Nane

Nane lässt kaltes Wasser über ein Taschentuch laufen, um es sich dann an die Stirn und den Nacken zu pressen. Sie empfindet die Hitze unerträglich. Wie man freiwillig im Süden leben kann, ist ihr ein Rätsel. Wir haben uns seit Jahren nicht mehr gesehen. Der Kontakt riss ganz ab, als ich mich entschied, mit Tobi abzuhauen. Als Nane von Steffen über meine Flucht informiert wurde, soll sie gesagt haben: »Oh klasse! Endlich mal eine Frau, sie sich traut und nicht nur nächtelang davon träumt.« Sie bewundert mich für meinen Mut. In der Drehtür klingelt ihr Telefon. »Ich sehe dich«, rufe ich und winke ihr aus dem offenen Wagen zu. Als sie ihren alten Koffer auf den Rücksitz wuchtet, lache ich laut los.
   »Ist der antik?« frage ich meine verschwitzte Freundin.
   »Ja, den hatte ich schon mit auf Hochzeitsreise«, sagt sie und muss mit lachen. Der Reisekoffer war ein Geschenk ihrer Tante zur Hochzeit. Er wurde aber meist nur zum Verstauen von Wintersachen im Sommer und Sommersachen im Winter benutzt. Auf Reisen ging der Koffer genauso selten wie sie während ihrer fast fünfundzwanzigjährigen Ehe. Selbst anlässlich der bevorstehenden Silberhochzeit hat ihr Mann Norbert keinen Trip geplant. Er ist Mitbegründer einer Firma, die Computerspiele entwickelt. Aus beruflichen Gründen ist er ständig auf Achse und möchte seine private Zeit lieber zu Hause verbringen. Das ist nicht etwa seine große Villa in der Hamburger Vorstadt, sondern er meint damit seine Firma und seinen heiß geliebten Tennisplatz.
   »Das Verdeck machst du aber zu. Ich bin so verschwitzt, dass ich mir gleich einen steifen Nacken hole.« In Hamburg fährt Nane auch ein Cabriolet. Das Verdeck bleibt jedoch stets geschlossen. Sie wollte diesen Wagen gar nicht, aber Norbert meinte, dass sie ein standesgemäßes Fahrzeug braucht. Jahrelang wehrte sie sich gegen seine Schickimicki Allüren. »Ich brauche einen Viersitzer«, erklärte sie ihm ständig. »Wie soll ich sonst die Kinder fahren?« Aber seitdem ihre beiden Töchter in den USA studierten, hatte sie kein Argument mehr. Lieber hätte sie einen Aufsitzrasenmäher bekommen. Denn die Pflege ihres 2000 qm großen Gartens nimmt ihre ganze Zeit in Anspruch.
   »Ich habe jetzt einen Gärtner«, sage ich, »seitdem ich wieder allein lebe, gönne ich mir diesen Luxus.« Nane kommt mit der Absicht, fünf Tage bei mir in Südfrankreich zu bleiben. Norbert weiß nichts von ihrem Ausflug an die Côte d’Azur. Sie hat ihm gesagt, sie würde sich auf seinen Wunsch hin in einer Klinik erkundigen, was es kosten würde, ihren Körper wieder auf vierzig trimmen zu lassen. Fettabsaugen, Brustimplantate und Augenlid Korrektur hat der Mann ihr aufgetragen.
   »Das hat er nicht wirklich gesagt, oder?« Ich empöre mich über diese unfassbar verletzende Aussage und mustere sie von oben bis unten. Ein bisschen mehr Chic und eine neue Frisur kann sie gebrauchen. Aber mehr auch nicht! Für meinen Geschmack kleidet Nane sich zu bieder und altbackend. Aber das ist nur eine Frage des Stylings und vor allen Dingen der Lebenseinstellung. Letztere kann ich gar nicht gut heißen.
   »Du bist ja auch finanziell unabhängig. Ich muss um jeden Euro betteln. Ich hab noch nicht einmal ein eigenes Konto«, beklagt sie sich. Ich gehe Schwimmen. Täglich versuche ich meine Bahnen zu ziehen. Das sind meine liebsten dreißig Minuten am Tag. Während dieser Übungen kann ich komplett abschalten. Keine Gedanken an das Geschäft. Keine Gedanken an meinen Noch Ehemann. Und vor allem keine Gedanken an meine große, enttäuschte Liebe Tobias. Ich wickele mich in ein Handtuch und stelle gekühlten Wein und Wasser auf den Tisch. Nane greift zum Wein und leert ihr Glas in einem Zug.
   »Ich möchte mit dir heute Abend in mein Stammlokal zum Essen gehen. Vor neun Uhr geht es hier abends nie los. Wenn du also jetzt hungrig bist, mache ich dir gern eine Kleinigkeit.« Nane schaut mich ungläubig an.
   »Hast du das Essen ganz eingestellt? Ich erkenne dich nicht wieder. Du bist so schlank geworden. Du machst Sport. Trinkst keinen Wein mit mir, sondern nur Wasser. Kasteist du dich, weil du wieder auf Männerschau bist?« Ich ziehe eine Grimasse. Ich suche keinen neuen Mann. Ich kann von heute auf morgen wieder mit Steffen zusammen gehen. Mein Noch Ehemann würde mich mit offenen Armen wieder aufnehmen. Auch Tobias will mich zurück. Seit zwei Wochen ist er wieder da. 
   »Er wohnt mit seiner Tochter Clara im Ort. Manchmal treffen wir auf einander. Wenn andere dabei sind, antworte ich ihm kurz. Treffe ich ihn allein an, sehe ich durch ihn hindurch.« Jetzt schenke ich mir auch ein Glas Wein ein. »Steffen ist mein bester Freund. Mit ihm kann ich alles besprechen. Wenn ich mal in Not wäre, wüsste ich, dass er mir zur Seite steht. Aber ich liebe ihn nicht so, wie ich Tobias geliebt habe.« Nane ist neidisch. Wie ungerecht das Glück verteilt ist. Sie hat nur einen Mann. Einen, der sie gar nicht mehr will. Bald wird sie mit ihm das Fest der Silberhochzeit feiern. Vor den Gästen wird er den stolzen Bräutigam geben und eine lange, langweilige, unwahre Rede halten. Über Durchhalten und ewige Liebe. Eigentlich könnte er seine Ansprache vom Firmenjubiläum wiederholen.
   »Mein Dank gilt meiner langjährigen Angestellten, Nane. Sie war immer eine zuverlässige Haushälterin, Gärtnerin, Köchin und Erzieherin meiner beiden wunderschönen Töchter. Wäre sie nicht gealtert, würde sie auch eine Auszeichnung für geleistete Liebesarbeit erhalten.« Nane ist frustriert. Sie wäre auch gern begehrenswert und geliebt. Ich hole ein Fotoalbum aus dem Haus.
   »Das hat Steffen mir letzte Woche geschickt«, sage ich und grinse beim Anblick der Bilder.
   »Mein Gott, waren wir jung und schön.«
   »Jung ja. Aber schön? Du warst eine unendlich hässliche Braut und mein Outfit war auch nicht viel besser«, lache ich albern und kann mich kaum auf dem Stuhl halten. Nane findet das nicht. Sie mag ihr Kleid mit den riesigen Schulterpolstern und ist der Meinung, dass ihr die Frisur heute noch stehen würde. Ich sehe mir das Viererbild an. Das Brautpaar und die Trauzeugen.
   »Yannik, der war schon heiß.« Norberts bester Freund und Geschäftspartner hätte mir schon gefährlich werden können. Aber die alte Marie war treu und hatte damals nur Augen für Steffen.
   »Er hat sich kaum verändert. Vielleicht hat er ein wenig zugelegt. Aber seine Figur ist noch immer tipp top. Er hat noch volle Haare, anders als Norbert.« Das Betrachten der Bilder macht Nane traurig.
   »Wenn ich damals gewusst hätte, wo ich nach fünfundzwanzig Jahren stehe, hätte ich besser Reiß aus genommen.« Ich erkläre ihr, dass es nie zu spät ist, sein Leben in die Hand zu nehmen.

Der Gastronom René begrüßt mich und meine Begleitung mit Küsschen. Nane ist irritiert. Sie wurde schon lange nicht mehr geküsst. Die Leute am großen Stammtisch sprechen Deutsch, Englisch und Französisch. Nane weiß nicht, wer sich mit wem in welcher Sprache unterhält und sitzt ein wenig verloren dabei. Sie bestellt sich ein drei Gänge Menü und lässt sich den Wein schmecken. Als der Musiker Gilbert mit seiner Gitarre auf die kleine Bühne geht und mich durch das Mikrophon persönlich begrüßt, staunt sie.
   »Du bist ja hier bekannt wie ein bunter Hund.«
   »Und beliebt wie nie!« Nane sieht in das Gesicht eines attraktiven Mannes, der ein kleines Mädchen an der Hand hält und sich neben sie setzt.
   »Du musst Tobi sein. Ich bin Nane, Maries alte Freundin aus Hamburg.« Ich schaue demonstrativ zur anderen Seite. Nane beginnt das Gespräch mit der Frage nach der Kleinen.
   »Es ist schon so spät. Muss sie nicht langsam ins Bett?«
   »Hier im Süden ist es üblich, dass kleine Kinder abends mitkommen«, sagt er. Er sieht ständig zu mir rüber, erhascht aber  keinen Blick von mir. Er bittet Nane, ein Auge auf seine Kleine zu werfen und geht zu dem Musiker auf die Bühne. Tobias stellt sich einen zweiten Barhocker dazu und beginnt mit Gilbert zu singen. Pour que tu m'aime encore. Sie singen das Lied zur Freude aller Gäste. Mit Ausnahme von mir. Ich winke René zu und zeige an, dass ich zahlen und gehen will. Der Restaurantbesitzer kennt dieses Ritual schon. Es wiederholt sich bereits zum dritten Mal. Wenn Tobias diese Liebeshymne anstimmt, verlasse ich notfalls auch ohne zu zahlen das Lokal.
   »Ich habe versprochen, auf die Kleine aufzupassen« . Nane will noch nicht gehen. René fordert sie zum Tanzen auf. Entzückt geht sie mit ihm auf den schmalen Bürgersteig, um sich zur Musik zu bewegen.
   »Quatsch mich nicht an und nimm die Hand von meiner Schulter!«, schimpfe ich. Tobias sieht mich mit seinem Dackelblick an und bettelt.
   »Marie, sprich doch endlich wieder mit mir. Ich liebe dich doch so. Warum bist du so stur?« Ich stehe auf und gehe zum Bezahlen an den Tresen.
   »Sie will mir nicht verzeihen«, sagt Tobi zu Nane und entschwindet mit Clara auf seinen Schultern in die laue Nacht.
   »Er hat mich eingeladen. Er will morgen Abend mit mir essen und tanzen gehen.«
   »Tobi hat dich eingeladen?«, frage ich entsetzt.
   »Nein, der Wirt.« Ich beruhige mich. Ich kenne René gut. Er ist ein Frauenheld. Aber für Nane vielleicht der Beste, der sie von ihren trüben Gedanken abbringen kann.
   »Deinen Tobi finde ich ja zum Anbeißen. Er hat gesungen wie Sting. Für mich hat noch nie ein Mann gesungen«, sagt sie bekümmert. Sie ist blau und selig. Ich erspare mir jeden Kommentar und fahre mit ihr heim.

Nane ist aufgeregt wie ein Teenager. Sie hat ihren alten Koffer nach einem passenden Outfit durchsucht. Jogging Anzug, Bademantel und zwei Kostüme.
   »Da kommt ja wohl nichts von in Frage«, spotte ich und ziehe sie in mein Ankleidezimmer. Aber die Erkenntnis, dass ich mittlerweile eine Größe 36 trage, macht die Schmach für sie nur noch größer.
   »Wenn ich jetzt mit der Kreditkarte shoppen gehe, kriegt Norbert sofort raus, dass ich bei dir bin«, jammert sie. Ich spendiere ihr ein niedliches Sommerkleid und passende Schuhe.
   »Das Geld gebe ich dir nächste Woche wieder, wenn du zu meiner Silberhochzeit kommst.«
   »Nur wenn du mir erlaubst, dir noch einen Friseurbesuch zu zahlen.« Ich wundere mich über meine alte Freundin. Sie ist mit einem wohlhabenden Geschäftsmann verheiratet. Sie hätte das nötige Kleingeld, um sich chic zu machen. Aber Äußerlichkeiten scheinen ihr nicht wichtig zu sein. Am Nachmitttag verwandelt sich die Trutsche in eine attraktive Frau.
   »Mein Hintern ist ganz schön breit«, stöhnt sie vor dem Spiegel.
   »Du hast eine völlig falsche Sichtweise, meine Liebe. Sag dir doch, ich habe einen mördergeilen, breiten Arsch. Das wird der Grund sein, weshalb René heute mit mir ausgehen will.« Nane sieht mich ungläubig an, folgt aber meinem Rat und sagt: »Und Mördertitten hab ich auch. Aber guck doch mal, der Slip zeichnet sich ab.« Wo sie Recht hat, hat sie Recht.
   »Dann lass ihn weg«, sage ich und Nane geht zu ihrem ersten Date seit fünfundzwanzig Jahren »unten ohne«. Ich fahre meine Freundin in den Ort und wünsche ihr viel Vergnügen. Zum zweiten Mal ziehe ich meine Bahnen im Pool. Ich grille mir ein Thunfischsteak und esse es ohne Beilagen und ohne großen Appetit. Früher habe ich gern gekocht und gegessen. Die Lust an kulinarischen Genüssen verabschiedete sich mit Tobi aus meinem Leben. Immerhin zwinge ich mich zu einer Mahlzeit am Tag. Lustlos führe ich die Gabel an meinen Mund, als es an der Tür klingelt. Ich sehe durch den kleinen Monitor und erkenne, Tobias, der am Gartentor steht. Sofort lösche ich das Licht im Haus und gehe ins Bett. Niemals werde ich ihm verzeihen!

»Er hat mich am Strand geliebt«, berichte Nane am Morgen und sie ist immer noch außer sich. »Das habe ich noch nie gemacht. Eigentlich ist er mir völlig fremd. Es ist einfach passiert. Wenn Norbert das wüsste, würde er ausflippen.« Eigentlich meint Nane, wenn Norbert das wüsste, würde er sie in die Klapse bringen. Denn so etwas traut er seiner Haushälterin nie im Leben zu. Er würde annehmen, seine Frau leidet unter Halluzinationen. Ich denke daran, wie oft Tobi mich am Strand geliebt hat, aber ich verwerfe den Gedanken an ihn sofort und frage: »Hat es sich gelohnt?« Nane schwelgt in erotischen Erinnerungen. »Ich lasse mich scheiden und suche mir einen Franzosen«, lacht sie. Jetzt muss ich eingreifen.  
   »René ist kein Mann fürs Leben. Er schleppt seit Jahren Touristinnen ab und kommt während der Hauptsaison oft in arge Bredouille, wenn mehr als zwei seiner Eroberungen hier zeitgleich eintreffen. Nimm die Geschichte mit ihm bitte nicht so wichtig!«
   »Er will mich heute wiedersehen. Wir beide sollen abends zum Essen kommen. Nach Ladenschluss werden wir unsere Strandspiele wiederholen.« Sie ist von ihrer Idee nicht abzubringen. Angesichts der Einladung zum Abendessen kann ich mir den Großeinkauf ersparen. Den Tag genießen wir bei Wasser und Wein in der Sonne. Nane trinkt Wein. Sie leert ihr Glas in großen Schlucken. Sie scheint in Übung zu sein, denn der Genuss des Rebensaftes zeigt keine auffallende Wirkung bei ihr. Abends gehen wir gemeinsam ins Restaurant. Ich nehme eine Seezunge ohne Beilagen und trinke eine Weißweinschorle. Nane wählt wieder das große Menü und erfreut sich an der vorzüglichen mediterranen Küche.
   »Ich esse für mein Leben gern«, lacht sie in die internationale Runde.
   »Das mochte Marie früher auch. Jetzt bestraft sie sich und mich mit Wasser und Fisch und wird immer dünner. Aber selbst, wenn du nur noch Haut und Knochen bist, werde ich dich lieb haben«, sagt Tobias und gibt mir vor allen Beteiligten einen Kuss auf den Mund. Ich lächle gekünstelt und würde ihm am liebsten das Fischmesser in den Bauch rammen.
   »Meine Marie war eine warmherzige Frau. Mit Witz, Charme, Humor, Lebenslust und ungebrochener Leidenschaft. Jetzt ist sie schlank und dauerböse«, sagt Tobias und erntet Lacher der deutschsprachigen Gäste.
   »Vielleicht hättest du sie nicht so verletzten dürfen. Manchmal hilft es, die Schuld bei sich zu suchen. Wenn es dir ernst wäre, würdest du hier keine Sprüche klopfen, sondern Taten sprechen lassen.« Das ist Nanes Generalprobe. Genau das, will sie ihrem Ehemann nach ihrer Rückkehr auch sagen.

Die letzten beiden Abende überlasse ich meiner Freundin den Wagen. Für mich sind die Abendessen bei René nach Tobias Auftritt gestrichen. Unfassbar, wie dreist er sich in der Öffentlichkeit benimmt. Nane fängt sich zum Abschied einen dicken Knutschfleck ein. Aber sie ist entspannt. Norbert würde ihn nicht entdecken. Solange ihre Brüste nicht silikonverstärkt sind, hat er kein Interesse an ihrer Büste.

Nane und ich fliegen gemeinsam von Nizza nach Hamburg. »Diese fünf Tage bei dir, waren die schönsten, an die ich mich seit langer Zeit erinnern kann«, sagt sie. Gleich nach dem Fest will sie mit Norbert sprechen. Auch ihr Leben soll sich schlagartig ändern. Sie ist nun bereit, die Stelle als seine Haushälterin zu kündigen und findet, dass ihr nach fünfundzwanzig Jahren mehr zusteht, als abgezähltes Haushaltsgeld. Sie will künftig auf Urlaubsreisen bestehen. Gern auch ohne Mann. Ein eigenes Konto steht auch auf ihrer Forderungsliste. Voller Tatendrang besteigt Nane ein Taxi und winkt mir mit den Worten zu: »Wir sehen uns morgen.«

Nicht in bester Lage, aber nahe seiner Gesundheitspraxis, liegt Steffens Drei Zimmer Wohnung. Die einzige Frage, die ihn wirklich interessiert, ist die nach meinem Status.
   »Ich bin noch Single, Steffen.« Ich übernachte bei ihm und schlafe in seinem Bett. Nach Jahren, gebe ich ihm das erste Mal wieder nach.
   »Es war nur Sex! Mach bitte keine große Sache daraus«, sage ich und küsse ihn auf die Stirn. Danach drehe ich mich von ihm ab und bereue zutiefst, denn ich weiß, dass er das anders sieht.

Steffen macht das Frühstück und kocht grünen Tee. Seitdem er als selbstständiger Heilpraktiker arbeitet, trinkt er gar keinen Kaffee mehr. Ich schon. Ich bin unausstehlich, wenn ich meinen Morgenkaffee nicht bekomme.
   »Du bietest mir doch nicht wirklich deine grüne Plörre zum Frühstück an«, schimpfe ich. Steffen lacht. Er liebt es, mich wütend zu machen. Er öffnet eine Schranktür und zeigt mir stolz seine neue Errungenschaft. Mit den Worten, »Nur für dich«, präsentiert er seine nagelneue, italienische Kaffeemaschine.
   »Espresso, du kleiner Kaffee Junkie?«
   »Einen Doppelten ohne Zucker, bitte.« Ich bin gerührt und während ich meinen doppelten Schwarzen trinke, denke ich darüber nach, wie Steffen und ich unsere eigene Silberhochzeit feierten.
   »Da waren wir und unsere Gäste noch knackig«, sage ich mit Blick auf meinen Noch Ehemann.
   »Du warst dreiundvierzig und ich achtundvierzig. Wenn ich dich so ansehe, finde ich, dass du dich super gehalten hast. Für meinen Geschmack bist du jetzt zu dünn. Aber wenn es dich glücklich macht«, sagt er und will sich zum Dank für sein nettes Kompliment einen Kuss abholen. Ich lasse ihn ungeküsst stehen und gehe unter die Dusche. Ich habe noch weniger Lust auf die Feier als die Silberbraut. Mit einem T Shirt und einem Handtuchturban auf dem Kopf verlasse ich das Badezimmer. Steffen hat den alten Dia Projektor angeworfen und sieht sich Familienfotos aus alten Zeiten an. Ich mag seinem sentimentalen Ausflug in die alten Zeiten nicht beiwohnen. Allerdings beim Anblick der Bilder unseres kleinen Sohnes Frederik kann ich nicht widerstehen. Ich hocke mich zu ihm auf den Boden und begleite ihn auf seiner Reise in die Vergangenheit. Als ich das Foto unseres ersten barbezahlten Autos sehe, kreische ich vor Freude.
   »Unsere Ente! Weißt du noch? Meine Güte, habe ich diesen Wagen geliebt. Zu schade, dass Citroen dieses tolle Auto nicht mehr baut. Für eine 2 CV würde ich mein Cabrio sofort eintauschen.«

Nane sitzt Norbert beim Frühstück gegenüber. Sie hat schon geduscht und sich ihre neue Frisur frisch geföhnt. Vergeblich wartet sie auf den Kommentar ihres Mannes. Die Veränderung scheint ihm noch nicht einmal aufzufallen, denkt sie.
   »Freust du dich auf den Abend«, will er von ihr wissen.
   »Ja sicher«, sagt sie ohne ihn dabei anzusehen. Norbert überreicht ihr eine kleine Schmuckschatulle über den Küchentisch. Es ist das vierundzwanzigste Mal, das sich dieser Brauch wiederholt. Diesmal gibt es einen Ring mit einem leuchtenden Rubinstein.
   »Wenn ich heute den gesammelten Schmuck trage, den du mir im Laufe unserer Ehe geschenkt hast, dann kann ich als Liberace auftreten«, sagt sie.
   »Für deine schlechte Laune hast du dir ja den perfekten Tag ausgesucht. Ich hoffe, du kriegst dich bis heute Abend wieder ein. Es kommen wichtige Leute und ich möchte nicht, dass du uns mit deiner miesen Stimmung das Fest versaust!« Norbert steht auf und verlässt die Küche. Nach einigen Minuten verabschiedet er sich mit seiner Sporttasche und ruft: »Ich bin gegen vier wieder da. Sorge dafür, dass ich dann ins Bad kann!« Nane wartet bis sein Wagen die Auffahrt passiert und öffnet eine Flasche Champagner. Sie nippt am Glas und stellt die angebrochene Flasche schnell zurück in den Kühlschrank. Für ihr Vorhaben braucht sie einen klaren Kopf. Sie setzt sich in ihr Cabrio und fährt mit geöffnetem Verdeck in die Stadt. Ihr Weg führt sie direkt zur Bank. Dort plündert sie das Girokonto, für das sie zumindest eine Vollmacht hat. Danach kauft sie zwei neue Koffer. Sie gönnt sich das Modell mit Rollen. Ihre Sommersachen und ihre umfangreichen Schmuck Kollektion sind schnell gepackt. Danach verstaut sie alles im Kofferraum ihres Wagens. Gegen 16.00 Uhr ist sie fertig geschminkt und für den Anlass passend angezogen. Sie übergibt das freie Bad an ihren lieblosen Mann und verabschiedet sich. »Wir sehen uns im Lokal. Ich fahre vor und sehe nach, ob alles wie verabredet geklappt hat.«

Das Gartenlokal füllt sich. Nobert hat einen wirklich schönen Ort für die Feier ausgesucht. Das feine Restaurant liegt in einem grünen Park mit Seeanbindung. Nane begrüßt die ihr bekannten Gäste und macht mich mit ihren Freundinnen und Nachbarinnen bekannt. Steffen verweilt nur kurz am Frauentisch und mischt sich danach schnell unter das Männervolk. Ruth, Christina und Susanne schauen ihm lechzend hinterher. Sie sind alle geschieden und verzweifelt auf der Suche nach einem Neuen.
   »Für Frauen in unserem Alter ist es schwer einen neuen Partner zu finden«, klagt Susanne. Sie wurde nach fünfzehn Ehejahren von ihrem Mann verlassen. Seither gibt sie Inserate auf, geht zum Speed Dating und nahm schon zweimal an einer Mittelmeer Kreuzfahrt teil. Bisher lernte sie nur Looser kennen. »Du glaubst gar nicht, was ich da schon erlebt habe. Der Letzte gab sich als sportlicher Unternehmer mit Interesse an Kultur und Reisen aus. Bei unserem ersten Treffen stieß ich auf einen dickbäuchigen, alkoholabhängigen, langzeitarbeitslosen Lageristen mit Ehefrau und drei Kindern.« Ich glaube ihr aufs Wort. Ein Blick in die Männerrunde macht deutlich, dass attraktive Einzelexemplare in dieser Altersklasse die Ausnahme sind. »Die Männer, die noch was her machen, haben alle jüngere Frauen«, sagt Christina.
   »Entweder sie sind verheiratet oder sie haben einen Knall!«, meint Ruth. Das Trio hat es gemeinschaftlich auf Steffen abgesehen. Ruth pirscht sich zuerst an ihn heran. Sie lacht schrill und kommt nach fünf Minuten wieder an den Frauentisch zurück.
   »Du hättest uns gern sagen können, dass Steffen dein Ehemann ist«, sagt sie beleidigt. Die Kellner tragen die Vorspeisen an die Tische und Norbert bittet seine Gäste, Platz zu nehmen. »Rette mich«, bettelt Steffen und küsst mich demonstrativ auf den Mund.
   »Nun sei mal nicht so wählerisch. Denke an deine Zukunft. Ich bin morgen wieder weg.« Norbert schlägt mit einem Löffel an sein Glas und erhebt sich feierlich. Ein leichtes Raunen durchfährt die gesamte Gästeschar. Jeder weiß, dass nun eine seiner langen Ansprachen folgt. Als das Gemurmel an den Tischen verstummt, ruft Nane: »Liebe Gäste. Heute halte ich die Rede. Nur kurz, versprochen! Wir feiern heute fünfundzwanzig Jahre Ehe Marathon. In der Sprache der Juristen spricht man von lebenslänglich. Ich habe meine Freiheitsstrafe geduldig abgesessen und beschlossen, mich mit dem heutigen Tag, selbst zu begnadigen.« Sie richtet den Blick auf den Silberbräutigam und sagt: »Norbert, während du heute deine Zeit auf dem Tennisplatz verbracht hast, habe ich bei einem Rechtsanwalt die Scheidung eingereicht. Und nun bitte ich alle Geschäftsleute, die ich gar nicht kenne, zu gehen. Mit meinen Freunden möchte ich jetzt auf mein neues Leben anstoßen und feiern. Prost Ihr Lieben!« Nane strahlt und sieht in die verblüfften Gesichter ihrer Gäste. Mir stockt der Atem. Die ersten Geschäftspartner von Norbert kommen ihrer Aufforderung nach und verlassen das Fest. Der Silberbräutigam ist kreidebleich und schaut seine Frau fassungslos an.
   »Das hat ein Nachspiel!«, sagt er drohend und verlässt den Tisch. Nane wendet sich dem Diskjockey zu und fordert ihn auf, laute Tanzmusik zu spielen. »Das ist hier keine Trauerfeier!» Sie holt sich eine große Portion vom Dessert Buffet und zieht sich die hohen Schuhe aus. Mit ausgestreckten Beinen löffelt sie ein Kilo Mousse au Chocolate aus der großen Schüssel und beobachtet den geordneten Abzug der vielen Fremden. Yannik, der damalige Trauzeuge des Bräutigams kommt auf mich zu.
   »Hast du etwa von ihrem Plan gewusst?«
   »Nein, soviel Courage hätte ich ihr auch nie zugetraut«. Gemeinsam gehen wir beide zur Bar. Ich erhalte Komplimente für mein nettes Aussehen. Er zeigt sich beeindruckt von meinem Erfolg. Norbert hat ihm von den Auftritten im Teleshopping erzählt. Daraufhin hatte er mal rein geschaltet.
   »Da hinten steht Mabel«, sagt er und zeigt auf eine junge Frau mit langen blonden Haaren.
   »Deine Tochter oder deine Frau?«
   »Meine Frau«, sagt er empört.
   »Niedlich! Meinem Sohn wäre sie zu jung!«
   »Du bist immer noch so unverblümt direkt wie früher.« Ich sehe mir diesen Mann genauer an. Nane hat Recht. Er hat sich kaum verändert. Seine blonden Haare sind bestimmt nicht mehr naturblond, aber das Gesamtbild stimmt. Ich winke ihn mit dem Zeigefinger dichter an mich heran und beuge mich vor, als wenn sie ihm etwas zuflüstern will. Es ist aber nicht meine Absicht, ihm etwas zuzuflüstern. Ohne Vorwarnung küsse ich seinen Mund.
   »Das wollte ich schon vor fünfundzwanzig Jahren machen«, lache ich. Nanes Mut wirkt irgendwie ansteckend.
   »Warum musste ich dann solange darauf warten?«
   »Ich war glücklich verheiratet, wenn du dich erinnern kannst.« Yannik zieht mich auf die Tanzfläche. Bevor die junge Mabel uns auseinander bringt, tauschen wir Adressen und Telefonnummern aus.
   »Ich hoffe, ich muss nicht wieder fünfundzwanzig Jahre auf den nächsten Kuss warten.«
   »Die Chance, dass wir uns auf der goldenen Hochzeit von Nane und Norbert wiedersehen, ist wohl eher gering.« Ich gehe zur Silberbraut, die sich lautstark von ihren Freundinnen feiern lässt.
   »Ich habe alles vorbereitet. Meine gepackten Koffer liegen im Auto. Würdest du mich noch ein paar Tage in Frankreich ertragen?« Wie kann ich ihr diese Bitte abschlagen. Steffen fährt Nane und mich zu sich nach Hause. Wir Frauen belagern sofort sein gemütliches Doppelbett. Ihm bleibt die Couch. So hat er sich den letzten Abend mit seinem alten Mädchen nicht vorgestellt. Er ist sich nicht sicher, ob er seine Wut auf den Störenfried oder auf seine hemmungslose Noch Ehefrau richten soll. Das Geplänkel zwischen mir und Yannik hat er wohl bemerkt. Und es gefällt ihm ganz und gar nicht.

Früh fahren wir mit dem Taxi zum Lokal, um in Nanes Wagen umzusteigen. Wir sind in Höhe Hannover, als ich die erste SMS von Yannik erhalte.
Was hast du bloß mit mir angestellt? Du gehst mir nicht mehr aus dem Kopf.
Ich kreische, denn ich kann noch immer nicht begreifen, wie furchtlos ich bei ihm vorging. Nane und ich sind in Höchststimmung. Hinter Frankfurt kehren wir zum Mittagessen ein. Wir bestellen uns jeder ein paniertes Schnitzel mit Bratkartoffeln. Während ich bei jedem Bissen daran denke, wie viele Bahnen im Pool wohl nötig sind, um diese Portion wieder abzuarbeiten, verspeist Nane noch einen Milchreis mit Kirschen zum Nachtisch.
   »Norbert wird ausrasten, wenn er erfährt, dass ich nicht nur die Hälfte des Hauses, sondern auch die Hälfte seiner Firmenanteile beanspruche. Wenn die Scheidung durch ist, bin ich eine reiche Frau. Dann kaufe ich mir auch ein Haus auf deinem Hügel und lebe wie eine Liebesgöttin in Frankreich«, lacht sie.
   »Du weißt, dass es Jahre dauern kann, wenn er sich querstellt!» Nane hat abrupt keinen Appetit mehr und lässt den Rest der weiß roten Pampe stehen.
   »Ich kann höchstens ein halbes Jahr ohne sein Geld durchhalten. Notfalls werde ich den Schmuck verkaufen. Da sind ohnehin kaum Stücke dabei, die mir etwas bedeuten.« Sie ist fest entschlossen. Ich bestehe darauf, in Lyon ein Hotel anzufahren.
   »Auch wenn du sparen musst, werde ich mich heute Nacht nicht zu Tode fahren. Zehn Stunden im Auto reichen meinem Rücken«, sage ich und frage nach zwei Einzelzimmern. Ohne Abendessen gehe ich auf mein Zimmer und schicke Yannik eine Nachricht.
Gute Nacht. Ich gehe jetzt schlafen und werde hoffentlich von dir träumen.
Es dauerte keine zehn Minuten und mein Telefon klingelt. Er sagt mir, dass ihn zuvor noch keine Frau so frech angemacht hat. Die meisten Avancen bekommt er von seinen jungen Mitarbeiterinnen, bei denen er sich nicht sicher ist, ob sie an seinem Geld oder tatsächlich an ihm interessiert sind. So erging es ihm auch mit Mabel. Sie arbeitete als seine Sekretärin. Seit zwei Jahren sind sie verheiratet. Mabel wünscht sich Kinder. Er sich nicht. Yannik ist bereits Vater einer fünfzehnjährigen Tochter aus erster Ehe. Wir plaudern über eine halbe Stunde. »Wann sehe ich dich wieder? Lass uns keine Zeit vergeuden. Wir sind keine dreißig mehr.« Ich verspreche, mich nach meiner Ankunft wieder bei ihm zu melden. Ich schlafe erschöpft ein. Geträumt habe ich in der Nacht nicht von ihm.

Nane zieht in das Gästezimmer, das sie schon bei ihrem ersten Besuch bewohnte. Sie schaut aus dem Fenster. Als sie den Gärtner erblickt, fragt sie, ob es nicht besser sei, wenn sie die Gartenarbeit übernehmen würde.
   »Du sparst dir das Geld und ich hab kein schlechtes Gewissen, wenn ich hier umsonst bei dir wohne.« Ich bekomme einen Schreck. Nane scheint sich auf einen längeren Aufenthalt eingestellt zu haben. Ich will keine Frauen Wohngruppe mit ihr gründen, sondern lediglich einer alten Freundin für ein paar Tage Unterschlupf gewähren.
   »Mit dem Gärtner habe ich einen Jahresvertrag. Wenn du eine Woche bei mir wohnst, werde ich das finanziell verschmerzen«, sage ich und hoffe inständig, dass Nane diesen Hinweis richtig deutet. Meine Freundin versteht. Sie geht in das Gästezimmer, packt ihren Koffer aus und zieht sich ein leichtes Sommerkleid über.
   »Ich fahre für uns einkaufen«, ruft sie mir zu. Ich bin froh, einen Moment allein zu sein. Ich nehme das Telefon und wähle die Nummer von Yanniks Firma.
   »Herr Wieland ist die nächsten Tage nicht zu erreichen. Er ist auf dem Weg nach Los Angeles zur Electronic Entertainment Messe.« Schade, denke ich und wundere mich darüber, dass er von seinen Reiseabsichten nichts erzählt hat. Nach drei Stunden kommt Nane vollbepackt zurück.
   »Wer soll das alles essen?«, frage ich entsetzt. Nane grinst.
   »Ich werde heute einige Gerichte für René zur Probe kochen. Wenn es ihm schmeckt, gibt er mir einen Job in seiner Küche. Zwar nur während der Saison, aber immerhin. Mit einem Job in der Tasche, kann ich mir hier schnell etwas Eigenes zur Miete zu suchen. Keine Angst Marie. Ich falle dir nicht lange auf die Nerven.«
   »Wo hast du deine Power die letzten Jahre versteckt?«, frage ich die neue Single Frau. Ich lasse Nane allein in der Küche werkeln und gehe in mein Atelier, um neue Muster zu zeichnen, die als Applikationen die neue Mató Kollektion schmücken sollen.
   »Es duftet ganz wunderbar«, lobe ich die fleißige Köchin. Nane füllt ihre Köstlichkeiten in kleine Plastikschalen und stapelt sie in einen großen Weidenkorb.
»Kommst du mit zu René? Ich bin so aufgeregt und würde dich gern dabei haben.« Ich sage zu. Während Nane mit dem Restaurantbesitzer in der Küche verschwindet, setze ich mich an einen freien Platz an den Stammtisch und plaudere mit Bekannten. »Sie ist eine Meisterköchin«, lobt René seine neue Aushilfsköchin und stellt ein Tablett mit einer Auswahl ihrer Gerichte zum Probieren auf den Tisch. Nane bestellt eine Flasche Wein, um sich den Residenten persönlich vorzustellen. Sie prostet jedem zu und lacht. Das Tempo, dass sie vorlegt, um sich in diesen elitären Kreis einzuführen, befremdet mich. Wofür ich selbst Monate gebraucht habe, gelingt Nane in nur fünf Minuten.
   »Wo hast du deine Freundin bloß die ganze Zeit versteckt?«, fragt Tobi, der sich von hinten an uns heranschleicht. Er probiert sich durch alle Gerichte und rühmt ihre Delikatessen in höchsten Tönen.
   »Nun bring dich mal nicht um!«, zicke ich ihn an.
   »So lecker hast du früher auch gekocht.«
   »Lass deine Spitzen und verzieh dich!« Bisher habe ich in Gegenwart anderer Leute stets Haltung bewahrt, diesmal hat er den Bogen überspannt.
   »Du bist eifersüchtig!«, lacht er und seine Genugtuung ist ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich bin dir doch nicht gleichgültig«, freut er sich. Ich bitte Nane, meine Rechnung zu übernehmen und bin im Begriff aufzubrechen, als ich zwei Hände auf meiner Schulter spüre.
   »Ich habe es in vierzehn Stunden geschafft«, lacht Yannik. Ich bin total überrascht ihn zu sehen, nutze aber den Moment und umarme und küsse ihn vor Tobias Augen lange auf den Mund.
   »Daran könnte ich mich gewöhnen«, sagt er und setzt sich. Nane schenkt ihm ein Glas Wein ein und fragt, ob er Hunger hat.
   »Um Yanniks Hunger kümmere ich mich selbst«, sage ich und freue mich, dass ich wieder Oberwasser habe.
   »Möchtest du hier essen oder wollen wir gleich zu mir fahren?«, frage ich ihn kokett. Tobias hat es die Sprache verschlagen. Ungläubig sieht er zu, wie ich diesem Beau ständig etwas ins Ohr flüstere und danach in albernes Lachen ausbreche. Er verlässt das Lokal, ohne sich zu verabschieden.
   »Du bist doch bestimmt müde von der Fahrt?« Yannik wünscht sich einen Spaziergang durch den Ort. Hand in Hand bummeln wir durch die engen Gassen.
   »Wir haben nur einen Tag. Morgen Abend muss ich zurück. Meinen Flieger nach Los Angeles darf ich nicht verpassen.« Er spricht von Norbert und der Firma.
   »Wenn Nane ihre Drohung wahr macht und sich scheiden lässt, bringt sie die Firma in Gefahr«, sagt er. Ich bin enttäuscht.
   »Ist das der Grund deines Besuches?«
   »Ich wollte von dir geküsst werden. Das war mein Motiv!«

Als wir zu Hause auf der Terrasse sitzen und Yannik in den beleuchteten Garten sieht, sagt er: »Du hast es hier so schön. Da kommt mir meine Frage richtig albern vor. Ich wollte dich bitten, mich in die USA zu begleiten. Gern wollte ich dich in mein Strandhaus einladen, um dich zu beeindrucken. Aber wenn ich mich hier umsehe, muss ich eingestehen, dass es eine dumme Idee ist.«
   »Du musst mich nicht beeindrucken. Geld bedeutet mir nichts.«
   »Womit kann ich denn brillieren«, fragt er. »Ich bin verheiratet. Ich bin nicht jünger als du. Meine freie Zeit ist begrenzt und uns trennen 1700 km Entfernung. Was soll das mit uns werden?«
   »Ich bin auch verheiratet. Es ist schön, dass wir im gleichen Alter sind und beide keinen Kinderwunsch mehr haben. Ich bestimme selbst über meine freie Zeit und 1700 km können in weniger als drei Flugstunden zurück gelegt werden.«

Am nächsten Morgen schlendern wir über den Markt. Wie in guten alten Zeiten kaufe ich Obst, Gemüse, Fisch und Wein. Ich will zusammen mit ihm kochen. Er sucht nach einer passenden Badehose, denn ich habe versprochen am Nachmittag mit ihm im Meer zu schwimmen.
   »Du verstehst dich aufs Leben«, sagt er als wir im heißen Sand liegen.
   »Ich danke dir, dass du mir die Augen geöffnet hast. Ein Tag mit dir hat mir gezeigt, dass ich einen falschen Weg eingeschlagen habe. Ich scheffle Geld und habe selbst gar keine Zeit, es auszugeben.« Er sieht auf die Uhr und zeigt an, dass es Zeit ist, aufzubrechen.
   »Die Badehose würde ich gern hierlassen«, lacht er und ich finde, dass das eine gute Idee ist. »Bis bald«, rufe ich ihm hinterher.

»Du kannst aufhören, die Makler abzuklappern. Es gibt hier nichts zur Miete. Häuser, Villen und Appartements werden für horrende Wochenmieten an Urlauber vergeben. Ohne Beziehungen geht hier gar nichts.« Ich finde, dass es langsam Zeit wird, dass Nane wieder abreist. Ich habe ihr mittlerweile fünf Wochen Unterschlupf gewährt, aber meine Freundin macht keine Anstalten, sich zu verabschieden. Sie öffnet weder die Post ihres Anwalts noch ruft sie ihn zurück. Sie fühlt sich pudel wohl. Die Arbeit im Restaurant macht ihr Spaß und die nächtlichen, amourösen Treffen mit ihrem Arbeitgeber stärken ihr Selbstbewusstsein.  
   »In der nächsten Woche kommt meine Familie zu meinem Geburtstag. Dann brauche ich das Zimmer. Nane, sei mir nicht böse, aber ich dachte nicht an eine Dauerlösung.« Beleidigt antwortet sie: »Keine Sorge. Ich ziehe sofort aus«. Sie packt ihre beiden Koffer und zieht sie hoch erhobenen Hauptes lässig zu ihrem Wagen.
   »Hast du eine Wohnung gefunden?«
   »Ich ziehe zu Tobias. Er hat mir ein Zimmer vermietet und ich kümmere mich dafür um seine kleine Tochter, wenn er beschäftigt ist.« Ich hoffe, mich verhört zu haben.
   »Das kannst du nicht bringen!« Das ist ein Dolchstoß!
   »Ich schlafe nicht mit ihm. Er sieht nur eine gute Freundin in mir«, versucht Nane zu beschwichtigen. Mich beschleicht das dumme Gefühl, dass Nane mit allen Mitteln versucht, meinen Platz einzunehmen. Bei meinen Residenten Freunden ist es ihr schon gelungen. Bei René macht sie sich unentbehrlich. Nun streckt sie ihre Fühler auch noch nach Tobias aus.
   »Wenn das der Dank ist, dann wünsche ich dir viel Glück«, sage ich und gehe ins Haus zurück. Mein Anrufbeantworter blinkt. Yannik bittet darum, dass ich mich melden soll.
   »Magst du mich morgen vom Flughafen abholen? Ich habe uns drei Tage frei geschaufelt.« Ich freue mich auf die gemeinsame Zeit. Nun habe ich das Haus wieder für mich allein und meine Familie trudelt erst nach seiner Abreise ein.

Er begrüßt mich freudig und versichert mir, mich unendlich vermisst zu haben. Aber ich spüre während der einstündigen Fahrt, dass er nicht bei der Sache ist.
   »Wo bist du mit deinen Gedanken? Hast du Mabel gegenüber ein schlechtes Gewissen?« Er verneint. Erst nach dem Abendessen rückt er mit der Sprache heraus.
   »Ich stehe vor großen Problemen in der Firma. Ein Mitbewerber hat unser neues Computerspiel auf der Messe in Los Angeles vorgestellt. Zwei Jahre Entwicklungsarbeit dahin. Wenn Norbert die Kuh nicht vom Eis kriegt, können wir einpacken.« Ich nehme ihn in den Arm.
   »Welche Konsequenzen hätte das für dich persönlich?«
   »Das bedeutet mein berufliches Aus. Oder glaubst du, ich fange nach sechsundzwanzig Jahren in meinem Alter noch einmal neu an?« Ich will ihn nicht mit Kalendersprüchen trösten, finde aber, dass das Alter kein schlagkräftiges Argument ist.
   »Ich hätte die Kraft noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Ein Neustart hat etwas Reinigendes, Befreiendes und Aufregendes.« Ich stelle die These auf, dass man spätestens alle zehn Jahre sein Leben neu ordnen sollte. »Denk mal darüber nach! Aber bitte nicht jetzt. Ich möchte die Zeit mit dir genießen.« Ich klettere auf seinen Schoß und beginne ihn zu küssen.
   »Komm lass uns schwimmen, das macht den Kopf frei.« Yannik fragt nach seiner Badehose.
   »Die brauchst du nicht. Hier kann nur ich dich sehen«, lache ich und ziehe ihn ins Wasser.

Gern hätte ich neben meinem Liebhaber lange ausgeschlafen. Aber das Dröhnen des Rasenmähers weckt uns schon um halb neun auf.
   »Lass uns am Strand frühstücken«, schlage ich vor. Zwanzig Minuten später trinke ich meinen obligatorischen Doppelten ohne Zucker und füttere ihn mit Butter Croissants.
   »Wie schaffst du es nur, mir ein so gutes Gefühl zu geben. Wenn wir zusammen sind, fühle ich mich rund um wohl. Du bringst es sogar am Telefon fertig, dass mein Herz schlägt, als wäre ich zwanzig Jahre jung.« Wir machen einen Strandspaziergang. Er bestaunt die weißen Yachten, die in der Bucht vor Anker liegen.
   »Würde dich so ein Motorboot reizen«, will er wissen.
   »Nicht die Spur! Wenn ich mit nackten Füßen durch die flachen Wellen gehen kann, dann bin ich zufrieden.« Als wir zum Wagen zurück gehen, klemmt ein weißer Zettel unter dem Scheibenwischer.
   »Hast du ein Knöllchen bekommen?« Ich falte den Zettel auseinander und lese den Satz Ich verachte dich. Erschrocken knülle ich das Papier zusammen und stecke es in die Hosentasche.
   »Nur Werbung«, lüge ich und fahre in schnellem Tempo zurück zum Haus. Der Wagen des Gärtners ist verschwunden. Ungestört können wir nun den Tag im Garten verbringen. Yannik telefoniert lange mit Norbert. Er hat keine guten Nachrichten.
   »Weiß Norbert eigentlich, dass Nane hier in Frankreich ist?« Er versichert, nichts verraten zu haben und fordert mich auf, auch Nane gegenüber Stillschweigen in Sachen Firmenpleite zu bewahren.
   »Sie hat schon den halben Ort okkupiert. Ich bereue es schon, sie hergebracht zu haben. Momentan wohnt sie bei meinem Ex und arbeitet in meinem Stammlokal. Mit all meinen Freunden ist sie per Du.«
   »Sie wird sich noch wundern. Einen großen Reibach wird sie durch die Scheidung nicht machen können. Norbert hat privat mit seinem Haus gebürgt. Wenn es zum Super Gau kommt, stehen beide mit leeren Händen da.« Yannik schlägt vor, am Abend essen zu gehen.
   »Es wird ja bestimmt noch ein anderes Restaurant geben.« Ich stimme zu. Wir bummeln durch die Altstadt und hören den Straßenmusikern zu. An einer Cocktailbar machen wir Halt. Nach dem zweiten Cocktail bin ich satt und bitte darum, wieder nach Hause zu fahren.
   »Du isst nicht genug«, stellt Yannik richtig fest.
   »Was haben bloß alle Männer an meiner Art zu essen, auszusetzen? Als ich fett war, wurde gemeckert. Jetzt bin ich endlich schlank und ihr meckert auch.« Er will nicht meckern und legt seinen Arm um meine Schultern, küsst meine Stirn und sagt: »Du bist wunderbar, so wie du bist.« Er bemerkt den bösen Blick von Tobias nicht, der uns seit einigen Minuten stillschweigend von der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtet. Mir entgeht er nicht. Als Yannik die Getränke zahlt, gehe ich auf ihn zu.
   »Ich verabscheue dich auch! Nur ich kann es dir ins Gesicht sagen und schreibe keine kindischen Zettel!« Ich greife nach Yanniks Hand und wir gehen zurück zum Wagen.

Kopf über springe ich in den Pool, um meine morgendlichen Bahnen zu schwimmen. Schon nach wenigen Minuten entsteige ich dem Wasser mit lauten Schreien.
   »Meine Haut brennt wie Feuer!« Ich laufe ins Bad und stelle mich minutenlang unter die Dusche. Yannik wäscht meinen Rücken mit einem milden Duschgel ab, aber die Rötungen gehen nicht zurück. Innerhalb weniger Minuten ist mein Körper mit roten Pusteln übersät, die schmerzen und gleichzeitig jucken. Meine Augen sind knall rot angelaufen und ich habe Schwierigkeiten zu sehen. Von der Dusche renne ich zum Pool und öffne die Abdeckplatte des Wasserzulaufs. Ich zähle fünf große Chlortabletten, die sich bereits zur Hälfte aufgelöst haben. Sofort telefoniere ich mit meinem Gärtner und drohe ihm mit einer Anzeige wegen Körperverletzung. Aber er bestreitet, etwas mit der Überdosierung zu tun zu haben. Er versichert, dass er wie üblich nur eine viertel Tablette eingelegt hat. Yannik ist bereits fertig angezogen.
   »Komm, ich fahre dich zum Arzt.« Ohne lange Wartezeit erhalte ich eine Spritze, eine Salbe und den Rat des Doktors, das Poolwasser untersuchen zu lassen. Der Juckreiz ist unerträglich und wird durch die Salbe nur schwach gelindert.
   »Ich sehe aus, als hätte ich die Masern.« Der Gärtner klingelt an der Tür. In Begleitung seines Pool Experten nimmt er eine Wasserprobe. Er bedauert mich sehr, schließt seine Schuld aber kategorisch aus. Sie füllen stundenlang Frischwasser zu, solange bis der Wert wieder normal ist. Der Tag ist im Eimer.

Am nächsten Morgen fährt Yannik mit dem Taxi ab. Er küsst mich zum Abschied und verspricht, mich bald wieder anzurufen. Erst die zweite Spritze bringt die erhoffte Linderung. Zwar ist mein Körper immer noch stark gerötet, aber der Juckreiz lässt endlich nach. Ich kümmere mich um die Vorbereitung zu meinem Geburtstag. Der Gedanke, dass die Kinder in dem verseuchten Pool gebadet hätten, lässt mich erschauern. Wer hat mir so etwas antun können? Vermutlich die gleiche Person, die den Zettel an der Windschutzscheibe hinterließ. Nach meiner Auffassung kommt nur eine Person in Frage. Tobias. Wie weit wird er noch gehen? Ich bin entschlossen, mit ihm zu sprechen. Nach meinen Einkäufen fahre ich sein Appartement an. Nane öffnet die Tür und fragt erschrocken: »Wie siehst du denn aus? Hast du einen Sonnenbrand?« Tobias ist nicht da. Ich erzähle von den Geschehnissen der letzten zwei Tage und werde von Nane bedauert. Sie ist fassungslos, will mir aber nicht zustimmen, was meinen Verdacht angeht.
   »Das würde Tobias im Leben nicht machen«, sagt seine neue Untermieterin.
   »Du kennst ihn wohl schon besser als ich!«, schimpfe ich und verlasse wutentbrannt die neue Wohngemeinschaft. Auf dem Weg nach Hause klingelt mein Telefon. Steffen will wissen, wo ich stecke.
   »Ich bin schon da und stehe vor deinem Haus.« Ich fahre auf direktem Weg Heim und staune nicht schlecht, als ich die Auffahrt herauf komme. Steffen ist mit meinem Geburtstagsgeschenk angereist. Eine rot weiße Ente parkt vor meinem Tor.
   »Die Schleife habe ich unterwegs verloren!« Ich bin sprachlos. Vergessen ist meine Wut auf Tobias.
   »Du bist der tollste Noch Ehemann, den man sich wünschen kann«, rufe ich und springe Steffen in die Arme. Aufgeregt laufe ich um meinen Citroen 2 CV und bewundere den glänzenden Lack. Die Sitze sind aus rotem Leder und auch das Verdeck scheint nagelneu.
   »Ist das etwa ein Neuwagen?«, frage ich erstaunt, »wo hast denn dieses Prunkstück aufgespürt?« Ich streichel das Auto liebevoll wie ein Rennfahrer einen teuren Formel Eins Schlitten.
   »Ich habe den Wagen für dich restaurieren lassen. Der Motor hat nur 10.000 km gelaufen. Ich sehe, du freust dich. Das ist die Hauptsache. Warum bist du so rot?« Wir tragen gemeinsam die Einkäufe ins Haus und ich berichte von dem verseuchten Pool und meiner Annahme, dass Tobias dahinter steckt. Nach einem schnellen Kaffee werde ich ungeduldig.
   »Komm lass uns eine Spritztour machen.« Ich bin so aufgeregt wie ein kleines Mädchen und starte die Ente in freudiger Erwartung auf die kurvenreiche Strecke in den Ort.
   »Es macht einen unbeschreiblichen Spaß, die Gänge mit der Revolverschaltung einzulegen«, schwärme ich.
  »Ich fühle mich wie damals, Steffen. Das ist mit Abstand das schönste Geschenk, das du mir machen konntest.« Ich rase die Küstenstraße mit Vollgas entlang und in Höhe meines Stammlokals mache ich eine Vollbremsung. In einem Zug parke ich rückwärts ein.
   »Du hast nichts verlernt«, sagt mein Noch Ehemann und steigt aus dem Wagen. René bewundert das schöne Exemplar und erzählt uns, dass auch er in jungen Jahren eine Ente fuhr. Steffen und ich bestellen Muscheln und Wein. Er erzählt von der Fahrt und der Reiseplanung der restlichen Familie. Ich nehme immer wieder seine Hand und drücke sie fest. »Dankeschön«, hauche ich ihm wieder und wieder zu, bis er sich abrupt vom Stuhl erhebt und ruft: »Komm her du Spinner. Ja, du Tobias!« Er rennt auf ihn zu und zieht ihn am Schlafittchen.
   »Ich warne dich, wenn du Marie noch einmal zu nahe kommst.« Tobias versteht kein Wort und sagt: »Du scheinst nicht im Bilde zu sein. Wir beide sind schon lange nicht mehr im Rennen. Sie hat längst einen Neuen, der ihr nahe kommt und jetzt lass mich sofort los!« Er befreit sich aus Steffens Griff und geht wortlos weiter. Steffen will nun von mir wissen, was das zu bedeuten hat.
   »Er hat mich mit Yannik gesehen«, sage ich und es ist mir unangenehm, dass Steffen so davon erfährt.
   »Yannik ist verheiratet! Was ist los mit dir Marie? Hast du gar keine Skrupel mehr? Ich erkenne dich nicht wieder!« Er bestellt bei René an der Bar einen Pastis und vermeidet es, mich anzusehen.
   »Ich werde mir ein Hotel suchen. Es ist besser so. Ich bin so wütend auf dich. Tu mir den Gefallen und lass mich jetzt allein, bevor ich dir noch sage, was ich von dir halte.« Ich fühle mich schäbig und entwickel eine unbeschreibliche Wut auf Tobias. Langsam fahre ich ab und beobachte im Rückspiegel, dass Nane sich bereits tröstend um Steffen kümmert.
   »Diese Frau ist lästig wie eine Schmeißfliege«, fluche ich laut. Ich muss rechts ran fahren, denn mir wird auf der Stelle übel und mein Magen krampft. In letzter Minute schaffe ich es ins Haus und übergebe mich. Die Muscheln haben sich im hohen Bogen wieder verabschiedet. Ich koche mir einen Tee, aber die Magenprobleme weiten sich auch noch auf meinen Darm aus. An Kochen und Vorbereiten ist nicht zu denken. Gern wüsste ich, ob Steffen mit gleichen Problemen zu kämpfen hat, aber ich traue mich nicht, ihn anzurufen. Wenn die Muscheln verdorben sind, ist es meine Pflicht, René zu informieren. Ich wähle die Nummer vom Restaurant. Wen habe ich am Telefon? Nane!
   »Sag, waren eure Muscheln schlecht? Ich kotze mir hier die Seele aus dem Leib. Ist Steffen noch bei euch? Geht es ihm gut? Er hatte auch Muscheln, wie ich.«
   »Steffen geht es gut. Er sitzt hier mit Tobi am Tresen und die beiden füllen sich ab. Mach dir keine Sorgen, ich halte ein Auge auf die Männer. Gute Besserung«, sagt Nane und legt auf.
   »Diese Frau entwickelt sich zu einem Alptraum«, schimpfe ich auf dem Weg ins Bad. Mit Schüttelfrost und Dauerbrechreiz lege ich mich aufs Bett. Jeden Schluck Tee, den ich angeekelt trinke, bringe ich nach wenigen Minuten im hohen Bogen wieder heraus.
   »Wer straft mich so?«, jammere ich in mein Kissen. Gegen sechs Uhr morgens schlafe ich endlich erschöpft ein. Nach drei Stunden weckt mich das Telefon. Frederik gratuliert mir vom Düsseldorfer Flughafen und sagt, dass sich sein Abflug um eine Stunde verschiebt. Ich weiß, dass ich in spätestens zwei Stunden fertig sein muss, um meine Familie abzuholen. Das ist nicht zu bewältigen. Ich schlage ihm vor, einen Leihwagen zu nehmen. Schnell koche ich mir einen Kaffee und wähle Steffens Nummer. Er ist verkatert, spricht aber wieder mit mir. In einer Stunde will er vor dem Stadthotel auf mich warten. Ich sehe in den Spiegel. Ein Bild des Grauens. Ich bin noch immer gerötet und sehe aus wie ausgespuckt. Der Kaffee schmeckt mir nicht. Der Gedanke an die vielen Gäste lässt den Schüttelfrost zurück kommen. Ich quäle mich in meinen neuen Wagen und lege zur Sicherheit eine Spucktüte auf den Beifahrersitz.
   »Bitte fahre du zurück«, flehe ich Steffen an. »War dir gar nicht übel nach den Muscheln?«
   »Das Essen war das Einzige, was mir gestern bekommen ist. Wenn du wieder mit Tobias zusammen gegangen wärst, hätte ich dich vielleicht noch verstanden. Aber warum Yannik? Mich lehnst du seit Jahren mit der Begründung ab, Tobi wäre deine große Liebe. Und dann nimmst du dir einen verheirateten Liebhaber?« Ich antworte ihm mit einem lautstarken Würgen. Es bilden sich Schweißperlen auf meiner Stirn und ich zittere am ganzen Körper.
   »Leg dich hin. Ich kümmere mich ums Essen«, sagt er und geht zum Kühlschrank. Ich ziehe es vor, mich vor die Toilettenschüssel zu knien. »Du musst trinken!«, sagt er und macht sich dran, einen frischen Tee zu kochen.
   »Nicht mit dem Leitungswasser«, rufe ich, als ich ihn in der Küche sehe. »Nimm das Wasser aus dem Kanister.« Steffen setzt einen Kessel auf und schaut mich besorgt an.
   »Seit wann spukst du schon?«
   »Seit meiner Rückfahrt gestern.« Meine Bauchkrämpfe nehmen wieder zu. Steffen macht mir Umschläge und massiert meinen Kopf.
   »Hast du heute schon etwas gegessen?«
   »Nein nur Kaffee getrunken.« Steffen geht zur Kaffeemaschine und zieht den Wassertank hervor und schnuppert daran.
   »Das Wasser riecht nach Bittermandeln«. Danach prüft er das Wasser im Kanister. »Marie, das Wasser ist vergiftet! Wo hast du die Telefonnummer vom Krankenhaus?« Ich schleppe mich zum Wassertank.
   »Ich rieche nichts!«
   »Es reicht! Du musst dringend zum Arzt!« Der Krankenwagen kommt nach einer Viertelstunde. Steffen nimmt den Kanister und fährt im Krankenwagen mit. Im Hospital wird mein Magen gespült und ich komme an den Tropf. Nach drei Stunden steht das Ergebnis der Wasseruntersuchung fest. Es ist mit einem toxischen Pflanzenschutzmittel versetzt. Auf Steffens Drängen hin, informieren die Ärzte die örtliche Polizei. Meine Familie versammelt sich ums Bett und ist fassungslos.
   »Was für ein Geburtstag.« Ich muss im Krankenhaus bleiben. Nachdem sich meine Besucher verabschieden schlafe ich sofort ein. Früh morgens werde ich von stechendem Durst wach. Ich öffne die Augen und blicke erstaunt in Tobis Gesicht. Er hat die Nacht an meinem Bett gewacht und meine Hand gehalten.
»Wie kannst du ernsthaft annehmen, ich könnte dir etwas antun?«, fragt er verzweifelt. Ich trinke einen Schluck Wasser und drehe mich wortlos auf die Seite, um weiterzuschlafen. Gegen Mittag höre ich Frederik sagen.
   »Du bleibst hier nicht einen Tag länger allein!« Belle beruhigt ihn. »Ich bin jetzt wieder da und werde deine Mutter nicht mehr aus den Augen lassen.«

Am nächsten Tag darf ich das Krankenhaus verlassen. Belle holt mich mit ihrem Wagen ab. Als wir in die Auffahrt zu meinem Haus einbiegen, kommt Nane uns entgegen.
   »Ich wollte dir einen Krankenbesuch abstatten.«
   »Wie lange bleibst du noch? Die Saison ist bald vorbei. Oder behält dich René noch weiter?«
   »Meine Scheidung läuft. Norbert hat eingewilligt. Wir können sogar das Trennungsjahr umgehen. In spätestens zwei Monaten bekomme ich mein Geld«, sagt Nane sichtlich erleichtert.
   »Dein Norbert verarscht dich! Yannik und Norbert sind pleite. Dein Mann versucht gerade zu retten, was zu retten ist. Ich musste versprechen, dicht zu halten. Aber ich meine, es ist in Ordnung, wenn ich dir die Wahrheit sage. Nane, bewege deinen Hintern nach Hamburg und versuche mit deinem Anwalt zu sprechen. Wenn es stimmt, was Yannik mir erzählt hat, geht bei Norbert alles den Bach runter. Du wirst nicht einen Euro sehen.«
   »Weshalb versuchst du mich loszuwerden? Ich nehme dir doch nichts weg?«
   »Ich breche gerade ein Versprechen, um dir zu helfen.« Nane nimmt ihr Telefon zur Hand und ruft ihren Anwalt an. Sie berichtet ihm von meiner Theorie und bittet ihn, in dieser Sache zu recherchieren. Ihr Anwalt hat auch eine Neuigkeit zu berichten. Nobert unterbreitete ein außergerichtliches Vergleichsangebot und ist bereit, Nane mit einer pauschalen Summe von 50.000 Euro abzufinden.
   »Das stinkt!«, rufe ich, »so wie du Norbert bloß gestellt hast, gibt er dir freiwillig nicht einen Cent. Schon gar nicht, wenn er tatsächlich blank ist.« Nane ist verunsichert und fragt, was sie nun machen soll.
   »Ich würde eine Wirtschaftsdetektei beauftragen. Die soll prüfen, ob es Tochterunternehmen gibt. Yannik besitzt ein Haus in Kalifornien. Es liegt doch nahe, dass sie in den Staaten das richtige Geld verdienen. Deine Töchter studieren genau wo in Amerika? Fahre in dein Haus und suche die Papiere durch. Forsche nach Norberts Reiseunterlagen. Finde heraus, wohin ist er im letzten Jahr gereist ist. Schaue nach, wer tatsächlich im Grundbuch steht. Unternimm endlich etwas! Wenn du hier bleibst, kannst du gar nichts machen.« Nane nickt zustimmend.

Mit einer Zeitschrift liege ich im Schatten und blättere durch die Seiten, als Tobias anruft. »Darf ich dich besuchen? Ich stehe schon vor deinem Tor.« Ich lasse ihn herein. Seit vielen Monaten betritt er das erste Mal wieder das Haus. »Ich bin fast umgekommen vor Angst um dich.« Er will mich umarmen, aber ich weiche ihm geschickt aus.
   »Wen hast du so verärgert. Wer hat dir das angetan?« Ich zucke mit den Achseln.
   »Warum wohnt Nane bei dir?«
   »Weil sie meine Hilfe brauchte. Du hattest sie ja vor die Tür gesetzt, um ungestört deine Affäre genießen zu können. Und wie Steffen mir stolz berichtete, durfte er zwischendurch auch mal wieder ran! Warum nur? Ich erkenne dich kaum wieder.« Jetzt reicht es mir. Ich blicke ihn wütend an und sage: »Du bist der Letzte, der mir moralische Vorhaltungen machen darf.« Ich stehe auf, um ihn zur Tür zu begleiten. Aber er will nicht gehen.
   »Ich hab dich so unendlich lieb. Paris habe ich abgesagt. Seit Anfang des Jahres kümmere ich allein um Clara. Ich bin kein Egoist. Sag mir doch, was ich tun kann, damit du mir wieder glaubst!«
   »Geh jetzt, Tobias. Ich will dir nicht verzeihen!«
   »Lange warte ich nicht mehr, Marie. Auch meine Geduld ist endlich.«

Grübelnd hocke ich auf dem Sofa. Die beiden Männer, die die größte Rolle in meinem Leben spielten, erkennen mich nicht wieder und sie haben Recht. Ich verletze Menschen, die mir wichtig sind. Ich breche sogar in eine Ehe ein. Das ist nicht die alte Marie. Für diese Spiele war ich nie zu haben. Dass Tobias mich zu tiefst enttäuscht hat, ist keine Entschuldigung für mein Verhalten. Liebe ich Yannik? Mit Sicherheit nicht. Steffen macht sich immer noch Hoffnungen. Das muss aufhören! Ich rufe meinen Noch Ehemann an.
   »Steffen, lass uns endlich die Scheidung zu Ende bringen. Wir müssen unsere Leben ordnen. Wenn wir beide verheiratet bleiben, wird es immer wieder zu emotionalen Kränkungen kommen. Das ist das Letzte, was ich dir antun möchte.« Steffen willigt ein und ich bin erleichtert. Nane hupt laut vor dem Gartentor. Sie ist endlich bereit, um ihre finanzielle Zukunft zu kämpfen.
   »Bevor ich fahre, möchte ich dir danken.« Eine gute Freundin war ich ihr nicht, denke ich beschämt.
   »Warte auf mich! Ich werde dich begleiten. Zusammen können wir mehr erreichen.«

Angesichts der desolaten Finanzlage meiner Freundin verzichte ich auf eine Übernachtung und mute meinem Rücken eine siebzehn Stunden lange Fahrt zu. Unser erster Weg führt uns zum Amtsgericht in die Grundbuchabteilung. Nane weist sich aus und erhält eine beglaubigte Abschrift. Ihr Haus ist nicht belastet und sowohl auf Norbert, als auch auf ihren Namen eingetragen.
   »Dieses Schwein!«, sagt sie und ist in Kampfesstimmung. »Die Fahrt in die Firma können wir uns sparen. Die lassen mich gar nicht erst vor.« Wir fahren in Nanes Haus und suchen alle Ordner zusammen. Mit der Angst im Nacken, von Norbert entdeckt zu werden, bringen wir die Papiere schnell ins Auto und fahren geschwind davon.
   »Bis auf seine Kreditkartenabrechnungen ist nichts Brauchbares dabei.«
   »Auffällig sind aber die vielen Transaktionen in US Dollar.« Wir selbsternannten Wirtschaftsdetektive treten auf der Stelle.
   »Gibt es keine Person in Norberts Firma, der du vertrauen kannst?« frage ich und ernte lautes Lachen. Ich greife zum Telefon, mache ein wichtiges Gesicht und wähle die Nummer von Norberts und Yanniks Firma.
   »Hier spricht Caren Bruckmöller, von Hölderlin Consulting. Herrn Wieland, bitte!«
   »Tut mir leid, Frau Bruckmöller, die Herren sind auf Reisen. Kann ich etwas ausrichten?«
   »Herr Wieland erwartet unsere Expertise und zwar sofort. Wir haben es bereits auf seinem Mobiltelefon versucht, ihn aber nicht erreicht. Die Unterlagen sind streng vertraulich und dürfen nur ihm persönlich bekannt gegeben werden.«
   »Versuchen Sie es doch in unserer Niederlassung in San Francisco.«
   »Bitte geben Sie mir die Rufnummer und Adresse. Ich bin im Auto und habe die Daten nicht bei mir.« Ich schreibe mit und wiederhole. »Jetzt haben wir dich an den Eiern«, lache ich zufrieden.
   »Du hattest die richtige Vorahnung.«
   »Wie gut kennst du Mabel«, frage ich. Ich weiß, dass die junge, blonde Schönheit vor ihrer Ehe mit Yannik, als seine Sekretärin gearbeitet hatte. »Los, rufe sie an. Die Männer sind in den USA. Die beste Gelegenheit ein Gespräch unter Frauen zu führen.«

Wir treffen uns mit ihr in einer Hamburger Szene Kneipe.
   »Ich habe schon lange auf deinen Anruf gewartet«, sagt Mabel zu Nane. »Yannik hat auch vor zwei Wochen die Scheidung eingereicht. Jetzt ist es noch günstig für ihn. Wir sind noch nicht lange genug mit einander verheiratet, sodass ich keine großen Ansprüche stellen kann.«
   »Ich denke, die Firma soll kurz vor der Pleite stehen?«  Mabel lacht.
   »Die Firma steht kurz vor der Übernahme! Das ist ein Riesengeschäft für Yannik und Norbert. Da geht es um Millionen! Wenn du dich jetzt von Norbert scheiden lässt, bist du eine Idiotin.« Sie zieht einen Heftordner aus ihrer Handtasche und übergibt ihn mit einem Augenzwinkern.
   »Hast du der Scheidung zugestimmt?«, will Nane wissen.
   »Natürlich nicht! Ich will zwar auch die Trennung, aber ich lasse mich doch nicht zum Nulltarif abservieren. Ich will ein ganz normales Leben mit Kindern und Familie. Das ist mit einem Mann wie Yannik gar nicht möglich. Für ihn zählt nur Geld und nochmal Geld.« Nane stimmt ihr zu.

»Ihr Mann hat sein Angebot auf ein hunderttausend Euro erhöht«, sagt Nanes Rechtsanwalt.
   »Ich lehne nicht nur dankend ab, sondern ziehe meinen Scheidungsantrag zurück. Schreiben sie ihm, dass ich ihn liebe, ihn vermisse, ihn wie wild begehre und an unserer Ehe festhalten werde.« Sie überreicht ihrem Rechtsbeistand Mabels Unterlagen und berichtet ausführlich von den Übernahmeplänen.
   »Ja, wir machen ihm einen fetten Strich durch die Rechnung«, freut sich der Anwalt in Anbetracht des riesigen Streitwerts.

Auf der Rückfahrt fängt Nane an zu weinen.
   »Wenn du mir nicht in den Kopf gewaschen hättest, würde ich heute noch als ahnungslose Haushälterin mein Dasein fristen. Dank dir habe ich wieder Freude am Leben. Nette Menschen kennengelernt, eine Aufgabe die mir Spaß macht und wenn alles gut geht, sogar bald finanziell ausgesorgt. Wie kann ich das je wieder gut machen?«
   »Hilf mir dabei, auch wieder glücklich zu werden. Ich habe mich so verrannt und habe Angst, dass ich da allein nicht wieder raus komme«, beichte ich ihr. »Ich habe mich mit Yannik eingelassen und nicht gemerkt, dass er mich nur benutzt hat, um dich zu manipulieren. Dabei habe ich Steffen verletzt. Das ist unverzeihlich!«
   »Du hast auch Tobi verletzt! Er liebt dich so. Warum kannst du ihm nicht vergeben? Wir beide gehen auf die Fünfzig. Wie oft glaubst du, wird uns noch der Richtige begegnen?«

Endlich finde ich die Zeit, bei der Polizei Anzeige wegen Körperverletzung zu erstatten. Der Gendarm Clement sieht mich ungläubig an. Ich habe das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden und verlasse verärgert das Kommissariat. Als ich auf den Hof meines Hauses fahre, sehe ich sofort die zerstochenen Reifen meiner neuen Ente. Vorsichtig nähere ich mich der Haustür. Sie ist aufgebrochen. Ich renne zurück zum Wagen und rufe Nane an. »Komm schnell! Bei mir sind Einbrecher!« Meine Freundin trifft wenig später mit Verstärkung ein. Tobi und René öffnen die Tür und betreten das Haus. Es ist niemand mehr da. Ich gehe ins Atelier und rufe: »Hier! Oh nein! Alle Kleider sind zerstört!« Die Männer folgen mir und finden mich auf den Knien sitzend vor den zerschnittenen Designer Stücken. »Wer tut so etwas?«, schluchze ich.
   »Sonst fehlt nichts«, sage Nane, die alle anderen Zimmer inspizierte.
   »Das sieht nach einer sehr persönlichen Rache aus«, sagt René. Tobias nimmt mich in den Arm und versucht, mich zu trösten.
   »Es waren nur Kleider. Hauptsache, dir ist nichts passiert«. René ruft die Polizei. Gemeinsam warten wir im Haus auf ihr Eintreffen. Tobias bittet mich, mit ihm in sein Appartement zu kommen.
   »Du bist hier nicht sicher. Ich habe keine ruhige Minute, wenn du hier allein bist.« Ich schaue ihn an und gebe zu, jetzt auch Angst zu haben. Clement betrachtet die Zerstörung und macht Fotos von der Verwüstung. Ich fühle mich immer noch nicht ernst genommen.
   »Würdest du heute bei mir bleiben?« Tobias stimmt sofort zu, obwohl er ahnt, dass es kein Angebot zur Versöhnung ist. Er bittet Nane, sich um Clara zu kümmern und sie sagt zu.

Wortlos stehen wir in der Küche und schneiden Gemüse. Er ist froh, mich zu einer Mahlzeit überredet zu haben. Als ich mich bücke, um einen Topf aus dem Unterschrank zu nehmen, spüre ich seinen Blick.
   »Wie dünn und zerbrechlich du geworden bist. Ich will mich um dich kümmern. Bitte, lass es doch endlich zu!« Er umarmt mich zärtlich und spürt, dass es mir gefällt. »Du hast mich noch lieb, Marie. Ich fühle das doch.«
   »Warst du schon mal traurig und wütend zugleich? So ist mir seit unserer Trennung ständig zumute. Ich möchte weinen und zugleich habe ich Lust, dich zu würgen!«
   »Und wenn du in dieser Stimmung bist, dann nimmst du dir einen Mann. Egal, ob Steffen oder Yannik?«
   »Ich wollte immer nur dich.« Zärtlich schiebe ich meine Finger durch seine kurzen Hosenbeine und küsse ihn schmachtend und beschwörend auf den Mund. Er ist irritiert, kann mir aber nicht lange widerstehen. Er drückt mich gegen die Wand und vögelt mich kräftig und wild unter lautem Stöhnen im Stehen. Es ist nicht die unvergleichbare Art, in der er mich sonst geliebt hat. Aber ich beschwere mich nicht. Als Tobias befriedigt von mir ablässt, lächle ich zufrieden.
   »Oh, das war wunderbar und so bitter nötig!«  
   »Was ist bloß los mit dir? Wer bist du?«
   »Ich weiß es doch selber nicht! Ich weiß nur eins. Solange du da bist, will ich jeden Moment mit dir genießen. Und du? Was willst du?« Ich sollte wissen, was er will. Er hat es mir schon so oft gesagt, geschrieben und sogar gesungen.
   »Lüg mich nie wieder an, Tobias!«

Schüchtern versteckt Clara ihren Kopf hinter den Beinen ihres Vaters. Angesichts der schrecklichen Erfahrungen, die die Kleine in ihrem kurzen Leben schon machte, will ich ganz behutsam mit ihr umgehen. Ich dränge sie nicht. Schon nach wenigen Minuten läuft sie neugierig durch das Haus. Ich schütte einen Karton mit Spielsachen meiner Enkel im Wohnzimmer aus. Auf den Knien sitzend verteile ich Puppen, Stofftiere und bunte Spielzeugautos. Clara ist sofort Feuer und Flamme und schenkt mir ein unwiderstehliches Lächeln.
   »Sie sieht aus wie du«, sage ich. Das Eis ist gebrochen. Nach nur einer Woche besteht sie darauf, von mir gebadet und ins Bett gebracht zu werden. Bis zum Mittag geht sie in den französischen Kindergarten. Tobi und ich sind uns einig darüber, dass sie zweisprachig aufwachsen soll.

Ich bin unersättlich. In jedem Moment der drei Wochen, die Tobi wieder bei mir ist, verspüre ich Lust auf ihn. Ich brauche ihn nur anzusehen und meine Begierde steigt.
   »Du wirst mir langsam unheimlich«, sagt er und nimmt mich wieder in den Arm.
   »Ich weiß, ich habe mir selber schon Gedanken darüber gemacht. Sobald ich in deiner Nähe bin, überfällt mich diese Gier nach dir. Das ist doch nicht normal, oder?« Ich gehe kalt duschen. Nur das und das Schwimmen im eisigen Pool kann dieses Gefühl für kurze Zeit unterbrechen. Ich schaue auf die Uhr und greife zu meinem Telefonbuch. Mit der Nummer meines Gynäkologen in Hamburg gehe ich leise auf die Terrasse.
   »Freuen Sie sich doch darüber, Frau Simon. Die meisten Frauen in Ihrem Alter beklagen sich bei mir darüber, dass sie keine Lust mehr empfinden«, sagt mir der Frauenarzt. Aber er rät mir zu einer eingehenden Untersuchung. 
   »Ich habe für Donnerstag einen Flug nach Hamburg gebucht. Mein Frauenarzt hat mir einen Termin ohne Wartezeit zugesagt. Ich komme mit der Nachmittagsmaschine schon wieder zurück«, sage ich und lege mich zurück ins Bett.
   »Ganz abstellen soll er es aber nicht«, sagt Tobi und streichelt seine liebestolle Frau.

Steffen holt mich am Hamburger Flughafen ab. Gemeinsam fahren wir zum Gericht und sind nach fünfzehn Minuten geschieden. »Wo gehen wir hin, um unseren neuen Familienstand zu feiern?«, fragt mich mein neuer Ex Ehemann.
   »Das müssen wir verschieben. Ich habe in einer halben Stunde einen Termin beim Arzt. Keine Sorge, nur Routine.«

Als ich das Wartezimmer betrete, erblicke ich ein bekanntes Gesicht. Mabel liest in einer Zeitschrift für werdende Mütter und strahlt über das ganze Gesicht.
   »Heute ist meine erste Ultraschall Untersuchung«, freut sich die werdende Mutter.
   »Hast du dich mit Yannik wieder ausgesöhnt?«
   »Gott bewahre«, lacht sie, »aber weil das Baby wohl noch während unserer Ehe zur Welt kommt, ist er auf dem Papier der Vater. Ist doch verrückt, oder? Norbert und Yannik drehen gerade wie wild am Rad. Ich habe schon das dritte Abfindungsangebot bekommen, aber selbstverständlich abgelehnt. Montag steigt die Übernahme. Das weiß ich aus erster Quelle. Sag bitte auch Nane Bescheid und gebe ihr meine neue Telefonnummer. Ich muss dringend mit ihr sprechen.« Ich bin froh, ihr in dieser Sache behilflich sein zu können. Es mildert mein schlechtes Gewissen. Ich denke darüber nach, wie es dazu kommen konnte, dass ich diese nette Frau mit ihrem Ehemann betrügen konnte. Eine Erklärung habe ich nicht.
   »Organisch ist bei Ihnen alles in Ordnung. So wie Sie mir Ihre Geschichte beschreiben, ist es doch nicht ganz verwunderlich, dass Sie die verlorene Zeit mit Ihrem Mann nachholen wollen. Sie sollten gegen Ihre Verlustängste ankämpfen. Dabei kann ich Ihnen leider nicht helfen. Sprechen Sie mit Ihrem Partner oder besser noch, suchen Sie sich Hilfe bei einem Psychotherapeuten.«

Die Strecke vom Flughafen zu Renés Restaurant fahre ich in Rekordgeschwindigkeit. Die Überraschung, die ich Tobi machen will, beflügelt mich. Er sitzt allein am Tisch und merkt nicht, dass ich mich langsam von hinten an ihn heranschleiche.
   »Ich soll dir liebe Grüße von Steffen ausrichten«, flüstere ich in sein Ohr.
   »Marie, du hast dich nicht wirklich mit ihm getroffen.«
   »Doch, aber nur ganz kurz auf einen Quickie.« Ich stelle meine Handtasche auf den Tisch und setze mich auf seinen Schoß. Breit grinse ich ihn an.
   »Auf dir sitzt eine frisch geschiedene Frau und wenn du mich jetzt fragen willst, dann sage ich sofort »Ja«!« Tobias traut seinen Ohren nicht. So viele Jahre hatte er darauf gewartet und nun platze ich mit dieser wunderbaren Neuigkeit einfach so heraus.
   »Sie heiratet mich endlich!«, ruft er laut durch das Lokal. Die Nachricht hallt bis in die Küche und Nane kommt freudestrahlend auf uns zu und gratuliert herzlich.
   »Ich bin heute die Überbringerin froher Botschaften«, sage ich und übergebe Nane die Karte mit Mabels neuer Adresse.
   »Die Übernahme soll am Montag erfolgen. Sie ist bestens informiert. Also rufe sie an.« Zum Feiern bleibt keine Zeit. Clara muss abgeholt werden.

Als ich abends leise aus dem Kinderzimmer schleiche, fragt Tobi mich erwartungsvoll: »Was hat eigentlich dein Arzt gesagt, oder war das nur ein Alibi für deinen Scheidungstermin?«
   »Bei mir ist alles in Ordnung. Sein Rat war, viel eiweißreiche Kost für dich. Künftig gibt es regelmäßig Austern, Kaviar, Sellerie und Rettich.«
   »Das sind ja wunderbare Aussichten!« Wir sprechen über den richtigen Zeitpunkt und den passenden Ort. Tobias weiß, dass ich den Winter nicht mag. Eine Feier ohne meine Großfamilie kommt auch nicht in Frage. Aber bis zum nächsten Sommer wollen wir beide nicht warten. Unsere rege Unterhaltung wird durch lärmende Geräusche unterbrochen. Der Bewegungsmelder für die Gartenbeleuchtung erhellt den Terrassenbereich. Tobias stürzt ins Gästezimmer, um den Baseballschläger der Enkel zu holen. Wir hören eine laute Männerstimme rufen: »Komm raus, du Miststück. Du kannst dich nicht länger verstecken. Komm raus zu mir, oder ich komme rein!« Ich erkenne Norbert. Verängstigt sehe ich ihm dabei zu, wie er nach einem Gartenstuhl greift.
   »Ich rufe die Polizei. Er wird gleich das Türfenster einschlagen.« Während ich die direkte Nummer von Clement wähle, läuft Tobi mit der Holzkeule bewaffnet um das Haus. Er kann ihn nicht stellen. Norbert ist schneller und steht wutentbrannt vor mir.
   »Wo ist sie? Ich drehe euch Weibern den Hals um!« Mit einem gezielten Schlag in die Kniekehlen, setzt Tobi den Eindringlich hinterrücks außer Gefecht. Nobert geht zu Boden und wird bis zum Eintreffen der Polizei in dieser Position von Tobias festgehalten. Immer wieder ruft er: »Komm her du Schlampe. Ich drehe dir den Hals um!« Als ich die Sirene höre, frage ich ihn.
   »Was willst du von mir?« Norbert will nichts von mir. Er ist auf der Suche nach Nane. Er weiß von Yannik, dass sie bei mir wohnt.
   »Den Floh hast du ihr doch ins Ohr gesetzt. Allein kommt diese dumme Nuss doch nicht auf solche Ideen!« Clement hat genug gehört. Er nimmt Norbert fest und fragt mich, ob ich Anzeige erstatten will.
   »Selbstverständlich«, antwortet Tobias.
   »Wir sollten bei René anrufen und Nane informieren.«
   »Der ist ja völlig von Sinnen«, sagt Tobi. Mir ist bekannt, dass es um eine Menge Geld geht. Und Geld ist für Norbert das Wichtigste. Insgeheim kann ich mir aber nicht vorstellen, dass er für die zurückliegenden Anschläge verantwortlich ist. Wir sind dabei, die Glasscherben aufzufegen, als René an der Haustür klingelt.
   »Wo ist Nane?«
   »Sie durchwühlt gerade Norberts Wagen, der unverschlossen auf der Straße parkt.« Die Männer gehen in die Küche und öffnen eine Flasche Wein. Als sie mit den Gläsern zurück ins Wohnzimmer treten, kommt auch Nane mit einer Aktentasche unter dem Arm ins Haus. Sie entschuldigt sich für den Ärger, den ihr Noch Mann verursacht hat und fühlt sich schuldig.
   »Er sucht schon seit Tagen nach mir«, gesteht sie. Konzentriert blättert sie seinen Ordner durch bis sie findet, wonach sie sie sucht. »Haltet euch fest. Ihr werdet es nicht glauben. Dieser Schuft verkauft die Firma für mehrere Millionen Euro.«
   »Dann wird dein Multimillionär ja genügend Geld haben, um uns die Scheibe zu ersetzen«, sagt Tobi. Nane liest weiter in dem Vertragswerk und fügt an: »Allerdings nur, wenn er am Montagmorgen zur Unterschrift in Hamburg erscheint.« Danach sieht es nicht aus. Norbert schmort in der Nacht von Samstag auf Sonntag in der Zelle. Tobias zeigt wenig Interesse an dem Super Deal.
   »Wenn er etwas mit den Anschlägen auf Marie zu tun hat, dann geht er in den Knast. Da sind mir deine Ansprüche völlig egal«, schimpft er. Nane schreibt ihrem Hamburger Rechtsanwalt eine SMS. Es ist bereits später Abend, aber sie ist sich sicher, dass er bei dieser Summe auch am Wochenende tätig sein wird. Es dauert keine zwanzig Minuten, bis er auf ihrem Handy zurück ruft. Sie geht ins Nebenzimmer und spricht lange und ausführlich mit ihm. Sie faxt ihm die Übernahmepläne zu und wartet auf seine Rückmeldung. Tobias und René kleben eine Plane auf das zerbrochene Fenster und zünden den Kamin an. Ich sitze fröstelnd in eine Decke eingewickelt auf dem Sofa. »Mein Anwalt kommt morgen mit der Frühmaschine aus Hamburg und landet um neun Uhr in Nizza. Er sagt, wir haben das perfekte Druckmittel gegen ihn in der Hand. Morgen schlägt meine Stunde. Dann werde ich ihm ein Angebot machen, das er nicht ausschlagen kann. Entweder er unterschreibt, oder er bleibt hinter Gittern«, lacht Nane und schlägt sich vor Freude mit der flachen Hand immer wieder auf die Schenkel.
   »Ist es dir völlig egal, was er deiner Freundin angetan hat? Dein Mann wollte Marie vergiften. Seit Wochen versetzt er uns in Angst und Schrecken. Dein Norbert hat überhaupt keine Skrupel!« Tobias ist außer sich. So aufgebracht habe ich ihn noch nie erlebt.
   »Noch ist nicht bewiesen, dass er dahinter steckt«, verteidigt Nane ihn.
   »Dieser Mann ist gewalttätig. Du kannst von Glück sagen, dass du ihm heute nicht in die Hände gefallen bist. Sag mal, was unterscheidet dich eigentlich von ihm? Dir geht es auch nur ums Geld! Eigentlich passt ihr doch sehr gut zusammen«. Gekränkt verlässt sie das Haus.

Das Telefon klingelt. Es ist Nane, die vom Polizeirevier anruft. Tobias stellt das Telefon auf laut, um mitzuhören.
   »Norbert hat für die Zeit ein Alibi. Yannik hat an Eidesstatt erklärt, dass Norbert in der fraglichen Zeit in Hamburg war.«
   »Da hat er ja einen glaubwürdigen Zeugen aus dem Hut gezaubert«, schimpft Tobias erbost dazwischen. »Die stecken doch beide unter einer Decke!« Nane gibt den Hörer an Clement weiter. Der Polizist klärt mich in kurzen Worten über die rechtliche Lage auf. »Marie, wenn Sie Anzeige erstatten, bleibt er hier. Wenn nicht, muss ich ihn gehen lassen.« Ich atme tief durch und sage: »Ich verzichte auf eine Anzeige« und lege den Hörer auf. »Es ist vorbei Tobi. Auch wenn er es war. Er hat jetzt keinen Grund mehr, weiterzumachen.«

Während Clara dem Glaser fasziniert dabei zusieht, wie er eine neue Scheibe einsetzt, unterschreibt Nane ihre Vereinbarung, die ihr fünf Millionen Euro und die Hamburger Villa zusichert. Sie wedelt mit einem Flugticket vor Norberts Nase und fragt, ob er es gegen seinen Wagen eintauschen will. Er will. Sie hat ihre Schlacht gewonnen.
Ich schmücke das Haus weihnachtlich wie in meinen besten Zeiten. Mit Clara zaubere ich eine heimelige Stimmung für unsere kleine Familie. Wir backen, basteln und verbringen die Abende gemütlich auf dem Sofa bei knisterndem Kaminfeuer.
   »Es ist so wunderbar kuschelig hier mit uns«, schwärme ich.
   »Ja es ist fast perfekt.«
   »Was fehlt dir?« 
   »Dein Jawort!« Ich will auch nicht mehr länger warten.
   »Lass uns gleich nach Weihnachten heiraten, gleich nachdem wir von der Familie zurück sind. Nur wir beide und Clara.«

Auch Sophies weiße Villa in Hamburg Blankenese ist üppig geschmückt. Tobi und ich bieten an, das Essen zuzubereiten und meine Schwester nimmt dankend an. Wir schneiden, rühren, passieren, filetieren zusammen in der Küche und sind voller Erwartung auf den Abend. Wir haben beschlossen, der Familie von unseren Heiratsabsichten zu erzählen. Gleich nach der Bescherung wollen wir die Neuigkeit verkünden. Unser zufriedenes Strahlen hat uns jedoch vorher verraten. Schon beim Essen fragt Steffen: »Habt ihr geheiratet, oder was sind das für Happy Vibrations, die hier den Raum füllen?«
   »Wenn alles klappt, geben wir uns Silvester das Jawort«, sagt Tobias.
   »Die große Feier holen wir im Sommer mit euch nach.« Ich habe gegenüber meiner Familie kein schlechtes Gewissen mehr. Ein Blick in die Gesichter meiner Lieben genügt und ich erkenne, dass sich alle für uns freuen. Frederik und Steffen sind geradezu erleichtert. Mit Tobi an meiner Seite, brauchen sie sich nicht länger um Mutter und Exfrau zu sorgen. Die Kinder packen zuerst ihre Geschenke aus. Ich muss bis zum Schluss warten. Gespannt öffne ich einen Karton. Mein Blick fällt auf unser Seidenpapier mit dem Mató Logo. Vorsichtig wickele ich zwei Stoffbahnen aus. Auf das weiße und hellblaue Tuch unserer neuen Sommer Kollektion hat Tobias eine wunderschöne Collage im Handprint Verfahren aufgebracht, die er mit handschriftlichen Liebensbezeugungen berühmter Dichter und Denker verziert hat.
   »Gefällt es dir?«, fragt er vorsichtig.
   »Es ist wundervoll!«, sage ich total überwältigt. Er ist froh. Nun kann er Stufe zwei einleiten. Er stellt sein Notebook auf den Tisch und zeigt mir Bilder meiner neuen Kollektion. Caro hat Tobis Mató Entwurf als Beuteltaschen, Gürtel oder Kragen auf Kleider, Jacken und Mäntel appliziert.
   »Es ist nur ein Vorschlag«, sagt Tobias beunruhigt. Er ist sich gar nicht mehr sicher, ob er mit seiner Idee zu weit gegangen ist. Die Modelinie war mein Geschäft. Bisher hat er sich nie eingemischt.
   »Es ist grandios! Jetzt sind es echte Matós, die ihren Namen verdienen.« Ich küsse meinen tó und Steffen verzieht sich angesichts dieser Hochstimmung in die Küche.

Am zweiten Weihnachtsabend kehren wir wieder nach Frankreich zurück. Tobi macht einen Plan für den nächsten Tag. Standesamt, Baumarkt und ein neues Kleid für Clara kaufen.
   »Ob Caro mir auf die Schnelle ein Brautkleid aus der neuen Kollektion fertigen würde?« Tobias versteht die Frage nicht.
   »Die ersten Entwürfe sind doch schon fertig. Caro braucht sie nur per Express versenden.« Ich lache.
   »Unsere Entwürfe werden alle in Größe 36 geschneidert. Du glaubst doch nicht wirklich, dass ich da noch hinein passe.« Ich greife nach Tobis Händen und führe sie über meinen Bauch hinauf zu den Brüsten. Ihm gefällt, was er in Händen hält. »Nicht wieder abnehmen«, wünscht er sich. Ich verspreche nichts. Zum zweiten Mal lese ich die Beschreibung unserer neuen Alarm- und Videoüberwachungsanlage und stöhne: »Unser Anwesen ist ein Hochsicherungstrakt geworden. Ich denke an die alte Zeit, als unser Schnuffelhund noch lebte. Da konnten wir uns zu jeder Zeit sicher fühlen.«

Als Tobi das Grundstück verlässt, um seine Besorgungen zu machen, aktiviere ich den Sicherheitscode. Ich telefoniere mit Caro und gebe ihr meine neuen Maße durch. Nane hat eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. Sie will wissen, ob wir am Silvesterabend ins Restaurant zum Feiern kommen. Ich lasse ihre Frage unbeantwortet. Darüber will ich erst mit meinem Liebsten sprechen. Die letzte Zusammenkunft der beiden hatte ein unfreundliches Ende gefunden. Danach haben wir über das Thema Norbert und die Anschläge nicht mehr gesprochen. Ich höre ein Knacken. Die rote Lampe der Alarmanlage springt auf grün. Tobias ist zurück und hat sie mit seiner Fernbedienung ausgeschaltet. Er zieht lange Holzleisten aus dem Auto und ruft mir zu: »Was hältst du vom 31.12. um 12.00 Uhr als Hochzeitstermin? Sag jetzt bloß nichts Falsches. Es hat mich eine Stange Geld gekostet, den Beamten zu bestechen! Und das hier werden Keilrahmen. Lass uns die Stoffbahnen heute aufspannen und als Bilder in das Atelier hängen.« Der Raum nimmt wieder Gestalt an. Auch wenn noch viele Meter weiße, nackte Wand zu sehen sind.
   »Die freie Wand symbolisiert unsere Zukunft. Nach und nach werden wir sie mit neuen Bildern und Geschichten füllen.« Ich bestaune seine beiden neuen Werke.
   »Sie sind wunderschön und kein Vergleich zu deinen depressiven New York Bildern.« Verwundert schaut Tobias mich an.
   »Woher kennst du die New York Bilder?«
   »Aus Nizza. Frombert verramscht sie für 'n Appel und 'n Ei!« Tobias widerspricht. Ich soll mich geirrt haben. Alle Bilder wurden von einem reichen US Amerikaner in Auftrag gegeben. Sie schmücken seinen Landsitz in den Hamptons.
   »Er hat sich die Reihe stolze 250.000 US Dollar kosten lassen.«
   »Du willst mir nicht sagen, dass dein Honorar 250.000 US Dollar betragen hat. Ich habe deine Bilder mit eigenen Augen gesehen. Sie werden für 5000 Euro Verhandlungsbasis angeboten. Ich hätte handeln können, hatte Marc mir angeboten.« Tobias glaubt mir immer noch nicht. Jetzt wird es mir zu bunt. Ich suche die Telefonnummer der Galerie und rufe Marc an. Das Telefon stelle ich auf Mithören.
   »Guten Tag Marc, ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern. Sie hatten mir im Frühsommer Bilder eines deutschen Künstlers gezeigt. Ich glaube er hieß Mató oder so ähnlich. Sind noch Werke vorhanden?«
   »Sie haben noch die Wahl zwischen drei Motiven. Der Preis ist verhandelbar.«
   »Mich interessiert nur das Werk aus dem Schaufenster. Machen Sie mir ein Angebot!«
   »3.500,00 bei Barzahlung. Das ist ein wirklich guter Preis.«
   »Ich überlege es mir. Sagen Sie Marc, ist Pascal Frombert eigentlich schon wieder aus New York zurück?«
   »Ja, Sie können ihn heute Nachmittag hier antreffen.« Tobias verschlägt es die Sprache. Er kann nicht glauben, was er mit eigenen Ohren gehört hat. »Das macht doch keinen Sinn?«, sagt er immer wieder. Dass die Sache stinkt, erkenne auch. ich Wir beschließen, Frombert einen Besuch abzustatten. Wir haben ohnehin geplant, nach Nizza zu fahren, um für Clara einzukaufen. Ich warte mit ihr im Wagen. Durch das Fenster können wir die Männer beobachten. Beide scheinen sehr erregt und gestikulieren wild. Nach einem kurzen Moment kommt Tobias zurück. Er ist aufgebracht und sagt: »Ich soll Robert fragen, er ist der Initiator der ganzen Sache. Also ehrlich, die Geschichte wird immer dubioser.«

Mit der festen Absicht, Robert zu befragen, klopfe ich an sein Fenster. Er sitzt vor dem Fernseher und bemerkt uns nicht. Mit dem Fuß trete ich laut gegen die Tür, erhalte aber keine Reaktion.
   »Er ist fast taub«, sagt Belle und schließt die Haustür auf.
   »Was hat es mit Tobis Bildern auf sich?« Ich nehme die Fernbedienung vom Tisch und stelle seinen Fernseher aus. Ich schreie nun lauter. »Nochmal, was hast du mit dieser Sache zu tun?« Meine Nasenflügel zittern vor Aufregung.
   »Du willst die Wahrheit?« Robert steht langsam von seinem Sessel auf. Er geht zum Schrank und schenkt sich einen Whisky ein.
   »Seitdem du hier wohnst, hast du mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Wie ihr beide eure Verliebtheit ständig zu Markte getragen habt, war widerlich und unerträglich. Bevor du kamst, war meine Ehe noch in Ordnung. Du hast dafür gesorgt, dass sich meine Frau an meiner Seite nicht mehr wohlfühlt. Sie wollte nun auch alles, was du hattest. Mehr Liebe. Eigene Kinder. Einen Beruf«. Ich verstehe ihn nicht.
   »Was hat das mit Tobias Bildern zu tun?« Mit großer Genugtuung blickt er mich an.
   »Ich habe dafür gesorgt, dass er endlich abhaut. Du wärst ja nie freiwillig gegangen. Was hatte ich nicht alles versucht, um dich los zu werden. Ich hatte Tobias den Koks gegeben, den er brauchte, um auf seinen langen Beschattungsfahrten nicht vor Müdigkeit einzuschlafen. Ich war es auch, der damals dein Haus verwüstet hat! Aber anstatt von hier weg zu gehen und dich in deine Arbeit zu stürzen, hast du ihn wieder in deine Arme geschlossen. Das reichte dir aber noch nicht. Du wolltest, dass Belle deinen Job ganz übernimmt. Meine Frau war fast nie mehr zu Hause! Sie ließ mich hier ständig allein.« Wir sehen uns alle ungläubig an. Robert wendet sich Tobias zu. »Nach Maries Geburtstag habe ich Pascal gebeten, dir ein Angebot zu machen und dafür gesorgt, dass du es auch annimmst. Ich habe eine hohe Summe für deine lausigen Bilder gezahlt. Oder glaubst du tatsächlich, das wäre Kunst?« Er lacht höhnisch. »Das war rausgeschmissenes Geld. Madame Simon wollte ja nicht nach New York. Sie blieb weiterhin hier und spannte meine Belle immer mehr und mehr ein. Du bist wie eine Katze mit zu vielen Leben. Ich hätte dir einfach die Gurgel zudrücken sollen.«
   »Du hast Marie das alles angetan?«, schreit Tobias und geht auf Robert zu. Aber Belle ist schneller bei ihm und schlägt ihn mit flacher Hand ins Gesicht. »Wenn du wüsstest, wie du mich anekelst.«

»Marie, wir müssen«, flüstert Tobi. Die Zeremonie ist kurz. Geduldig warte ich auf den Moment, an dem ich das Symbol unserer Liebe angesteckt bekomme. Tobias hat die Ringe ausgesucht und sich geweigert, sie mir vorher zu zeigen. Er wählte breite Weißgoldringe aus. Edel, schlicht und schön. Sie gefallen mir, so wie mir alles gefällt, was er macht. Gilbert, der Sänger aus dem Restaurant wartet mit seiner Kamera vor dem Standesamt und macht Fotos von uns. Er verspricht, die schönsten Abzüge am Abend mit zu René zu bringen. Als glückliches Hochzeitspaar fahren wir nach Hause. Wir trinken Champagner und füttern uns mit Torte.
   »Willst du, dass dein Kleid ganz bleibt?«, fragt er mit einem listigen Blick, »dann ziehe es schnell aus, bevor es zerfetzt wird, wenn ich es dir vom Leib reiße!«
   »Finger weg, das ist ein Unikat«, rufe ich und verliere das Kleid auf dem Weg ins Schlafzimmer schon auf in der Diele. Gegen neun Uhr abends machen wir uns auf den Weg ins Restaurant. Als Gilbert die Fotos bringt, erzählen wir unseren Freunden von unserer Trauung und geben jedem von ihnen einen Abzug. Nane setzt sich erst kurz nach elf Uhr dazu. Sie hatte bis dahin in der Küche zu tun. Sie gratuliert mir herzlich, gibt sich Tobias gegenüber aber distanziert. Gern hätte sie über ihren großen Coup gesprochen, aber die Freunde am Tisch sind mehr an unserer Geschichte interessiert. Sie kennen uns lange und gut. Unsere Berg und Talfahrten erlebten sie schließlich hautnah mit. Auf eine Versöhnung hofften alle. Nur geglaubt, hatte niemand mehr daran. Um Mitternacht gehen alle Gäste auf die Straße und bestaunen das Feuerwerk. Mir wird schnell kalt und ich verziehe mich als Erste zurück ins Warme. Auf dem Weg zur Toilette werfe ich einen Blick in die Küche und sehe, wie René eine junge Schöne vernascht. Unbemerkt gehe ich in den Waschraum und warte darauf, dass die Musik wieder spielt. Lautes Geschrei und das Zerschlagen von Porzellan lässt bei mir die Vermutung zu, dass Nane den Liebesakt in der Küche entdeckt und unterbrochen hat.
   »Was willst du?«, schreit René, »du bist meine Köchin und nicht meine Frau!« Nane wirft ihre Schürze auf den Boden und greift nach einer Kasserolle vom Herd. Der kleine Stiltopf mit heißer Orangensoße trifft zielsicher seine Genitalien. Noch bevor er sie lautstark beschimpfen kann, rennt sie aus dem Lokal. Ich folge ihr. Doch sie will keinen Trost.
   »Ich gehe nach Hause. Mit diesem Kerl bin ich fertig. Feiert noch schön. Ich rufe dich die nächsten Tage mal an.« Nun ist sie doch Gesprächsthema Nummer eins am Stammtisch. Ich will mich an den Lästereien nicht beteiligen und bitte Gilbert, zu singen. Mit meinem Ehemann tanze ich bis in den frühen Morgen.
   »Madame Martin«, ruft der Taxifahrer in die Runde.
   »Der meint dich«, lacht Tobias. An meinen neuen Namen werde ich mich erst gewöhnen müssen. Wir verabschieden uns und steigen ins Taxi.
   »Wohin?«, fragt der Fahrer. Als Tobias ihm die Adresse nennt, sagt unser Chauffeur: »Das wird schwierig. Die Brücke ist noch gesperrt. In der Rue Colomies hat es heute Nacht gebrannt. Die Feuerwehr löscht noch.« Wir müssen einen Umweg von 9 km durch die Berge fahren. Das neue Jahr ist schon sechs Stunden alt, als wir ins Bett gehen.
   »Ausschlafen bitte!«, wünscht sich Frau Martin. Tobias stellt die Mobiltelefone aus und den Klingelton vom Festanschluss leise. Er befürchtet, dass uns die Gratulanten früh stören könnten. Bis mittags um zwölf wollen wir schlafen, danach kommt Clara wieder, die die Nacht bei der Familie ihres Spielfreundes verbracht hat. Wir liegen noch keine drei Stunden im Bett, als wir durch Sturmläuten der Haustürklingel geweckt werden. Schlaftrunken schaut Tobias auf den Monitor und fragt durch die Sprechanlage, wer sich traut, zu stören. Es ist Clement, der darum bittet, das Tor zu öffnen. Tobias ist verärgert und wünscht ihm, er möge einen wichtigen Grund haben, uns am Neujahrstag so früh herauszuklingeln. Er schließt die Tür zum Schlafzimmer, um mich in Ruhe weiterschlafen zu lassen. Aber ich bin schon wach und ziehe meinen Morgenmantel über und gehe auch ins Wohnzimmer.
   »Gestern Nacht ist Ihr Appartement ausgebrannt. Die Feuerwehr geht davon aus, dass Raketen durch das geöffnete Fenster eingedrungen sind und so den Brand ausgelöst haben«, sagt Clement.
   »Ist jemand zu Schaden gekommen?«
   »Ihre Freundin Nane liegt mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus.«
   »Wie schwer ist sie verletzt?« Clement weiß noch nichts Genaues.

Ich darf Nane erst nach sieben Wochen das erste Mal besuchen. Nachdem sie die Intensivstation verlassen konnte, telefonierten wir jedoch täglich miteinander. Sie vertraute mir an, dass sie sich aus Ärger über René mit Wein und Schnaps betrank. Die Feuerwerkskörper, die durch das Fenster eindrangen, hatte sie nicht bemerkt. Sie wachte erst auf, als ihr Nachbar sie aus der Wohnung trug. Er hatte die Flammen bemerkt, als er gegen drei Uhr nachts nach Hause kam. Weil sie auf sein Klingeln nicht öffnete, trat er die Tür ein. Gott sei Dank, hatte sie auf dem Bauch geschlafen. Deshalb blieb ihr Gesicht vor Verbrennungen weitestgehend verschont. An Nacken, Schulter und Unterschenkeln hatte es sie allerdings schwer erwischt. Ich bin auf das Schlimmste gefasst. Aber auf den ersten Blick ist Nane nichts anzusehen. Ihr Hals ist mit einem Mullverband verdeckt und ihre Beine versteckt sie unter der Decke.
   »Jetzt bin ich eine stinkreiche Frau und liege hier seit Wochen einsam und entstellt im Bett.« Nane will die Klinik gern verlassen und sich ambulant weiterbehandeln lassen.
   »Nur, wo soll ich wohnen?« Tobis Appartement ist noch immer unbewohnbar. Eine Rückreise nach Hamburg in ihre Villa schließt sie kategorisch aus.
   »Würdest du mir für die nächsten Wochen ein Haus zu Miete suchen? Geld spielt keine Rolle. Es sollte ein Schlafzimmer im Erdgeschoss haben, damit ich keine Treppen steigen muss. Sobald ich hier draußen bin, suche ich mir eine geeignete Immobilie im Ort«. Natürlich verspreche ich, ihr zu helfen.

»Sehr exklusiv ist es ja nicht eingerichtet«, meckert Nane beim Eintreffen in ihr Übergangshaus. Sie schnuppert durch die Räume und schimpft: »Das ist doch kein tierfreies Haus. Es stinkt hier furchtbar nach Hund und Katze. Der Pool ist ja wohl ein Witz.« Ich entschuldige mich damit, dass die meisten exklusiven Villen in der Nebensaison von den Eigentümern selbst genutzt werden.
   »Wollen wir zusammen zu Mittag essen?« Nane lehnt ab. Sie will sich zunächst neue Garderobe kaufen. Die Kleidung, die ich ihr besorgt habe, ist nach ihren Aussagen ihrem Status nicht mehr angemessen. Ich wundere mich, halte aber meine Meinung zurück. Während sich Nane vom Limousinen Service nach Monaco fahren lässt, treffe ich meinen Mann zum Mittagessen bei René. Ich berichtete von den Allüren meiner neureichen Freundin.
   »Geld verdirbt den Charakter«, sagt René.
   »Ich bezweifle, dass sie je einen guten Charakter hatte«, sagt Tobi.

Die Märzsonne scheint schon warm und ich liebe es, im Frühjahr in Mitten von blühenden Pfirsichbäumen zu sitzen. Für ein ausgedehntes Frühstück hat Tobi an diesem Morgen keine Zeit. Er ist mit dem Inspekteur der Versicherung verabredet, der endlich den Brandschaden in seinem Appartement begutachten will. Tobias beabsichtigt, das Geld der Versicherung für die Renovierung zu verwenden und die Wohnung nach Fertigstellung zu verkaufen. Er ist in Eile. Nane hat sich telefonisch zu einem Besuch angekündigt und er brennt nicht darauf, mit ihr zusammenzutreffen. Als der Fahrer vom Limousinen Service klingelt, verabschiedet sich Tobi mit fünf Küssen von mir und verspricht, mit Clara gegen Mittag direkt wieder nach Hause zu kommen.
   »Geht mir dein Mann aus dem Weg?«
   »Tobias hat Termine wegen dem Brandschaden.« Ich erschrecke über das neue Outfit meiner Besucherin.
   »Haute Couture.«
   »Du siehst aus wie Queen Mum. Nimm den lächerlichen Hut ab! Wir sind doch nicht beim Pferderennen!» Ich hole ein sauberes Gedeck aus der Küche und stelle es für sie auf den Tisch. Nane erzählt, dass sie jetzt dem örtlichen Yachtclub beigetreten ist. Sie schwärmt von den internationalen Mitgliedern, die alle gut situierte Unternehmer sind.
   »Du hast doch gar kein Boot«, sage ich belustigt. Das neue Clubmitglied erklärt, dass das auch nicht notwendig ist. Es geht ihr schließlich nur um adäquaten Umgang.
   »Die Zeiten, in denen ich in Renés Imbissbude gegessen habe, sind vorbei«. Mir platzt der Kragen und ich bin genervt von ihrem aufgesetzten Highsociety Gehabe.
   »Wenn ich dich erinnern darf, hast du nicht bei René gegessen, sondern in seiner Küche gearbeitet. Als es dir dreckig ging, war dir dieser Imbiss gut genug. Was ist los mit dir Nane? Das Geld hat aus dir eine arrogante Pissnelke gemacht.«

Ich schreibe die Einladungskarten für unsere Hochzeitsnachfeier und Tobias spielt mit Clara im Pool.
   »Mamam«, ruft die Kleine. Sie will mir ihren mutigen Sprung vom Beckenrand in die Arme ihres Vaters zeigen. Ich schaue auf. Es ist das erste Mal, dass Clara mich so nennt und ich bekomme bei achtundzwanzig Grad und Sonnenschein eine Gänsehaut.

Unsere Nächte sind kurz. Morgens um sechs Uhr kitzelt die Kleine ihren Vater wach. Nachdem Tobi sie in den Kindergarten bringt, geht er einkaufen und bereitet das Mittagessen vor. Vormittags kümmere ich mich um die Geschäfte. Nach dem gemeinsamen Mittagsessen wechseln wir. Bis zum Abend beschäftige ich mich mit Clara, während Tobias kreativ im Büro Atelier arbeitet. Die Abende gehören uns glücklichen Eltern. Besuche bei René beschränken sich auf den Samstagabend.
   »Wie geht es der Bilderbuchfamilie«, fragt Nane am Telefon. Ich ignoriere ihren sarkastischen Unterton. Zwar hat Tobi sich bei ihr für die Vorwürfe entschuldigt, aber das Verhältnis ist nicht mehr so freundschaftlich, wie vor ihrem Streit. Nane hat sich verändert. Uns Frauen verbinden überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr. Wir leben in verschiedenen Welten. Sie zieht den Umgang mit ihren neuen Bekannten aus dem Yachtclub vor. 
   »Ich werde mein Haus verkaufen und nach Korsika ziehen«, berichtet sie. Ein Wiener Finanzberater macht ihr seit Wochen den Hof. Ich lernte ihn schon kennen, als ich Nanes neue Villa besuchte. Er ist mir unsympathisch. Ich empfinde ihn als aufdringlich und überheblich. Optisch erinnert er mich an Norbert. Allerdings ist er noch fetter und hat noch weniger Haare, als das Hamburger Original. Ich erfahre, dass der Wiener Nane überredet hat, in einen Hotelkomplex zu investieren und ihr gerade erworbenes Anwesen wieder abzustoßen.
  »Handelst du nicht übereilt?« Die neureiche Nane ist keine Expertin in finanziellen Dingen. Sie kann nur Geld ausgeben.
   »Du meinst wohl, glücklich zu sein, wäre dein persönliches Privileg! Du bist doch auch mit Tobi auf und davon. Also warum gönnst du es mir nicht?« Ich schüttle den Kopf und frage mich, wie ich mit dieser Frau überhaupt einmal befreundet sein konnte. Ich wünsche ihr alles Gute. »Sie rennt in ihr Unglück«, sage ich leise.


Ich stimme Tobias zu, René das Projekt Hochzeitsnachfeier zu überlassen. Seit Tagen klingeln Lieferanten und junge Bühnenbauer, die im Garten eine Tanzfläche und einen Überstand für die Musiker bauen.
   »Wird das nicht eine Nummer zu groß«, frage ich besorgt. »Hier heiraten doch keine Thronfolger!«
   »Mach dir über die Kosten keine Gedanken. Ich habe das Appartement verkauft. Ich will, dass du die schönste Feier aller Zeiten bekommst.« Ich freue mich auf unsere Gäste. Neben der Familie und Freunden aus dem Ort haben auch ehemalige Geschäftspartner und Kollegen ihr Kommen zugesagt. Viele dieser lieben Menschen habe ich lange nicht gesehen. Ich bin schon seit Monaten offiziell die Frau an Tobis Seite, aber erst mit diesem Fest soll es richtig komplett werden. Am Abend vor dem großen Ereignis liegen wir wach im Bett.  
   »Ich hab dich so lieb.«
   »Mehr fällt dir zu mir nicht ein?«, lacht er und zieht ein kleines Buch, in das er seit Tagen heimlich schreibt aus dem Nachtschrank und übergibt es mir mit den Worten: »Ich wollte es eigentlich morgen vor all unseren Gästen vorlesen, aber ich fürchte es ist nicht ganz jugendfrei.« Ich knipse die Nachttischleuchte an und lese die erste Seite. Warum ich dich so liebe
   »Lies du vor«, juche ich und setze mich auf. Die nächste halbe Stunde lache, weine und schäme ich mich.
   »Gut, dass du es mir allein vorgelesen hast.«

Das Fest ist unbeschreiblich schön. Sophie spricht lange mit Frederik. Sie hat vor, ihm ihre Anteile an der Kosmetikfirma zu übertragen und will ihn bitten, ihre Nachfolge anzutreten. Meine Schwester will in den wohlverdienten Ruhestand treten. In einem Anflug von Glückshormonen schlage ich vor, die Firma im Ganzen an ihn zu übertragen.
   »Es ist keine schlechte Idee, wieder nach Hamburg umzusiedeln. So kann ich mich besser um die Kinder und um Papa kümmern«, sagt er.
   »Dein Vater braucht deine Hilfe nicht. Kümmere dich ums Geschäft. Dahinten stehen die Leute vom Sender. Es ist eine gute Gelegenheit, über weitere Aufträge zu sprechen«, sagt Sophie und schickt ihren Neffen auf Akquisition. Ich tanze mit Clausen.
   »Willst du deine Mode nicht bei uns verkaufen«, fragt der Chef vom Teleshopping Sender.
   »Verkaufe du deine Paillettenshirts und deine Fett-Weg-Unterwäsche. Wir machen weiter in Kunst.« Als Steffen abklatscht, um noch einmal mit seinem alten Mädchen zu tanzen, fragt er: »Und du hast wirklich Lust, in deinem Alter noch einmal die Mutter für so ein kleines Kind zu spielen?«
   »Ich spiele nicht Steffen. Ich bin es!«.

Tobias spannt die Hochzeitscollage auf einen Rahmen und hängt das neue Bild zusammen mit mir an die Wand. Die kahle weiße Wand beginnt sich füllen. Die Nachsaison hat begonnen und ich bin froh, dass der Ort wieder den Einheimischen gehört. Auf einen Plausch fahren wir zu René und treffen auf Nane. Verheult sitzt sie an einem Einzeltisch und trinkt einen Kaffee. Der Wiener hat sie um ihr Vermögen gebracht. Der Hotelkomplex, in den sie ihr ganzes Geld investiert hat, bestand nur auf dem Papier. René lehnt ihre Bitte nach einem Job ab.
   »Was ist mit deinem Haus in Hamburg?«
   »Alles weg«, heult sie. Ihr bleibt nur Norberts Wagen, den sie gegen das Flugticket eingetauscht hatte. Aber der gehört ihr nicht einmal und sie kann ihn nicht zu Geld machen. Tobias Mitleid hält sich in Grenzen. Ich aber gehe zum Geldautomaten und helfe ihr mit Bargeld aus. Nane will ihren Neustart in Hamburg angehen. Freunde hat sie in Frankreich keine mehr. Für ihre Bekannten aus dem Yachtclub ist sie eine Persona non grata.
   »Ich war eine gutversorgte Ehefrau mit drei kostbaren Ringen an jedem Finger. Hättest du mich nicht aufgestachelt, wäre mein Leben noch in Ordnung. Was bin ich jetzt? Eine brandverletzte Frau ohne Geld, ohne Mann und ohne Dach über dem Kopf. Es ist alles deine Schuld«, schimpft Nane. Sie nimmt die Geldscheine vom Tisch und verlässt das Lokal.
   »Die spinnt doch«, sagt René und Tobias fragt: »Das nimmst du dir doch nicht zu Herzen?«
   »Ich wünsche ihr viel Glück.« Das Thema Nane und Südfrankreich hat sich erledigt.