20.

Libby, warum bist du auf?«, fragte Hannah. »Es ist kurz vor vier.« Libby lief im Wohnzimmer auf und ab. »Möchtest du vielleicht eine Tasse Tee?«

Libby schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht schlafen, aber du solltest wieder ins Bett gehen.«

»Du hast geweint.« Hannah wedelte mit einer Hand in Richtung Küche. »Du brauchst etwas Beruhigendes. Hast du überhaupt geschlafen, seit du Tyson das letzte Mal gesehen hast?«

Libby schüttelte den Kopf. »So gut wie gar nicht. Ich versuche es, aber ich habe immer schreckliche Albträume.«

Joley streckte den Kopf zur Tür herein. »Führt ihr beide ein privates Gespräch oder dürfen andere auch mitreden?«

Libby lächelte sie liebevoll an. »Ich würde dich ja fragen, warum du um diese Tageszeit noch auf bist, aber du gehst ja nie vor dem Morgengrauen ins Bett.«

Joley zuckte die Achseln und machte es sich auf einem breiten Liegesessel bequem. »Ich habe schon immer an leichten Formen von Schlaflosigkeit gelitten. Erinnerst du dich nicht mehr daran, wie schwer es Mom abends hatte, mich ins Bett zu kriegen?«

»Arme Mom. Aber Kate war auch nicht viel besser. Sie hat immer mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke gelesen«, erinnerte sich Hannah. »Das hat Dad wahnsinnig gemacht.«

»He!« Abigail kam mit ihrem Kopfkissen in der Hand hereinspaziert. »Wenn ihr hier ein Treffen veranstaltet, möchte ich dabei sein. Außerdem sollten die Wale in etwa eineinhalb Stunden hier vorbeikommen. Wir können uns auf die Klippe setzen und sie beobachten.«

»Nur du weißt immer ganz genau, wann eine Gruppe von Walen hier vorbeischwimmt«, sagte Hannah. »Wir haben immer solches Glück. Wir verpassen sie nie.«

»Es geht nicht an, dass ihr allein hier unten sitzt«, sagte Elle, als sie sich ihnen anschloss. »Wenn ihr alle eine Party feiert, hättet ihr mich einladen sollen.«

Libby lachte mit Mühe. »Ihr seid alle verrückt.« Es überraschte sie überhaupt nicht, als auch Sarah und Kate mit ihren Kopfkissen erschienen.

Als sie nach unten gekommen war, hatte sie kein Licht eingeschaltet, sondern sich allein im Dunkeln hingesetzt und geweint. Unruhe hatte sie gepackt, und sie hatte nicht stillsitzen können. Wie eine Löwin in einem Käfig war sie umhergestreift. Jetzt fühlte sie sich von ihrem Kummer erschöpft.

»Libby«, sagte Sarah behutsam, »du verausgabst dich.«

»Ty hat kein einziges Wort gesagt«, brach es aus Libby heraus. Sie war wild entschlossen gewesen, stoisch zu bleiben, aber als sie jetzt von ihren Schwestern umgeben war, musste sie ihnen einfach sagen, wie ihr zumute war – und was sie fürchtete. »Nicht ein einziges. Weder zu mir noch zu Jackson. Er wirkte am Boden zerstört und vollkommen allein.«

»Hier, Liebling, trink das.«

Geistesabwesend nahm Libby die Teetasse entgegen, die Hannah ihr reichte. »Ty hat seinen Arm um mich gelegt, und ich konnte spüren, dass er restlos erledigt war. Ich habe versucht, ihm zu helfen, aber er stand unter Schock und nichts, was ich getan habe, konnte tief genug zu ihm vordringen, um ihn zu trösten. So nutzlos habe ich mich noch nie gefühlt. Er hat so viel verloren. Alles. Und ich konnte ihm überhaupt nicht helfen.« Sie blinzelte gegen ihre Tränen an. »Tyson hat mich stehen lassen und nicht einmal zurückgeblickt.«

Hannah legte Libby eine Hand auf die Schulter. »Du hast selbst auch unter Schock gestanden, Libby, und du hattest gerade gewaltige Energien verbraucht, um deinen komplizierten Bruch zu heilen. Du musst etwas mehr Nachsicht mit dir selbst haben.«

»Ganz abgesehen davon, dass du um dein Leben gekämpft hast«, hob Joley hervor.

»Dem Himmel sei Dank, dass du mir dieses Manöver mit der Keule beigebracht hast«, sagte Libby. »Sonst wäre ich nie heil davongekommen. Ich habe die Taschenlampe dafür eingesetzt. « Sie trank einen Schluck Tee und wurde sofort ruhiger.

Als sie sich im Zimmer umsah, wurde ihr plötzlich bewusst, was ihr schon von Geburt an gegeben war. Sarah und Abigail zündeten diverse Duftkerzen an. Kate legte Holz auf das Feuer. Joley dämpfte das Licht. Elle und Hannah warfen Kissen auf den Boden, damit sie sich, wie gewohnt, im Kreis hinlegen konnten. Alles, was Libbys Schwestern taten, war für sie bestimmt. Das Haus war behaglich und voller Liebe. Ihre Schwestern hatten sich alle eingefunden, waren um vier Uhr morgens aufgestanden und das nur, um ihr beizustehen. Sie war in jedem einzelnen Moment ihres Daseins von Liebe umgeben. Ihre Schwestern würden immer für sie da sein.

Tränen traten in ihre Augen. Sie stellte die Teetasse ab, ließ sich auf den Fußboden gleiten und weinte hemmungslos. »Es ist schon eine Woche her, und er hat sich immer noch nicht gemeldet.«

»Schätzchen.« Sarah strich ihr über das Haar. Kate und Abbey rieben ihren Rücken. »Er wird sich melden. Er muss nur erst mit sich selbst ins Reine kommen, bevor er bei dir aufkreuzt. «

»Es ändert alles nichts daran. Ich habe alles, was zählt, und Ty hat nichts. Wohin ich auch gehe und was ich auch tue, ich habe euch alle hinter mir.« Sie nahm Joleys Hand. »Ihr passt auf mich auf und gebt mir Rückendeckung. Er hat nicht einmal Eltern gehabt, die ihm das Gefühl gegeben haben, geliebt zu werden. Sam war sein Ein und Alles. Wie kann er sich jemals wieder davon erholen?« Libby wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. »Ihr hättet ihn sehen sollen. Er war am Boden zerstört.«

»Libby«, sagte Sarah mit sanfter Stimme. »Tyson hat nicht alles verloren. Er hat immer noch dich. Zu dieser Erkenntnis muss er aber selbst gelangen, und das muss er ganz allein schaffen. Du bist der Mensch, der ihm die Liebe und das Verständnis geben wird, die er nie gehabt hat. Du bist der Mensch, der sich für ihn einsetzen, ihm den Rücken stärken und ihn unterstützen wird. Er hat nicht alles verloren. Es kommt ihm nur im Moment so vor. Aber er ist stark, und eines Morgens wird er erwachen und wissen, dass du alles für ihn bist. Und dann wird er zu dir zurückkommen. Daran musst du glauben.«

Libby war sich nicht so sicher. Sarah hatte Tyson nicht gesehen. Sie hatte weder in seine Augen geblickt noch seinen Schmerz empfunden. »Er hat sich kein einziges Mal nach mir umgesehen, als er fortgegangen ist«, flüsterte sie.

Sarahs Wachhunde sprangen die Stufen zum Wohnzimmer hinunter und winselten vor der Haustür. Sarah sah Kate an und zog eine Augenbraue hoch. Sie trat ans Fenster und schaute hinaus. »Libby. Draußen läuft ein Mann herum. Er wirkt sehr einsam und verloren … und er sieht ganz nach Tyson aus.«

Libby sprang auf und eilte ans Fenster. Ihre Schwestern drängten sich hinter ihr. Auf dem Pfad, der zum Strand hinunterführte, stand ein Mann, der die Hände in den Taschen hatte und aufs Meer hinausblickte. »Das ist Ty. Ich muss zu ihm gehen.«

Libby drückte ihren Schwestern die Hände, bevor sie aus dem Haus rannte.

Tyson stand da und blickte aufs Meer hinunter. Seine große Gestalt zeichnete sich als Silhouette gegen den Himmel ab, und die Brise fuhr durch sein Haar. Er hatte ihr sein Profil zugewandt, und sie konnte den erbarmungslosen Kummer sehen, der so tief in seine Gesichtszüge gemeißelt war. Er wandte ihr sein Gesicht zu, als hätte er ihre Gegenwart wahrgenommen.

Ihr Herz blieb fast stehen. Die Wogen von Leid, Zorn und Verwirrung, die er ausstrahlte, überwältigten sie. Er wirkte total niedergeschlagen, und der Schmerz über seinen Verlust und Sams Verrat hatte Verheerungen in seinem Gesicht angerichtet.

Alles, was sie war – die Heilerin, seine Geliebte, Freundin und die Frau in ihr – reagierte auf seinen Anblick mit so tiefem Mitgefühl, dass sie gegen die Tränen ankämpfen musste.

»Libby.« Er sprach ihren Namen aus wie eine Zauberformel, als sei er ein schützender Talisman.

Sie ging auf ihn zu und schlang stumm die Arme um ihn. Tyson begrub sein Gesicht an ihrem Hals. Ein Schauer überlief ihn, und er hielt sie so fest, dass sie blaue Flecken bekommen würde. Ein gepeinigtes Schluchzen löste sich aus seiner Kehle. Libby schloss die Augen, als sie seine Tränen auf ihrem Hals fühlte.

»Ich bin da, Ty. Ich werde immer für dich da sein«, flüsterte sie, während auch ihr Tränen über das Gesicht strömten. Sie hielt ihn in ihren Armen und ließ ihn weinen, bis sein Kummer ihn erschöpft hatte.

Tyson richtete sich auf, sah sich um und blinzelte, als hätte er keinen Schimmer, wie er hierher gekommen war.

»Komm, lass uns zum Strand hinuntergehen«, drängte sie ihn, da sie wusste, dass er sich ihrer Familie in diesem Zustand nicht zeigen wollte.

Tyson nahm sie an der Hand, als sie Seite an Seite über den Sand liefen und Wolken über sie hinwegzogen. So weit das Auge reichte, setzte das Meer seinen immer währenden Rhythmus der Gezeiten fort. Sie liefen eine Meile, ehe sie miteinander sprachen.

»Ich wusste nicht, wohin sonst ich hätte gehen können, Libby. Das Haus ist abgebrannt. Sam ist tot. Ich wusste nicht, wohin mit mir. Ich habe stundenlang in der Leichenhalle gestanden und seine Leiche angestarrt, ohne zu wissen, was ich als Nächstes tun sollte.«

Der Wind streifte ihre Gesichter, zerzauste ihnen das Haar und zog an ihren Kleidungsstücken, als sie ihren Weg über den Strand fortsetzten. Über ihren Köpfen schrie eine Möwe.

»Warum habe ich es nicht gewusst? Angeblich bin ich ein Genie, und dann hatte ich auf einmal keine Ahnung, was ich tun sollte. Ich habe nichts gemerkt. Er brauchte Hilfe. Wie konnte ich nur so verflucht blind sein, dass mir das entgangen ist?«

Sie blieb stumm, denn sie wusste, dass er jetzt reden und eine Lösung für sich selbst finden musste. Ihn traf keine Schuld. Sam war ein Psychopath. Niemand, der ihm nahe stand, hatte es gewusst – oder auch nur geahnt. Selbst wenn Tyson es gewusst hätte, hätte er ihm nicht helfen können, ganz gleich, wie klug er war. Sam war nicht mehr zu helfen gewesen.

Tyson blieb abrupt stehen, drehte sich zu ihr um und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar. »Ich habe ihn im Stich gelassen. Ich habe nicht gesehen, was sich vor meinen Augen abgespielt hat. Ich war viel zu sehr mit meinen Forschungen beschäftigt, und es hat mir nichts ausgemacht, dass er Geld aus dem Nachlass stiehlt. Ich habe ihn nicht ein einziges Mal deswegen zur Rede gestellt. Das hätte ich tun müssen, Libby. Ich dachte, es spielt keine Rolle, aber ich hätte ihn darauf ansprechen müssen. Ich habe die Dinge aus dem Ruder laufen lassen.«

Sie legte stumm ihre Hand auf sein Herz und fühlte seine unendliche Trauer. Als Heilerin wollte sie ihm all diesen Schmerz nehmen. Als Frau, die ihn liebte, ließ sie ihn reden und ihn seinen eigenen Weg aus dieser furchtbaren Situation finden. Es war einer der schwierigsten Momente, die sie jemals durchlebt hatte.

»Sam hat diese Männer dafür bezahlt, dass sie ihn zusammenschlagen. Jackson hat sie gefunden. Sam hat sie selbst engagiert. Mein Gott.« Er schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn im Stich gelassen, Libby. Und dasselbe könnte mir mit dir passieren.«

Die Schläge, die er in den letzten Tagen eingesteckt hatte, waren Schwindel erregend. Durch seine eigene Blindheit hatte er Libbys Leben in Gefahr gebracht. Sein Leben lang hatte er Scheuklappen getragen, und jetzt war es zu spät. Sein einziger Angehöriger, auf den er immer gezählt hatte, war tot. Der Gedanke, Libby aus reiner Nachlässigkeit oder Dummheit ebenfalls zu verlieren, war ihm unerträglich. Angeblich war er ein Genie, doch ihm war nichts, aber auch gar nichts, aufgefallen.

Er nahm Libbys Gesicht in seine Hände. »Das würde ich nicht verkraften. Ich habe mir viele Gedanken über mein Leben und über diese letzten Wochen mit dir gemacht. Ich bin ein Wrack, das weiß ich selbst, und ich bringe so viele Altlasten mit, dass ich mir nicht vorstellen kann, weshalb du es mit mir versuchen solltest. Aber ich brauche dich, Libby. Ich schwöre es dir, ich stehe kurz davor, den Verstand zu verlieren. Ich brauche dich, Baby. Ohne dich weiß ich nicht weiter.«

Er hatte sich selbst darauf abgerichtet, fest daran zu glauben, dass er keinen Menschen brauchte, und doch kam er allein nicht zurecht und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Sein ganzes Leben war über den Haufen geworfen worden. Er hatte ihr nichts mehr zu bieten, nicht einmal mehr seinen brillanten Verstand. Und der war im Moment so kaputt wie der Rest von ihm. Aber er brauchte sie, und wenn sie sich jetzt von ihm abwandte, dann hatte er keine Ahnung, was er tun würde. Er fühlte sich nackt und verletzbar, von allem entblößt, was er war und woran er glaubte. Seine Seele war zerfetzt.

Libby strich ihm mit einer solchen Zärtlichkeit die Tränen aus dem Gesicht, dass sich sein Innerstes nach außen kehrte. »Ich werde immer nur dich wollen, Ty. Ich liebe dich von ganzem Herzen, und ich setze absolutes Vertrauen in dich. Was auch immer passiert, gemeinsam werden wir es bewältigen.«

»Wie könntest du Vertrauen in mich setzen? Ich habe das Vertrauen in mich selbst verloren. Du wärest durch meine Schuld beinah ums Leben gekommen. Als alles schon zu Ende war, bin ich noch umgekehrt, um ihn zu retten, und er hätte dich vor meinen Augen ermordet.« Er würde nie mehr in der Lage sein, nachts seine Augen zu schließen, ohne diesen Moment von neuem zu durchleben. »Ich konnte mich nicht aus der Öffnung hieven und rechtzeitig zu dir gelangen. Ich musste hilflos zusehen, wie er den Abzug betätigt hat.«

Libby nahm sein Gesicht in ihre Hände und zwang ihn, ihr in die Augen zu sehen. »Ich liebe dich, weil du ihn retten wolltest. Genau das zeigt, was für ein Mensch du bist, Ty. Das ist der Mann, in den ich mich verliebt habe und den ich immer lieben werde.«

»Bist du sicher, Libby? Ich weiß nicht, was zum Teufel ich dir zu bieten habe.«

»Ich weiß genau, was du mir zu bieten hast. Tyson, du bist alles, was ich mir jemals gewünscht habe. Niemand hat mir je das Gefühl gegeben, ein ganzer Mensch zu sein. Ich dachte schon, mit mir stimmt etwas nicht. Nur an deiner Seite fühle ich mich wirklich am Leben.«

Tyson schluckte schwer und drückte einen zarten Kuss auf ihre Lippen. Er kämpfte gegen seine Gefühle an.

»Ich liebe dich, Ty. Daran wird sich nichts ändern. Was Sam zugestoßen ist, war eine grässliche Tragödie, aber es ist nicht deine Schuld.« Die Wellen brachen sich schäumend auf dem Strand, als sie ihn wieder zu dem Pfad zog.

»Vielleicht nicht, Libby, aber es gab Anzeichen. Wenn ich ein anderer Mensch wäre und meinen Mitmenschen mehr Beachtung geschenkt hätte als meiner Arbeit, hätte ich es bemerkt. Er hat gespielt wie verrückt. Anfangs hat er die Kreditkarten benutzt und dann ist er an das Bargeld gegangen, das wir im Haus hatten, und schließlich hat er sich sogar an die Bank gewandt. Er hat Gelder unterschlagen und veruntreut, wahrscheinlich aus blanker Verzweiflung.«

Libby schlang einen Arm um seine Taille und zwängte sich in einer Geste der Solidarität unter seine Schulter. Sie tat, was sie konnte, auch wenn es nicht viel war. Sie hielt ihn warm, blieb dicht bei ihm und mischte sich nicht in seine Diagnose ein. Tyson brauchte ihre Meinung nicht zu hören. Er musste darüber sprechen, und sie ließ ihn ungehindert ausreden.

»Als mir bewusst geworden ist, dass er ein echtes Problem mit dem Glücksspiel hat, habe ich beschlossen, es sei unfair von mir, ihn noch mehr in Versuchung zu führen, indem ich ihn meine finanziellen Angelegenheiten regeln lasse. Von meiner Seite aus war es reine Faulheit, ihm die ganze praktische Abwicklung anzuvertrauen. Daher habe ich im Lauf der letzten Monate versucht, ihm die Dinge langsam, aber sicher aus der Hand zu nehmen. Ich habe einen Buchhalter engagiert, der uns beiden feste monatliche Beträge auszahlt. Sam hat das zwar gar nicht gefallen, aber er hat sich einverstanden erklärt.«

»Er muss ständig gefürchtet haben, du könntest hinter das Ausmaß seiner Unterschlagungen kommen.«

Tyson seufzte tief. »Als ich dieses Jahr nach Hause zurückgekommen bin und ihm mitgeteilt habe, ich hätte die Absicht zu heiraten, ist er in Panik geraten. Solange ich allein stehend war, konnte er frei über das Geld verfügen und außer ihm gab es keinen Erben. Kurz darauf ist der Gurt während des Rettungsmanövers gerissen.«

Tyson schaute mit trostloser Miene auf das brodelnde Meer. Er bückte sich, hob ein Stück Treibholz auf und schleuderte es weit hinaus, blickte zum Himmel auf und brüllte sein Leid und seine Wut heraus, bis er glaubte, wahnsinnig zu werden.

Sein Schmerz war ihr unerträglich. Libby schlang ihm in ihrer Verzweiflung die Arme um den Hals und wandte ihm ihr Gesicht zu, damit er sie küsste. Mit dem Quell an heilenden Energien, der in ihrem Innern sprudelte, konnte sie kein gebrochenes Herz heilen, doch die Liebe würde dazu fähig sein. Und sie hatte ihm mehr als genug Liebe zu geben.

Tyson sah ihr lange in die Augen und fand dort Liebe, die nur für ihn da war. Es gab keinen anderen, den sie so ansah. Nur darauf konnte er zählen. Es war das Einzige, was ihm noch geblieben war. Er küsste sie zärtlich und versuchte, ihr ohne Worte zu übermitteln, was sich in ihm abspielte.

Seine Gefühle für sie beschränkten sich nicht darauf, dass er sie brauchte. Das war ihm klar, aber im Moment war er so leer, dass er sein Augenmerk auf nichts anderes richten konnte.

»Du bist alles, was ich brauche«, flüsterte sie, als könnte sie seine Gedanken lesen. Ihre Finger glitten auf seine brennende, schmerzende Kehle und fast augenblicklich verflog der Schmerz. Sie ließ ihre Hände unter sein Hemd und über seine Brust gleiten, bis sie auf seinem Herz lagen, das rasend schnell schlug. »Ich liebe dich so sehr, Ty. Wenn du dich im Moment an nichts anderem festhalten kannst, dann halte dich mit beiden Händen an meiner Liebe fest.«

»Ich wünschte, ich könnte dir sagen, wie viel du mir bedeutest und wie sehr ich dich liebe, Libby.«

»Ich kann es fühlen, Ty.«

Tyson küsste sie wieder und zog sie enger an sich. Er merkte, dass sie versuchte, ihn vor den Elementen zu beschützen, und er spürte bereits, wie ihre heilende Wärme durch seinen Körper strömte und ihre Zärtlichkeit sein Leid milderte. Seine Hände fanden ihr Haar, das ihm so lieb war, und er atmete den vertrauten Duft ein. Er begrub sein Gesicht darin und hielt sie in den Armen, während um sie herum der Wind wehte. Seine Brust fühlte sich schon jetzt nicht mehr ganz so zugeschnürt an.

»Komm, lass uns gehen, du musst frieren«, sagte er.

»Abbey hat gesagt, dass die Wale kommen. Wenn du magst, können wir sie von den Klippen aus beobachten«, schlug sie vor, als sie sich wieder in Bewegung setzten.

»Warum wirkt das Meer so beruhigend?«, fragte er. Ein Gefühl von heiterer Gelassenheit fing an, den unbändigen Zorn und den gnadenlosen Kummer zu bändigen. Er wusste, dass es nicht das Meer war. Es war die Frau, die neben ihm herlief. Er spürte, wie die Wärme ihres Körpers in die Kälte in seinem Innern vordrang und ihn aufzuwärmen begann.

»Das Meer erinnert uns daran, dass wir nur ein kleiner Teil einer viel größeren Welt sind. Die Welt dreht sich nicht um uns, und wir tragen auch nicht die Verantwortung für alles und jeden auf unseren Schultern. Das stellt eine enorme Erleichterung für uns dar. Wir gehen derart in unserem eigenen Leben auf, dass wir uns einbilden, wir könnten alles wieder in Ordnung bringen.« Sie lächelte ihn an. »Aber ich glaube, das Meer ist auch beruhigend, weil es so unglaublich schön ist.«

Sie stiegen langsam die Stufen hinauf. Auf halber Höhe deutete sie auf die Stühle, die so aufgestellt waren, dass man aufs Meer blickte. »Abbey sagt, eine Gruppe von Walen wird vorbeischwimmen. Glaube mir, das ist beeindruckend.«

Sie nahmen auf den Stühlen in der Mitte Platz und blickten auf das Wasser hinunter. Die Morgendämmerung brach gerade an. Tyson hielt Libby an sich geschmiegt. Er brauchte ihre Nähe, denn er fühlte sich immer noch hilflos und verloren, und sie war sein einziger Anker.

Er war verblüfft, als Joley hinter ihnen auftauchte und beide in eine Decke hüllte. »Es ist immer noch recht kühl.« Sie ließ sich auf den Stuhl neben ihm sinken.

Hannah reichte ihm eine dampfende Tasse Tee, während Elle Libby eine Tasse in die Hand drückte, bevor sich die zwei Schwestern setzten.

»Ich habe noch ein Fernglas gefunden, das wir für Notfälle im Haus haben, Ty«, sagte Sarah und reichte es ihm.

»Ich habe Libbys Fernglas mitgebracht«, fügte Kate hinzu.

»Die Wale kommen.« Abigail deutete auf das Meer.

Tyson strengte seine Augen an, um die prachtvollen Geschöpfe zu sehen, aber er sah nur die einlaufenden Wellen und die Wasseroberfläche, die ständig in Bewegung war.

Joley fing an, auf ihrer Gitarre zu spielen, und die sieben Schwestern stimmten einen leisen Gesang an. Ihre Stimmen trieben auf das Meer hinaus. Tyson spürte die enormen Energien, von denen er plötzlich umgeben war. Sie sprangen von einer Schwester auf die andere über. Er nahm wahr, dass nicht nur durch sie Kraft strömte, sondern aufgrund seiner Verbindung zu Libby auch durch ihn. Und er fühlte auch das Band der Liebe und der Kameradschaft zwischen den Schwestern.

Er ließ das Meer nicht aus den Augen, als dunkle Schatten unter der Wasseroberfläche Gestalt anzunehmen begannen und der Melodie entgegenstrebten. Der Atem stockte in seiner Kehle, als die Wale auftauchten und aus ihren Blaslöchern Wasser hoch in die Luft spritzte. Etliche erhoben sich über den Wasserspiegel und sandten Fontänen aus. Das Wasserballett war faszinierend, und er beugte sich vor und hielt den Atem an.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er so dagesessen hatte, als er begriff, dass er nicht nur von den Drake-Schwestern umgeben war, sondern von noch viel mehr. Er spürte, dass sie ihn akzeptierten und ihm anboten, ihn in ihre Familie aufzunehmen – in einen Kreis von Liebe, die so stark war, dass nichts sie zerstören konnte. Dieses immense Geschenk überwältigte ihn. Das war es also, was Jonas Harrington mit den Drakes verband.

Einen Moment lang verschwamm das Meer vor seinen Augen, während er seine Gefühle zu bezwingen versuchte. Er zog Libby in seine Arme und auf seinen Schoß und küsste sie leidenschaftlich. »Ich liebe dich, Libby Drake«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Und deine Familie werde ich auch lieben, nicht wahr?« Er hatte das Gefühl, auf das meiste, was die Drake-Schwestern taten, würde er genauso wie Jonas reagieren.

»Natürlich«, erwiderte Libby und sah ihn mit leuchtenden Augen an. »Hierher gehörst du. Zu mir. Zu uns. Du hast schon immer dazugehört.«