Mitgefühl

»Jetzt ist es soweit«, denke ich leise, als ich den Stapel Post durchsehe. Ich bin schon darauf gefasst. Es ist für mich nicht ungewöhnlich, nach einer Periode von Glück und Zufriedenheit, gleich wieder etwas auf den Deckel zu bekommen. Finanzielle Sorgen gehörten bisher nicht dazu.
   »Mamam, wann kommt Papa?« Ich schaue auf die Uhr.
   »Er wird gleich kommen, mein Spatz«. Clara läuft in die Küche und klettert auf die Fensterbank. Von dort hat sie den besten Blick auf die steile Hausauffahrt. Die unerfreulichen Briefe werden rasch in der Schublade meines Schreibtisches versteckt, Werbung und die Post für Tobias lege ich wie immer auf die Kommode. Mit einem lauten Seufzer gehe ich in die Küche und setze einen großen Topf mit Wasser auf. Es soll Pasta geben. Seitdem Clara ein kulinarisches Mitspracherecht hat, gibt es häufig Nudeln zu Mittag. Mit einem kurz, kurz, lang Hupen kündigt der Hausherr sein Eintreffen an. Tobias ist verschwitzt. Seine Jeans und sein Shirt sind ölverschmiert. Zusammen mit seinem Geschäftspartner Julian wartet er die Motoren ihrer Segelyachten. Die beiden Männer haben sich im vergangenen Herbst geschäftlich zusammen getan und ein Charter Unternehmen gegründet. In den Wintermonaten ist es ein brotloses Geschäft. Vor Mai rechnen sie nicht mit großen Einnahmen. Für die Zeit der Filmfestspiele in Cannes und während der Formel Eins Saison in Monaco sind die Auftragsbücher bereits gefüllt. Aber bis dahin sind es noch drei Monate. Der Blick in das Gesicht meines Mannes, ein Kuss und eine Umarmung lassen meine Sorgen für einen kurzen Moment verschwinden.
   »Nach dem Essen muss ich gleich wieder los. Julian hat einen Termin mit einem Yacht Charter Unternehmen aus Nizza verabredet. Vielleicht können wir kooperieren.« Ich bin nicht böse darüber. So kann ich mich während seiner Abwesenheit unbemerkt um die Post kümmern und ungestört wichtige Telefonate führen. Bevor ich meinen Mann mit der angespannten Finanzlage behellige, muss ich mir erst einen Überblick über das Ausmaß verschaffen. Seitdem ich meinem Sohn die Firma übertragen habe und meine aktive Arbeit als TV Shopping Verkäuferin aufgab, leben wir von den Einnahmen aus dem Mode Label. Dass die Umsätze meiner alterslosen Fashion rückläufig sind, kann ich meiner Partnerin nicht ankreiden. Caro designt und näht kreativ und rastlos wie eh und je. Die Ursache liegt bei mir selbst. Ich habe das Geschäft während der letzten zwei Jahre schleifen lassen und mich vornehmlich um Clara und meinen liebsten Ehemann gekümmert. Ein Blick in die Kontoauszüge lässt mich erschrecken. Die Reserven sind nahezu aufgebraucht. Ohne weitere Einnahmen wird es eng. »Verdammt eng«, sage ich und greife zum Telefon.
   »Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht für dich«, sagt Caro. Sie klingt so euphorisch, dass ich mich vor ihren Neuigkeiten nicht ängstige.
   »Ich bin schwanger. Es hat endlich geklappt. Wir sind so happy, das glaubst du nicht. Aber jetzt die schlechte Nachricht. Ich werde bald aufhören zu arbeiten. Mindestens für drei Jahre werde ich Elternzeit nehmen.« Ich verstumme. Wortlos betrachte ich die Auswertungen, die sie mir auf den Bildschirm schickt. Dicke, fette, rote Zahlen. Die Ausgaben für Stoffe, Löhne und Miete überwiegen. Es ist ein Fass ohne Boden. Ich sehe die restlichen Umschläge durch. Rechnungen und noch mal Rechnungen. »Ich werde mit Tobi sprechen müssen«, sage ich laut und gehe, um eine Zigarette zu rauchen auf die Terrasse. Fünf Jahre lang genoss ich den Blick in den immergrünen Garten hinüber auf das blaue Mittelmeer. So schön, wie an diesem Tag, kam es mir lange nicht mehr vor. Soviel Arbeit und Liebe stecken in unserem kleinen Anwesen. Das Haus werde ich nie verkaufen. Nie freiwillig. Mein Gedankengang wird durch lautes Klopfen an die Fensterscheibe von Clara unterbrochen. Mit erhobenen Finger und dem Blick einer Petze ruft sie mir zornig zu: »Du sollst nicht rauchen, Mamam!« Ich drücke meine Zigarette aus und gehe zurück ins Haus. Im Wohnzimmer stelle ich den Fernseher an und schalte auf den QHS Kanal. Gespannt warte ich auf die Verkaufssendung meiner alten Kosmetik Serie. Frederik hat mir berichtet, dass er eine neue Repräsentantin eingestellt hat. Die dritte nach meinem Ausstieg. Sie ist zwar älter als ihre Vorgängerin, allerdings genauso untalentiert stelle ich nach wenigen Minuten fest.
   »Die weiß doch gar nicht, wovon sie spricht«, schimpfe ich in den Fernseher. Die Neue verwechselt stets die Begriffe Anti Aging und Antioxidantien. Verärgert wähle ich die Telefonnummer der SoMa Kosmetik GmbH in Hamburg.
   »Das ist nicht dein Ernst, Frederik. Wer hat denn diese Pfeife rekrutiert. Wurde sie nicht gebrieft? Die Sendung hat ja schon was von Comedy!« Fredrik gibt sich maulfaul. Ihm geht meine Kritik zu weit. Beleidigt antworte er: »Dann mach es doch wieder selber. Jemanden zu finden, der deinen hohen Ansprüchen genügt, ist ein unmögliches Unterfangen!« Keine schlechte Idee, denke ich und lege auf.

Tobi kommt wie häufig erst zurück, als Clara schon im Bett liegt. Ich kann seinem Blick entnehmen, dass es ein erfolgreiches Gespräch war. Überhaupt ist er seit seiner Selbstständigkeit stets guter Stimmung. Schlechte Laune kenne ich bei ihm gar nicht. Verliebt sieht er mich an und fragt: »Nehmen wir noch einen Schlummertrunk?« Während er sich unter die Dusche verzieht, öffne ich eine Flasche Wein. Gespannt warte ich auf dem Sofa und überlege, wie ich am besten mit meiner Beichte beginnen soll.
   »Heute ist mein Glückstag. Clara schläft tatsächlich in ihrem eigenen Bett. Das müssen wir ausnutzen. Komm Schatz, den Wein können wir auch im Schlafzimmer trinken.« Nun ist mir klar, dass es zu keinem ernsten Gespräch mehr kommen wird. Ich verschiebe meine Beichte notgedrungen auf den nächsten Morgen.

Auch das gemeinsame Familienfrühstück ist kein passender Zeitpunkt für das Überbringen schlechter Nachrichten. Tobias telefoniert schon zum zweiten Mal im Stehen und gibt Clara lautlos Zeichen, dass sie sich beeilen soll. Ich ziehe meinen Bademantel über und begleite die beiden Frühaufsteher zum Auto. »Tobi, heute musst du dir etwas Zeit nehmen. Ich muss dringend etwas mit dir besprechen. Nicht zwischen Tür und Angel. Und auch nicht im Bett.« Er verspricht zum Mittag nach Hause zu kommen. Ich trinke noch einen Kaffee und mache mich schnell auf, das Haus zu verlassen. Im Ort und erledige ich die Einkäufe. Meistens treffe ich auf bekannte Gesichter. Diesmal stoße ich auf unsere langjährigen Freunde, die US Amerikaner Jennifer und Phillip. Jenny steht vor dem Regal mit Sonnenschutzmitteln und liest die Beschreibungen.
   »Wunderbar, dass du jetzt gerade kommst. Ich brauche deinen fachkundigen Rat. Welchen Selbstbräuner kannst du mir empfehlen?« Phillip verdreht die Augen. Er steht schon eine Weile ratlos neben seiner Frau und freut sich auf weibliche Unterstützung.
   »Ich gehe einen Kaffee trinken und kaufe mir eine Zeitung. Wenn du mit deiner Beauty Shopping Tour fertig bist, kannst du ja ins Café nachkommen«, sagt er und verschwindet. Jenny beklagt sich über das mangelnde Interesse ihres Mannes. Als er um die Ecke geht zeigt sie mir ihre nackten Beine, die sie unter einer langen Hose versteckt.
   »Nun sieh dir das Elend mal an. Ich bin so kreidebleich, da sieht man meine Krampfadern noch mehr. Ich möchte zu meinem Geburtstag gern einen Rock tragen. Aber so, wie ich aussehe, traue ich mich nicht.« Jenny wird 60. Sie ist eine sportliche Person und hat eine tolle Figur für ihr Alter. »Ich habe mich immer gepflegt, stets die teuersten Cremes verwendet, aber irgendwann ist der Lack halt ab«, stöhnt sie. Ich bin kein Freund von Selbstbräunern und habe bisher keine guten Erfahrungen damit gemacht. Entweder färbt sich die Haut orange oder sie sieht scheckig aus wie eine Landkarte. Jenny hat Frust. Sie sucht nach einem neuen Badeanzug. Jetzt wo sie einen beheizten Pool besitzt, will sie auch in den Wintermonaten schwimmen. »Aus dem Tanga Alter bin ich ja nun raus. Aber schau doch mal. Diese Badeanzüge sehen doch aus, wie bunte Ritterrüstungen. Gibt es denn gar nichts Passendes für Frauen meines Alters?« Ich muss ihr zustimmen. Die Auswahl an schicker Bademode hält sich in Grenzen.
  »Jetzt ist eben keine Saison.« Ohne etwas gekauft zu haben, gehen wir zu Phillip und trinken noch einen Kaffee.

Ich habe mich verquasselt. Schnell bereite ich einen Auflauf und stelle ihn in den Backofen, als ich Mann und Kind schon vorfahren sehe. In gewohnter Pose mit dem Handy am Ohr, betritt Tobi die Küche. Er telefoniert mit Julian. Ich finde, er hatte vormittags genug Zeit, um mit ihm zu sprechen und nehme meinem Mann das Telefon aus der Hand.
   »Jetzt gehörst du mir.«
   »Was wolltest du mit mir besprechen?« Ein Blick in den Backofen und ich weiß, dass ich meine Nachricht nicht bis nach dem Essen aufschieben kann.
   »Wir sind blank, mein Schatz. Nicht nur, dass wir diesen Monat wieder nicht mit Einnahmen aus dem Label rechnen können. Unsere Mató Linie wird eingestellt. Caro ist schwanger und hört auf.«
   »Ist das der Grund für deine Sorgenfalte?« Tobias streicht mit seinem Zeigefinger zärtlich zwischen meine Augenbrauen und lächelt. Er scheint den Ernst der Lage nicht zu erkennen. Im Beisein von Clara will ich auch keine Panik schüren und beschließe, meinen Mann auf diesem Wissenstand zu lassen.
   »Ich werde nach Berlin reisen müssen, um mit Caro die Abwicklung zu besprechen. Wir haben noch haufenweise fertige Kleider und Stoffe. Von hier kann ich wenig machen. Das heißt, du musst dich an diesen Tagen allein um die Kleine kümmern. Was meinst du, wann kann ich für zwei Tage weg?« Tobias verspricht, sich mit Julian abzusprechen und mir am Abend Bescheid zu geben.
   »Mach dir keine Sorgen. Ab Mai brummt das Geschäft«. Im Mai bist du mit deiner Yacht drei Raten bei der Bank im Rückstand. Soweit werde ich es nicht kommen lassen.

Seit Monaten schnuppere ich erstmals wieder Großstadtluft. Mürrisch hat Tobias zugestimmt, zwei Tage auf Clara aufzupassen. Nein, mitnehmen konnte ich meinen kleinen Engel wirklich nicht. Ich muss mich auf unseren Rettungsplan konzentrieren. Caro zeigt mir über 300 fertige Kleider und sie hat noch Stoffreserven für weitere dreihundert.
   »Das ist ein Vermögen, Caro! Das müssen wir dringend und schnell zu Geld machen.« Den Vorschlag, die Sachen bei eBay zu verramschen, lehne ich pikiert ab. Von Boutique zu Boutique zu fahren ist auch keine Lösung. Schließlich habe ich nur zwei Tage Zeit.
   »Und wenn du sie nun doch dem Sender anbietest. Der Clausen hatte es dir doch auf deiner Hochzeit angeboten.«
   »Stimmt. Und ich habe ihn arrogant abgebügelt und ihm gesagt, er soll seine Fett-weg-Unterwäsche verkaufen. Wir machen jetzt in Kunst.« Ich ärgere mich über meine überhebliche Reaktion. Damit habe ich die Tür zum Teleshopping endgültig zugeschlagen.
   »Ruf ihn doch mal an und gehe mit ihm Essen. Vielleicht wiederholt er sein Angebot ja nochmal.« Widerwillig nehme ich mein Handy in die Hand und wähle Clausens Nummer.
   »Ich bin auf Stippvisite in Berlin. Gehen wir auf eine Kohlroulade?« Clausen stimmt zu und wir verabreden uns für den frühen Abend.

   »Was führt dich nach Berlin? Nimmst du dir eine Auszeit von Mann und Kind? Hast du es dir endlich überlegt und fängst endlich eine Affäre mit mir an?«
   »Na, du gehst aber ran.« Ich erzähle von Tobis neuer Firma und lüge, dass sich die Balken biegen über mein Mode Label.
   »Dein Sohn fährt die Kosmetik gegen die Wand!«, sagt Clausen im ernsten Ton. »Innerhalb von zwei Jahren haben es deine Produkte vom Bestseller zum Ladenhüter gebracht. Ich sage es dir im Vertrauen, wir werden den Vertrag mit ihm nicht verlängern.«
   »Wer oder was kann dich umstimmen?« Ich weiß, dass Peer Clausen auf diesen Moment gewartet hat. Er gab mir damals unmissverständlich zu Verstehen, dass der Zug abgefahren ist, wenn ich gehe. Wenn er mir jetzt noch den Korb um die Ohren haut, den ich ihm einst auf seine Annäherungsversuche gegeben habe, werde ich ihm eine der viel zu weich gekochten Salzkartoffeln ins Gesicht drücken. Aber er sagt: »Du weißt, dass die Linien nur mit dir zu verkaufen sind. Komm zurück und übernehme einmal im Monat die Präsentationen. Dann bleibt alles beim Alten.« Ich überlege. Frederik wird sicherlich nichts dagegen haben. Tobi bestimmt.
   »Peer, ich denke ernsthaft über dein Angebot nach. Aber beides wird mir zu viel. Du weißt, dass Clara mich braucht. Das Modelabel und die Kosmetik überfordern mich. Ich bin schließlich keine vierzig mehr.«
   »Du brauchst nicht wieder die Karte mit deinem Alter auszuspielen. Außerdem weiß ich Bescheid. Deine Kleider laufen nicht mehr. Berlin ist ein Dorf. Also hör auf! Von mir aus kannst du sie online bei uns verkaufen. Sprich morgen mit unserer Marketingabteilung. Vielleicht nehmen sie dich noch mit einer Seite ins Kundenmagazin auf. Aber auf Sendung gehst du mit diesen Karnevalskostümen nicht.«
   »Richtig sexy bist du, wenn du so bestimmend bist.«
   »Machst du mich an?«
   »Ich sage nur, wie es ist. Danke Peer! Du bist ein echter Freund.«

Tobi und Clara erwarten mich schon auf dem Flughafen und ich berichte gleich im Auto von meinem Treffen mit Clausen. Schlagartig ändert sich Tobias Laune. Mit versteinerter Miene setzt er die Fahrt fort. Am Haus angekommen, schickt er Clara hinaus zum Spielen mit den Nachbarkindern. Sie soll nicht hören, was er mir zu sagen hat.
   »Du fängst wieder beim Sender an? Du sagst zu, ohne zuvor mit mir darüber zu sprechen? Und was wird mit Clara? Soll ich jetzt den Hausmann geben, wie es dein Steffen fünfundzwanzig Jahre gemacht hat? Mit mir nicht, Marie! Mach das wieder rückgängig oder wir haben hier richtig Streit!« Die forsche Reaktion lässt mich erschrecken. Ruhig versuche ich zu erklären, dass Clausen den Vertrag mit meinem Sohn nicht verlängert hätte.
   »Frederik hat auch vier Kinder für die er sorgen muss«, versuche ich meinen Entschluss zu rechtfertigen.
   »Heißt das, du machst einen Unterschied zwischen deinem leiblichen, aber erwachsenen Sohn und Clara? Weil du nicht ihre biologische Mutter bist, ist sie weniger wert? Sie ist fünf Jahre alt und braucht dich!« Ich bin fassungslos. Dieser Vorwurf geht deutlich unter die Gürtellinie. Und vor allen Dingen ist er völlig haltlos.
   »Du zweifelst an meiner aufrichtigen Liebe zu ihr?», schreie ich meinen Mann an. »Bist du noch ganz klar im Kopf?« Ich bin außer mir. »Ich habe große Lust, dir an die Gurgel zu gehen. Das ist eine Ungeheuerlichkeit! Geh mir aus der Sicht, Tobi!« Ich verlasse Tür knallend das Wohnzimmer und gehe auf die Terrasse. Vor Wut habe ich schon lange nicht mehr geweint. Meine Tränen bleiben vor Clara nicht unbemerkt. »Ich habe mich gestoßen und jetzt tut mir mein Bein weh.« Ich nehme die Kleine auf den Arm und lasse mich liebevoll trösten. Mit ihren kleinen, sandigen Kinderfingern wischt sie mir die Tränen weg. Während des Abendessens würdige ich meinen Mann keines Blickes. Nachdem ich Clara ins Bett bringe, lege ich mich auch sofort hin. Wortlos krieche ich unter meine Decke.
   »Lass uns doch vernünftig darüber reden, Marie.« Aber ich will und kann jetzt nicht vernünftig mit ihm reden. Eine aufrichtige Entschuldigung halte ich für angebracht. Stattdessen sagt er: »Das war nicht in Ordnung von dir.« Ich glaube mich verhört zu haben und krabble unter meiner Decke hervor.
   »Du drehst durch, weil ich an zwei Tagen im Monat einer Arbeit nachgehen will? Das hat mein erster Mann auch schon mit mir versucht. Steffen hat mich in der Lüneburger Heide langsam aber sicher vereinsamen lassen. Erinnerst du dich? Danach habe ich mit dir das Weite gesucht! Und jetzt machst du es genau so! Es geht hier nicht um Clara. Also schiebe sie nicht vor! Du hast ein Problem mit deiner Eifersucht!«
   »Und mit wem willst du jetzt das Weite suchen? Mit Clausen?«
   »Ja, sicher mit Clausen. Er wartet doch schon so lange darauf! Schließlich werden wir beide nicht jünger und schöner!« Ich sehe in das entsetzte Gesicht meines Mannes. Nach sechs Jahren weiß er immer noch nicht, wann ich einen Scherz mache. Das Grinsen auf meinem Gesicht verrät ihm dann aber doch, dass ich ihn nur hochnehme.
   »Du bist schrecklich! Und trotzdem liebe ich dich.« Er kriecht zu mir unter die Decke und führt seine magischen Hände über meinen Körper.
   »Du brauchst Clausen nicht. Ich kann es viel besser!«

Jenny drückt mit ihrem Ellenbogen zwei Mal kurz an den Klingelknopf. Sie ist mit verschiedenen Einkaufstüten und Kleidersäcken bepackt und wartete ungeduldig darauf, dass ich endlich den Summer betätigen soll. Als sich das große Gartentor öffnet, ruft sie mir zu: »Ich brauche dringend deinen Rat. Meine Schwester hat mir einige Sachen aus den USA geschickt. Was meinst du? Welches dieser Kleider soll ich morgen anziehen?« Ich koche uns einen Kaffee und bestaune, die eleganten Kostüme made in USA. Während der Kaffee durchläuft, zieht sie sich aus und demonstriert mir ihre lädierten Beine.
   »Hast du dich geprügelt oder woher hast du die vielen blauen Flecken?«
   »Ist das nicht furchtbar! Schon beim kleinsten Stups läuft mein Körper blau an. Das wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Ich habe meinen Arzt schon befragt. Er meint, es liegt an den immer dünner werdenden Blutgefäßen. Außer viel Vitamin C hilft da nichts.«
   »Ich kann dir die Flecken mit einem Make-up abdecken und mit Puder fixieren. Das macht die Maskenbildnerin im Sender auch immer so«, biete ich meiner verzweifelten Freundin an. Jenny legt ihre Beine auf den Stuhl und lässt mich gewähren. Mit einem kleinen Schwämmchen trage ich eine orange farbige Abdeckcreme auf die blau violetten Stellen auf. Danach wähle ich einen hellen Beige Ton aus der Farbpalette und überschminke die Flecken. Zum Schluss verteile ich Puder mit einem großen Pinsel auf die Stellen. »Fertig«, sage ich und Jenny tritt vor den großen Spiegel, um ihre makellosen Beine zu betrachten.
   »Das ist ja unfassbar. Man sieht nichts mehr. Du bist die Beste.«

Ich telefoniere mit dem Sender. Clausens Vorzimmerdame gibt mir die kommenden Sendetermine durch und ich notiere die Daten. Freitag und Sonntag, Donnerstag und Samstag, Montag und Mittwoch. So war es eigentlich nicht abgesprochen. Clausen sprach von einem Tag im Monat.
   »Herr Clausen meinte, sie hätten gern einen Tag Pause zwischen den Sendungen«, sagt sie auf meine verdutzte Reaktion. Ich verstehe. Das ist Peers Retourkutsche. Ich frage nach den Verkaufszahlen der Kleider.
   »Die Größen 40, 42 und 44 wurden an einem Tag online verkauft. Die kleinen Größen sind noch alle vorrätig.« Mir fällt ein Stein vom Herzen. Clausen hat mich mit seinem Angebot gerettet. In Anbetracht seiner Unterstützung, stimme ich den Sendeterminen widerspruchlos zu. Ich bitte Caro, aus den restlichen Stoffen, Kleider in großen Größen zu fertigen und sie an den Sender zu liefern. Mató kann mit schwarzen Zahlen beerdigt werden.

Auf die Geburtstagsfeier meiner Freundin Jennifer freue ich mich richtig. Wir waren schon lange nicht mehr zusammen aus. Clara soll die Nacht bei ihrer Spielfreundin verbringen. Endlich mal wieder ein gemeinsamer Abend unter Freunden, ohne Kind. Tobi ist guter Stimmung. Ich will, dass das so bleibt und entscheide, ihm erst am nächsten Tag von den bevorstehenden Sendeterminen zu berichten. Das Fest findet in unserem Stammlokal bei René statt. Wir sind mal wieder die Letzten, die eintreffen und nehmen auf den beiden freien Stühlen Platz. Mein Sitznachbar heißt Mike. Er und seine Frau Kathie bewohnen in den USA das Nebenhaus und sind enge Freunde der Gastgeber. Sie reisten extra zum Sechzigsten aus Florida an. Ich schätze ihn auf mein Alter. Seine sympathische Frau ist wohl zehn Jahre jünger und eher im Alter von Tobias. »Du bist Schriftsteller? Dann schreibst du bestimmt Liebesromane«, mutmaße ich. »So verliebt, wie du deine Frau ansiehst.« Mike verrät mir sein Geheimnis. Kathie ist schwanger. Im Alter von 45 erwartet sie ihr erstes Kind. Ein absolutes Wunschkind, wie er immer wieder beteuert. Kathie ist seine Traumfrau. Wegen ihr verließ er seine erste Frau, mit der er über zwanzig Jahre lang verheiratet war. Seit sechs Jahren ist er mit Kathie glücklich.
   »Das klingt ja wie unsere Geschichte«, sagt Tobias und küsst mich lieb.
   »Hast du auch Kinder?«
   »Einen Sohn von 32 Jahren. Zwei Schwiegertöchter. Vier Enkelkinder im Alter von 12 bis 4 und unseren Sonnenschein Clara. Sie bestimmt unser neues Leben. Und es ist toll!« Jennifer berichtet ihren weiblichen Gästen von meinen Zauberkünsten und zeigt ihre Beine. Wenn sie so offen darüber spricht, hätte sie sich das Überschminken auch sparen können, denke ich amüsiert.
   »Bist du Kosmetikerin?« fragt Kathie. Phillip klärt die Unwissende auf.
   »Bis vor zwei Jahren hat Marie erfolgreich ihre eigene Kosmetik im Teleshopping verkauft. Sie hat sogar eine eigene Pflegelinie für Schwangere entwickelt.« Kathie ist beeindruckt. Tobias mischt sich ein und verrät Jennifer, dass ich wieder aktiv in das Geschäft einsteigen werde. Das Geburtstagskind hebt die Augenbrauen.
   »Dann werden wir uns wohl wieder verstärkt um dich kümmern müssen«, lacht sie.
   »Tobias kann schlecht ohne Marie sein. Wenn sie fort ist, kommt er meist auf dumme Gedanken«, sagt Phillip. Steve, der schon etwas angetrunken ist, platzt mit einem Geheimnis heraus.
   »Tobi und Marie werden auch gern die Siams von uns genannt. Siamesische Zwillinge!«, lacht er. Mike beugt sich vor und flüstert mir zu: »Lass sie reden. Die wissen nicht mehr, wie sich wahre Leidenschaft anfühlt.« Die Siams verabschieden sich kurz nach Mitternacht und fahren gut gelaunt heim.

Zu einem harmonischen Frühstück zu dritt kommt es nicht. Tobi entdeckt den aufgeschlagenen Terminplaner auf dem Schreibtisch. Er geht die Monate April, Mai und Juni durch und sagt: »Also vier Tage im Monat bist du in Berlin. Mit Vor- und Nachbereitung müssen wir eine Woche im Monat auf dich verzichten. So war das nicht mit mir abgesprochen!« Wütend geht er ins Bad. Ohne Frühstück und Abschiedsgruß verlässt er das Haus. Ich warte mittags vergeblich auf ihn. Er schmollt zwei ganze Tage. Ich lasse ihn murren. Als ich meinen Koffer packe, bricht er endlich sein Schweigen.
   »Wer soll sich deiner Meinung nach jetzt um Clara kümmern?« Ich habe bereits für eine Lösung gesorgt. Für die Tage meiner Abwesenheit, soll die Kleine ganztags in den Kindergarten gehen. Es sollte Tobias möglich sein, an den vier Tagen, Clara gegen fünf Uhr nachmittags abzuholen und ihr ein Abendessen zu machen. Ich bin nicht bereit, mir ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen.
   »Du willst vor meiner Abreise streiten. Na prima! Da werden wir uns ja beide bestens fühlen!« Tobias lenkt nicht ein. Also mache ich einen neuen Versuch. »Wir standen kurz vor der Pleite. Glaubst du, ich gehe fort, um mich zu amüsieren? Das tue ich nicht. Soll ich dabei zusehen, wie Frederiks Firma den Bach runter geht? Tobi, ich vermisse dich jetzt schon! Bitte hör auf, so störrisch zu sein und halte mich fest!« Jetzt endlich kommt er meiner Bitte nach und nimmt mich fest in den Arm.

Clausen wartet mit einer großen Überraschung auf mich. Es war ihm gelungen, auch Sarah als Moderatorin zurück zu gewinnen. Meine alte Freundin hat mir nicht verraten, dass sie wieder an Bord ist.
   »Los Mädels, macht Umsatz!«, ruft er uns hinterher. Wir enttäuschen ihn nicht und führen durch die Verkaufssendungen wie zu unseren besten Zeiten.
   »Ich werde immer fetter«, stöhnt sie abends im Hotel. Sie zieht ihre weiße Bluse hoch und zeigt ihre vorstehende Wampe.
   »Nach meiner letzten Diät habe ich nur an den Beinen und an den Armen abgenommen. Nicht ein Gramm am Bauch! Meine Figur gleicht einem Tiefkühl Hähnchen«, lacht sie. Ich erkläre, dass ich mich mit regelmäßigem Schwimmen in Form halte.
   »Du hast auch einen eigenen Pool.« Ich starte mein Notebook und stelle eine Verbindung zu Tobi her. Clara nimmt den Anruf an und beschwert sich lauthals über die schrecklichen Kochkünste ihres Vaters.
   »Papa hat eine ganz ekelige Soße zu den Nudeln gekocht«, meckert sie. Ich erzähle ihr eine kurze Gutenachtgeschichte und werfe meinen Lieben noch viele Handküsse zu.
   »Wer hätte gedacht, dass aus euch noch einmal eine ganz normale Familie wird«, sagt Sarah. Ich erkundige mich nach Anke. Sarahs langjährige Lebensgefährtin quittierte ihren Schichtdienst als Stationsärztin im Krankenhaus und zog von München in die Schweiz. Dort ist sie nun in einer Klinik für plastische Chirurgie beschäftigt und sie führen seither eine Wochenendbeziehung.
   »Zuerst dachte ich, sich nur am Wochenende zu sehen und die ganze Zeit ungestört miteinander verbringen zu können, wäre das Salz in der Suppe. Jetzt sage ich dir, es war der Tod für unsere Beziehung.« Sarah fängt an zu weinen. Ich kenne meine Freundin als starke, selbstbewusste Frau. Ich habe sie noch nie traurig und verzweifelt erlebt. Sie hat ihre Anke an eine jüngere Frau verloren. Seit Wochen schluckt sie ihren Schmerz mit Alkohol herunter.
   »Clausens Angebot kam wie gerufen. Arbeit ist eben doch das beste Mittel, um nicht den Verstand zu verlieren.« Sarah will nicht weiter darüber sprechen. Ich halte sie lange im Arm, denn das ist das beste Mittel gegen Herzschmerz.

Ich inspiziere das Warenlager und lasse mir die Verkaufszahlen vom Vortag geben. Obwohl eine enorme Steigerung zu verzeichnen ist, bin ich nach den ersten Sendungen noch nicht wirklich zufrieden. Ich schnappe mir drei Babybump Pflegesets für Mütter in spe. Zur Behandlung ihrer dicken Bäuche will ich sie der schwangeren Caro und Kathie schenken. Das Dritte ist für die dralle Sarah gedacht.
   »Komm her mein kleines Hängebauchschweinchen!«, rufe ich meiner Moderatorin nach dem Abspann der letzten Verkaufsshow zu. »Verschwinden wird dein Waschbärbauch davon nicht. Aber die Haut bleibt geschmeidig und streifenlos.« Ich packe die Pflegesets in Geschenkpapier ein und lege zwei Grußkarten für die werdenden Mütter bei. In der Poststelle des Senders gebe ich die beiden Päckchen ab und eile zum Flughafen. In letzter Minute erreiche ich die Abendmaschine. Meiner Überraschung steht nun nichts mehr im Weg. Tobias soll staunen. Er rechnet erst am kommenden Tag mit meiner Rückkehr. Enttäuscht fahre ich meinen Wagen auf das Grundstück. Was habe ich erwartet? Gegen ein Uhr nachts ist das Haus dunkel und Mann und Kind schlafen bereits fest. Leise verschwinde ich im Bad. Nicht leise genug. Schlaftrunken folgt Tobias mir, zieht mich zufrieden aus der Dusche und führt mich ins Bett. Glücklich setzt er an meiner Seite seinen Tiefschlaf fort.

»Du siehst müde aus«, stelle ich am nächsten Morgen fest.
   »Die Tage waren nicht ohne. Ich hatte viel Arbeit. Clara war die ganze Zeit bockig und geschlafen habe ich auch schlecht. Außerdem hast du mir gefehlt.«
   »Jetzt bin ich ja wieder da. Bis zum nächsten Termin haben wir mehr als drei Wochen Zeit für uns.«
   »Haben wir nicht, Marie. Übermorgen habe ich den ersten Törn und bin für eine Woche weg. Danach legen wir in Cannes an. Während dieser Zeit werde ich nicht nach Hause kommen können.« Tobias holt seinen Terminplaner aus dem Arbeitszimmer und legt ihn auf den Tisch. Die Monate Mai, Juni, Juli und August sind rot markiert.
   »Soll das heißen, dass du vier Monate lang nicht nach Hause kommst?« Ungläubig sehe ich meinen Mann an. Das kann er nicht bringen! Noch vor kurzem machte er mir eine Szene wegen der vier Tage Berlin. Ich bin nicht bereit, das hinzunehmen.
   »Ich werde versuchen, an den Tagen hier zu sein, wenn du in Berlin zu tun hast. Dann ist immer jemand für Clara da.« Und wer ist für mich da?
   »Vermutlich werden wir nur zwischen Monaco und Saint Tropez cruisen. Du kennst doch diese neureichen Spinner. Die meiste Zeit werden sie im Hafen abfeiern. Ich rufe dich sofort an, wenn ich weiß, welche Bucht wir anlaufen. Dann können wir uns regelmäßig sehen.«
   »Das sind ja schöne Aussichten!« Ich ärgere mich, nehme mich aber schnell wieder zusammen. Die verbleibende Zeit will ich nicht im Streit verbringen. Am Abend kuschel ich mich ganz fest an meinen Kapitän. Ein dicker Kloß in meinem Hals schnürt mir die Luft ab. Schwer atme ich durch die Nase und mein Herz rast. Ich habe jetzt schon Sehnsucht und weiß, dass ich ihn unendlich vermissen werde. Vier Monate, denke ich immer wieder. Das ist kaum auszuhalten.
   »Hey«, sagt er und nimmt mein Gesicht in beide Hände. Mit seinem Daumen fängt er die erste große Träne ab. Mein nachfolgender Tränenfluss durchfeuchtet sein weißes T-Shirt. »Wir telefonieren jeden Tag. Ich verspreche dir, mindestens einmal pro Woche nach Hause zu kommen. Du weißt doch selber, länger halte ich es ohne dich nicht aus!«

Aus den täglichen Anrufen werden Kurzmitteilungen. Tobi ist meist nicht nah genug an der Küste und sein Telefon hat keinen Empfang. Wenn ich spät abends Glück habe und ihn erreiche, ist es auf der Yacht so laut, dass ich ihn nicht verstehen kann. Zweimal war ich mit Clara in Cannes. Aber beide Male hatte das Boot schon wieder abgelegt. Seit zwei Stunden warte ich nun auf sein Eintreffen. Meine Koffer für Berlin sind fertig gepackt. Als ich wieder nur seine Mailbox erreiche, weicht meine Traurigkeit und unbändige Wut nimmt den Platz ein. Ich gehe in das Kinderzimmer und packe Kleidung für Clara zusammen.
   »Du kommst mit mir, mein Spatz«, sage ich und schreibe eine Nachricht, für den Fall, dass mein Mann doch noch den Weg nach Hause findet.

Wir sind schon im Berliner Hotel, als ich endlich ein Lebenszeichen von Tobias erhalte. Zornig nehme ich seinen Anruf entgegen. Lautstark mache ich ihm Vorwürfe und lasse meinen aufgestauten Frust ungefiltert ab.
   »Ich bin kein Busfahrer, der auf die Minute genau Feierabend machen kann. Marie, ich habe mir ein Bein ausgerissen, um rechtzeitig bei euch zu sein!«
   »Na, dann wünsche ich dir gute Genesung!«, schimpfe ich und lege auf. Es klopft an der Zimmertür und Clara öffnet. Frederik steht auf dem Flur und ist gleichermaßen verblüfft über Claras Anwesenheit, wie ich über das Erscheinen meines Sohnes.
   »Das ist ja eine nette Überraschung.«
   »Ich werde doch den morgigen Tag nicht verpassen.«
   »Was ist denn morgen so besonders?«
   »Hast du dein Jubiläum vergessen? Die fünfhundertste Sendung!«
   »Nee, keine Ahnung. Ich hatte einen ganz schlimmen Tag. Lass uns einen schönen Abend zusammen verbringen. Komm, ich lade dich ins Restaurant ein.«
   »Papa hat uns vergessen. Jetzt ist Mamam, richtig sauer.« Frederik verspricht, sich die nächsten Tage, um Clara zu kümmern. Als Tobias anruft, drücke ich ihn weg und stelle mein Telefon aus. Ich bin immer noch übelgelaunt.

Für die große Jubiläumsshow wurde das Studio zwei komplett neu dekoriert. Frederik hat zugestimmt, die Kosmetik zu Sonderpreisen zu verkaufen. Im Anschluss an die letzte Verkaufsstunde ist eine große Feier geplant. Auf »drei« bin ich bereit. Die Kamera lenkt aber nicht wie gewohnt auf mich. Stattdessen spielt die Regie einen Filmzusammenschnitt meiner ersten Sendungen ein.
   »Sind wir live«, frage ich irritiert. Sarah nickt. Clausen kommt mit ausgetreckten Armen auf mich zu und hält eine kurze Dankesrede.
   »Deine Blumen werden dir von einer ganz besonderen Person überreicht«, sagt er und ich sehe Clara mit einem großen Strauß auf mich zu kommen.
   »Ich arbeite heute hier«, sagt sie in die Kamera eins und klettert auf den Hocker hinter dem Verkaufstresen.
   »Ich verkaufe die beste Creme der Welt. Sie brauchen nur anrufen!«
   »Darf ich Ihnen meine liebste Expertin vorstellen. Das ist unsere Clara«, erkläre ich den Zuschauern. Meine Bemühungen, die Kleine wieder hinter die Kamera zu schicken, bleiben während der gesamten Sendung erfolglos. Clara kommentiert jede Aussage von mir.
   »Du musst sagen, wie gut die Creme riecht«, fordert sie, während sie sich selbst das Gesicht und die Arme dick mit einer Emulsion einschmiert.
   »Wenn meine Mamam sich eincremt, kommt mein Papa zu ihr und schnuppert an ihrem Hals. Stimmt doch! Dann will er dich immer fressen«, plaudert sie aus. Die Kollegen aus der Technik lachen sich schlapp.
   »Das war die ungewöhnlichste Sendung, die ich je betreut habe«, sagt der Aufnahmeleiter.
   »Deine Tochter ist ja ein Verkaufstalent», schwärmt Clausen, »kann ich sie unter Vertrag nehmen?«
   »Hoffe lieber, dass ihr Vater das nicht gesehen hat. Tobias wird nicht begeistert davon sein, dass du sie vor die Kamera gezerrt hast.«  Meine Bedenken sind nicht unbegründet. Am Nachmitttag nach der letzten Sendung habe ich sieben Anrufe in Abwesenheit von meinem Mann auf dem Handy.

Zwei Tage später landen wir wieder in Nizza. Clara ist auf der Fahrt vom Flughafen eingeschlafen. Vorsichtig löse ich den Gurt vom Kindersitz und hebe sie aus dem Wagen. Das Haus ist hell erleuchtet und ich warte darauf, dass Tobias uns die Haustür öffnet. Die Tür bleibt verschlossen. Erst nachdem ich das Kind wecke, um meine Schlüssel aus der Tasche zu nehmen, öffnet sich der Eingang zum Haus. Eine junge Frau begrüßt mich.
   »Guten Abend, Frau Martin. Ich bin Natascha. Ihr neues Kindermädchen. Hatten Sie eine gute Reise?« Ich starre die junge Russin fassungslos an. Die hochgewachsene Zwanzigerin greift sich mit langen Fingernägeln durch ihr hüftlanges, braunes Haar und gibt den Blick in ihr makelloses Gesicht frei.
   »Wo ist mein Mann?«
   »Herr Martin ist gestern abgereist. Er hat einen Brief für Sie hinterlassen. Er liegt auf dem Esstisch. Soll ich Clara ins Bett bringen?« Ich lasse böse Blicke sprechen und gehe mit Clara auf dem Arm direkt ins Kinderzimmer. Vorsichtig ziehe ich ihr Jacke, Hose und Schuhe aus und lege sie ins Bett. Natascha lümmelt sich auf das Sofa und streckt ihre nackten Beine aus. Sie nimmt Fernbedienung und zappt durch die TV Programme. Ich schenke mir ein Glas Wasser ein und nehme den Brief vom Tisch. Ich öffne den Umschlag und ziehe eine handschriftliche Anordnung heraus.
Natascha wird sich ab sofort um Clara kümmern. Ich habe sie bis Ende August engagiert. Du wirst meine Tochter nie wieder vor deinen Karren spannen. Tobias
   »Wenn Sie mich nicht mehr brauchen, würde ich jetzt gern auf mein Zimmer gehen«, sagt das Kindermädchen. Natascha stellt den Fernseher aus und geht ohne meine Antwort abzuwarten in Richtung Gästezimmer.
   »Hier liegt ein Missverständnis vor, Natascha. Wir brauchen Ihre Hilfe nicht. Ich kümmere mich allein um meine Tochter. Sagen Sie mir bitte, wie viel ich Ihnen für heute schulde. Ich möchte Sie bitten, gleich zu gehen. Ich hatte einen anstrengenden Tag und möchte gern schlafen.«
   »Ihr Mann hat schon angedeutet, dass Sie so reagieren. Ich habe ihm fest versprechen müssen, dass ich mich nicht von Ihnen vertreiben lasse. Bitte sprechen Sie mit ihm. Ich bleibe solange hier.«
   »So, hat mein Mann das schon angedeutet? Hat er auch gesagt, dass wenn du bei drei hier nicht freiwillig verschwunden bist, ich dich eigenhändig rauswerfe? Also was ist jetzt? Eins- Zwei-!« Ich gehe ins Gästezimmer und werfe Natascha ihren geöffneten Koffer vor die Füße.
   »Du hast genau fünf Minuten.« Natascha schafft es schneller. Im Laufschritt verlässt sie das Anwesen und flucht laut in ihrer Muttersprache. Ich greife zum Telefon. Tobias kann sich auf den Einlauf seines Lebens freuen, aber ich erreiche ihn nicht. Seine Mailbox ist ausgeschaltet. »Feigling!«, rufe ich. Ich mache die ganze Nacht kein Auge zu. So wütend hat er mich noch nie gemacht.

Ich bringe Clara schon früh in den Kindergarten und fahre auf direktem Weg weiter zur Bootshalle und klopfe Julian heraus. Wo Tobi anzutreffen ist, will ich wissen. Er blickt in seine Unterlagen und verrät, dass er am Abend im Hafen von Saint Tropez anlegen wird. Er nennt mir den genauen Liegeplatz. Ich kaufe Baguette und fahre zu Jenny. Ich muss dringend Dampf ablassen. Bis zum Abend kann ich meine Wut nicht für mich behalten. »Tausche Weißbrot gegen Kaffee!», rufe ich durch die Sprechanlage. Phillip öffnet das Tor und begrüßt seinen Frühstücksgast. Jenny stellt ein drittes Gedeck auf den Tisch und erzählt von Kathie, die sich bei über das nette Paket gefreut hat. »Schau mal in deine Mails. Sie hat dir bestimmt schon geschrieben.« Ich berichte ausführlich von meinem Ärger mit Tobi und seiner unverschämten Aktion mit dem Kindermädchen.
   »Herr Siam dreht also wieder am Rad«, lacht Phillip. Jenny ist ganz auf meiner Seite und bestätigt mich in meiner Wut.
   »Magst du dich heute Abend mit mir in Saint Tropez treffen. Ich muss ihn abpassen. Ich weiß aber nicht, wann er anlegt. Zulange kann ich mit Clara nicht warten. Sie muss spätestens um acht Uhr ins Bett.« Jenny bietet an, die Kleine über Nacht bei sich schlafen zu lassen. »Dann kannst du in aller Ruhe allein auf ihn warten.« Genau so wollen wir es machen. Ich fahre nach Haus und überfliege meine Mails. Kathie hat geschrieben und sich herzlich bedankt. Sie bittet um einen Rückruf. Ich tippe Kathies und Mikes Daten in mein Adressbuch und schaue auf die Uhr. Die beiden sind noch nicht online. Dann werde ich es später noch einmal versuchen.

Ich warte schon zwei Stunden und habe bereits drei Kaffee und ein Wasser getrunken, als ich Tobis Segelyacht auf dem Meer entdecke. Durch mein Fernglas beobachte ich, wie er in den Hafen einfährt. Er scheint allein an Bord zu sein. Ich zahle beim Kellner und mache mich auf den Weg zu seinem Anleger. Verwundert sieht er zu mir rüber. Seine Miene lässt keinen Aufschluss auf seine Stimmung zu. »Wir müssen reden!«, sage ich und mein Tonfall sollte ihm klar machen, dass es kein Besuch aus Leidenschaft ist. Er reicht mir die Hand und zieht mich mit einem Ruck aufs Boot. Punktgenau lande ich in seinem Armen.
   »Lass uns nicht streiten. Ich hab dich so lange nicht gesehen«, haucht er in mein Ohr. Ich setze an, ihn lautstark zu beschimpfen, aber Tobias küsst mich solange leidenschaftlich auf den Mund bis ich verstumme. »Ich vermisse dich so«, gesteht er. Liebevoll streichelt er mein Gesicht und drückt mich immer fester an sich. Ich bin hin und her gerissen. Wie schafft es dieser Mann nur immer wieder? Kurze Berührungen von ihm genügen und meine Wut ist verflogen.
   »Kommst du mit nach Hause?« Er braucht nicht zu antworten. Ein Horde Jugendlicher ist im Anmarsch und grölt Tobias schon von Weitem zu.
   »Ich hab die Bande noch bis Sonntag an Bord. Nachmittags komme ich. Versprochen!« Drei junge Männer, keiner älter als zwanzig besteigen völlig betrunken mit zwei Frauen das Boot. Die langen Fingernägel, die durch das hüftlange, braune Haar fahren, kenne ich schon. Entsetzt schaue ich das russische Kindermädchen an.
   »Hey Tobi! Was willst du denn mit dieser Mutti, wenn du Natascha haben kannst?«, ruft der blonde Jüngling.
   »Mir scheint, deine Mutti hat es versäumt, dir Benehmen beizubringen! Ich hoffe sehr für dich, dass sie dir wenigstens das Schwimmen beigebracht hat!«, sage ich und schubste den Flegel mit einem Fingerstoß ins Hafenbecken. »Viel Spaß auf deinem schwimmenden Bordell!«, rufe ich meinem Puffvater verärgert zu.
 

Ich fahre zu Jennifer. Es ist noch früh genug, um Clara wieder abzuholen. Sie ist noch wach und läuft mir aufgeregt entgegen.
   »Jenny weint. Sie sitzt im Wohnzimmer und ist ganz traurig.«
   »Was ist passiert?« Phillip nimmt mich zur Seite.
   »Wir haben gerade eine schlimme Nachricht erhalten. Kathie hatte eine Fehlgeburt und ist an den Folgen verstorben. Mehr weiß ich noch nicht. Ich habe noch nicht mit Mike sprechen können.« Ich bin schockiert. Dieses nette Paar. Sie waren so glücklich.
   »Ich fahre jetzt mit Clara nach Hause. Wenn es Neuigkeiten gibt, ruft mich bitte an.« Warum Jenny weint, will Clara wissen.
   »Sie hat am Telefon eine traurige Geschichte gehört. Ich erzähle dir auch gleich eine Gutenachtgeschichte. Aber keine, die dich traurig macht.«

Bis zum Sonntag habe ich latente Bauchschmerzen. Mich nicht mit Tobi aussprechen zu können, bereitet mir tagelang ein schlechtes Gefühl. Meine Empfindung ändert sich auch nicht, als er gegen acht Uhr abends vorfährt. Er schleppt seine schwarze Reisetasche in den Technikraum und stopft seine Schmutzwäsche in die Waschmaschine.
   »Schläft Clara schon?«
   »Warten macht müde!« Ich ziehe eine leichte Jacke über und gehe auf die Terrasse. Es ist windstill und sternenklar. In den vergangenen Jahren verbrachten wir die Abende im Frühsommer immer gemütlich zusammen im Freien. Nun sitze ich allein auf dem Gartenstuhl und rauche schon die zweite Zigarette. Ich beobachte meinen Mann, wie er frisch geduscht den Kühlschrank durchforstet.
   »Möchtest du auch noch etwas essen?«, fragt er durch die verschlossene Tür. Ich gebe nach und gehe zu ihm in die Küche. Im Backofen steht ein mit Alufolie abgedeckter Teller, den ich seit Stunden für ihn aufbewahre.
   »Warm ist es noch, ob es noch schmeckt, kann ich nicht garantieren.» Als ich den Teller auf den Tisch stelle, fängt Tobi mich ab. Er greift nach meinem Arm und zieht mich zu sich auf den Schoß. Mit geschlossenen Augen drückt er sich fest an mich.
   »Ich hab mich so auf dich gefreut!«, sagt er vorwurfsvoll.
   »Wie lange bleibst du«, will ich wissen und stehe auf, um Besteck aus der Schublade zu nehmen. Die lange Pause deutet schon auf eine unerfreuliche Antwort hin.
   »Um sieben Uhr morgen früh muss ich wieder am Boot sein«. Ich schüttle den Kopf und hole tief Luft.
   »So hast du dir also unser Leben vorgestellt. Statt den Sommer mit uns zu genießen, kommst du alle paar Wochen einmal kurz zum Wäschewechseln rein. Ich weiß nie wann du kommst und wie lange du bleibst. Du hältst dich nicht an feste Verabredungen und überlässt mir die ganze Verantwortung für Clara. Wenn ich sie mit nach Berlin nehme, hetzt du mir eine russische Prostituierte als Kindermädchen auf den Hals. Was wird das hier mit uns?«
   »Natascha ist eine Studentin und keine Prostituierte«, lacht er. Ich kann nicht mit lachen, sondern schwanke zwischen Wut und Traurigkeit.
   »Ist es dir wirklich wichtiger, diese Spinner auf deinem Boot durch das Mittelmeer zu schippern, als die Zeit mit uns zu verbringen?« Tobias gibt mir keine Antwort. Er stellt seinen leeren Teller in die Spüle und kommt auf mich zu. Sein Blick verrät mir sofort, wo nach ihm nun der Sinn steht.
   »Vergiss es!«, rufe ich aufgebracht. Diesmal werde ich ihm widerstehen. Ein frommer Wunsch, wie sich schnell herausstellt.

»Nein, Wein gibt es nicht. Ich brauche dich wach«, sage ich meinem Liebsten. Ich koche Kaffee und erzähle ihm die aufgestauten Nachrichten der letzten Wochen.
   »Sarah und Anke sind nicht mehr zusammen. Ihre Fernbeziehung ist gescheitert. Anke hat sich in der Schweiz neu verliebt. Nach so vielen Jahren. Kannst du dir das vorstellen? Ich habe Angst, dass uns das auch passiert. Sie hatten jedes Wochenende miteinander und trotzdem hat die Trennung ihrer Liebe den Gar ausgemacht. Wir haben noch nicht einmal die Wochenenden!« Tobi versucht mich zu beruhigen und versichert mir immer wieder, dass uns das nicht passieren kann.
   »Dafür lieben wir uns viel zu sehr. Ich vermisse dich jeden Tag.«
   »Hoffentlich ist der Sommer schnell vorbei!« Ich kann selber kaum glauben, was mir über gerade über die Lippen kam. Die Monate Mai bis September sind doch meine liebste Zeit. »Du versaust mir den ganzen Sommer!«

Draußen wird es schon hell. Tobi packt seine Tasche und geht Clara wecken. Die letzte Stunde will er mit seinen beiden Mädchen verbringen.
   »Wir werden uns jetzt einige Wochen nicht sehen. Ich komme erst Ende Juli wieder zurück. Aber wir telefonieren täglich, versprochen.« Wie gut das in der Vergangenheit geklappt hat, weiß ich noch zu genau.
   »Ich wünsche dir schlaflose Nächte, in denen dich die Sehnsucht auffressen soll«, flüstere ich ihm zum Abschied trotzig ins Ohr. Es hilft nichts. Tobi fährt fort. Langsam gehe ich ins Haus zurück. Als das Telefon klingelt, ist Clara schon dran. Jenny lädt uns beiden Seemannsbräute zum Nachmittagskaffee ein. Ich freue mich über die Ablenkung und sage sofort zu.

»Wir werden am Mittwoch nach Florida fliegen. Kathie wird am Freitag beerdigt. Wir bleiben noch ein paar Tage und treffen uns mit der Familie.«
   »Haut nur alle ab und lasst mich mit den Touristen hier allein. Tobi kommt auch erst Ende Juli zurück. Das wird der schlimmste Sommer, den ich hier je verbracht habe.«
   »Komm doch mit uns. Wir machen uns ein paar schöne Tage zusammen. Wir gehen shoppen und ich zeige dir meine alte Heimat.« Ich überlege kurz, lasse mir einen Kalender geben und zähle die freien Tage bis zu meiner nächsten Sendung.
   »Für zehn, elf Tage könnten wir euch begleiten. Telefonieren kann ich mit Tobi auch von Florida aus. Clara hat einen gültigen Reisepass. Und ich bin froh, wenn wir nicht die ganzen Wochen allein im Haus auf unseren Meister warten müssen.« Clara und ich brechen schnell auf, denn ich will sofort Flüge buchen. Im Auto versuche ich, meinen Mann telefonisch von unseren Reiseabsichten in Kenntnis zu setzen. Wie gewöhnlich erreiche ich ihn nicht. Er ist schon wieder auf hoher See.

 

Phillips und Jennies Haus ist ein typischer Bungalow im Florida Stil. Die hell rosa gestrichene Fassade wird zur Straße hin von zwei runden Erkern geziert. Hohe Decken und helle Fliesen lassen das Haus größer erscheinen, als es ist. Trotz vorhandener Klimaanlage gibt es zahlreiche Deckenventilatoren, die Phillip beim Eintreffen sofort anstellt. Clara und ich beziehen in ein großes Schlafzimmer mit Doppelbett. Es hat direkten Zugang zur Lanai, einer überdachten Terrasse mit kleinem Pool. Während ich das müde Kind ins Bett bringe, gehen Phillip und Jenny zu ihrem Nachbarn Mike. Ich versuche Tobias zu erreichen und habe nach drei Tagen endlich Glück.
   »Wo seit ihr?«, fragt er aufgeregt.
   »Wir sind gerade im Haus von Phillip und Jenny angekommen. Hast du meine SMS nicht gelesen?« Tobias antwortet, dass er die Nachricht für einen Scherz gehalten hat.
   »Ich werde dir täglich Bilder schicken. Vielleicht fahre ich mit Clara einen Tag nach Orlando in einen Disney Park oder ich lache mir einen knackigen Ami an. Einen der mich garantiert nicht auf dem Wasserweg verlässt.«
   »Bilder wären prima. Orlando ist auch okay, aber lass deine Scherze mit anderen Männern. Bleib sauber!«
   »Dito Schatz. Bis morgen.« Jenny kommt zuerst ins Haus zurück.
   »Mike ist völlig apathisch. Ich glaube er hat getrunken.«
   »Sicher wird er getrunken haben. Wie sonst soll den Kummer ertragen. Er hat seine große Liebe verloren. Für immer! Und das Kind, das sich beide so wünschten gleich dazu!«  
   »Wenn Phillip zurück ist, zeige ich dir den Strand. Wir gehen nur die Straße runter und sind schon da.« Jenny informiert ihre Familie und Freunde über ihr Eintreffen und lädt alle für den kommenden Sonntag zum BBQ ein.
   »Das wird ein Fest. Clara wird sich freuen. Meine Enkel kommen auch.«
   »Was hat Mike eigentlich geschrieben. Hast du Bücher von ihm?« Jennifer gibt mir drei Taschenbücher. Mike Sutters. Unter diesem Pseudonym schrieb er sieben Bestseller in den letzten zehn Jahren. Ich will versuchen, eins zu lesen. Ob meine Englisch Kenntnisse dafür ausreichen, wird sich noch herausstellen.
   »Er will nicht reden! Mehr kann ich nicht tun«, sagt Phillip resigniert, als er zurück kommt. Jenny trägt ihrem Mann auf, ein Auge auf Clara zu halten, während sie mir den Weg zum Strand zeigt. Die Vorgärten der Nachbarschaft sind alle nach dem gleichen Schema angelegt. Der einzige Unterschied zwischen den Häusern besteht in der Farbe der Fassade und dem jeweiligen Hausbaum. Linker Hand wurden vornehmlich Palmen gepflanzt, während sich auf der rechten Straßenseite mehr Citrusbäume befinden. Der Strand ist lang, breit, fest und weiß. Anders als die kleinen Buchten in Südfrankreich.
   »Morgen mache ich mit Clara einen Strandtag.« Auch Jenny findet, dass das eine gute Idee ist. Die Kleine soll von der Beerdigung und der vorherrschenden Trauer im Nachbarhaus nichts mitbekommen.

»Heute baden wir beide das erste Mal im Atlantik. Wir werden Muscheln suchen und viele Fotos für Papa machen.« Clara lässt sich von meiner guten Urlaubsstimmung sofort anstecken und kann es kaum erwarten, loszugehen. Ich packe eine Tasche mit Badehandtüchern, ausreichend Sonnenschutz, einem Taschenbuch von Mike und eine Flasche Wasser. Wir suchen uns einen Platz in der Nähe der Strandbar. Der Betreiber hört laut Reggea Musik und begrüßt die Neuen an seinem Strandabschnitt mit einem freundlichen »Hi«. Weil die Flasche Wasser schon warm und völlig versandet ist, gehe ich mit Töchterchen zu ihm und bestelle einen Saft und einen alkoholfreien Fruchtcocktail. Im hinteren Bereich seiner Strandbude befinden sich zwei Ständer mit Bademode, die mich regelrecht anziehen.
   »Beachwear for sale?«, frage ich und der junge Mann bejaht. Ich nehme Clara an die Hand und schreite zu den Badeanzügen, Bikinis und Tankinis. Mutig greife ich zu einem Zweiteiler in Größe 8, was einer deutschen Größe 38 entspricht. Hinter Cola Kisten ziehe ich die Teile an. Clara fällt ihr Urteil.
   »Magnifique!«
   »Wonderful! Marvelous!«, lautet das Urteil des Reggea Mannes. Nein, er hat keinen Spiegel, beantwortet er meine suchende Blicke. Ich greife in meine Tasche und ziehe mein Mobiltelefon heraus. Ich aktiviere die Kamera und bitte den Strandbudenverkäufer, Fotos von diesem und den nachfolgenden Bikinis, Badeanzügen und Tankinis zu machen. Für Clara bestelle ich noch ein Eis und für mich einen weiteren Cocktail. Sicher bin ich mir nicht, ob der zweite ohne Alkohol ist. Meine Stimmung klettert in der Mittagssonne in weite Höhen. Zur Musik des Reggea Mannes tanze ich alle Modelle der Größe 8 und sehe mir im Anschluss belustigt die Fotos auf dem Handy an. Schließlich entscheide ich mich für einen Bikini und zwei Tankinis.
   »My Name is Martin«, sagt der Reggea Mann.
   »So heißen wir auch«, lache ich. Wir machen per Selbstauslöser noch ein Foto zu dritt und verabschieden uns mit dem Versprechen, bestimmt noch einmal wieder zu kommen.

Jenny und Phillip sind schon zu Hause.
   »Es war sehr traurig«, sagt Jenny, »wir haben alle geweint.«
   »Wo ist Mike?«
   »Er bestand darauf, allein zu sein. Ich weiß auch nicht, wie wir ihm helfen können«, sagt Phillip. Jenny bereitet einen Salat in der Küche und Clara und ich duschen uns den Sand und das Salzwasser von der Haut.
   »Der Mann am Strand heißt Martin, genau wie wir. Aber Martin als Vorname«, lacht die Kleine. Ich beschließe, den Rest des Tages im Schatten zu verbringen. Mit einem von Mikes Büchern verziehe ich mich auf einen Liegestuhl auf der überdachten Terrasse. Auf Seite sieben will ich schon aufgeben. Aber Jenny leistet prima Übersetzungshilfe. Die Geschichte handelt von seiner Jugend, die er als viertes Kind einer Arbeiterfamilie in Boston erlebte. Er beschreibt seinen Weg, wie er als mittelmäßig begabter Schüler von seiner Lehrerin zu Höchstleistung angespornt wurde und erste Preise für seine amüsanten Kurzgeschichten einheimste.
   »Seine Bücher sind alle autobiographisch.« Phillip mixt Cocktails, aber ich lehne ab. Als mein Telefon klingelt, springe ich wie ein junges Mädchen ins Schlafzimmer, um den Anrufer nicht zu verpassen. Mein breites Lächeln auf dem Gesicht zeigt, dass ich mit Tobi telefoniere.
   »Wo bleiben die versprochenen Bilder«, will er wissen. Ich lasse Clara den Vortritt.
   »Wir haben heute einen Freund am Strand kennengelernt, der heißt auch Martin. Genau wie wir, aber mit Vornamen«, plaudert sie aufgeregt aus. »Nein, kein Kind. Ein großer Mann! Er hat mit Mamam getanzt und sie ganz oft fotografiert«. Ich nehme Clara das Telefon aus der Hand. Die Kleine plappert mich um Kopf und Kragen. Ich verziehe das Gesicht in Richtung Jenny. »Martin kommt für mich nicht in Frage. Er hat einen Bootsführerschein. Ein Scherz, Tobi. Ein Scherz! Ich habe mir einen neuen Bikini gekauft und hab mich vom Verkäufer für dich fotografieren lassen. Ich schicke dir die Bilder gleich. Danach rufst du wieder an, versprochen?« Ich sende die Bilder auf sein Handy und warte gespannt auf seinen Rückruf.
   »Der ruft nicht zurück. Der nimmt den nächsten Flieger und schlägt hier auf«, lacht Phillip.
   »Ich hätte nichts dagegen«, kontere ich, denn ich bin es leid, wegen Tobis Eifersucht von den toten Ehekrüppeln ständig belächelt zu werden. Er ruft nicht zurück. Aber ich erhalte eine Kurzmitteilung mit dem Inhalt »Viel zu scharf!  Ich liebe dich. Bis morgen.«
 

Phillip und Jenny gehen früh schlafen. Mein Biorhythmus ist durch die Zeitverschiebung völlig durcheinander geraten und ich liege zunächst wach neben der schnarchenden Clara, als ich beschließe, auf eine Zigarette in den Poolbereich zu gehen. Ich sehe zum Nachbarhaus und entdecke, dass Mike ebenfalls im Garten ist. Ich will mich nicht verstecken und ergreife die Initiative.
   »Hallo Mike. Ich bin es, Marie. Erinnerst du dich an mich?« Ich nehme meine Schachtel und das Feuerzeug und gehe durch den Screen hinüber zum trauernden Witwer. Er versucht ein Lächeln, aber ohne Erfolg.
   »Ich habe Clara dabei. Sie ist noch zu klein, um zu verstehen. Deshalb sind wir heute nicht bei der Beerdigung gewesen.«
   »Ich bin über fünfzig Jahre älter und verstehe es auch nicht.« Ich zünde mir eine neue Zigarette an und setze mich dicht neben ihn.
   »Ich fühle deinen Schmerz«, sage ich und lege meinen Arm auf seine Schultern.
   »Glaub es oder glaub es nicht. Ich habe genau die gleichen Empfindungen verspürt, als Tobi so lange weg war. Das Gefühl, nicht atmen zu können. Der Schmerz in der Brust, der dich fast zerreißt.« Mike sieht mich verwundert an. Ich scheine die erste Person an diesem Tag zu sein, die so offen mit ihm spricht. Es waren viele Trauergäste da. Aber alle waren stumm.
   »Rede mit mir. Ich höre dir zu. Du bist nicht allein. Wann immer du mich brauchst, bin ich für dich da.
   »Um diese Zeit haben Kathie und ich immer einen Strandspaziergang gemacht. Bewegung sollte gut fürs Baby sein. Mit Mitte Vierzig war es doch ein Risiko, das erste Mal schwanger zu werden. Aber sie wollte es doch auch!«
   »Und wie sie es wollte! Was gibt es Schöneres, als seinem Liebsten ein eigenes Kind zu schenken? Wenn du magst, gehen wir beide an den Strand und du erzählst mir weiter.« Ich stehe auf und hake mich bei ihm ein. Langsam spazieren wir in Richtung Meer. Ich will wissen, wie er Kathie kennengelernt hat. Mike erzählt ohne Unterbrechung. Wir hocken länger als zwei Stunden im Sand bis er bemerkt, dass ich friere und ich mir ständig die nackten Arme reibe.
   »Ich danke dir. Du bist eine geduldige Zuhörerin. Es hat richtig gut getan, mit dir zu sprechen.« Ich nehme ihn noch einmal fest in den Arm.
   »Das machen wir morgen wieder. Dann ziehe ich mir aber eine Jacke über.«

Jenny ist mit den Vorbereitungen für das große BBQ beschäftigt und findet in mir eine tüchtige Helferin. Im Minutentakt trudeln Kinder, Enkel, Freunde und Nachbarn ein. Die Männer versammeln sich mit einer Flasche Bier um den großen Grill und die Frauen trinken gekühlten Chardonnay aus Kalifornien. Phillip hat Mike zwar eingeladen, aber er wusste, dass er nicht kommen wird. Ich bitte Jennies Tochter, eine Weile auf Clara aufzupassen und stelle eine Portion mit Leckereien zusammen. Mit dem Teller und einer Flasche Wein gehe ich zu ihm hinüber. Er öffnet erst, nachdem ich dreimal forsch klingel. Mike sitzt im abgedunkelten Wohnzimmer und hört leise Musik. Vor ihm auf dem Tisch stehen mehrere, geleerte Whiskeyflaschen.
   »Hast du Gläser in der Küche?« Ich gebe ihm die Flasche Wein und bitte ihn, sie zu öffnen. Aus dem Schrank nehme ich zwei Glasbecher und eine Gabel und gehe zurück in seine Dunkelkammer. Mit einer Handbewegung schiebe ich die leeren Flaschen zur Seite und proste ihm leise zu.
   »Probier mal, den Salat habe ich gemacht.« Mike lehnt ab. Er will nichts essen. Er will leiden. Warum sonst hat er sich für diese melancholische Musik entschieden.
   »Du sollst nur probieren«, sage ich mit einem Lächeln und schiebe ihm eine gefüllte Gabel in den Mund.
   »Gestern habe ich in deinem ersten Buch gelesen. Es hat mir sehr gefallen. Jenny sagt, dass alle deine Geschichten autobiographisch sind. Hast du auch über Kathie geschrieben?« Er hat über seine große Liebe geschrieben. Es war das letzte Buch, das veröffentlicht wurde. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt.
   »Hast du vielleicht eine deutsche Ausgabe für mich?» Mike geht in sein Arbeitszimmer und bringt mir die gewünschte Version. Er lobt meine guten Fremdsprachkenntnisse und kann nicht verstehen, warum ich mit der Original Ausgabe Probleme habe. Geschickt verwickle ich ihn in ein Gespräch und füttere ihn immer wieder, bis er alles aufgegessen hat.
   »Gehen wir heute Abend wieder zusammen zum Strand? Ich würde dich gern abholen, wenn Clara eingeschlafen ist.« Mike stimmt zu.
   »Du hast eine ganz besondere Art. Wer kann dir überhaupt etwas abschlagen?«
   »Die Wenigsten!«

Als ich zur Feier zurück komme, hat Tobias bereits zwei Mal angerufen. Wie schade, denke ich, denn ich erreiche ihn jetzt nicht mehr. Bis auf Jennies Tochter sind bereits alle Gäste gegangen. Ich will das familiäre Gespräch zwischen Mutter und Kind nicht stören. Sie sehen sich schließlich nur während der Winterzeit. Während Clara bunte Bilder für die Gastgeber malt, lese ich in der deutschen Ausgabe von Mikes letzten Bestseller. Immer wieder huscht mir ein Lächeln über das Gesicht. Mike beschreibt in den ersten Kapiteln seine innere Zerrissenheit. Wie er zwischen einer treuen und langjährigen Ehefrau und einer Person, die ihm den Boden unter den Füßen wegzog, hin und her gerissen war. Die Art, wie er seine Kathie beschreibt, rührt mich und ich sage: »Genauso hat es sich bei Tobi und mir angefühlt.«

An meinem letzten Abend gestehe ich Mike während unseres Strandspazierganges: »Ich habe das Gefühl, wir kennen uns schon ewig. Wenn ich in deinem Buch lese, erkenne ich mich wieder. Es ist, als wenn du meine Gedanken aufgeschrieben hättest. Ich bin hergekommen, um die Trennung von meinem Mann besser verschmerzen zu können. In den letzten drei Tagen habe ich kaum an ihn gedacht. Danke Mike. Du hast ein großes Kunststück vollbracht.«
   »Kannst du nicht noch bleiben? Es tut so gut, mit dir zu reden.« Ich erkläre, dass ich gerne verlängern würde, aber wegen meiner anstehenden Sendung nicht länger bleiben kann. Mit dem Versprechen, gleich nach meiner Ankunft in Frankreich, mit ihm über den Computer zu telefonieren, verabschiede ich mich.
   »Versprich mir, dass du auf dich achtest.« Mike verspricht es hoch und heilig.

Auf dem Flughafen von Chicago trennen sich die Wege von Clara und mir. Sie fliegt mit Jenny und Phillip weiter nach Frankreich, während ich eine Maschine mit Flugziel Berlin besteige. Ich versuche im Flugzeug zu schlafen. Drei Stunden nach der geplanten Landung beginnt meine erste Verkaufsshow. Der Kaffee, der morgens von der Stewardess serviert wird, ist so dünn, dass er beim Verschütten keine Flecken auf meiner Hose hinterlässt. Ich kaufe mir einen Espresso und steige in ein Taxi, das mich schnellstens zum Sender bringt. Hektisch werde ich von Sarah empfangen. »Du kommst auf die letzte Minute.« Wir warten in Studio zwei auf unseren Auftritt und sehen einem Kollegen bei der Präsentation seiner Unterwäsche und Bademode zu.
   »Grässlich«, flüstere ich ihr leise ins Ohr, »das sind doch grauenhafte Panzer. Welche Frau soll sich denn darin wohlfühlen? Geschweige denn, sich sexy finden!« Ich berichte ihr von meinen neuen Teilen, die ich beim Reggea Mann am Strand erstanden habe. Zwischen den Mittagssendungen treffe ich auf Clausen.
   »Sag mal, wer hat denn diese unmögliche Bademode eingekauft? Sag jetzt nicht, dass du auf eine Frau abfahren würdest, die dir am Strand in dieser Ritterrüstung begegnet!« Er hat nur wenig Zeit zum Plaudern.
   »Ich hab eine prima Idee aus den Staaten mitgebracht, die ich dir gern vorstellen möchte. Hast du morgen oder übermorgen eine Stunde Zeit für mich?« Er verspricht, mich später anzurufen und verschwindet mit großen Schritten. Wie in Trance absolviere meine letzte Verkaufsstunde.
   »Bist du von der Reise so erledigt oder was ist heute mit dir los?« Müde bin nicht. Ich habe bereits den siebten Espresso intus. Von der ständig gleich ablaufenden Routine der Präsentation bin ich gelangweilt.
   »Wir müssen mal wieder etwas Neues bringen. Ich hab da auch schon eine Idee. Mal sehen, ob ich Clausen überzeugen kann. Mehr sage ich noch nicht dazu«.

Sarah und ich fahren gemeinsam in unser Berliner Stammhotel. Der Empfangschef begrüßt uns und lächelt mich verschmitzt an.
   »Auf Ihrem Zimmer wartet eine Überraschung auf Sie, Frau Martin. Ich habe mir erlaubt, Ihrem Mann den Zimmerschlüssel zu geben.« Ich lasse Sarah einfach stehen und renne zum Aufzug. Laut hämmere ich gegen meine Zimmertür und falle meinem Tobi mit einem Jubelschrei in die Arme. Ich gluckse und juche, während ich ihn immer wieder stürmisch küsse.
   »Zwei Tage«, sagt er, »ich fliege mit dir übermorgen zurück. Lass uns die Stadt unsicher machen. So wie früher.« Die Stadt ist mir in diesem Moment völlig egal.
   »Bestell uns eine Flasche Schampus! Ich springe rasch unter die Dusche. Oh wie schön, du bist tatsächlich da.« Ich bin vor dem Zimmerkellner aus dem Bad zurück und hopse in meinem weißen Bademantel aufs Bett. Vorsichtig lege ich meinen Kopf auf seine Brust uns lausche mit geschlossenen Augen seinem Herzschlag. Als es der Tür klopft, steht Tobias auf. Er nimmt den Champagner entgegen und sagt, dass er die Flasche selber öffnen wird. Den Kübel und die Gläser stellt auf dem Tisch ab und blickt mir tief in die Augen. Noch bevor mich seine Hände berühren, setzt mein leises Stöhnen ein. Voller Begierde entlockt er mir immer lautere Lustschreie. Ich lasse mich vom Klingeln des Haustelefons nicht abbringen und stoße den Hörer mit einem Fußtritt auf den Boden. Endlich kann ich mich ihm ungestört hingeben.
   »Ich war schon ganz verrückt vor Sehnsucht.« Dass er noch nicht einmal meine Stimme hören konnte, hat ihn fast um den Verstand gebracht. »Wo warst du die ganze Zeit? Du warst nie da, wenn ich angerufen habe.« Ich erzähle ihm von Mike und seiner Trauer und von Phillips Bemühen, sich um ihn zu kümmern.
   »Außer mir, hat er keinen anderen Menschen an sich herangelassen. Er tut mir so leid.«
 

Den freien Tag verbringen wir mit einem ausgiebigen Stadtbummel. Wie früher ziehen wir durch Galerien, Museen und Kunstausstellungen. Den Abend verbringen wir in einer stadtbekannten Kneipe und hören den jungen Musikern zu. Tobi gesteht mir, dass ich völlig im Recht war. Statt verzogene Kinder von Neureichen an der Côte herum zu schippern, hätte er lieber bei Frau und Kind bleiben sollen.
   »Das ist definitiv meine erste und letzte Saison als Skipper. Für das nächste Jahr engagiere ich jemanden, der Lust auf diesem Höllenjob hat.«
   »Der nächste Sommer wird der letzte vor Claras Schulbeginn sein. Danach müssen wir uns an die Ferien halten. Vielleicht denken wir darüber nach, das Boot selbst für eine lange Reise zu nutzen. Wir brauchen deine Einkünfte nicht mehr so dringend. Meine monatlichen Einnahmen aus den Auftritten beim Sender reichen doch völlig aus.«
   »Du willst es nicht verstehen, Marie. Ich will nicht von deinem Geld leben. Was glaubst du, was für ein Gefühl das für mich ist? Ich bin nicht dein Loverboy. Ich bin dein Mann! Hast du dich nie gefragt, warum ich damals den Auftrag in New York angenommen habe?« Ich gebe auf. Dieses Männerding werde ich nie begreifen.
Ich habe noch zwei Sendungen vor mir, bis ich mit Tobi gemeinsam nach Hause aufbrechen kann. Vor der Kantine treffe ich auf Clausen.
   »Was wolltest du mit mir besprechen?« Ich begleite den Chef vom Sender in sein Büro.
   »Es geht um deine grottenhässlichen Bademoden«. Ich setze mich Peer gegenüber und beuge mich zu meiner Handtasche hinunter und suche nach meinem Handy, um ihm die Fotos vom Strand zu zeigen.
   »Dass du dich noch bücken kannst, wundert mich.«
   »Warum soll ich mich nicht mehr bücken können?«
   »Solange, wie dein Mann dich bearbeitet hat, ist diese Frage doch nicht unberechtigt«, lacht er. Ich verstehe kein Wort.
   »Ich hab noch nie eine Frau im Bett gehabt, die auf so viele unterschiedliche Arten gestöhnt hat, wie du. Und ich hatte viele! Was stellt er mit dir an? Nun guck nicht so blöd. Ich habe dich im Hotel angerufen und durfte eurem Liebesspiel lauschen. Nach zwei Stunden habe ich aufgelegt.«
   »Dann hast du das Beste verpasst!«
   »Warum komme ich nicht in den Genuss bei dir?«
   »Weil du dir eingestehen solltest, dass du das nicht toppen kannst.« Kopfschüttelnd verlasse ich sein Büro. Meinen Vorschlag werde ich unter diesen Umständen nicht weiter mit ihm besprechen. Und die Fotos von mir im Bikini wird er auch nie zu sehen bekommen.

»Meine nächste Tour geht nach Sardinien. Ich habe mit Julian getauscht. Morgen nehme ich ein Ehepaar mit zwei Kindern an Bord. Wenigstens keine Saufgelage mehr. Aber zwischendurch nach Hause kommen, fällt flach. Drei Wochen, Marie. Nochmal drei Wochen!« Ich blicke ihn wortlos an und drücke seine Hand. Irgendwie werden wir die Zeit schon überstehen. 

Um Punkt drei Uhr stelle ich meinen Computer an. Geduldig warte ich, bis Mike sich meldet.
   »Du hast nicht gegessen«, poltere ich gleich los. Es ist mir sofort aufgefallen, wie schmal sein Gesicht geworden ist. »Du gehst dir sofort ein Brot machen und isst es, während wir beide sprechen.« Wenn ich meinen mütterlichen Befehlston anschlage, traut sich niemand, mir zu widersprechen. Mike kaut brav vor der Webcam. Er erklärt, dass er keinen Hunger verspürt.
   »Ich mag nicht allein essen. Das war schon immer so.«
   »Dann essen wir ab morgen zusammen. Du nimmst deine Mittagsmahlzeit ein und ich esse zu Abend mit dir. Wir treffen uns um ein Uhr zu deiner Zeit! Ich stelle mein Notebook auf den Esstisch. Dann kannst du zusammen mit Clara und mir speisen.« Mike schmunzelt und stimmt zu.
   »Was essen wir morgen?«, fragt er.
   »Magst du Fisch und Salat?« Er nickt. »Dann vergiss nicht, morgen früh einzukaufen. Und für übermorgen, machst du einen Vorschlag!« Ich sehe ihn das erste Mal wieder lächeln.
   »Bis morgen.« Danach brechen wir die Videokonferenz ab.

Von nun an, ist Mike täglich bei uns zu Gast. Wir chatten mehrmals täglich und geben uns Essenwünsche auf, tauschen Rezepte und schreiben uns gegenseitig Einkaufslisten. Mike spricht über die Stille im Haus, die ihm in den Abendstunden, den Verstand raubt. Er gibt zu, viel zu viel zu trinken.
   »Am schlimmsten sind die Nächte. Meistens hocke ich vor dem Fernseher und schaue mir alte DVDs von unseren Reisen an. Wenn ich Kathie sehe und ihre Stimme höre, zerreißt es mir das Herz«. Das ist nicht gut. Ich könnte das nicht ertragen.
   »Ich möchte ihr noch so viel sagen.«
   »Dann mach es doch. Du hast die Begabung, deine Gefühle schriftlich zum Ausdruck zu bringen. »Schreibe!« Mike will wissen, wie ich meine Liebe zu Tobias beschreiben würde. Mit dieser Frage überrumpelt er mich, aber ich versuche, ihm zu antworten.
   »Ich bin nicht so wortgewand wie du, aber ich würde meine Empfindungen so ausdrücken. Ein Blick in sein Gesicht reicht aus, um meine Stimmung zu heben und mir ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Wenn ich ihn sehe, habe ich den Wunsch, ihn zu berühren. Wenn wir uns berühren, gibt es kein Halten mehr. Unser Sex ist kraftvoll und intensiv. Was ich mit ihm erlebe, habe ich vorher nicht gekannt. Ich kann ihm nie lange böse sein. Wenn er bei mir ist, fühle ich mich entspannt und sicher. Er inspiriert mich. Immer wieder überrascht er mich. Ich liebe es, ihm zuzuhören. Er macht mich einfach rundum glücklich.«
   »Wie wichtig ist Sex für dich?«
   »Lebenswichtig! Allerdings nur mit meinem Mann.« Ich bin mir sicher, dass es nach Tobias keinen Anderen für mich geben kann. Diese Wahrheit behalte ich jedoch für mich.

Tobis Heimkehr steht kurz bevor. Ich koche, backe und mache mich schön für ihn. Voller Erwartung fahre ich mit Clara zum Liegeplatz. Die vierköpfige Familie hat sich schon von ihm verabschiedet und geht mit ihrem Gepäck den Steg hinunter. Clara will ihrem Vater freudig entgegen laufen, als ich eine weitere Person an Deck bemerke. Die langhaarige Frau umarmt den Bootsführer und küsst ihn immer wieder auf die Wangen. Tobi lässt sie gewähren und ich glaube, mich trifft der Schlag bei diesem Anblick. Ich habe Natascha sofort erkannt.
   »Bleib hier, Süße. Papa ist noch nicht so weit.« Aber die Kleine reißt sich los und rennt zum Boot. Als Tobias sie bemerkt, schaut er aufgeregt auf und löst er sich aus der Umarmung. Mein Herz rast bis zum Hals. Ich gehe zum Boot und frage: »Wie lange brauchst du noch?» Tobias lächelt mich an und antwortet: »Gib mir noch zehn Minuten, dann bin ich fertig.« Er beugt sich zu vor, um mich zu küssen, aber ich drehe den Kopf reflexartig weg.
   »Ich habe genug gesehen. Lasst euch ruhig Zeit. Ich gehe zu Fuß.« Wütend werfe ich Tobias den Autoschlüssel vor die Füße und verlasse den Bootssteg mit versteinerter Miene. Auf halber Strecke holt er mich mit dem Wagen ein.
   »Was war denn das für eine Begrüßung?«, fragt er aufgebracht. Im Beisein von Clara reagiere ich nicht. Erst als sie aus dem Auto steigt und durch den Garten läuft, bricht es aus mir heraus.
   »Was hat Natascha auf deinem Boot zu suchen. War sie etwa die ganze Zeit bei dir an Bord? Seit wann geht das zwischen euch?« Tobias lacht laut.
   »Das ist keine Antwort auf meine Frage!«
   »Natascha ist unsere Gästebetreuerin. Und nein, sie war nicht die ganze Zeit an Bord. Sie kam rund zehn Minuten vor euch zu mir. Marie, was soll das?
   »Sie hat dich also mit ihren Küssen nur freundlich begrüßt oder was willst du mir hier verkaufen?«
   »Wenn du meinst, dass sie mich herzlicher empfangen hat als du, dann stimmt es!« Beleidigt nimmt er seine Tasche aus dem Kofferraum und geht ins Haus.
   »Gut zu wissen, dass bei uns jetzt neue Regeln gelten«, rufe ich ihm aufgebracht hinterher. Ich glaube ihm kein Wort. Es war das letzte Mal, dass ich mit ihm an diesem Tag sprach.

Morgens schreibe ich Mike eine Mail.

Heute fällt unser gemeinsames Essen aus! Hast du schon mit dem Schreiben begonnen? Bitte melde dich noch einmal bei mir. Ich reise morgen für drei Tage nach Berlin. Bis später. Marie

Ich koche Kaffee und gehe hinaus, um im Pool zu schwimmen. Mit einer gehörigen Portion Wut im Bauch ziehe ich meine Bahnen.
   »Hast du dich beruhigt?« Tobias steht mit einem Badehandtuch am Beckenrand und reicht mir seine Hand.
   »Fick dich!« Als er den Versuch macht, nach mir zu greifen, weiche ich ihm geschickt aus.
  »Ich würde viel lieber mit dir ....«
   »Mit mir hat es sich ausgefickt!« Ich gehe ins Schlafzimmer, nehme ein frisches Badehandtuch aus dem Schrank und stelle meinen Koffer aufs Bett.
   »Wo willst du hin?«
   »Ich fliege heute schon. Ich kann dich nicht um mich haben.« Ungläubig sieht er mich abfahren.

Ich nehme die nächste Maschine nach Hamburg. Ein Taxi bringt mich ins Kosmetik Labor. Frederik ist nicht da.
   »Wo steckt der Chef?«
   »Er begleitet seinen Vater heute zur Chemotherapie«, sagt seine Assistentin und merkt sofort, dass sie ein gut gehütetes Geheimnis ausgeplaudert hat. Die Nachricht reist mir den Boden unter den Füßen weg. Nicht Steffen! Das kann unmöglich sein! Seitdem er als selbstständiger Heilpraktiker tätig ist, lebt er bewusst und gesund. Er trinkt grünen Tee statt Kaffee, raucht nicht und trinkt Wein und Bier nur in Maßen. Welche Art von Krebs? Wie schlimm ist es? Seit wann? Wo ist er? Ich drohe, durchzudrehen.
   »Kommt mein Sohn heute noch zurück?« Die Assistentin zuckt mit den Achseln.
   »In welchem Krankenhaus wird Herr Simon behandelt? Nun sagen Sie schon!« Sie ist ahnungslos. Was für eine blöde Tussi! Ich versuche meinen Sohn mobil zu erreichen, aber er drückt mich weg. Auf direktem Weg fahre ich zu Steffen nach Hause, um dort auf sein Eintreffen zu warten. Frederiks Wagen parkt bereits vor dem Eingang. Ich will sofort aussteigen, aber plötzlich verlässt mich der Mut. Was soll ich zu ihm sagen? Im Auto harrend, beobachte ich, wie sich eine ältere Mieterin aus dem Haus mit ihren schweren Einkaufstüten abmüht. Das ist ein guter Zeitpunkt, um unbemerkt ins Haus zu kommen.
   »Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sage ich und schnappe mir zwei ihrer Plastiktaschen. Ich gehe in den ersten Stock und lausche an der Wohnungstür. Leise klopfe ich an. Aber ich werde nicht gehört. Ich öffne das Fenster im Treppenhaus und rauche eine Zigarette. Dabei überlege ich, wie ich mich bemerkbar machen kann. Einfach klingeln, das geht nicht. Ich wähle noch einmal die Telefonnummer von Frederiks Handy. Diesmal geht er ran.
   »Was gibt es, Mama«, flüstert er.
   »Komm ins Treppenhaus. Ich bin hier und stehe vor Steffens Tür.« Erstaunt öffnet er die Wohnungstür und tritt heraus.
   »Woher weißt du und seit wann bist hier?«
   »Deine Assistentin hat sich verplappert. Was ist mit deinem Vater?« Frederik berichtet in aller Ausführlichkeit. Steffen hat einen Tumor im linken Hodensack. Es erhielt bereits zwei Mal Chemotherapie, die er bisher mehr schlecht als recht vertragen hat. Metastasen haben die Ärzte ausgeschlossen. Der Krebs wurde rechtzeitig entdeckt.
   »Warum kommt ihr nicht rein?«, sagt Steffen. Er steht im Türrahmen und hat die Unterredung belauscht. Ich gehe auf ihn zu und nehme ihn in den Arm.
   »Bist du extra wegen mir gekommen?«
   »Nein Steffen, dann wäre ich früher aufgetaucht. Ich habe es gerade erst erfahren. Aber ich bleibe!« Liebevoll streichle ich sein Gesicht. Entkräftet schleppt er sich aufs Sofa. Auf dem Tisch liegen verschiedene Medikamente gegen die Nebenwirkungen. Frederik holt meinen Koffer aus dem Auto und verabschiedet sich. Der Patient schläft zwei Stunden ruhig bis ihn Krämpfe wecken und er sich lautstark übergibt. Ich säubere seinen Mund und stelle eine neue Schüssel vor ihm auf. In der Nacht bekommen wir beide keinen Schlaf. Ich begleite ihn ständig ins Bad. Sein Magen und Darm spielen völlig verrückt.
   »Gibt es dunkle Wolken im Paradies oder warum hast du Freigang?« Ich antworte ihm, dass bei mir alles in Ordnung ist.
   »Du bist eine miserable Lügnerin. Also rede, was ist bei dir los!« Ich will Steffen nicht anlügen und erzähle ihm von Nataschas Küssen.
   »Dann soll er sich mal warm anziehen! Obwohl, trennen wirst du dich nie von ihm. Er kann machen, was er will. Du kennst den Grund! Du bist sexuell abhängig von ihm. Streite es nicht ab!
   »Auch wenn du krank bist, hast du nicht das Recht, so einen Blödsinn zu erzählen! Ich bin nicht hörig! Wenn es dir besser geht, kannst du dich ja mal im Internet schlau machen. Sicherlich wirst du etwas über den Unterschied zwischen Leidenschaft und Hörigkeit finden. Außerdem möchte ich mit dir auch nicht über mein Sexleben sprechen. Also lass uns das Thema wechseln.« Ich bleibe eine Woche und pendel die ersten Tage mit seinem Wagen zwischen Berlin und Hamburg. Ich kümmere mich um ihn, das bin ich ihm nach all den gemeinsamen Jahren schuldig. Wenn mein Telefon klingelt, drücke ich Tobi regelmäßig weg. Ich bin schließlich nicht hörig. In einer Hamburger Buchhandlung bestelle ich die deutschen Ausgaben von Mikes Werken. Ich koche täglich leichte Gerichte für Steffen und lese ihm aus den Büchern vor.
   »Mike ist mittlerweile ein enger Freund. Was wir beide uns schon anvertraut haben, ist schon unbeschreiblich. Es ist, als wenn ich ihn schon jahrelang kenne.«
   »Und Tobias weiß davon?«
   »Er hat Mike und seine verstorbene Frau selbst kennengelernt.«
   »Ich meine, ob er weiß, dass ihr euch so nahe seid?«
   »Nein, das weiß er nicht.«
   »Du hast ihm auch nicht gesagt, dass du hier bei mir bist! Sonst würdest du seine Anrufe nicht ständig wegdrücken. Vertrauen und Offenheit gehört wohl nicht zu eurer Ehe. Was bleibt denn noch? Marie, du hast deine Ansprüche ganz schön runter geschraubt. Von mir hattest du fünf Punkte eingefordert. Erinnerst du dich? Wie viele Punkte erfüllst du selbst?«
   »Ich sehe, es geht dir wieder besser. Du kannst schon wieder klugscheißen.« Ich packe meinen Koffer und kehre belesen zurück nach Frankreich.

Clara ist im Kindergarten und Tobias sitzt allein im Garten und liest die Zeitung, als ich mit meinem Wagen vorfahre.
   »Wofür bestrafst du mich eigentlich. Ich verstehe dich nicht. Du kannst kommen und gehen, wann immer du willst. Aber dass du meine Anrufe tagelang weggedrückt hast, das akzeptiere ich nicht! Komm endlich wieder zu dir, Marie. Ich habe dir nichts getan und mir nichts vorzuwerfen!« Er legt seine Zeitung zusammen und fährt in den Ort, um die Kleine abzuholen. Ich klappe mein Notebook auf und sehe nach meinen Mails. Mike hat regelmäßig geschrieben. Er ist online und ich stelle eine Verbindung zu ihm her.
   »Wie ist es dir ergangen, mein Freund?«
   »Ich habe deinen Rat befolgt. Das erste Kapitel ist schon fertig. Aber was ist mit dir? Ich habe den Eindruck, dass ich dich heute aufmuntern muss.« Mike trifft ins Schwarze. Ich erzähle von Steffens Erkrankung und meiner Eifersucht auf Natascha.
   »Wenn dein Verdacht stimmt, ist dein Tobias ein Idiot.«
   »Der Idiot kommt gerade zurück. Lass uns morgen wieder sprechen.«

Clara ist außer sich vor Freude. Sie springt mir mit Anlauf in den Arm und küsst mich immer wieder auf die Wange. Ihre großen Augen verfolgen mich den ganzen Nachmittag. Sobald ich mich hinsetze, klettert sie auf meinen Schoß und schmust mit mir.
   »Sie hat dich unendlich vermisst«.
   »Früher hast du mich auch vermisst!« Tobi schüttelt nur den Kopf. Er geht, um sich eine Badehose anzuziehen und ruft Clara zu sich. Sie wollen mir ihr neues Kunststück vorführen. Die Kleine hat während der vergangenen Tage einen Kopfsprung geübt und beherrscht ihn in Perfektion. Aber ich weigere mich, mit zum Pool zu gehen. Jetzt reicht es Tobias.
   »Schluss mit deiner albernen Maulerei!« Er hebt mich vom Stuhl und trägt mich auf seinen Armen zum Schwimmbecken. Im hohen Bogen wirft er mich ins Wasser. Als ich auftauche und ansetze, mich zu empören, springt er ins Wasser und schwimmt auf mich zu.
   »Hör mir zu, du Sturkopf. Wir haben dich beide vermisst. Ich dich schon mehr als vier Wochen. Sag sofort, dass du mich lieb hast, sonst gehst du tauchen.« Er stößt mich fünf Mal unter Wasser, bis er endlich die Worte hört, die er von mir erpresst.
   »Ja, ich habe dich lieb«, gebe ich unfreiwillig zu. Aber ich bin dir nicht hörig.....Ich steige aus dem Pool und gehe mich umziehen. Im leichten Sommerkleid bereite ich das Abendessen und decke den Tisch auf der Terrasse. Clara plappert die Neuigkeit aus, die Tobi gern selbst erzählt hätte.
   »Papa bleibt jetzt hier. Er fährt nicht mehr mit dem Boot weg.« Zufrieden nehme ich seine Entscheidung zur Kenntnis.
   »Julian hat meine letzte Tour übernommen. Der restliche August gehört uns!« Er räumt den Tisch ab und ich mache Clara Bett fertig. Ich warte, bis sie fest schläft und gehe danach zurück auf die Terrasse. Ob ich den Grund für meinen verlängerten Aufenthalt in Hamburg erzählen soll, überlege ich. Aber ich entscheide mich, erst einmal abzuwarten.
   »Was wünscht du dir für die letzten Sommertage?« Dass ich das Bild von dir und der küssenden Natascha aus dem Kopf bekomme!
   »Lass es uns langsam angehen. Dich mit dieser jungen Frau zu sehen hat mich mehr verletzt, als du dir vorstellen kannst.«
   »Marie du spinnst! Wie kannst du denken, dass da was zwischen uns ist. Sie hat sich nur bedankt, weil ich ihr einen Job gegeben habe. Das war alles!«
   »Verharmlose es nicht! Wie hättest du reagiert, wenn du mich küssend mit Clausen erwischt hättest?« Tobias blickt mich verständnislos an.
   »Das kannst du dir von mir gar nicht vorstellen, oder?  Tobias will nicht streiten und diese Debatte endlich beenden. Er hockt sich vor meinen Stuhl und gleitet mit seinen Händen unter mein Kleid.
   »Komm endlich mit mir ins Bett. Ich habe mehr als vier Wochen auf dich verzichten müssen. Hast du denn gar keine Lust?»
   »So löst du immer unsere Probleme. Ich will das so nicht mehr.«
   »Wir haben keine Probleme. Du hast dich verrannt und ich zeige dir jetzt den Weg zurück!« Er drückt meine Beine auseinander und küsst meine Innenschenkel bis ich nachgebe. Er hat es wieder geschafft.

 

Als wir um Mitternacht zur Abkühlung schwimmen gehen, frage ich: »Denkst du, dass ich dir hörig bin?« Steffens Vorwurf geht mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Es stimmt, ich kann Tobias nie widerstehen. Und Sex mit anderen Männern ist für mich unvorstellbar.
   »Was geht dir für ein unglaublicher Blödsinn durch den Kopf? Wir haben ein gesundes Sexleben. Dass wir unbändige Lust aufeinander haben ist doch nicht krank, sondern wunderbar. Wenn überhaupt, bin ich dir verfallen. Seitdem ich dich kenne, interessieren mich andere Frauen überhaupt nicht mehr.«

Während der letzten beiden Wochen im August holen wir den verlorenen Sommer in vollen Zügen nach. Wir unternehmen kurze Segeltörns, liegen im heißen Sand, schwimmen im Meer und verbringen die Abende mit Freunden in unserem Stammlokal bei gutem Essen und Musik. Vor meinem Abflug zu meiner ersten Sendung nach den Ferien, ruft Frederik an.
   »Hau rein, Mama! Wir haben gestern zwei komplette Lastwagenladungen ans Lager geliefert. Die Ware muss bis Weihnachten verkauft werden, sonst bekommen wir ein riesiges Problem.«
   »Keine Sorge, Kind. Ich werde mit neuen Sendeterminen für Herbst und Winter nach Hause kommen. Aber diesmal werde ich mir keine Ruhetage aufzwängen lassen.«

Die Vorzimmerdame schaut im Kalender des Senderchefs nach und bietet mir einen Besprechungstermin für dreißig Minuten nach meiner letzten Sendung an. In einem Umschlag überreicht sie mir die Sendedaten für das letzte Quartal. Im Fahrstuhl öffne ich das Kuvert und starre wie benommen auf das, was ich lese. 3.Oktober, 10.Oktober, 23.Dezember bis 31.Dezember.
   »Der ist wohl nicht dicht!« Nicht ein Termin in der verkaufsstarken Vorweihnachtszeit, aber dafür komplett alle Feiertage?« Auch Sarah zeigt mir einen Vogel. Sie ist auch nicht bereit, Weihnachten und Silvester im Sender zu verbringen.
   »Clausen wird sich einen Scherz mit dir erlaubt haben.« Ich verlasse das Studio um 16.00 Uhr. Vier Minuten später stehe ich wutschäumend vor Clausen. Ich bin noch völlig aus der Puste, weil ich die Treppe nahm.
   »Was denkst du dir, Peer?« Clausen sitzt selbstgefällig in seinem Chefsessel und taxiert mich von oben bis unten.
   »Ich denke mir, dass du heute mit mir schlafen wirst. Ich will dein Stöhnen hören und nicht nur durchs Telefon. Diesmal wirst du dich nicht zieren! Komm her zu mir!«
   »Du bist ja völlig verrückt! Eher friert die Hölle ein, als dass ich mich von dir anfassen lasse!«
   »Überlege es dir! Wenn du andere Sendetermine haben willst und möchtest, dass ich den Vertrag mit deinem Sohn verlängere, dann komme heute Abend zu mir!«
   »Du bist eine arme Wurst, Peer. Dass du zu solchen Mitteln greifen musst, sollte dir zeigen, wie erbärmlich du bist. Du wirst nie eine Frau so zum Stöhnen bringen können. Weil du zur Liebe nicht fähig bist.« Ich verlasse sein Büro und fahre zum Hotel. Auf meinem Zimmer angekommen, rufe ich sofort Sarah an und bitte sie, schnell zu kommen. Sie ist fassungslos über meine Schilderung.
   »Dieser notgeile Macho erpresst dich tatsächlich?«
   »Dieser notgeile Macho ruiniert uns gerade! Frederik hat sein ganzes Betriebsvermögen in neue Ware für den Sender eingesetzt.«
   »Du denkst doch nicht ernsthaft darüber nach, sein Angebot anzunehmen?«
   »Nicht eine Sekunde!« Ich öffne die Minibar und nehme für mich einen Gin und für Sarah einen Whiskey heraus. Danach rauche ich eine Zigarette am geöffneten Fenster.
   »Das ist ein Nichtraucher Zimmer!«
   »Es wird das letzte Mal sein, dass ich hier übernachte. Sollen sie mich doch rausschmeißen. Ich brauche jetzt einen klaren Kopf. Wie soll ich es nur Frederik beichten? Ich kann ihm schlecht sagen, dass seine alte Mutter sexuell erpresst wird!« Mir gehen die schlimmsten Szenarien durch den Kopf. Ich überlege, ob ich Tobi anrufen soll. Ich weiß, er würde sofort kommen und Clausen an die Gurgel gehen. Ich war noch nie so ratlos und habe große Lust, mich zu besaufen. Sarah teilt meinen Wunsch. Auch für sie hat es schwerwiegende Konsequenzen. Als Tobias anruft, verlässt die künftig arbeitslose Moderatorin das Zimmer und geht an die Hotelbar, um zwei Flaschen Schnaps, Cola, Tonic und Eiswürfel für uns zu besorgen. Ich kann ungestört sprechen. »Holst du mich übermorgen vom Flughafen ab? Ich bin um neun, um elf und um zwölf Uhr auf Sendung. Wenn du nicht zusehen kannst, nimm die Sendungen bitte auf. Ich komme mit Neuigkeiten nach Hause. Heute Abend bleibe ich mit Sarah auf dem Zimmer. Wir werden uns zuschütten. Das hat den Vorteil, dass ich dich nicht so vermissen muss. Ja, ich liebe dich auch. Bis übermorgen.« Frederik werde ich erst am nächsten Tag zu informieren. Ich hoffe, dass mir bis dahin eine geeignete Formulierung einfällt. Die Flaschen sind schon zur Hälfte geleert, als ich mir die Frage stelle:
    »Womit wollen wir alten Schachteln jetzt unsere Brötchen verdienen?«
   »Mit deiner Bademode. Ich hab noch immer gute Kontakte zu richtigen Fernseh- und Zeitungsleuten. Die werde ich spielen lassen. Komm schenk nach und freue dich darüber, dass Clausen jetzt schon Stunden vergeblich auf dich wartet.«

Verkatert nehmen wir das Frühstück ein. Der Kellner bringt uns zwei Brausetabletten Aspirin und wünscht uns guten Appetit. Die Kopfschmerzen verschwinden erst, als wir vor Caros Boutique aus dem Taxi steigen. Die Chefdesignerin der ehemaligen Mató Linie hat schon einen runden Babybauch. Sie strahlt so schön, wie es nur Schwangere können.
   »Kannst du mir Schnittmuster von diesem Tankini in den Größen 36 bis 46 anfertigen?« Ich berichte von meiner Idee, Hemdchen, Kleidchen und Röcke zum Baden fertigen zu lassen. Caro ist von dem neuen Konzept begeistert. Sie selbst hat sich für die Schwangerschaft ein eigenes Model designt. Während sie mit Stiften verschiedene Zeichnungen auf Papier bringt fragt sie: »Sollen die Bademoden wieder unter dem Label Mató auf den Markt kommen? Die Marke gehört dir und die Website ist auch noch aktiv.« Ich fühle mich wie beflügelt. Vergessen ist die Angst um unsere finanzielle Zukunft. Wer so kreative und starke Freundinnen hat, dem kann doch nichts passieren.
   »Bis zur Entbindung stehe ich dir voll zur Verfügung. Ich designe auch gern weiterhin für dich, nur für die Produktion musst du dir einen anderen Partner suchen.« Ich bin nun mutig genug, um das Gespräch mit meinem Sohn zu führen und wähle die Nummer seiner Firma.
   »Ich habe keine guten Nachrichten. Morgen habe ich meine letzten drei Verkaufssendungen. Danach sind wir raus. Wie viel und welche Ware befindet sich am Lager? Ich brauche heute noch die aktuellen Zahlen und ganz wichtig, die Mindesthaltbarkeitsdaten der einzelnen Produkte. Sarah und ich werden morgen den Ausverkauf starten. Mach dir keine Sorgen. Wir kriegen die Kuh schon vom Eis.« So optimistisch wie ich mich gebe, bin ich selber nicht. Ich überfliege die Listen, die er mir schickt und ich sehe mich einer unlösbaren Aufgabe ausgesetzt.

   »Sarah bitte, weise immer auf die lange Haltbarkeit hin.» Ich bin nervös. Soviel hängt von den nächsten Stunden ab. Auf drei bin ich bereit. »Guten Morgen, liebe Kundinnen. Bleiben Sie heute unbedingt bei uns. Denn ich bin zum letzten Mal bei QHS zu sehen. Für unsere letzten Shows habe ich Ihnen besondere Abschiedsangebote zusammen gestellt.« Ich bemerke die Hektik in der Technik und es dauert keine zehn Minuten bis Clausen hinter Kamera eins zu sehen ist und wild gestikuliert.
   »Es fällt mir auch schwer, an so einem sonnigen Tag schon an Weihnachten zu denken. Aber im Ernst, so günstig werden sie diese Pflege nie wieder einkaufen können.«
   »Ich habe schon für meine Freundinnen und mich einen großen Vorrat gebunkert. Deine Kosmetik ist taufrisch und hält sich die nächsten zwei Jahre. Und ab zwölf Uhr ist definitiv Schluss für dich, Marie? Du kommst mit deiner tollen Pflege wirklich nicht wieder zu QHS zurück?«
   »Das ist unwiderruflich! Auch wenn es mir um meine lieben und treuen Kundinnen so leid tut. Heute ist mein finaler Abschied.« Wir verkaufen wie auf Speed. Unsere Verkaufsstunde ist nach gefühlten zehn Minuten bereits vorbei. Clausen kommt mit hoch rotem Kopf auf uns zu.
   »Das ist Vertragsbruch«, schreit er mich an. Ich schenke ihm keine Beachtung.
   »Das war Erpressung! Im Vergleich zu deinem vertragsrechtlichen Pillepalle war dein Verhalten eine Straftat!«, erwidere Sarah vor allen Kollegen.
   »Solltest du das in der nächsten Sendung fortsetzen, hetzte ich dir unsere Anwälte auf den Hals!«, droht er mir.
   »Solltest du dich jetzt nicht verziehen, werde ich den Mutterkonzern über deine Praktiken aufklären!« schreie ich zurück. Auf Clausens Stirn erhebt sich eine stark pulsierende Ader. Schnauffend verlässt er das Studio und Sarah und ich gehen ins Callcenter und beantworteten, wie gewohnt die Zuschauerfragen. Wir beraten und verkaufen, was das Zeug hält. Am Ende des Tages haben wir nahezu mehr als die Hälfte des Lagerbestandes verkauft.
   »Damit geht Frederik wenigstens nicht mit einem Minus aus dem Geschäft.«
   »Ich kann es noch gar nicht fassen, dass das heute unser letzter Tag war. Die Vorstellung allein und arbeitslos in meinem Haus in München zu sein, macht mich richtig melancholisch.«
   »Komm doch für ein paar Tage zu uns. Das Wetter ist noch schön und wir können uns eine gute Zeit machen.« Sarah stimmt zu und bucht einen Anschlussflug von München nach Nizza.

»Was bedeutet das? Abschiedssendung? Hast du wirklich aufgehört?« Ich will die Geschichte nicht vor Clara breittreten und antworte nur mit: »Ja. QHS ist Vergangenheit! Alles Weitere nachher, wenn wir zu Hause sind.« Während ich mich um Clara kümmere, sitzen Tobi und Sarah auf der Terrasse und trinken einen Wein in der Abendsonne. Sarah beginnt bereits mit der ausführlichen Berichterstattung und so ist Tobias schon bestens informiert, als ich zu ihnen stoße.
   »Wir können die Yacht verkaufen. Mach dir keine Sorgen. Das Haus wird uns immer bleiben.« Sarah packt ihren kleinen Koffer aus und bittet darum, meine Waschmaschine benutzen zu dürfen.
   »Woher weiß Clausen, dass du so stöhnst?«
   »Weil er uns beide beim letzten Mal in Berlin am Telefon belauscht hat. Ich hatte doch den Hörer mit dem Fuß weggekickt. Der alte Drecksack blieb die ganze Zeit in der Leitung und hörte uns zu.«
   »Was soll jetzt aus der SoMa Kosmetik GmbH werden. Weiß Frederik schon, dass er seinen einzigen Großkunden los ist?« Ich nicke und hab schon wieder ein schlechtes Gewissen. Dafür habe ich meinem Sohn die Firma nicht überlassen.
   »Ich weiß noch, wie alles begann. Erinnerst du dich an deinen Messebesuch in München, als du auf den Fettarsch gestoßen bist?«, fragt Sarah. Wie lachen laut.
   »Wie hieß er noch gleich? Er hatte den gleichen Namen wie ein amerikanischer Tennisspieler.«
   »Fettarsch Mc Enroe.« Ich erzähle Tobi, wie ich den Inhaber einer internationalen Einkaufagentur auf der Messe kennengelernt habe.
   »Hast du noch seine Daten? Vielleicht kann er etwas für die SoMa tun? Ruf ihn doch mal an!«, schlägt er vor. Ich suche seine Firma bei Google und nehme mir vor, ihn am nächsten Tag anzurufen. Ich erzähle meinem Mann von meinem Besuch bei Caro und dem Vorhaben mit der Bademode. Lächelnd hört er mir zu, wie ich eifrig über die neuen Pläne spreche.
   »Sieh nur, wie sie strahlt, Sarah. Das ist der Grund, weshalb ich Marie so liebe. Sie kann sich begeistern wie ein Kind!«
   »Ihre größte Begeisterung gilt dir, Tobi. Ich werde euch jetzt mal allein lassen und mache noch einen ausgiebigen Spaziergang. Danach gehe ich schlafen. Vielen Dank für eure Gastfreundschaft und schon mal gute Nacht.« Tobi freut sich, endlich mit mir allein zu sein. Aber das Frederiks Anruf unterbricht unsere innige Zweisamkeit.
   »Gerne würde ich mir Clausen persönlich vornehmen, aber ich denke es bringt mehr, wenn ich einen Anwalt einschalte. Hast du das Schriftstück mit den Sendeterminen noch?« Ich bejahe. »Keine Angst Mama, damit lassen wir den Mistkerl nicht durchkommen. Wenn er uns die restliche Ware nicht abnimmt, sorge ich persönlich dafür, dass er in Frührente geht.«

Bei Mc Enroe Purchasing Services läuft nur der Anrufbeantworter.
   »Vielleicht ist er schon längst geplatzt. Es ist Jahre her, dass ich mit dem dicken John gesprochen habe.« Ich schaue mir das Impressum auf seiner Homepage an. Geschäftsführer ist er noch. Ich schreibe ihm eine Mail und erinnere an unser Zusammentreffen und seine Vermittlung an QHS.
   »Wie lange darf ich euch auf die Nerven gehen«, fragt Sarah, die mit mir den Frühstückstisch abräumt.
   »Mi Casa es su Casa! Bleib solange du willst.«
   »Dann brauche ich aber einige Sachen zum Wechseln. Würdest du mit mir in den Ort fahren?«

Wir schlendern über den Markt und kaufen Obst, Gemüse, Salat. Oliven, Käse und Schinken ein. Sarah schwärmt von der urigen Atmosphäre. Sie entdeckt einen Stand mit Sommerkleidern und Hemden und durchwühlt einen Stapel mit bedruckten T-Shirts .
   »Komm mal rüber, ich brauche deine Hilfe als Übersetzerin.«
   »Warum? Die junge Frau spricht doch perfekt Deutsch, oder Natascha?«, sage ich. Der langhaarigen Kurzzeit Kinderfrau und Gästebetreuerin scheint unsere Begegnung nicht unangenehm zu sein.
   »Wie geht es dir Marie. Sind Tobi und Clara auch hier?«
   »Seit wann sind wir so familiär?«
   »Du bist meine Schwägerin. Soll ich dich etwa mit Sie ansprechen?« Mir stockt der Atem und ich sehe sie ungläubig an.
   »Tobias ist mein Halbbruder. Hat er es dir immer noch nicht gesagt? Wir haben den gleichen Vater.« Das will ich aber nun genauer wissen und bitte darum, gemeinsam einen Kaffee trinken zu gehen. Natascha erzählt, dass sie Tobias erst kürzlich persönlich kennengelernt hat. Sie hat sich auf die Suche nach ihm gemacht, denn der Kontakt zu ihrem gemeinsamen Vater besteht seit Jahrzehnten nicht mehr.
   »Ich würde gern noch länger mit euch hier sitzen, aber ich muss zurück. Ich brauche den Job dringend. Vielleicht sehen wir uns ja bald wieder?« Ich schaue Sarah entgeistert an. Nie hätte ich mich so unfreundlich und feindsinnig verhalten, wenn Tobi mich rechtzeitig aufgeklärt hätte. Wochenlang habe ich befürchtet, die beiden hätten ein Verhältnis.
   »Der kann was erleben!«
   »Wohin kann ich mich verziehen, wenn dein Donnerwetter ausbricht?«
   »Du kannst mit Clara auf ein Eis zu René gehen. Lange wird es nicht dauern. Aber laut wird es bestimmt! Und für meine Wortwahl kann ich nicht garantieren.« Sarah kennt meine Wutausbrüche. Wenn ich richtig geladen bin, vergesse ich meine guten Manieren und kann schimpfen wie ein Hamburger Hafenarbeiter.

Tobias reinigt das Schwimmbecken. Mit einem Kescher fischt er die ersten, trockenen Blüten und Blätter aus dem Poolwasser, als er mich rufen hört.
   »Liebe Grüße von Natascha. Du weißt doch, wen ich meine. Die junge Studentin, die du als Kinderfrau eingestellt hattest. Na, ich bitte dich, die langhaarige Russin, die später als Gästebetreuerin bei dir gearbeitet hat. Dämmert es immer noch nicht?«  Mittlerweile stehe ich direkt vor ihm und blicke ihn böse an.
   »Viele Grüße von deiner Schwester!« Ich gebe ihm einen kräftigen Stoß und er fällt rückwärts ins Wasser. »Warum zum Geier hast du es mir nicht erzählt? Hast du es etwa genossen, mich vor Eifersucht leiden zu sehen? Mach endlich den Mund auf, bevor ich ganz ausraste!«
   »Ich kenne dich und dein großes Herz für die Familie. Du hättest darauf bestanden, dass wir uns aussöhnen. Meine Familie findet seit dreißig Jahren nicht statt und so soll es auch bleiben!«
   »Es ist also mein mütterliches Herz, das dich zum Schweigen veranlasste. Du hast mir gesagt, deine Eltern wären verstorben. Du hast mich bewusst belogen. Mal wieder! Was kann ich dir überhaupt noch glauben?« Tobias klettert aus dem Wasser und zieht sich das nasse Hemd aus.
   »Ich will nicht darüber sprechen!« sagt er und geht ins Haus.
   »Ich bin deine Frau! Warum kannst du nicht mit mir darüber reden?« Er nimmt sich trockene Wäsche aus dem Schrank und zieht sich vor meinen Augen wieder an.
   »Meine Mutter starb, als ich fünfzehn war. Mein Vater war damals ein erfolgreicher Unternehmer und selten zu Hause. Er hatte eine Speditionsfirma für Messebau und war hauptsächlich im Ostblock unterwegs. Dass ich meine Mutter allein beerdigen musste, habe ich ihm nicht verzeihen können. Erst nach ihrem Tod erfuhr ich, dass er neben uns noch eine Familie in der ehemaligen DDR und eine Geliebte in Moskau hatte. Seitdem war er für mich gestorben. Natascha ist sein fünftes Kind. Ich habe sie im Frühjahr das aller erste Mal gesehen.«
   »Warum hast du mir nicht gesagt, dass sie deine Schwester ist?«
   »Marie, sie ist zufällig meine Halbschwester. Eine Fremde! Sie stand vor einigen Monaten in der Bootshalle und fragte nach einem Job. Mach doch nicht mehr draus, als es ist! Ich will dieses Thema nicht wieder hochkochen lassen. Verstehst du das nicht!« Ich verstehe es nicht und ärgere mich darüber, dass Tobi es schon wieder so hindreht, als hätte ich einen Fehler begangen. Wir reden ständig aneinander vorbei! Ich werfe ihm die Schlüssel zu und sage: »Sarah wartet mit Clara in Renés Restaurant. Holst du sie ab?« Er fährt sofort los. Ich bereite das Mittagessen vor und decke den Tisch.
   »Ist noch dicke Luft?«, will Sarah wissen.
   »Alles gut. Wir können in einer halben Stunde essen.«
   »Kann ich helfen?«
   »Alles fertig. Geh doch noch auf die Liege und mache es dir gemütlich.«
   »Darf ich mir ein Buch ausleihen?« Ich folge ihr ins Wohnzimmer und zeige meiner Freundin die Mike Sutters Kollektion.
   »Die sind von meinem engen Freund aus den USA. Ich habe sie alle gelesen. Er hat einen einmaligen Schreibstil. Ich habe mit dieser Ausgabe begonnen. Amüsant und dennoch tiefgründig und unheimlich berührend. Einfach wunderbar!«
   »Du bist nicht auf Sendung, Marie. Du brauchst mir das Buch nicht zu verkaufen.« Mit seinem Erstlingswerk geht sie auf ihren Liegestuhl.
   »Soll ich uns noch ein schnelles Dessert machen?«, fragt Tobias, der sich dicht an mich schmiegt.
   »Clara und Sarah haben gerade einen großen Eisbecher gegessen.« Ich drehe mich um und erspähe seinen unwiderstehlichen Dackelblick.
   »Ich nehme lieber einen langen Kuss von dir zum Nachtisch.« Sarah und Tobi loben die leckere Mahlzeit. Clara hätte lieber Nudeln gegessen und lässt ihren Teller fast unberührt.
   »Was meinst du, Süße. Wollen wir beide heute Nachmittag etwas zusammen spielen? Ich hätte große Lust, etwas mit dir zu basteln«, sagt Sarah. Die Kleine ist begeistert und läuft sofort in ihr Zimmer.
   »Macht euch mal einen kinderfreien Nachmittag. Ich kümmere mich gern um Clara. Lasst euch ruhig Zeit. Mir wird hier nicht langweilig.«
   »Los Marie, lass uns noch einmal die Segel hissen.«

Hand in Hand gehen wir in Richtung Bootssteg, als ich erschrocken auf ein bekanntes Gesicht treffe. Oh bitte nicht, denke ich und senke meinen Kopf, um nicht erkannt zu werden. Aber es ist zu spät. Er ruft schon laut.
   »Marie? Marie Simon!« Ich stelle mich taub und gehe schnellen Schrittes weiter. Aber Tobias stoppt und sieht mich verwundert an.
   »Nein, Marie Martin«, sage ich naiv und hoffe, mich so aus der Situation retten zu können.
   »Ich bin es Thomas, erkennst du mich nicht?« Selbstverständlich erkenne ich ihn und wünsche mir, die Erde würde sich auftun.
   »Ach Thomas, dich hätte ich nun wirklich nicht wiedererkannt. Wie viele Jahre ist es her. Zwölf oder vierzehn?«
   »Acht! Ich erinnere mich noch genau, obwohl du keinen Tag älter aussiehst. Machst du Urlaub hier?«
   »Ja, mein Mann und ich sind nur für einen Tagesausflug hier und müssen auch gleich weiter. Also mach es gut.« Mit einem gequälten Lächeln ziehe ich Tobias hinter mir her.
   »Was war denn das? Und wer war das?«
   »Kannst du dich noch an unsere Hamburger Weinhändlerin Kerstin Kunstmann erinnern? Er ist ihr Bruder.«
   »Und? Das ist doch noch nicht alles!«
   »Er ist eine langweilige Quasselstrippe. Ich wollte unsere kostbare Zeit nicht mit belanglosem Smalltalk verbringen. Los, leg jetzt ab, sonst lohnt es sich ja kaum noch.« Ich kann nicht schnell genug den Hafen verlassen. Tobias glaubt mir kein Wort. Als wir die Bucht erreichen, fragt er erneut.
   »Was war mit diesem Thomas und erzähle mir jetzt keine Märchen.«
   »Mit ihm hatte ich den trostlosesten Sex meines Lebens! Bei dem Gedanken an die öde Nummer könnte ich laut los schreien. Es war so quälend langweilig, dass ich ständig auf die Uhr gesehen habe.« Tobias ist an weiteren Einzelheiten nicht interessiert.
   »Ich dachte, du warst Steffen immer treu? Was stimmt denn nun?«
   »Es war ein überflüssiger One-Night-Stand, nachdem ich von Steffens Affäre erfahren habe. Danach hab ich ihn nie wieder gesehen. Außerdem war ich zu der Zeit von Steffen getrennt.« Ich kann aufhören, mich zu erklären. Tobi ist nicht mehr in Stimmung für Schmusereien. Ich stelle meine Hände vor den Mund und rufe laut in Richtung Hafen: »Vielen Dank, Thomas Helmrich, dass du uns den Ausflug versaut hast. Jetzt habe ich mal wieder Streit. Zum zweiten Mal heute!« Beleidigt gehe ich zum Bug und lege mich aufs Sonnendeck. Minutenlang warte ich darauf, dass Tobias endlich den Anker wirft. Aber er macht keine Anstalten.
   »Gibt es hier wenigstens etwas zu trinken?«
   »Du kennst dich doch aus!« Ich sehe in den Kühlschrank. Das Angebot beschränkt sich auf eine Flasche Schampus und eine Flasche stilles Wasser. Champagnerstimmung herrscht nicht. Stilles Wasser passt viel besser zur Laune an Bord. Traurig betrachte ich meinen Skipper.
   »Warum streiten wir ständig? Was ist los mit uns in diesem Sommer?« Tobias hält mit der linken Hand im Führerstand das Ruder, seinen rechten Arm legt er liebevoll um meine Schultern. Eine Erklärung hat er auch nicht.

   »Hattet ihr Spaß?«, frage ich und meine eigentlich, hattet ihr wenigstens Spaß! Clara und Sarah haben eine meterlange Papierschlange gebastelt, die ich nun im Kinderzimmer aufhängen darf.
   »Zehn Minuten nach eurer Abfahrt hat Mc Enroe für dich angerufen. Du sollst dich morgen bei ihm telefonisch melden. Seine Mobilnummer habe ich dir auf den Schreibtisch gelegt.« Tobias bringt Clara ins Bett. Ich bereite einen gemischten Teller mit den Köstlichkeiten vom Markt zu und Sarah liest in Sutters Buch weiter.
   »Wein für die beste Tante Sarah der Welt.« Tobias bedankt sich fürs Clara Sitten mit einem Kuss auf die Wange. »Habe ich dich bei deiner Lektüre gestört?« Sie legt das Buch zur Seite und prostet ihm zu. Tobias schaut auf den Umschlag. »Ah, von Mike. Er ist ein entfernter Bekannter von uns. Wir haben ihn und seine verstorbene Frau auf einer Geburtstagsfeier kennengelernt.«
   »Das Brot fehlt noch«, sage ich und schicke Tobi  in die Küche, um das Baguette zu holen, als Sarah die Gelegenheit ergreift und mich mit ernster Miene ansieht.
   »Was ist Mike denn nun wirklich? Ein enger Freund oder ein entfernter Bekannter?« Ich erstarre und laufe rot an.
   »Die Salami ist vorzüglich. Luftgetrocknet und unheimlich scharf!«, antworte ich. Mein drohender Blick signalisiert ihr, sofort das Thema zu wechseln.

Die Abende im September werden schnell kühl, wenn sich die Sonne verzieht. Tobias fragt Sarah, ob sie Lust auf eine Partie Schach hat.
   »Prima Idee«, finde ich und gebe vor, mich auf das Telefongespräch mit dem dicken John vorbereiten zu wollen. Ich klappe mein Notebook auf und sehe, dass Mike mir bereits zahlreiche Mails geschickt hat, die noch ungelesen in meinem Postfach liegen. Erst beantworte ich Nachricht für Nachricht und starte dann einen schriftlichen Chat mit ihm. Mike ist somit wieder auf dem neuesten Stand. Er weiß jetzt auch, dass Natascha Tobis Halbschwester ist und meine Eifersucht völlig unbegründet war. Selbst über das Zusammentreffen mit dem schlechtesten Liebhaber aus ganz Deutschland kann er sich amüsieren.
   »Warum darf ich dich heute nicht sehen? Stell doch kurz die Webcam an.«
   »Geht nicht. Wir haben Besuch. Ich will heute keinen dritten Streit. Drück mir für morgen die Daumen. Das Gespräch ist ganz wichtig für mich!« Ich beende die Unterhaltung und fahre den Computer herunter.
   »Sarah hat mich schachmatt gesetzt. Tröstest du mich?« Ich setze mich zu ihm und kraule seinen Kopf. Sarah verabschiedet sich und lässt uns mit einer halben Flasche Wein zurück.
   »Noch ein Glas oder lieber Schmusen?« Ich entscheide mich gegen den Wein.


   Am nächsten Morgen ziehe ich mich an meinen Schreibtisch zurück und rufe das Büro der Mc Enroe Purchising Services an.
   »Na, sicher kann ich mich an unser Treffen in München erinnern. Wissen Sie Marie, wir sind wie Trüffelschweine. Sie waren ein ganz besonders großes Exemplar. Und Sie haben tatsächlich die Zusammenarbeit mit QHS beendet? Darf ich fragen, warum?«
   »Nach so vielen Jahren war die Zeit einfach reif.«
   »Lassen Sie uns offen sprechen. Ich will Ihnen nicht verheimlichen, dass ich bereits mit Clausen gesprochen habe. Er ist seit über fünfzehn Jahren mein Geschäftspartner und ich würde sagen, er ist auch mein Freund.« Der Zug ist wohl abgefahren! Scheiß Männerseilschaften, denke ich und meine Mundwinkel fallen nach unten.
   »Na, dann will ich Sie nicht in Versuchung führen, sich
(mit Ihrem breiten Fettarsch)zwischen die Stühle zu setzen.«
   »Moment, Frau Martin, nicht so eilig. Ich würde gerne zwischen Ihnen vermitteln. So eine erfolgreiche Zusammenarbeit sollte doch nicht im Streit enden. Peer wäre bestimmt bereit, die Beziehung zu Ihnen fortzusetzen, wenn es nur bei Ihrer Drohung bleibt, den Mutterkonzern zu informieren. Sie haben doch hoffentlich noch nichts unternommen?« Ich verstehe. Clausen geht der Stift.
   »Ich unterhalte keine Beziehung zu Herrn Clausen. Wenn er ein Angebot unterbreiten will, soll er sich an den Geschäftsführer der SoMa GmbH wenden. Er hat noch genau bis Ende der Woche Zeit. Danach geht mein Flug in die USA. Es war nett mit Ihnen zu sprechen. Auf Wiederhören, John.«
   »Du fliegst in die USA?«, fragt Tobias erstaunt, der nur den Rest der Unterhaltung mitbekommen hatte. Ich strahle über das ganze Gesicht.
   »Mit meiner Androhung, das Headquarter zu informieren, habe ich einen Volltreffer gelandet. Mc Enroe ist nicht nur übermäßig fett, er ist auch übermäßig blöd. Er hat sich total verquasselt. Claussen geht die Muffe, dass ich bei der Konzernleitung auspacken könnte. Er wird Frederik bestimmt bald ansprechen und verhandeln. Ich denke, wir sind in einer guten Position.« Ich telefoniere sofort mit meinem Sohn und überbringe die neuen Erkenntnisse.
   »Was soll Frederik denn verhandeln? Du willst doch nicht etwa einen Rückzieher machen?«
   »Für mich ist endgültig Schluss. Das muss es aber nicht für die SoMa und auch nicht für Sarah bedeuten.«
   »Und wer soll dann die Sendungen übernehmen?«
   »Na, die Beste die dafür in Frage kommt, sitzt hier bei uns am Tisch. Nach so vielen Jahren ist Sarah doch selbst Expertin. Soll der Sender doch eine Moderatorin stellen.«
   »Ich bin dabei«, sagt sie. Ich schreibe Frederik eine Mail. Mit dieser Forderung soll er in die Verhandlung gehen.

Ungeduldig auf Nachrichten aus Hamburg zu warten, ist nicht mein Ding. Ich brauche dringend eine Ablenkung und schlage vor, ein spontanes Essen für Freunde zuzubereiten. Phillip und Jenny werden für den Abend eingeladen, die gerne zusagen. Tobi bittet seinen Geschäftspartner Julian und den Wirt René und seine Musiker dazu. Sie versprechen später nachzukommen. Mit Sarah und Tobi kochen wir den ganzen Nachmitttag ein mehrgängiges Menü. Es ist einer der letzten lauen Spätsommerabende und ich decke den Tisch im Garten. Mit Fackeln und Kerzen zaubere ich eine gemütliche Stimmung. Alle Gäste kennen sich und unterhalten sich angeregt bei Tisch. Jenny platzt mit der Neuigkeit heraus. Ihr Freund und Nachbar Mike hat nach dem schmerzlichen Tod seiner Frau wieder mit dem Schreiben begonnen. Ich gebe mich erstaunt. Julian und Tobias sprechen über das Geschäft und wägen ab, wann sie die Yachten in die Bootshalle einholen sollen. Zum Dessert öffnet der Gastgeber eine alte Flasche Cognac, ein Überbleibsel unserer Hochzeit, die er wie einen Schatz gehütet hat.
   »So ein schöner Abend. Das haben wir lange nicht gemacht.« Als René mit den Musikern dazu stößt, sind die Gäste schon beschwipst. Gilbert und Therese bringen ihre Instrumente mit und singen und spielen Lieder auf Wunsch. Bei Tobis und meinem Lieblingslied streiken sie. Mit einem Lächeln steht Tobias auf und spielt es laut von der CD. Eng tanzen wir zusammen und er singt mir leise den Text ins Ohr. Nach der dritten Wiederholung bemerken wir, dass alle Besucher weg sind und auch Sarah sich schon in ihr Zimmer verzogen hat.
   »Hat doch wieder prima geklappt«, lacht er. Wir haben, wie schon so oft, unsere Gäste mit diesem Lied in die Flucht geschlagen.

Nach drei Stunden Schlaf, weckt Clara uns. Sie klettert wie üblich in die Besucherritze und drückt uns abwechselnd den Zeigefinger ins Auge.
   »Aufstehen, Mamam!«
   »Schlaf noch ein bisschen weiter«, fleht Tobi.
   »Nur, wenn ich einen Hund bekomme», verhandelt die Kleine. Sie zählt alle Kinder aus dem Ort auf, die ein Haustier haben. Tobias ist bereit, ihr zehn Welpen zu kaufen, wenn sie nur endlich Ruhe gibt. Ich will keine zehn Welpen im Haus haben und stehe lieber auf. Müde koche ich Kaffee und stelle die Gläser vom Vorabend in den Spüler.
   »Gib mir ein bisschen von deiner Energie ab, Clara«, bettel ich. Noch ganz ermattet weiß ich, dass nur frische Luft helfen kann. Zusammen mit der kleinen Nervensäge gehe ich zum Bäcker und kaufe für das Frühstück ein. Die Sonne versteckt sich hinter dicken Wolken und es bläst ein unangenehmer Wind. Ich lasse Mann und Hausgast bis halb elf Uhr ruhen und schicke dann unseren quirligen Weckdienst in die Schlafzimmer. Nachdem das Rührei schon kalt und der Kaffee nur noch lauwarm ist, kommen Tobias und Sarah an den Frühstückstisch.
   »Heute mache ich einen ausgedehnten Mittagsschlaf und du Schatz, darfst dich um Clara kümmern.« Dass daraus nichts wird, erkenne ich wenig später. Frederik klingelt Sturm. Er ist mit der Morgenmaschine aus Hamburg angereist, um seine Neuigkeiten persönlich zu überbringen.
   »Was ist denn das für ein Wetter bei euch? In Hamburg schien bei meinem Abflug die Sonne. Er setzt ein breites Grinsen auf und hat Spaß daran, mich auf die Folter zu spannen.
   »Na, Sarah, hast du dich gut erholt? Das hoffe ich, denn du wirst bis Weihnachten wenig Zeit haben, dich auszuruhen.« Er zieht eine Mappe aus seinem Koffer überreicht sie seiner neuen Repräsentantin.
   »Ich habe Clausen 32 Sendestunden aus dem Ärmel geleiert. Das sind acht Tage mit jeweils vier Shows. Start Ende Oktober bis Mitte Dezember.«
   »Das sind die besten Zeiten im Jahr.«
   »Wenn ich von dir einen frischen Kaffee bekomme, erzähle ich dir von dem Sahnehäubchen. Du wirst nicht glauben, was noch passiert ist.« Clausen bestand vor Vertragsunterzeichnung darauf, dass ich eine Vereinbarung unterzeichnen soll, in der ich zusichere, Stillschweigen zu bewahren. Ich sollte erklären, dass du keinen Kontakt zum Mutterkonzern aufnimmst.
   »Das werden wir ihr schwer verbieten können. Schließlich reist sie auch dort hin, um einen Fuß in den US amerikanischen Markt zu bekommen. Wenn Sie aber im Vorfeld ein wenig nachhelfen, könnte ich mir vorstellen, dass meine Mutter das Stillschweigeabkommen unterschreibt«, hatte Frederik zu Clausen gesagt. Es war schon immer sein Traum, den amerikanischen Markt zu erobern und dort einen Zweitwohnsitz zu haben.
   »Tust du mir den Gefallen, Mama? Unterschreibst du?« Ich bin beeindruckt, wie Frederik die Situation gemeistert hat. Aus einer scheinbar ausweglosen Lage, hat er das Beste herausgeholt. Selbstverständlich unterschreibe ich. Frederik nimmt sein Telefon und wählt Clausens Nummer.
   »Sie können wieder ruhig schlafen. Meine Mutter ist einverstanden. Bestätigen Sie mir den Termin und Sie bekommen die Erklärung schriftlich von mir.« Frederik zeigt Sarah an, dass es Zeit ist, den Koffer zu packen. Gemeinsam mit ihr will er am frühen Abend zurück fliegen. Die letzte gemeinsame Mahlzeit nehmen wir im Restaurant bei René ein, als Freddies Handy ertönt. Der Sender übermittelt ihm den Termin zur Präsentation beim Mutterkonzern.
   »Einen Wunsch habe ich noch. Bitte begleite mich. Für die Gespräche mit den Amis brauche ich wirklich deine Hilfe.« Ich schaue Tobi an. Ungern will ich meinem Sohn diese Bitte abschlagen.
   »Wann soll es denn los gehen?«
   »Montag!« Im Laufe der Zeit ist Tobias an meine Schnellschüsse gewöhnt. Dass Frederik seiner Mutter in nichts nachsteht, hat er mit seinem Verhandlungsgeschick eindrucksvoll bewiesen.
   »Wie lange werdet ihr bleiben?« Frederik weiß es noch nicht, aber er verspricht mir, einen Rückflug erster Klasse zu spendieren, falls wir erfolgreich abschließen.

Wir haben unser Haus wieder für uns. Für einen Mittagsschlaf ist es eindeutig zu spät. Tobi schleicht wie eine Katze um mich herum. Irgendetwas liegt ihm auf der Seele, aber er rückt erst damit raus, nachdem ich ihn darauf anspreche.
   »Versprich mir, dass du dich nicht einwickeln lässt und keine Sendungen in den USA übernimmst. Ich kenne dich. Du kannst Freddy nichts abschlagen. Deine ständigen Reisen nach Berlin haben schon für ausreichend Missstimmung zwischen uns gesorgt. Wie soll es erst werden, wenn du zur Weltenbummlerin avancierst. Bitte mute uns das nicht zu.«
   »So weit ist es doch noch gar nicht. Du machst schon wieder die Pferde scheu.«

Von Frankfurt starten Mutter und Kind auf USA Mission. Egal, welchen Verlauf unsere Unternehmung finden wird, Frederik plant einen Aufenthalt von mindestens einer Woche. Er ist froh, sich eine kurze Auszeit von Familie und der Büroroutine nehmen zu können. Er hat sich Karten für verschiedene Sportveranstaltungen besorgt und ist sich sicher, dass ich ihn nicht verpetzen werde. Wir wohnen im Sheraton Hotel. Ich habe ein Kingsize Zimmer im achten Stock. Sofort nachdem ich meine Schuhe in die Ecke feuere und meinen Koffer auspacke, stelle ich mein Notebook an und melde mich per Video Konferenz zu Hause. Trotz der sechs Stunden Zeitverschiebung wartet Tobi auf meinen Anruf. »Schlaf schnell wieder ein«, sage ich und schicke viele Küsse durch das Worldwide Net. Mike ist auch online. Mit ihm kann ich ohne schlechtes Gewissen chatten, denn wir befinden uns in einer Zeitzone.
   »Rate, wie viele Meilen ich von dir entfernt bin?«
   »Auf jeden Fall zu viele! Schön, dass du dich mal wieder meldest.«
   »Ich bin mit meinem Sohn in New York. Geschäftlich!«
   »In welchen Hotel?«
   »Im Sheraton in Manhattan.«
   »Dann trennen uns ungefähr fünf Meilen!« Mike ist zur Besprechung der ersten Kapitel seines neuen Buches mit der Lektorin seines Verlages verabredet. Eigentlich will er am nächsten Tag abreisen, verschiebt seine Absicht jedoch sofort. Wann wir uns sehen können, will er wissen. Ich verspreche, mich nach dem Besuch beim Sender gleich bei ihm zu melden.

Eine frisch blondierte Barbie Puppe begrüßt uns Topseller aus Deutschland. Ich überlasse Frederik den Smalltalk mit der Pamela Anderson Kopie und betrachte die Mädels vom Empfang. Sie sehen alle gleich aus. Lange Haare, keine Nasen und übergroße Möpse.
   »Schau lieber in unsere Verkaufszahlen als in ihren Ausschnitt«, verhöhne ich meinen Sohn. Er findet die Frauen alle sehr nett. Typisch! Er wird seinem Vater immer ähnlicher. Ob die Männer wohl auch alle so attraktiv sind? Ja, muss ich zugeben. Unser Gesprächspartner ist kein Andy Garcia, aber nicht übel. Norman, Anfang vierzig ist höflich und gut informiert. Er spricht ohne Akzent, sodass ich ihn wunderbar verstehen kann. Wir werden durch die Studios geführt und erhalten einen Vortrag über die Entstehung des QHS Senders. Nach endlosem Bla Bla kommt Norman endlich auf den Punkt.
   »Du wirst uns also als Expertin zur Seite stehen?« Ich kläre Norman darüber auf, dass Frederik durch die Shows führen wird.
   »Hast du Erfahrung?«
   »Er hat Ahnung und Talent. Er ist mein Sohn!«
   »Und er hat das perfekte TV Gesicht. Ist es euch möglich, bis Freitag zu bleiben? Dann könnten wir Probeaufnahmen machen.« Frederik stimmt sofort zu und fragt Norman, ob er ihn am Abend in den Madison Square Garden zu einer Veranstaltung begleiten möchte. Ich nehme es gelassen hin, dass ich zu Gunsten des Geschäfts mal so eben nebenbei ausgebotet werde. Ich ziehe es ohnehin vor, mich mit Mike zum Abendessen zu treffen. Die Männer sprechen über Baseball, Football, Basketball und andere Sportarten. Ich kann mich zurückziehen. Mit dem Taxi fahre ich allein ins Hotel und berichte Tobi ausführlich. »Vor Samstag werden wir nicht abfliegen können. Es entwickelt sich recht gut. Stell dir vor, Mike ist auch in New York. Ich werde ihn vielleicht noch treffen.«
   »I'll be watching you!«, sagt Tobi und legt nach fünf Küssen auf.

Mike hat ein nettes italienisches Lokal ausgewählt.
   »Im Madison Square Garden habe ich mit Kathie den Boss gesehen. Das Konzert von Bruce Springsteen war eines der besten Live Konzerte, das ich je miterlebt habe«, sagt er. Ich bedauere, dass ich lange keine Rock Konzerte mehr besucht habe.
   »In Frankreich beschränkt sich unser Musikkonsum auf die Auftritte von Gilbert und seinen Freunden. Aber ich will nicht klagen.« Ich soll aufzählen, welche Events ich unbedingt noch miterleben will.
   »Der Sänger ist schon gestorben! Da kommst du zu spät«, lacht Mike laut und ich freue mich über die gute Verfassung, in der er ist.
   »Lass uns eine Tour durch die Clubs machen.« Gegen laute Musik und Tanzen habe ich nichts einzuwenden.

   »Wir machen hier fetten Erlebnisurlaub und unsere Liebsten kümmern sich zu Hause um die Kinder«, sage ich beim gemeinsamen Frühstück zu Frederik. Ich schwanke zwischen schlechtem Gewissen und heimlicher Belustigung.
   »Du kannst ruhig schon abfliegen. Ich habe das mit Norman gut im Griff. Aber verpetz mich nicht bei Sabrina!«
   »Wenn du glaubst, ich verzichte auf mein Ticket erster Klasse, hast du dich geirrt. Ich gehe heute Abend in die Carnegie Hall ins Konzert zum Tribute to the Music of Motown.«

Das vorschnelle Urteil, dass ich vor Jahren über New York getroffen hatte, nehme ich nach dem Besuch der Veranstaltung zurück. The Big Apple hat mir doch eine Menge zu bieten. Beschwingt von der tollen Musik und heiser vom lauten Mitsingen, falle ich erschöpft ins Bett. Als mein Wecker nachts um zwei Uhr klingelt, bin ich gerade eingeschlafen. Mein Versprechen, Clara vor dem Kindergarten anzurufen, lässt mich aufschrecken. Ich betrachte mein derangiertes Gesicht im Spiegel und greife vorsichtshalber zum Telefon. Auf eine Bildübertragung will ich in diesem speziellen Fall lieber verzichten.
   »Guten Morgen, mein Schatz. Heute gehe ich für uns einkaufen. Hast du einen Wunsch? Was soll ich dir mitbringen?« Clara wiederholt ihren Wunsch nach einem Hund. Meine Argumente, dass ich kein Tier im Flugzeug mitbringen kann, treffen auf taube Ohren.
   »Warum bist du so heiser, Liebling?«, will Tobi wissen.
   »Es ist hier mitten in der Nacht und ich glaube, ich habe mich ein wenig erkältet. Die Amis übertreiben es mit ihrer Klimatisierung. Habt einen schönen Tag. Ich bin bald wieder da.«

Frederik stimmt zu, einen Einkaufsbummel zu machen. Vollbepackt kommen wir aus der Shopping Mall zurück. Er verabschiedet sich auf sein Zimmer, um für die Probeaufnahmen am nächsten Tag fit zu sein. Ich hingegen, lasse es noch einmal richtig krachen und feiere Abschied vom Großstadtleben, vom Nachtleben und von Mike.
   »Es wird für lange Zeit das letzte Mal gewesen sein, dass ich hier war. Morgen endet mein Auftrag. Ich muss mich langsam selbst um eine neue Einkommensquelle kümmern. Bisher war ich nur in Sachen Firmenrettung unterwegs. Aber lass uns über etwas Erfreuliches sprechen.«
   »Mein Verleger plant, auch meine ausländischen Ausgaben als Hörbücher herauszubringen. Du hast eine so nette Stimme. Willst du das nicht übernehmen? Ich glaube, das wird ganz gut bezahlt. Wenn du zustimmst, werde ich ihn fragen. Marie, du hast mir so geholfen. Bitte lass mich jetzt etwas für dich tun!«

»Dein Sohn hat einen ungemein niedlichen Akzent. Er wird bei den Damen gut ankommen. Nicht unwichtig beim Verkauf von Kosmetik«, sagt Norman.
   »Hat er das Casting bestanden?«
   »Er hat Ahnung, Talent und er ist dein Sohn. Ja sicher! Wir werden noch zusammen nachsehen, welche Termine möglich sind und dann geht es los.« Los, will ich auch. Ich plane über Paris mit Anschluss nach Nizza zu fliegen. Weiter auf Frederik zu warten, macht keinen Sinn. Auf dem Flur gratuliere ich ihm.
   »Ich bin verdammt stolz auf dich. Aus dem Deal mit der ersten Klasse entlasse ich dich heute noch einmal großzügig. Dafür habe ich etwas gut bei dir!« Auf einmal kann es mir nicht schnell genug gehen, wieder nach Hause zu kommen. Wenn alles reibungslos klappt, sollte ich in zwölf Stunden in Nizza landen.

Der goldene Oktober ist vorbei und die Zeit, sich von unseren Freunden und Nachbarn zu verabschieden, ist gekommen. Viele brechen auf, um in ihrer Heimat die Feiertage zu verbringen. Einige kommen bereits zu Beginn des neuen Jahres wieder zurück. Auf Jenny und Phillip muss ich bis März warten.
   »Wird dir jetzt langweilig nur mit mir?«, fragt Tobi. Er weiß, dass ich kein Freund der dunklen Jahreszeit bin. Aber nach dem turbulenten Sommer, freue ich mich geradezu auf die gemütlichen Abende am Kamin. Unser Alltag ist von Entspannung und Harmonie geprägt. Keine Übernachtungsgäste, keine Reisen, keine Hiobsbotschaften. Ich sehe mir die erste Verkaufsshow mit Sarah als Expertin an. Die beigestellte Moderatorin macht ihren Job recht ordentlich. Ich ärgere mich, dass ich nicht früher auf die Idee gekommen bin, Sarah das Feld zu überlassen. Ich lasse mich vom Klingeln des Telefons nicht stören. Erst als ich höre, dass Tobi mit Mike spricht, erhebe ich mich vom Sofa. Tobi lacht unentwegt und macht keine Anstalten, mir den Hörer zu geben.
   »Mikes Verleger bittet dich um Rückruf. Du sollst Hörbücher lesen? Was ist denn das schon wieder für eine Geschichte?«
   »Es war ein Angebot von Mike. Ich hatte es schon ganz vergessen. Wo soll ich anrufen?« Tobias gibt mir einen Zettel mit einer Telefonnummer. Herr Kirchmann erklärt mir die Prozedur.
   »Sie lesen spezielle Manuskripte. Für ein Buch haben wir rund dreißig Lesestunden eingeplant. Je nachdem, wie gut Sie sich anstellen. Das Tonstudio ist für eine Woche vom 10. Bis 15. November fest gebucht. Bis dahin müssen Sie fertig sein. Das Honorar verhandeln wir nach Ihrer Sprechprobe.«
   »Wo werden denn die Aufnahmen gemacht?«
   »In München.« Ich schaue meinen Mann fragend an. Lust habe ich schon und gegen eine kleine Finanzspritze ist auch nichts einzuwenden. Die Nächte könnte ich bei Sarah kostenfrei verbringen. Und es ist ja auch nur eine Woche.
   »Sag schon zu!«, lacht Tobi. Er hat aufgehört, sich über meine Sprunghaftigkeit zu wundern. Er schüttelt nur amüsiert den Kopf.
   »Ich dachte, du wolltest Bademoden entwerfen? Nun heißt es, meine Frau bespricht Hörbücher. Öfter mal was Neues. Als nächstes drehst du wohl einen Dokumentarfilm unter Wasser! Oder wonach steht dir dann der Sinn?«
   »Deine Frau hat eben viele Talente.« In diesem Punkt muss er mir zustimmen.

Ich reise nach München zur Sprechprobe und werde von Herrn Kirchmann am Flughafen abgeholt. Wie sich herausstellt, handelt es sich bei dem jungen Mann nicht um den Verleger, sondern um den Gebietsleiter Hörbuch International. Er selbst kennt die Romane von Sutters gar nicht und hat auf seinem Flug das Manuskript nur kurz überflogen. Kirchmann gehört der Spezies Mann an, die sich selber gerne reden hört. Ich stelle auf Durchzug. Die Taxifahrt scheint nicht zu enden. Nach einer dreiviertel Stunde frage ich genervt, wo es denn hingeht.
   »Das Münchner Studio war für heute schon ausgebucht. Wir mussten kurzfristig umdisponieren und nach Nürnberg ausweichen.«
   »Davon hätten Sie besser während der Fahrt sprechen sollen!«, schimpfe ich. Meinen Rückflug am Abend werde ich von Nürnberg aus nie und nimmer schaffen. Ich rufe Tobias an und meckere im Beisein des Verantwortlichen über sein Unvermögen.
   »Hört der Arme dir jetzt etwa zu?«
   »Diese dumme Pfeife sitzt hier im Taxi direkt neben mir. Ja, Sie sind gemeint!« Tobi kann sich kaum vor Lachen halten. Kirchmann gilt sein ganzes Mitgefühl. Er hat eine grobe Vorstellung davon, was der arme Kerl von mir bis Nürnberg noch alles zu hören bekommen sollte.
   »Ich kann nur hoffen, dass Sie bei der Sprechprobe einen anderen Ton anschlagen«, wehrt sich der Gebietsleiter Hörbuch International. Kirchmann und ich werden keine Freunde mehr. Bis zum Eintreffen lese ich die Manuskript Seiten durch. Als wir vor das Studio fahren, kann ich die ersten zwanzig Seiten fast auswendig aufsagen.
   »Hey, du bist spät!« Mike begrüßt mich mit einem Wangenkuss.
   »Schuld war der 30 km lange Stau! Aber was machst du hier? Ich bin total perplex. Ist das eine Überraschung!« Meine Mundwinkel verziehen sich wieder nach oben und ich mache ein freundliches Gesicht. Wir müssen uns beeilen. Das Studio ist nur noch für eine halbe Stunde frei. Ich lese die ersten vier Seiten ohne einen Versprecher. Kirchmann ist zufrieden und angesichts der engen Verbindung zum Autor wieder deutlich freundlicher. Sein Angebot für Honorar und Spesen ist akzeptabel. Er verabschiedet sich in Richtung Bahnhof und gibt Mike eine Karte des Hotels, in dem zwei Zimmer reserviert sind.

Die Taxifahrt dauert nur wenige Minuten. Mike ist von der rustikalen Einrichtung schwer begeistert. Wie die meisten Amerikaner die ich kenne, steht er auf Kitsch und schwere Eichenmöbel. Ich bitte die freundliche Rezeptionistin, eine Bahnverbindung nach München mit Anschlussflug nach Nizza für mich zu buchen. Wir essen fränkische Spezialitäten zu Abend, die ich mit »sehr lecker“, lobe. Aber die Musik nervt mich. Ich kann das volksmusikalische Gedudel nicht länger ertragen und schlage vor, noch einen kurzen Spaziergang zu machen. Die dezente Hintergrundmusik einer Weinstube in der Nürnberger Altstadt, lässt ungestörte Konversation zu und Mike lädt mich auf ein Glas ein.
   »Mein Verlag ist schwer begeistert von meinem neuen Werk. Ich muss die letzten beiden Kapitel in der nächsten Woche abgeben. Die deutsche Ausgabe wird im März auf der Buchmesse in Leipzig vorgestellt. Dann bin ich wieder in Europa.« Er bedankt sich noch einmal dafür, dass ich ihn in seiner Trauer auffing. Viele seiner Bekannten hatten sich nach dem Tod seiner Frau komplett zurückgezogen. Ich bin die Einzige, die sich wirklich kümmert und ihn versteht.
   »Du bist ein warmherziger, guter Mensch. Ich freue mich, dass wir Freunde sind. Trinken wir noch ein Glas zusammen?« Ich vertrage den Frankenwein weniger gut als den gewohnten leichten Rosé aus Frankreich.
   »Lass uns lieber im Hotel noch einen Absacker nehmen. Sonst schaffe ich den Fußmarsch nicht mehr zurück. Ich glaube ich habe schon einen leichten Glimmer.« Die Hotelbar ist schon geschlossen. Der Nachtportier verweist freundlich auf die Minibar auf dem Zimmer. Er übergibt mir die Reiseunterlagen für den kommenden Morgen.
   »Mein Zug geht schon um acht Uhr. Das heißt, ich sollte jetzt besser schlafen gehen.«
   »Komm, ein Glas verträgst du noch. Ich lese dir eine Passage aus meinem Buch vor, in der du die Hauptrolle spielst.« Ich schaue auf die Uhr. Für einen Anruf zu Hause ist es auch schon zu spät. Die Neugierde auf das, was Mike über mich geschrieben hat, überwiegt der Vernunft.

Wie früher mit Sarah nehme ich den Gin und Mike den Whiskey.
   »Das hat schon Tradition«, lache ich. Mike gibt mir einen Schnellhefter in dem in kleiner, hellgrauer Schreibmaschinenschrift das besagte Kapitel geschrieben steht. Die Buchstaben verschwimmen vor meinen Augen. Ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass ich keine Brille trage, das Licht zu dunkel ist oder ich doch schon zu viel getrunken habe.
   »Lies du. Aber langsam, damit ich es auch verstehe.« Ich lege mich seitlich auf sein Bett und höre meinem Vorleser gespannt zu. Er stützt sich mit seinem Kopf auf meinen Hüften ab und beginnt zu lesen. Ich verstehe nur die Hälfte.
   »What does it mean?«
   »Es heißt, du bist wunderbar, liebevoll und unheimlich anziehend. Mary, mein Engel! Komm, lass mich dich spüren. Nur kurz. Aber gewaltig. Ich habe solange nicht...« Ich will mich sofort wegdrehen, aber Mike ist schon in mir. Mit zwei, drei kräftigen Stößen zaubert er mir einen Blitz durch den Körper.
   »Oh, my God« ruft er und ich weiß, dass er nicht betet.
   »Hör sofort auf, Mike«, schreie ich ihn an. Er gehorcht. Er ist bereits fertig.
   »Bist du verrückt? Was fällt dir ein? Du bist eindeutig zu weit gegangen!« Ich ringe nach Luft und suche aufgeregt nach meinen Schuhen. Meine Hände zittern. Mein Schwips ist wie im Flug verschwunden. Nüchtern und völlig aufgelöst brülle ich ihn an. »Warum hast du das getan? Ich wollte dich als Freund, nicht als Liebhaber. Wie soll ich das meinem Mann erklären? Oh meine Güte, wie soll ich Tobi unter die Augen treten?«
   »Wir sind uns so nah, Marie. Das war doch die natürlichste Konsequenz!« Ich verlasse mit flauen Beinen sein Zimmer. Über eine halbe Stunde lang stehe ich unter der Dusche und verbringe die Nacht weinend auf dem Bett. Um sechs Uhr verlasse ich das Hotel mit einem Taxi in Richtung Bahnhof. Ich bin verzweifelt und durcheinander. Wie konnte mir das passieren? Mike ist doch nur ein Freund! Dieser Mann muss ganz schnell aus meinem Leben und der Abend aus meinem Gedächtnis verschwinden.

Ich sitze im Flieger nach Nizza und denke nach. Tobi wird mich in zwei Stunden vom Flughafen abholen. Ich kann den Hörbuchauftrag unter diesen Umständen nicht mehr annehmen. Was soll ich meinem Mann sagen. Das Honorar ist zu mickerig. Das würde sich nicht lohnen. Oder, es gab zu viele Versprecher. Das wird er mir nicht glauben.

»Was ist mit dir? Du siehst furchtbar aus! Wirst du krank?«, fragt Tobi, als ich ins Auto steige.
   »Ich fürchte schon. Schüttelfrost, Kopf- und Gliederschmerzen. Das volle Programm«. Ich danke dem lieben Herrgott für seine Vorlage.
   »Dann wirst du dich sicherlich bei Clara angesteckt haben. Sie liegt auch mit erhöhter Temperatur im Bett. Ich habe Natascha gebeten, kurz auf sie aufzupassen. Du hast doch nichts dagegen?« Ich habe nichts dagegen. Er könnte sagen und fordern, was er will und ich würde zustimmen. Ich schäme mich bodenlos. Zu Hause schickt mich der fürsorgliche Ehemann gleich in die Krankenstation zu Clara ins Ehebett. Für einige Stunden spiele ich die Grippekranke, bis abends tatsächlich Fieber einsetzt.
   »Kriege ich einen Hund zu Weihnachten, Mamam?« Tobias greift ein.
   »Ihr bellt beide schon so laut wie Hunde. Erst müsst ihr gesund werden. Vorher habe ich keine Zeit, mich auch noch um einen Schnuffel zu kümmern.«

Ich liege schon drei Tage im Bett. Es geht mir bereits besser, aber die Krankenstation ist der beste Ort, mich vor Tobis Annäherungen zu schützen. Ich habe das Bild mit Mike gerade aus dem Kopf, als das Telefon klingelt und er anruft. Ich befürchte, einen Infarkt zu erleiden. Langsam steige ich aus dem Bett und lausche dem Telefonat.
   »Sie ist selber ganz untröstlich. Aber besser wird es sein, ihr geht auf Nummer sicher. Ich glaube nicht, dass Marie rechtzeitig wieder gesund wird. Es hat meinen Schatz richtig dick erwischt und Clara gleich dazu. Ja, richte ich aus. Bis bald, Mike.« Ich gehe ins Bad und übergebe mich. Das ist zu viel. Wie kann er es wagen, hier anzurufen und mit Tobias zu sprechen.
   »Ich habe dich entschuldigt. Mike wünscht dir gute Besserung.« Ich wünsche ihm die Pest an den Hals. Als Tobi schläft, lösche ich Mike aus meinem Adressbuch und sperre ihn für eingehende Mails. Chatten kann er nun auch nicht mehr mit mir.

Clara geht bereits die zweite Woche wieder in den Kindergarten und ich schmücke das Haus zur Adventszeit. Das Thema Hund kommt täglich zum Frühstück und zum Abendessen auf den Tisch. Wir sind uns einig darüber, ihr nicht nachzugeben und einigen uns auf ein Zwergkaninchen. Tobias baut einen Außenstall für den Rammler. Die Garage dient ihm als Werkstatt. Meine  Melancholie will der Vorfreude auf das Weihnachtsfest nicht weichen. Frederik schlägt vor, sich mit der ganzen Familie ein Ferienhaus im Schnee zu mieten und das Fest gemeinsam zu verbringen. Ich lehne ab, denn ich habe die Nase voll von Reisen. Wenn möglich will ich das Haus überhaupt nicht mehr verlassen.
   »Wollen wir die Familie zu uns einladen?« Aber auch diese Idee findet nicht meine Zustimmung. Tobias hat meine depressive Verfassung sehr wohl bemerkt.
   »Was ist mit dir los? Du hattest doch sonst immer so viel Freude an Familienfesten. Was macht dich immer so traurig?« Ich kenne den Grund. Immer wieder frage ich mich, warum ich mit auf sein Zimmer gegangen bin. Ich kann unmöglich mit Tobi darüber sprechen. Häufig liege ich nachts von Schuldgefühlen geplagt wach und betrachte sein Gesicht. Den fehlenden Schlaf hole ich am Nachmittag nach. Sarah meldet sich telefonisch. Sie bemerkt meine niedergedrückte Stimmung sofort. Weil ich allein im Haus bin, kann ich frei mit meiner Vertrauten sprechen. Ich beichte von meinem Erlebnis in Nürnberg und breche laut in Tränen aus. Sarah empfiehlt, auf jeden Fall dicht zu halten. Auch sie meint, dass Tobi es nicht verstehen und nicht verzeihen wird.
   »Es ging alles so schnell. Glaub mir bitte, das habe ich nie gewollt!«
   »Ganz schuldlos bist du nicht! Was war das mit euch. Das hat doch schon viel früher begonnen. Warum hast du ihn so dicht an dich herangelassen. Seine blöden Bücher können es ja wohl nicht gewesen sein.«
   »Es war nur Mitgefühl! Als er seine Frau verlor, tat er mir so leid.«
   »Dann schickt man eine Beileidskarte und chattet nicht Tag für Tag mit einem Fremden. Du wirst ihm schon Signale gesendet haben!«
   »Ich habe ihm immer gesagt, wie sehr ich Tobi liebe. Dass er der Mann meines Lebens ist. Genauso hat er doch für Kathie empfunden. Über nichts anderes haben wir gesprochen. Ich verstehe das einfach nicht!«
   »Ich auch nicht. Ehrlich Marie, ich weiß, wie sehr du an deinem Mann hängst. Ich habe es nicht für möglich gehalten, aber als ich euch zusammen erlebt habe, dachte ich noch, sie hat sich damals richtig entschieden. Mach es nicht kaputt und höre endlich auf zu flennen. Tobias ist ein sensibler Mensch. Kurz über lang merkt er etwas.« Damit das nicht passiert, beende ich das Gespräch und wasche mir das verheulte Gesicht. Ich schminke mich ein wenig und gehe in die Küche, um einen Schokokuchen zu backen. Tobias wird mit einem Lächeln begrüßt.
   »Ich backe uns einen Kuchen. Ganz so lecker wie dein Teig schmeckt er nicht. Aber er ist mit Liebe gemacht.« Ich streiche mit dem Finger in die Schüssel und führe meinen dunkelbraun glänzenden Zeigefinger zu seinem Mund, male einen dicken Strich über seine Lippen und schlecke den Teig genüsslich ab.
   »Mehr Teig! Weniger gebackenen Kuchen.«

Nach der Bescherung sind wir völlig abgemeldet. Clara freut sich so sehr über ihr Schlappohr Zwergkaninchen, dass sie die anderen Geschenke gar nicht mehr beachtet. Sie ist der festen Überzeugung, dass sie dem Tier das Bellen beibringen kann. Dann wäre es fast so, als hätte sie einen Hund bekommen. Der neue Hausbewohner wird auf den Namen Titus getauft. Er wohnt im Käfig im Kinderzimmer neben dem Kinderbett. Als er in den selbstgebauten Außenstall umziehen soll, empört sich seine neue Besitzerin und schreit laut vor Wut.
   »Dann hätte ich mir die Arbeit auch sparen können«, sagt Tobi.
   »Die Euphorie wird sich legen.« Ich spreche aus Erfahrung. Titus ist nicht das erste Kaninchen, das ich im Laufe meiner Jahre irgendwann allein versorgen darf.

Tobias wünscht sich, den Silvesterabend wieder bei René im Restaurant zu feiern. Clara soll die Nacht bei ihrem Kindergartenfreund Louis verbringen. Aber Töchterchen macht uns einen Strich durch die Rechnung. Auf keinen Fall wird sie Titus über Nacht allein lassen. Tobias will Natascha fragen, ob sie den Clara Sitter Job übernimmt.
   »Sie wird sich bedanken. Glaubst du nicht, dass sie selber feiern geht?«
   »Wie auch immer, ich möchte mit dir ausgehen. Es ist auch unser Hochzeitstag.« Wie vermutet, findet sich keine Kinderbetreuung. Clara kommt also mit. In kleinerer Runde als im Sommer sitzen wir am Stammtisch. Nach der Vorspeise vergeht mir abrupt der Appetit. Erschrocken sehe ich in das Gesicht von Mike, der Tobias fragt, ob er sich dazu setzen darf. Er nimmt sich einen Stuhl und wählt die freie Lücke gegenüber von mir. Mit eisigem Blick starre ich ihn an.
   »Jenny und Phillip haben mir ihr Haus für eine Woche überlassen. Ich habe dir die druckfrische Originalausgabe mitgebracht. Soll ich dir eine Widmung hinein schreiben?« Ich nehme das Buch ohne Widmung entgegen und verstaue es unbesehen in meiner großen Handtasche.
   »Es tat mir wirklich leid, dass du die Hörbuchproduktion absagen musstest. Warst du noch lange krank?«
   »Ich hatte den weltbesten Krankenpfleger«, sage ich und greife nach Tobis Hand. Nur so kann ich der Versuchung widerstehen, Mike nicht den Hals umzudrehen. Wie unverschämt, hier aufzutauchen! Als die Kellner die Hauptspeise an den Tisch bringen, rufe ich Clara zu mir. Ich nehme die Kleine auf den Schoß und teile mir das feine Fischgericht mit ihr.
   »Hast du etwas von Jenny und Phillip gehört«, frage ich. Ich weiß, dass ich nicht weiterhin stumm am Tisch sitzen bleiben darf, sonst würde Tobi misstrauisch werden. Mike antwortet, dass er den Weihnachtstag bei ihnen im Haus verbracht hat.
   »Schön, dann warst du ja nicht allein.«
   »Wann geht dein Sohn denn das erste Mal auf Sendung?«
   »Irgendwann im Frühjahr. März oder April. Genau weiß ich es nicht.« Es kostete mich eine Menge Überwindung, so unbekümmert mit ihm zu plaudern, aber ich habe den festen Vorsatz, nicht aufzufliegen. Als das Essen endlich überstanden ist, löst sich die feste Tischordnung auf und ich kann den Platz wechseln. Ich gehe zu Julian und Therese und beobachtete Mike und meinen Mann mit Adleraugen. Worüber unterhalten sich die beiden nur so angeregt? Ich schaue auf die Uhr und hoffe, dass wir bald aufbrechen können. Bis halb zehn hält Clara meistens durch. Danach muss sie dringend ins Bett. Ich setze mich auf Tobis Schoß, umarme ihn demonstrativ und flüstere ihm ins Ohr: »Unsere Kleine macht langsam schlapp. Wollen wir aufbrechen und zu Hause weiter feiern? Ganz gemütlich und kuschelig?« Das Angebot ist verführerisch. Aber er antwortet: »Natascha kommt gleich. Sie passt bis ein Uhr auf Clara auf. Wir können das Feuerwerk noch hier ansehen. Danach wird gekuschelt!«
Die Musik wird lauter und die ersten Gäste gehen auf die Tanzfläche. Mike bestellt eine neue Runde Pastis. Es ist schon der vierte, den er sich mit Tobi hinter die Binde kippt. Ich habe mitgezählt.
   »Hör mal Marie, sie spielen unser Lied. Komm lass uns tanzen!«, ruft  Mike und zieht mich auf die Tanzfläche.
   »Was zum Teufel machst du hier? Verschwinde aus meinem Leben! Ich will dich nicht wieder sehen. Ich habe Tobi noch nichts gesagt. Wenn ich es tue, dann Gnade dir Gott. Verziehe dich und komme nie wieder her!«
   »Lies mein Buch, dann wirst du verstehen, dass da viel mehr zwischen uns ist, als du es im Moment zulassen willst. Du liebst mich, du weißt es nur noch nicht. Aber ich kann warten.« Seine Worte verschlagen mir den Atem.
   »Was hast du geschrieben? Das Buch handelt nicht von Kathie?«
   »Auch, aber der größte Teil handelt von dir, mein Engel.«
   »Du wirst es nicht veröffentlichen. Ich verbiete es dir. Mike, ich bitte dich. Ich flehe dich an. Du zerstörst mein Leben.« Ich bemerke, dass Tobi uns beobachtet und ich gehe allein zu seinem Tisch zurück.
   »Wieso hast du mit Mike ein gemeinsames Lied?«
   »Ich habe kein Lied mit ihm! Er ist völlig durcheinander und schon ziemlich angetrunken.« Ich schaue ständig auf die Uhr.
   »Komm, es ist gleich zwölf. Lass uns eine ruhige Ecke suchen und auf das Feuerwerk warten!« Er folgt mir und drückt mich an die Hauswand. Die ersten Raketen steigen in den sternenklaren Himmel.
   »Dein Herz rast ganz schnell. Ich kann es spüren.«
   »Dafür bist nur du verantwortlich. Frohes neues Jahr!«

Ich habe nur einmal täglich Zeit, für zwanzig Minuten ungestört in dem Buch zu lesen, wenn Tobi das Haus verlässt, um Clara zu fahren. Mikes Werk handelt von Mary, in der er eine Seelenverwandte gefunden hat, der es gelang, ihn zurück ins Leben zu holen. Er nennt sie seinen Engel, der ihm alle Sinne geschärft hat. Auf Seite 270 beschreibt er den Tag, als er durch sie wieder zum kompletten Mann wurde. Die Nacht im Nürnberger Hotel stellte er als gewaltig, ekstatisch und voller Leidenschaft dar.
   »So war es ganz und gar nicht. Es war kurz, abrupt und gegen meinen Willen!« Ich höre den Wagen vorfahren und stelle das Buch zurück ins Regal. Clara lässt das Kaninchen wieder frei im Haus laufen. Ich sehe die auf die kleinen, braunen Hinterlassenschaften auf dem Terracotta Boden und schimpfe: »Clara, bringe Titus endlich in seinen Stall zurück. Ich hab die Nase gestrichen voll. Wie gehen hier barfuß. Das ist ekelig, unappetitlich und es stinkt!«
   »Ist ja gut Marie, du hast ja Recht. Aber was hat dir denn derartig die Laune verhagelt. So kenne ich dich ja gar nicht.« Tobias bringt das Kaninchen in den Außenstall und ich entschuldige mich für meinen rauen Ton. Die Stimmung beim Mitttagessen ist dem Gefrierpunkt nahe. Als Clara mit dem Nachbarjungen im Garten spielt, setzt sich Tobias zu mir auf das Sofa. Ernst blickt er mich an.
   »Du hast eine gewaltige Winterdepression. Das beobachte ich jetzt schon seit Wochen. Aber so geht es nicht weiter. Ich bitte dich, gehe zum Arzt und lass dich untersuchen.« Ich breche sofort in Tränen aus und Tobias bereut seine Ansage zutiefst. Liebevoll streicht er mir die Tränen aus dem Gesicht.
   »Schatz, du hast den grauen Winter doch fast überstanden. In zwei Wochen ist März und die Sonne wird wieder scheinen. Jenny und Phillip kommen zurück und du hast wieder jemanden zum Quatschen.«
   »Du bist so lieb«, schluchze ich. Geduldig, zärtlich, verständnisvoll, fürsorglich und unendlich ahnungslos. Ich muss mich zusammenreißen und endlich aufhören, mich selbst zu bestrafen.

Es war seit Jahren festes Ritual, dass Jenny und Phillip nach ihrer Rückkehr, Freunde und Nachbarn zu ihrem amerikanischen Makkaroni Käseauflauf einladen. Das schwere Essen war der Startschuss für gegenseitige Einladungen zu landestypischen Essen. Das erste Treffen dieser Art gleicht einer regelrechten Berichterstattung. Es werden die Geschehnisse der letzten Monate in allen Einzelheiten besprochen, bestaunt und belacht. Ich bin in der festen Reihenfolge die zweite Gastgeberin. Auf Wunsch meiner Gäste koche ich seit Jahren Rinder Rouladen mit Speck Sauerkraut und Kartoffel Knödel. Tobias liebt es, wenn die Küche nach diesem Gericht duftet. Ich bin wieder besserer Stimmung. Der Austausch mit meinen Freunden bringt wieder die gewünschte Normalität in mein Leben. Die Männer sitzen noch im Wohnzimmer und sehen sich die zweite Halbzeit eines Champions League Spiels an. Jenny will mir zur Hand gehen. Aber ich bin fertig und warte darauf, dass die Männer sich zu Tisch begeben. Mit einem Glas Wein in der Hand schreitet sie das Bücherregal ab und stutzt.
   »Du hast den neuen Sutters hier? Hast du das Buch schon gelesen?« Ich laufe rot an und nicke verschämt. Jenny weiß also Bescheid.
   »Kein Wort vor Tobi«, beschwöre ich sie. Nach dem Essen gehe ich zum Rauchen auf die Terrasse. Jenny folgt mir und schaut mich verächtlich an.
   »Wie konntest du? Er war in tiefer Trauer! Wie schäbig, seine Verzweiflung so ausnutzen? Reicht dir der Sex mit deinem jungen Tobi nicht? Denk mal an dein Alter. Du bist über fünfzig und führst dich auf, wie..«
   »Jenny, du verstehst das völlig falsch. Ich hatte nie eine Liebesbeziehung zu ihm. Ich weiß nicht, was ihn das glauben ließ. Seine Schilderungen haben nichts mit der Realität zu tun. Ich habe nicht mit ihm geschlafen. Er hat mich genommen. So war das!«
   »Sprich mit Tobias, bevor er es von anderer Seite erfährt. Du weißt, dass Mike gerade in Leipzig auf der Buchmesse die deutsche Ausgabe vorstellt. Es ist also nur eine Frage der Zeit, bis die Bombe platzt.«

Dass Jenny die Geschichte aus Mikes Warte betrachtet, überrascht mich nun doch. Die Anspielungen auf mein Alter und den Sex mit meinem jüngeren Ehemann, lassen nur eine Schlussfolgerung zu. Jenny ist eifersüchtig. In ihrer langen Ehe sind Langeweile und Routine eingetreten. Wie bei vielen lang verheirateten Paaren ist ihr und Phillip die Leidenschaft schon vor Jahren abhanden gekommen. Mit einer Sache hat sie allerdings Recht. Ich muss dringend mit Tobi sprechen. Noch bevor die deutsche Ausgabe im Handel erscheint. Ich bastele tagelang an der richtigen Formulierung und bereite mich auf dieses Gespräch vor. So, als ob ich eine wichtige Geschäftsverhandlung führen muss. Aber hier geht es nicht ums Geschäft. Hier geht es um mein weiteres Leben an der Seite des Mannes, den ich so unendlich lieb habe. Feige verschiebe ich mein Vorhaben immer wieder auf den nächsten Tag.

Tobias hat sich beim Ausbringen seiner Yacht eine Zerrung in der Schulter zugezogen. Wehleidig lässt er sich von mir bemuttern. Ich übernehme die Autofahrten zum Kindergarten und zurück.
   »Ich habe dir aus der Apotheke eine Salbe mitgebracht. Zieh doch dein Shirt aus, damit ich dich verarzten kann.« Hauchdünn verteile ich das Gel auf seiner Haut und streiche vorsichtig über seine schmerzenden Stellen. Danach wasche ich mir die Hände und beginne, das Mittagessen vorzubereiten, als Tobi mich bittet, ihm noch ein Kissen zu holen. Er hat es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht und will bis zum Essen lesen. Ich erblicke den Buchumschlag und erkenne den Titel. Tröstender Engel.
   »Wie kommt dieser Schund in unser Haus!«, brülle ich, nehme ihm das Buch aus der Hand und werfe es in den Mülleimer.
   »Das ist das neue Buch von Mike. Es kam heute mit der Post. Eine Karte lag auch noch dabei. Was soll der Aufstand?«
   »Lies es nicht. Bitte!«
   »Marie, ich glaube du spinnst. Warum soll ich es nicht lesen?«
   »Bitte lies es nicht. Es sind nur Lügen! Bitte Tobi, wenn du mich lieb hast, lass das Buch dort, wo es hingehört. Auf dem Müll!« Tobias erhebt sich vom Sofa und schaut mich an. Ich stehe kurz vor einen Nervenzusammenbruch und weine, flehe, schluchze und zittere am ganzen Körper. Er geht zum Müll und nimmt das Buch wieder heraus. Langsam beginnt er zu begreifen. Fassungslos sieht er mich an. Nie im Leben werde ich diesen traurigen Gesichtsausdruck vergessen. Ich schließe feige die Augen, denn ich kann ihn nicht ansehen. Mit einem lauten Knall wirft er die Haustür hinter sich ins Schloss. Er setzt sich in seinen Wagen und fährt davon. Vergebens warte ich in der Nacht auf seine Rückkehr.

Ich bringe Clara am Morgen in den Kindergarten. Als ich zurück komme, steht Tobias Wagen vor dem Haus. Er ist im Kinderzimmer und packt Kleidung und Spielzeug zusammen. Als er mich bemerkt, stellt er die Tasche ab und schaut mir direkt ins Gesicht.
   »Seit wann? Seit New York? Oder fickt er dich schon seit deinem Besuch in Florida?«
   »Unsinn!«
   »Wie hat er es dir besorgt?«
   »Tobi hör auf. Und lass es dir in Ruhe erklären. Ich hatte keine Liebesbeziehung zu ihm. Ich habe ihn nur getröstet!«
   »Also hast du es ihm besorgt! Da hast du deine Aufgabe als Witwertrösterin wohl richtig gut gemacht. So gut, dass er ein Buch darüber geschrieben hat. Ein Buch, das du auch noch als Hörbuch lesen solltest. Wie lange wolltet ihr mir noch etwas vormachen? Du widerst mich an, Marie. Ich ertrage deinen Anblick keinen Tag länger. Wir sind weg. Werde glücklich mit deinem Schriftsteller. Vielleicht hört dann auch deine permanente Niedergeschlagenheit auf!« Er greift nach der Tasche und verlässt den Raum. Im Schlafzimmer nimmt er einen Stapel Wäsche aus dem Schrank und verstaut ihn in einem großen Koffer.
   »Wo willst du hin? Geh nicht! Bitte Tobi, geh nicht fort. Ich werde dir alles erklären. Es tut mir so leid. Ich liebe dich doch so. Bitte bleib hier!« Es hilft nichts. Er geht. Es ist der erste April. Und es ist kein Scherz.