entscheidung fällt auf Sarah. Laut brülle ich durchs Telefon.
   »Ich werde jetzt ein Fernsehstar im Shopping Kanal!« In aller Ausführlichkeit berichte ich ihr und sie verspricht, mir bei der Vorbereitung auf das Casting zu helfen.

»In diesem prima Zustand ist ihre Kaufpreisforderungen für Ihr Haus viel zu niedrig angesetzt.« Der Immobilienmakler meint, wir sollten ruhig zehn Prozent drauflegen.
   »Versuchen wir es.« Noch einmal ordne ich die Kissen und Decken der Betten. Als die Interessenten eintreffen, gehe ich in den Garten. Ich mag nicht dabei zusehen, wie wildfremde Leute in meine Schänke schauen und alles anfassen. Nach einer halben Stunde kommt ein junges Pärchen zu mir auf die Terrasse und stellt sich vor.
   »Wir sind Mike und Sandra Einhaus. Frau Simon, wie schnell könnten wir Ihr Haus beziehen?«
   »Ich denke, dass ich in sechs Wochen räumen könnte.« Das verliebte Paar ist aus beruflichen Gründen nach Hamburg gezogen und wohnt schon wochenlang im Hotel.
   »Wenn es Ihnen möglich wäre, noch vor dem nächsten Ersten zu übergeben, würden wir noch zehntausend Euro drauflegen.«
   »Das ist ja schon in zwei Wochen!« Das muss ich erst mit Steffen besprechen. Ich verspreche, die Einhaus so schnell wie möglich zu informieren. Ich hole tief Luft und wähle Steffens Mobilnummer.
   »Kannst du ins Haus kommen? Wir müssen etwas Dringendes besprechen.« Er verspricht, gleich los zu fahren. Der Makler verabschiedet sich in bester Laune. So schnell hat er selten eine Provision verdient. Ich schreite durch das Haus und überlege, welche Stücke ich unbedingt behalten will. Meine Wahl fällt auf die Kommode, den Esstisch und den Sekretär. Ich klebe kleine gelbe Zettel mit meinem Namen an die Möbel, als Steffen die Haustür öffnet.
   »Wo ist Bruno?«
   »Ich habe ihn zu Hanna und Karl gebracht.« Er sieht schlecht aus und spricht mit leiser Stimme. Seinen flehenden Blicken weiche ich aus.
   »Ich habe einen Käufer für das Haus. Er ist bereit, einen guten Preis zu zahlen. Weil ich keinen Rosenkrieg mit dir will, habe ich entschieden, den Erlös mit dir zu teilen. Ich brauche das Geld für mein Geschäft. Was du mit deinem Anteil machen willst, ist mir egal. Voraussetzung ist allerdings, dass wir binnen einer Woche räumen. Also überlege, welche Sachen du haben willst. Bis auf die drei Möbel hast du freie Auswahl. Der Rest kann von mir aus auf den Sperrmüll.«
   »Marie, tu das nicht.« Steffen stellt sich dicht hinter mich. »Verzeih mir bitte«, bettelt er, aber ich bleibe standhaft.
   »Hilfst du mir dabei, das Haus leer zu räumen oder soll ich eine Firma beauftragen?«
   »Marie, bitte überlege es dir doch noch einmal.« So langsam verliere ich die Fassung und werde lauter.
   »Steffen, was denkst du dir? Du kannst doch nicht ernsthaft glauben, dass ich in diesem Haus wohnen bleibe. Auch wenn du alle Fenster der linken Hausseite zumauern würdest, könnte es nichts daran ändern. Ich weiß nicht, ob ich dir je verzeihen kann. Nur eines steht fest. Hier kann ich es nicht.« Er sollte begriffen haben, dass er mich in diesem Moment nicht umstimmen kann. Er verspricht, sich um alles zu kümmern. Ich nehme das Telefon zur Hand und rufe den jungen Herrn Einhaus an.
   »Sie können den Makler informieren, dass er einen Notar Termin vereinbaren kann. Von unserer Seite klappt es mit dem Auszug. Ja, freut mich auch.«
 

Der Termin zum Casting wurde von mir bereits zweimal verschoben. Ein drittes Mal traue ich mich nicht, abzusagen. Sarah hat versprochen mich zu begleiten. Sie reist aus München an und wir verabreden einen Treffpunkt in der Mitte der Wartehalle des Hamburger Flughafens. Bis zum Abflug nach Berlin dauert es noch mehr als eine Stunde. Die Wartezeit wollen wir im Restaurant bei einer Tasse Tee verbringen. Ich habe ihr vorab einige Produktinformationen zugeschickt, die von der erfahrenen TV Moderatorin auf Karten übertragen wurden.
   »Warum trägst du diese Brille? Willst du nicht erkannt werden?«
   »Die habe ich schon ganz lange. Ich fühle mich damit in der Öffentlichkeit gleich sicherer. Es passiert ja doch hin und wieder, dass ich angesprochen werde.«
   »Hast du etwas zu schreiben dabei?« Als Sarah aus ihrer Handtasche einen Kugelschreiber zückt, fange ich an zu lachen.
   »Dann schreib mal auf. Sofort nach der Landung in Berlin eine neue Brille für dich kaufen! Das Teil auf deiner Nase ist ja zum Fürchten. Die geht ja gar nicht. Aus welchem Jahrtausend ist die denn? Ich hab noch nie eine so hässliche Brille gesehen.« Wir lachen uns kaputt und quietschen so laut, dass alle Reisenden an den Nebentischen zu uns rüber sehen.
   »Morgen steht in der Bildzeitung, Sarah Riess wegen Geschmacksverirrung am Hamburger Flughafen verhaftet. Setz das Ding endlich ab, sonst mach ich mir gleich in die Hose vor Lachen.«
   »Ohne Brille, bin ich blind wie ein Maulwurf.« Sarah nimmt die Augengläser ab und ich führe die blinde Moderatorin zum Gate. Der Flieger ist fast voll und es sind keine zwei nebeneinander liegende Sitzplätze mehr frei. Frech beuge ich mich über einen graumelierten Herrn im feinen Anzug und spreche ihn im Flüsterton an.
   »Reisen Sie allein, mein Herr?« Er nickt entzückt und freut sich über den unerwarteten Annäherungsversuch.
   »Dann haben Sie bestimmt nichts dagegen, wenn Sie den Platz vor uns nehmen. So kann ich während des Fluges neben meiner Freundin sitzen. Sie sind ein Schatz. Vielen Dank.« Ungern kommt er meiner Aufforderung nach. Wir Frauen kichern noch, als der Flieger startet.
   »Jetzt habe ich gar nichts zum Kauen dabei. Ich brauche während des Fluges immer etwas für den Druckausgleich. Hast du Kaugummi?« Ich sehe in meiner Handtasche nach und kann eine Tüte Lakritz Schnecken anbieten. Als das Zeichen zum Abschnallen erfolgt, beobachte ich, wie Sarah verzweifelt versucht, eine lange, schwarze Schnur in den Mund zu stecken.
   »Halt! Das ist keine Lakritze, die du da kaust. Das ist die Schnur vom Kopfhörer, du Blindfisch.« Ich schreie vor Lachen das halbe Flugzeug zusammen. »Hauptsache, du hast dir die Lakritze nicht ins Ohr gesteckt, damit hättest du nämlich keinen guten Empfang.« Ich trommel laut kreischend gegen meinen Vordersitz. Der grau melierte Herr, bedauert es erneut, mir albernen Person seinen Platz überlassen zu haben.

Die Studios liegen außerhalb von Berlin. Wir brauchen uns kein Taxi zu nehmen, denn wir werden vom Fahrdienst des Senders persönlich abgeholt. Meine Aufregung nimmt mit jedem Meter zu. Ich bin es zwar gewohnt, Reden vor einer Gruppe zu halten, das habe ich auf Messen und Verbandstagungen schon häufig gemacht. Die Vorstellung, es vor der Kamera zu tun, flößt mir jedoch enormen Respekt ein.
   »Denk nur daran, nicht so schnell zu sprechen. Ihr Norddeutschen seid immer so fix. Du brauchst nur auf das rote Lämpchen zu achten. Stell dir vor, die Kamera wäre ein Gesicht. Ich werde versuchen, mich dahinter zu stellen und dann siehst du nur in meine Richtung.«
   »Wo wird denn eigentlich der Koks ausgegeben?« Der junge albanische Fahrer versteht die Frage nicht und kann deshalb auch nicht über den Witz lachen. Sarah und ich schon.
   »Auf dem Bildschirm sieht man immer fünf Kilo dicker aus, als man in Wirklichkeit ist.«.
   »Jetzt kommst du mir mit deinen Weisheiten. Warum hast du mir das nicht früher gesagt, dann hätte ich doch eine Diät machen können.« Kritisch prüfe ich meinen kleinen Bauchansatz.
   »Nicht nötig. Lass dir doch etwas aus der Fett-Weg-Unterwäsche Kollektion geben.«
   »Bloß nicht. Ich hab doch jetzt schon Atemprobleme.« Es ist nicht zu übersehen. Ich habe die Hosen voll.

»Hier geht es zur Maske. Wir treffen uns in einer halben Stunde in Studio eins. Bitte kommen Sie ganz leise herein und sprechen Sie nicht. Hier wird pausenlos live gedreht. Frau Schäfermann kommt auch gleich zu Ihnen«, sagt der hektische Aufnahmeleiter und überlässt mich meinem Schicksal.
   »Casting?«, lautet die einsilbige Frage von Christa. Die kleine Maskenbildnerin wartet auf eine Antwort. Ich nicke schüchtern.
   »Haushalt oder Beauty?«
   »Beauty«, antworte ich brav und frage, worin der Unterschied besteht.
   »Na, Sie sind ja gut. Dazwischen liegen ungefähr drei Kilo mehr Schminke.« Nach einer viertel Stunde erkenne ich mich nicht wieder. Mein Gesicht gleicht einer Puppe aus Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Nun ist mir klar, warum es Maske heißt. Ich versuche erfolglos Grimassen vor dem Spiegel zu schneiden. Als Christa die falschen Wimpern in die Hand nimmt, will ich eingreifen, aber Christa ist stärker. Ich wünschte mir, ich hätte »Haushalt« gewählt, aber nun ist es dafür zu spät. Frau Schäfermann begrüßt ihren neuen Shooting Star. Und meint mich!
   »Wir haben ein kleines Problem. Es ist gerade kein Beauty Moderator da. Wir müssen ein wenig improvisieren. Ich hoffe, dass Volker kommt. Volker macht eigentlich Werkzeug. Aber heute ist ja nur ein Test.« Ich lasse mich von der vorherrschenden Hektik anstecken. Mein Puls rast auf hundertachtzig und schlägt mir bis in den Hals.
   »Sie brauchen nicht aufgeregt zu sein. Sie antworten nur auf die Fragen des Moderators und schauen dabei freundlich in die Kameras. Kamera eins nimmt nur Sie auf. Kamera zwei zeigt Sie und Volker am Tisch. Wenn Sie also sehen, dass die rote Lampe leuchtet, dann schauen Sie immer nur dort direkt hinein. Der junge Mann mit der Handkamera ist für die Nahaufnahmen zu ständig. Wenn Sie Ihr Produkt in die Hand nehmen, um es dem Zuschauer zu zeigen, dann kommt Kevin mit seiner Kamera. Immer schon die Hände ruhig halten! Zittrige Hände mag Kevin gar nicht. Nie hektischen Bewegungen machen, Frau Simon! Das kommt gar nicht gut. Sprechen Sie ganz natürlich! So als würden Sie mit ihrer Freundin reden. Alles klar? Auf diesem Kontrollmonitor können Sie genau sehen, welche Bildeinstellung als nächstes vorgesehen ist. Aber schauen Sie möglichst nicht zu oft nach unten, dass macht keinen guten Eindruck. Also los jetzt! Auf drei.« Der Werkzeug Volker trägt unter seiner Latzhose ein buntes Hemd mit großen rot-weißen Karos. Er erinnert mich an Bob den Baumeister, von dem meine Enkel einige Lesebücher haben. Dem fehlt ja nur noch der gelbe Helm, denke ich und muss bei »drei« erst einmal laut loslachen. Der strenge Aufnahmeleiter tadelt mich.
   »Das darf Ihnen in der Live Show aber nicht passieren. Nochmal auf drei!«
   »Ja meine lieben Zuschauer. Da sind wir endlich wieder. Mit einer tollen Überraschung. Die Damen, die uns regelmäßig zuschauen wissen es ja schon. Heute feiern wir die Premiere der neuen Kosmetikserie Küss mich Kirsche. Unsere Expertin ist die Entwicklerin dieser tollen Pflegeserie, Frau Marie Simon. Hallo Marie«, sagt Bob der Baumeister, »ich freue mich, dass Sie da sind. Was haben Sie uns denn tolles mitgebracht?«
   »Danke für den netten Empfang, Volker. Heute möchte ich die erste Körperpflegeserie vorstellen, die mit einem ganz besonderen Fruchtsamenöl formuliert wird. Nämlich mit einem kaltgepresstem Kirschkernöl.«
    »Das habe ich ja noch nie gehört. Ein Öl aus Kirschkernen? Was ist denn das besondere an diesem Öl und wie wird es hergestellt.« Der Knoten ist geplatzt. Von nun an kann ich hemmungslos meine Kenntnisse in die Kameras sprechen.
   »Volker«, sage ich in seine Richtung, »Sie kennen das doch bestimmt auch. Das Problem trockener Haut ist ja kein ausschließliches Frauenproblem.« Danach wechsel ich den Blick in Kamera eins und spreche direkt zu den Zuschauern. »Sie duschen am Morgen und mittags spannt Ihre Haut schon wieder. Mit diesem Body Gelee bleibt die Haut bis zum Abend genährt. Das Tolle daran ist…«
   »Stopp!«, ruft der Aufnahmeleiter, »das reicht.« Sarah zeigt mit beiden Händen Daumen hoch.
   »Sie sind ja ein Naturtalent«. Kevin ist zufrieden. Meine Hände zitterten nicht. Auch der hektische Aufnahmeleiter meint, dass ich richtig gut war. Einen zweiten Durchgang wollen wir uns sparen. Kevin tuschelt mit den Kollegen von der Technik und kommt kurz darauf auf uns Frauen zu.
   »Sind Sie Frau Riess, Frau Sarah Riess?« Sarah hatte sich bis dahin bewusst im Hintergrund gehalten. Sie genießt es jedoch merklich, erkannt worden zu sein. Auch der Aufnahmeleiter empfängt die Nachricht zwischenzeitlich über sein Headset und gesellt sich zu unserer Gruppe. Während Frau Schäfermann mich zur Sichtung der Bänder in den Regieraum begleitet, essen Sarah und der Aufnahmeleiter zu Mittag. Nun ist es amtlich. Ich habe das Casting mit Bravour bestanden und erhalte einen Vertrag, der bereits von der Geschäftsführung unterzeichnet ist. Frau Schäfermann öffnet eine Flasche Sekt.
   »Lassen Sie uns auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit anstoßen.« Ich setze meine Unterschrift unter die Vereinbarung und proste ihr erleichtert zu. Ein zweites Glas Sekt lehne ich ab. Ich will den Geschäftsabschluss lieber ausgiebig mit Sarah im Berliner Nachtleben feiern. Sarah ist noch ganz aus dem Häuschen.
   »Du warst sensationell. Stell dir vor, die haben mir ein Angebot gemacht. Ich soll mir überlegen, ob ich nicht die Beauty Moderation übernehmen will.«
   »Das ist ja der Hammer!« Sarah verspricht, sich das Ganze einmal durch den Kopf gehen zu lassen. Ein festes monatliches Einkommen ist ja nicht zu verachten.
Noch immer trage ich das starke TV Make-up im Gesicht. Ich versuche bereits zum zweiten Mal, mich von Camouflage, Puder und Rouge zu befreien, als es an ihrer Hotelzimmertür klopft. Sarah war zum Telefonieren mit ihrer Liebsten auf den Flur gegangen. Nun steht sie wieder vor mir und sagt: »Anke meint, ich sollte zusagen.«
   »Dann höre auf das, was sie sagt. Stell dir doch mal vor, wir beide zusammen. Wir werden ein unschlagbares Team sein. Das wird der WAHNSINN.« Ich bin in unvorstellbarer Hochstimmung.
   »Hast du deinen Mann auch schon angerufen?«
   »Nein!« Es ist zu spüren, dass diese Frage das vorläufige Ende meiner Euphorie bedeutet. Ganz private oder gar intime Gespräche fanden zwischen uns beiden bisher nie statt. Ich überlege deshalb genau, ob ich Sarah von meinen Problemen mit Steffen erzählen soll. Ich entscheide mich, kein Geheimnis daraus zu machen und berichte ihr in allen Einzelheiten. Für einen Zug durch die Berliner Kneipen ist es mittlerweile zu spät. Wir beschließen, den Rest des Abends gemütlich auf dem Doppelbett kauernd zu verbringen, die Minibar zu leeren und zu quatschen, was das Zeug hält. Sarah spricht das erste Mal offen über das Scheitern ihrer Ehe. Es war nicht so, dass sie den Vater ihres einzigen Sohnes nicht liebte. Sie liebte ihn als Freund, Kumpel und Weggefährten. Aber leidenschaftliche Gefühle konnte sie zu diesem Mann nicht aufbringen. Zu keinem Mann. Deshalb entschieden die beiden, sich in aller gebotenen Ehrlichkeit und Freundschaft zu trennen.
   »Empfindest du denn noch Lust auf deinen Steffen?«
   »Schon.« Die Erfahrung mit Thomas hat mir deutlich vor Augen geführt, dass ich bei Steffen in besseren Händen war. Steffen wusste immer genau, welche Knöpfe er bei mir drücken musste, um mich schwach zu machen. Allerdings machte er im Laufe der letzten Jahre zunehmend weniger Gebrauch davon. Früher liebte ich es, wenn er die Richtung und das Tempo vorgab. In Alltagsfragen hatte ich den Hut auf. Beim Sex bestimmte er.
   »Er hat mich so verletzt. Ich weiß nicht, ob ich ihm verzeihen kann.«
   »Die Zeit wird es zeigen.«

Am übernächsten Morgen läuft der Fernseher. Ich habe den QHS Kanal angeschaltet, sitze im Schneidersitz vor der Glotze und löffel eine Pampelmuse. Gebannt lausche ich der Vorführung einer Haarpflege Serie. Der schmierige WAHNSINNIGE ist wohl in der Entzugsklinik, vermute ich. Statt seiner führt eine nette Frau durch die Sendung. Aber ihr ständiges Kichern, geht mir schon nach fünf Minuten auf den Geist und ich stelle den Ton leiser. Frederik fährt vor und hat für einen frisch Getrennten erstaunlich gute Laune. Er überrascht mich und seine Tante mit neuen Nachrichten. Er soll befördert werden.
   »Mehr Verantwortung sprich mehr Gehalt.«  Er verschweigt zunächst den Haken an der Sache, muss aber meinem Blick entnehmen, dass er mich nicht länger auf die Folter spannen darf.
   »Ich werde vom nächsten Ersten an in Düsseldorf arbeiten. Klar, die Kinder kann ich dann nur an den Wochenenden sehen. Da ich aber ab sofort unterhaltsverpflichtet bin, bleibt mir nur dieser Weg.«
   »Wollt ihr es nicht noch einmal zusammen probieren?«
   »Mama, das ist eine ganz klare Sache für mich. Ich weiß, dass sie mich betrogen hat und daher ziehe ich nur meine Konsequenzen.« Natürlich macht es mich traurig, dass die Ehe der kleinen Juniors nun bald Geschichte sein soll. Aber ich kann meinen Sohn auch gut verstehen. Schließlich habe ich ihn mit genau diesen Moralvorstellungen erzogen.
   »Düsseldorf ist nicht aus der Welt. Am Wochenende bin ich immer hier in Hamburg. Nicht traurig sein.« Frederik nimmt mich fest in den Arm.

Seit zwei Tagen drücke ich die Anrufe des Mistkerls nicht mehr weg. Schließlich hält er mich über den Fortschritt der Ausräumarbeiten auf dem Laufenden.
   »Besenrein reicht doch? Ich habe noch zwei Umzugskartons mit ganz persönlichen Sachen von uns zusammen gepackt. Die wollte ich der Spedition nicht übergeben. Da sind unsere Fotoalben, Papiere und andere wichtige Unterlagen drin. Entscheide du, ob du sie mitnehmen willst oder ich sie bei Hanna und Karl unterstellen soll.«
   »Wir können uns vor dem Notar Termin noch einmal im Haus treffen. Dann sehe ich es mir an.« Ich mache mich auf den allerletzten Weg in die Eichenallee 17. Im Vorgarten blühen Krokusse und weiße Schneeglöckchen. Ich denke daran, wie ich die Blumenzwiebeln gemeinsam mit den Enkeln im letzten Herbst in die Erde gesetzt habe. Genau in dieser Zeit lief das Verhältnis zur männertollen Elke an. Die gelbe Blüte der Narzissen werden die jungen Einhaus genießen können. Ich hole tief Luft und gehe durch den Vorgarten zum Haus. Steffen öffnet mir wortlos die Tür. Traurig streifen wir durch die leeren Räume. Es ist nichts mehr da, was an die zurückliegende Zeit erinnert. Die beiden Kartons enthalten die gesammelten 26 Jahre unseres gemeinsamen Lebens.
   »Ich nehme die Sachen mit.« Unglücklich verschließt er die Tür und sagt: »Hier hat die Liebe gewohnt.«

Nach der Beurkundung schlage ich vor, einen Spaziergang zu machen. »Wir müssen über Bruno sprechen. Es ist kein Zustand, dass der arme Hund unter unserer Trennung leiden muss. Außerdem vermisse ich ihn so sehr.« Zusammen fahren wir zu Hanna und Karl. Der Schnuffelhund hat sich unter Karls übertriebener Fürsorge zu einer dicken Fleischwurst entwickelt. Das übergewichtige Tier stürmt auf mich zu und heult in höchster Tonlage vor Freude.
   »Er sieht ja aus wie ein Mastschwein!«.
   »Karl füttert den Hund ständig am Tisch«, petzt Hanna.
   »Das ist reiner Kummerspeck, der geht wieder weg. Seid ihr endlich wieder bei Sinnen? Wenn nicht, bleibt der Hund hier. Hanna und ich geben ihn erst wieder her, wenn bei euch wieder Vernunft eingekehrt ist«, poltert Karl.
   »Halte dich daraus!«, sagt Hanna.
   »Du willst mir doch wohl nicht den Mund verbieten!«
   »Der Ton macht die Musik, mein Lieber!«
   »Wenn dir mein Ton nicht passt, kannst du ja gehen. Das ist ja bei den Frauen in unserer Familie momentan so Gang und Gebe!« Steffen nimmt die Hundeleine und schüttelt den Kopf über seine laut streitenden Eltern.
   »Komm, bloß schnell raus hier.« Er lässt den Hund auf den Rücksitz springen.
   »Wald oder Heide?« Mir ist es egal, nur schnell weg.
   »Wirst du das Geld nutzen, um bei Kurt und Christian einzusteigen?«
   »Sie hätten mich auch ohne Beteiligung genommen. Wir eröffnen in vier Wochen. Würdest du kommen?« Ich bleibe die Antwort schuldig. Steffen entscheidet sich für eine Fahrt in den Wald. Wir laufen fast zwei Stunden über schmale Wanderwege, ohne ein Wort zu wechseln. Auf der Rückfahrt stellt er das Radio aus.
   »Ist dir auch schon einmal aufgefallen, dass immer traurige Musik läuft, wenn einem das Herz schmerzt.« Ich schweige weiter. »Rede doch endlich mit mir! Frag mich, beschimpf mich, aber bitte höre auf, mich anzuschweigen. Liebst du mich noch?«  
   »Du weißt nicht, was du uns angetan hast. Ob ich dich noch liebe? Wenn du damit meinst, ob ich an dich denke, ob ich mich um dich sorge, mich danach sehne, von dir berührt zu werden. Dann ist es so. Wenn du aber wissen willst, ob ich dir je wieder glauben kann oder dir bedingungslos vertrauen kann, dann lautet die Antwort: Nein. Also sag du mir, was zu einer Liebe gehört.«
   »Drei von fünf Punkten sind doch keine schlechte Ausgangsposition. Es gibt Paare, die müssen sich mit weniger zufrieden geben.«
   »Damit wärst du zufrieden?«
   »Ich bekomme seit Wochen keinen klaren Gedanken mehr zusammen. Ich denke nur noch an dich. Ich will dir zeigen, dass wir zusammen gehören. Ich werde dich nie gehen lassen, Marie. Ich will nicht ohne dich leben.« Ich! Ich! Ich! Nicht ein einziges Mal hat er gefragt, was ich will. Aber das soll er bald erfahren.

Gemeinsam bringen wir den hechelnden Hund zurück in die Mastanstalt. Bei Simon Senior herrscht gedrückte Stimmung. Karl sitzt in seinem Sessel und liest die Bildzeitung. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit, ist es wahrscheinlich, dass er die Lektüre bereits zum wiederholten Mal studiert. Hanna sitzt vor ihrem Computer und informiert sich bei Facebook darüber, wie sich ihr Enkel in Düsseldorf einlebt. Die beiden sprechen kein Wort miteinander. Ich betrachte das Paar, das nun mehr als fünfzig Jahre verheiratet ist und mir wird schlagartig klar, dass mein Leben im Alter völlig anders aussehen muss. Wenn ich jetzt voreilig wieder mit Steffen zusammen gehe, wird es aber genau darauf hinauslaufen.
   »Einen Kaffee hätten sie uns ja anbieten können.«
   »Ich bin froh, dass ich diese schlechte Stimmung nicht länger ertragen muss. Wenn du willst, fahren wir gemeinsam in die Firma und ich koche uns dort einen Kaffee.« Wo sonst hätte ich einen Kaffee für Steffen kochen können? Die Schlüssel für das Haus in der Eichenallee liegen beim Notar. In Sophies Villa will ich ihn nicht einladen. Ich bin mir sicher, wenn er dort erst seinen Fuß einstellt, werde ich ihn nicht mehr los werden.

Maike hat schon Feierabend gemacht. Wir beide sind allein. Ich zähle fünf gehäufte Löffel Kaffeepulver in den Filter der Maschine, als ich seinen heißen Atem in meinem Nacken spüre. »Komm her«, haucht er und drückt sich fest an meinen Körper. »Komm doch zu mir!« Seine Hände greifen nach meinen Brüsten und umfassen sie fest. Lustvoll küsst er meinen Hals. Ich drehe mich um und beginne, langsam die Knöpfe meiner Bluse zu öffnen. Das ist das Zeichen auf das er so lange gewartet hat. Wir lieben uns auf dem Boden vor dem Küchentresen. Steffen liebkost mich genau an den Stellen, wo ich es gern habe. Unser Stöhnen und Keuchen ist bis auf die Straße zu hören. Völlig erschöpft und befriedigt liegen wir neben einander.
   »Wie gut es tut, einmal richtig Dampf abzulassen«, sage ich zu ihm. Verschwitzt erhebe ich mich, um zwei Becher Kaffee einzuschenken. Steffen schaut mich ungläubig an.
   »Drei von fünf Punkten. Ich denke, damit kann ich leben. Allerdings nicht mehr mit dir zusammen unter einem Dach.«

Sophie steht am Küchenfenster und wartet darauf, dass der Kaffee fertig wird, als sie mich mit Bruno auf die Villa zukommen sieht. Ich kaufe fast jeden Morgen frische Brötchen und der Hund bekommt seinen ersten Spaziergang. Die Ära Kaffee im Stehen und Pippi im Garten gehört der Vergangenheit an.
   »Es ist wunderbares Wetter draußen. Es ist schon fast sommerlich.« Entsprechend gut ist meine Laune.
   »Fahren wir zusammen in die Firma?«
   »Heute nicht. Steffen feiert Eröffnung. Ich werde kurz am Gesundheitshaus vorbei fahren und einen Diener machen.« Frisch geduscht und nach Marzipan mit Kirschblüte duftend, durchforste ich den Kleiderschrank. Meine Wahl fällt auf ein hellblaues Polo Kleid und flache Ballerina Schuhe. Im Esszimmer verpacke ich eine Flasche Eau de Toilette zu einem Geschenk. Extra für Bärbel habe ich einen neuen Duft mit natürlichen Essenzen von Orange, Mandarine und Grapefruit kreiert und hoffe, dass sie ihn auch benutzen wird.

Der Platz vor der Praxis ist bereits mit zahlreichen Autos zugeparkt. Ich stelle meinen Wagen in der Nebenstraße ab und nehme den Strauß Blumen, den ich zuvor auf dem Markt gekauft habe, vom Rücksitz. Von den rund fünfzig Gästen, die sich in kleinen und größeren Gruppen um die Stehtische drängen, kenne ich nicht einen Menschen. Ich suche nach einem bekannten Gesicht in der Menge und freue mich, bei Kurt endlich fündig zu werden.
   »Marie, wie schön. Da wird Steffen sich aber freuen.« Er gibt mir zur Begrüßung einen Kuss auf die linke Wange.
   »Richtig schön ist es geworden. Ich bin wirklich begeistert.«
   »Steffen ist im Energieraum im ersten Stock. Soll ich dich rauf bringen?«
   »Nicht nötig. Ich werde ihn schon finden.« Auf der Treppe kommt mir Bärbel entgegen und ich übergebe ihr das kleine Mitbringsel mit einem Augenzwinkern.
   »Hm, das duftet ja wunderbar. So frisch. Danke, das ist wirklich unheimlich nett von dir.« Sie freut sich aufrichtig.

Als Steffen meine Stimme hört, kommt er aus seinem Behandlungsraum und blickt mich freudestrahlend an.
   »Oh, mein Mädchen ist da.« Er ist sichtlich erleichtert und küsst mich auf den Mund. Schwungvoll nimmt er meine Hand und zieht mich aufgeregt in sein Zimmer.
   »Das ist mein neues Reich.« Ich will wissen, warum das Behandlungszimmer Energieraum heißt. Steffen zeigt auf eine breite Therapieliege.
   »Das ist eine Energie Matratze mit Magnetfeld-Resonanz-Stimulation und Mikrovibration.« Dabei strahlt er wie unsere Enkel zu Weihnachten.
   »Stimulation und Vibration? Das könnte mir gefallen.« Ich lache und werfe mich schwungvoll auf das Behandlungsbett, schlüpfe aus meinen Schuhen und drehe mich aufreizend auf die Seite. Steffen kennt diesen Blick und versteht meine Signale sofort.
   »Ich vermisse dich, Marie. Wann sehe ich dich wieder?«
   »Am Freitag um zehn. Du brauchst nur den QHS Kanal anzustellen.« Ich greife nach meiner Handtasche und werfe Steffen zum Abschied einen flüchtigen Handkuss zu.

Mit Küss mich Kirsche lande ich einen Volltreffer. Sarahs sympathische und professionelle Moderation trägt wesentlich zum Erfolg der Verkaufssendung bei. Schon nach den ersten drei Ausstrahlungen haben wir das gesamte Startsortiment am ersten Tag verkauft. Der Sender ist begeistert und mir fällt ein Stein vom Herzen. Sarah bemerkt, dass ich wie ausgewechselt wirke.
   »Seit dem du deine privaten Probleme im Griff hast, strahlst du wieder richtig.«
 

Steffen zog kurz nach der Eröffnung des Gesundheitshauses in ein 95 qm großes Appartement im noblen Schickimicki Viertel mit Blick auf den Hamburger Hafen. Bärbel hat ihm beim Einrichten geholfen.
   »Das ist nicht zu übersehen. Geschmack ist eben nicht erlernbar«, sage ich zu ihm. Ich frage mich ständig, wie es angehen kann, dass jemand ein so gezieltes Händchen für No-Gos hat. Ich kenne Bärbel nur in übergroßen Lagenlook Kleidern. Geschmückt von unzähligen Holzperlenketten, die über ihren flachen, ungestützten Busen wippen. Ihre fleischigen Füße stecken auch im Winter in offenen Römer Sandalen. Bärbels Haare gleichen einem Dämmmaterial aus dem Baumarkt. Ich bin mir nicht sicher, ob Holz- oder Glaswolle. Schuld daran sind ihre häufigen Hennatönungen. Bärbel liebt die Farbe Lila. Diese Liebe ist auch in Steffens neuer Behausung nicht zu übersehen. Aber für die kurzen Schäferstündchen kann ich leicht darüber hinweg sehen. Ich habe ohnehin die meiste Zeit die Augen geschlossen. Seitdem ich den Konzertbesuch absagen musste, den ich Steffen vor unserer Trennung geschenkt habe, herrsch allerdings Funkstille zwischen uns. Ich musste mich zwischen Sir Elton John in Düsseldorf und Herrn Dr. Ulrich Lambert in Wismar entscheiden. Meine Wahl fiel auf den Inhaber des Produktionsbetriebes. Regelmäßige Kontrollbesuche bei Ulli, wie ich ihn nenne, gehören nun zu meinen Aufgaben.
   »Deine Vorsätze, weniger auf Reisen zu gehen, hast du ja super umgesetzt!« Steffen brüllte so laut durch das Telefon, dass ich befürchtete, einen Hörsturz erlitten zu haben. Nun wird es aber Zeit, das Schweigen zu beenden. Ich will endlich wissen, wie er seinen 50. Geburtstag feiern will. Ich habe ihm schon mehrmals auf die Mailbox gesprochen, aber er rief nicht zurück. Ich werde ins Gesundheitshaus fahren und ihn direkt fragen.

Der Empfangsraum ist nicht besetzt. Ich klopfe an die Tür des Behandlungszimmers eins im Erdgeschoss und rufe leise durch den Spalt. »Hallo Bärbel?« Eine durchtrainierte Mittzwanzigerin erscheint im Foyer. Sie trägt einen knappen, bauchfreien Sportanzug, der ihre enorm großen Möpse bestens zur Geltung bringt.
   »Hallo, ich bin Judith. Yoga für Anfänger?«
   »Nein, ich möchte zu Herrn Simon.« Judith beugt sich gelenkig wie eine Kunstturnerin über den Tresen, um dann mit gestreckten Fingerspitzen an den Knopf der Telefonanlage zu kommen.
   »Steffen, Spatzi, dein nächster Termin wartet hier unten. Darf ich dir die Dame raufschicken?« Ich staune nicht schlecht über das herzliche Betriebsklima im Gesundheitshaus.
   »Sie dürfen schon raufgehen, Frau Meissner. Ich wünsche Ihnen angenehme Entspannung.« Die hat sich ja wohl das Hirn in die Titten verpflanzen lassen, denke ich. Oder wie kommt sie dazu, mich als Frau Meissner anzukündigen.
   »Ich bin nicht Frau Meissner, meine Liebe, ich bin Frau Spatzi!« Ich gehe in den ersten Stock.
   »Mahlzeit, mein Lieber. Danke, dass du zurück gerufen hast.« Steffen sitzt an seinem Schreibtisch und macht keine Anstalten aufzustehen, um mich zur Begrüßung zu küssen. Er ist also noch immer beleidigt und fragt mich, ohne seinen Kopf zu erheben: »Wie komme ich denn zu der Ehre?« Ich habe überhaupt keine Lust auf diese Spielchen und komme gleich zur Sache.
   »Es geht um deinen Geburtstag. Wie hast du dir das Fest vorgestellt. Hast du schon genaue Vorstellungen?«
   »Ich werde überrascht. Bärbel und Judith haben etwas für mich geplant. Ich weiß nur so viel, Treffen ist am Samstagabend um 19.00 Uhr hier vor der Praxis.«
   »Was hast du? Dein Ton ist so merkwürdig?« Ich betrachte meinen Heilpraktiker Gatten in seinem schneeweißen Outfit.
   »Komme oder komme nicht. Nur denke nicht, dass ich auf dich warte. Bitte entschuldige mich jetzt, ich habe gleich eine Patientin.« Er steht auf und öffnet mir die Tür. Ich sehe, wie die Busenfrau flink über den Flur huscht. Hat sie gelauscht? Was ist hier los? Wie kommt Steffen dazu, mir so eine Abfuhr zu erteilen? Am Empfangstresen steht die junge Yoga Judith und blättert im Tischkalender.
   »Ist Bärbel heute auch da?«
   »Da kommt sie gerade.« Ich gehe ihr draußen auf der Zufahrt entgegen, ergreife ihren Arm und ziehe sie zur Seite.
   »Was geht hier mit eurer Yoga Tussi ab? Läuft da was zwischen Steffen und ihr?« Bärbel versucht, ihren Arm wieder zu befreien.
   »Glaube ich nicht, aber ich habe auch schon bemerkt, dass sie sehr vertraut miteinander umgehen.« Ich empöre mich.
   »Sie könnte seine Tochter sein! Wieso planst du mit dieser Tittenfrau den Geburtstag meines Mannes?«
   »Marie, beruhige dich! Steffen wollte gar nicht feiern. Deshalb haben wir überlegt, ihm ein Fest auszurichten. Er kann sich doch unmöglich an seinem Fünfzigsten allein in seiner Wohnung vergraben. Ich habe schon mit Frederik und seinen Eltern gesprochen. Die kommen auch. Judith kennt den Wirt vom Strandlokal am Elbwanderweg. Sie hat für dreißig Personen reserviert. Das war ein Glück, denn so kurzfristig hätten wir nichts anderes auf die Beine stellen können.«
   »Wunderbar! Dann werde ich ja nicht mehr gebraucht.«
   »Na, aber du kommst doch?«
   »Ich glaube, meine Anwesenheit ist gar nicht erwünscht.«

Zu Hause telefoniere ich mit Dr. Ulrich Lambert. »So eiskalt hat mich noch niemand im Preis gedrückt. Die dermatologischen Tests für die Gesichtslinie sind auch schon abgeschlossen. Glückwunsch, sie zeigen hervorragende Ergebnisse. Ich sende sie dir gleich per Mail zu. Wir haben heute eine Abfüllung deiner Augencreme zur Probe laufen lassen. Ich denke, hier müssen wir schnellstens an der Viskosität arbeiten. Wann kannst du kommen? Dieses Problem müssen wir dringend angehen.« Ich schaue auf meinen Terminkalender.
   »Ich kann ab Freitagmittag. Sagen wir so gegen 12.00 Uhr. Ich freue mich auch. Bis dann.« Ich lege den Hörer auf und gehe in die Diele, wo ein wandhoher Spiegel hängt und mustere mich von allen Seiten. Eindeutig zu dick und zu weich, lautet mein niederschmetterndes Urteil. Mit dieser Yoga Tante kann ich es auf keinen Fall aufnehmen. Frustriert setze ich mich auf den Boden und mache einige Bauch Beine Po Übungen und beschließe, künftig mehr auf mich achten. Bodenturnen ist nicht meine Disziplin, stelle ich nach wenigen Minuten fest und ich spaziere lieber mit Bruno noch eine kurze Runde durch die schwüle Sommerhitze.

»Mir gefällt die Konsistenz.« Mich beschleicht das dumme Gefühl, dass Ulli mich nur unter einem Vorwand gerufen hat. Ich spüre seine Blicke auf meinem Hintern, als ich über den Tisch gebeugt, die Augencreme prüfe.
   »Das kann so bleiben. Und dafür hast du mich tatsächlich herbestellt?«  Ich schenke dem jungen Doktor der Dermatologie ein kurzes Lächeln. Ulli ist ein sehr gutaussehendes Exemplar von Mann. Er übernahm im Alter von vierzig Jahren das Unternehmen von seinem Vater in dritter Generation. Das war vor zwei Jahren. Lieber hätte er als niedergelassener Hautarzt praktiziert. Aber der Druck aus der Familie war größer.
   »Ich möchte dich zum Essen einladen. Komme mir nicht wieder mit Ausreden!«
   »Wenn du magst, können wir uns morgen Abend in Hamburg treffen. Ich bin zwar zum Geburtstag eingeladen, habe aber nicht vor, lange dort zu bleiben. Ich werde nur kurz mein Geschenk abgeben und danach können wir irgendwo lecker essen.« Der verliebte, schöne und doch arme, Doktor kann nicht ahnen, dass er nur als Mittel zum Zweck missbraucht wird. Ich bin fest entschlossen, meinem Mistkerl Steffen zu zeigen, dass sich das Warten auf mich gelohnt hätte. Ich höre ihn schon sagen: »Wie kannst du es wagen, mit deinem Lover hier aufzukreuzen.« Dann wird er schäumen vor Wut. Diese Vorstellung bereitet mir kindliche Vorfreude. Ulli wird mich um 18.00 Uhr mit seinem Sportwagen vor der Villa abholen.
 

Ich gönne mir ein Traubenkern Ganzkörper Peeling unter der Dusche und versiegel meine Haut mit einer reichhaltigen Body Butter aus eigener Produktion, die einen leichten Goldschimmer auf meiner gebräunten Haut hinterlässt. Schon gegen halb sechs bin ich fertig geschminkt. Ich wechsel noch dreimal die Schuhe und nehme dann doch wieder die flachen Ballerinas. Mit hochhackigen Pumps am Strand hin und her zu wackeln, würde meinen Plan des perfekten Auftritts nur durcheinander bringen. Als ich die Autohupe höre, greife ich rasch nach meiner Handtasche und den Schlüsseln. Freudig springe ich die Stufen der Außentreppe herunter.
   »Hallo Ulli. Du bist ja auf die Minute pünktlich.« Ich lotse ihn durch die Hamburger Elbvororte zum Endziel Gesundheitshaus.

Der Kundenparkplatz ist wieder gerammelt voll und ich ärgere mich, dass mein Auftritt nicht die gewünschte Aufmerksamkeit erfährt. Unbemerkt steige ich aus dem Auto.
   »Parke doch schnell in der Nebenstraße. Ich warte hier auf dich.« Hanna und Karl haben mich schon erblickt.
   »Hübsch siehst du aus, Marie.«
   »Hallo Mama.« Frederik küsst mich zur Begrüßung. Nun nimmt auch Steffen Notiz von seiner Familie und kommt mit der jungen Yogatante auf uns zu.
   »Guten Abend, Frau Spatzi«, werde ich von Judith begrüßt. Die Busenfrau lacht albern. Die ist entweder strohblöd oder schon völlig besoffen, denke ich.
   »Herzlichen Glückwunsch, Steffen.« Ich dibbere darauf, dass Ulli endlich dazu stößt und lächle dem Geburtstagskind nur kurz zu. Einen Kuss bekommt er auf gar keinen Fall.
   »Mein Geschenk für dich«, sage ich kurz und übergebe ihm einen Umschlag.
   »Willst du wieder mit mir auf ein Konzert gehen?«, fragt er schnippisch und öffnet das Kuvert.
   »Ein Seminar Gutschein zum Thema Personalführung!«  Er bricht in lautes Lachen aus.
   »Da kannst du die richtigen Umgangsformen gegenüber weiblichen Mitarbeitern lernen, Spatzi!« Endlich trifft Ulli ein.
   »Da bist du ja. Ich hab dich in der Menschenmenge gar nicht gleich wieder gefunden. Guten Abend, mein Name ist Ulrich Lambert.«
   »Dr. Ullrich Lambert«, verbessere ich ihn stolz und stelle mich demonstrativ noch enger an meinen Begleiter. Wie ernten entsetzte Blicke von den Senior Simons und auch Frederik ist irritiert.
   »Und Sie sind wer?«, will Sohnemann vom Doktor wissen.
   »Ulli ist mein enger Geschäftspartner.« Gespannt warte ich auf Steffens Ausbruch.
   »Guten Abend«, sagt auch Steffen freundlich und gibt Ulli die Hand. »Ich bin Steffen Simon. Wir feiern gleich am Elbstrand meinen Geburtstag. Kommen Sie doch dazu. Es würde mich sehr freuen. Fahren Sie Marie und mir einfach hinterher. Es sind nur zehn Minuten von hier, also bis gleich.« Ich bin komplett verblüfft. Mit dieser Reaktion habe ich nie und nimmer gerechnet. Steffen greift nach meiner Hand und zieht mich bis zur Praxistür hinter sich her.
   »Hör mir genau zu! Ich werde mich zum Fünfzigsten von dir nicht mit einem blöden Gutschein abspeisen lassen. Ich will ab heute alle fünf Punkte von dir. Ich will, dass du an mich denkst. Ich will dass du dich um mich sorgst. Ich will dass du von mir berührt werden willst. Ich will dass du mir glaubst und mir wieder vertraust. Alle fünf, verstehst du? Ich tue das nämlich auch. Ich will endlich wieder mit dir zusammen wohnen. Ich hab mich lange genug von dir bestrafen lassen. Und jetzt komm endlich. Ich will mit meiner Frau feiern!» Ich bin immer noch sprachlos und zähle nach, wie oft er wieder einen Satz mit »Ich« angefangen hat.

Steffen lässt mich nicht wieder los. Er hält meine Hand eine geschlagene halbe Stunde fest umklammert und küsst mich ständig auf die Wange und auf den Mund. Den fremden Menschen stellt er mich, als sein Mädchen vor, mit dem er schon fast 27 Jahre glücklich verheiratet ist. Frederik kommt zu uns herüber.
   »Nadja hat vor einer Stunde das Baby zur Welt gebracht. Es ist ein Mädchen. Ich fahre sofort ins Krankenhaus.« Ulli bietet sich an, den frisch gebackenen Vater zu fahren.
   »Du bist wieder Oma.«
   »Stimmt, Opi. Aber dein Appartement ist für unsere wachsende Familie eindeutig zu klein. Für eine Dauerfrau mit drei Enkelkindern und Hund brauchst du ein größeres Zuhause.