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10.
Du kannst keine Spritztour auf seinem Motorrad mit ihm unternehmen und mehr gibt es dazu nicht zu sagen«, sagte Sarah. »Was denkst du dir bloß dabei, Libby? Hast du den Verstand verloren?«
»Ich habe schon auf einem Motorrad gesessen«, hob Joley hervor. »Und zwar auf dem Fahrersitz, wenn ihr es genau wissen wollt.«
»Das ist nicht gerade eine hilfreiche Bemerkung, Joley.« Sarah bedachte ihre aufsässige Schwester mit einem strengen Blick, der dazu gedacht war, sie im Zaum zu halten. »Motorräder sind gefährlich.«
»Das gilt auch für Flugzeuge und Autos und Bergsteigen. Es kann gefährlich sein, die Straße zu überqueren«, sagte Joley, die sich von Sarahs Maßregelung offensichtlich nicht beeindrucken ließ. »Himmel noch mal, es kann sogar gefährlich sein, auf einer Bühne zu stehen und zu singen.«
Sarahs Aufmerksamkeit schwenkte augenblicklich von Libby zu Joley um. »Was soll das heißen?«
»Das soll heißen, dass das ganze Leben gefährlich sein kann, Sarah, und trotzdem verbringen wir es nicht damit, uns in einem Wandschrank zu verkriechen, weil wir uns vor jeder Kleinigkeit fürchten.«
»Tyson Derrick ist ein Verrückter. Willst du wirklich, dass er mit Libby hinter sich auf seinem Motorrad durch die Gegend rast? Das ist doch Wahnsinn.«
Libby zog ihre Knie an und warf einen Blick auf die Standuhr. In ihren Augen war diese Auseinandersetzung sowieso sinnlos. Der Mann hatte sie besinnungslos geküsst und sie irgendwie dazu gebracht, in eine kurze, langsame Spazierfahrt auf seinem Motorrad einzuwilligen und sich »die Schönheit der Küste wirklich zeigen zu lassen«. Sie seufzte. Das klang doch nach etwas, worauf sich ein böses Mädchen einlassen würde. Ihre kleine private Auflehnung dagegen, immer genau das Richtige zu tun. Stets verantwortungsbewusst zu handeln. Aber was für eine Rolle spielte das jetzt noch?
Sie konnte spüren, wie die Tränen in ihren Augen zu brennen begannen. Dieser Mann hatte sie jetzt schon zweimal zum Weinen gebracht. Wäre es nicht ganz furchtbar, wenn er Recht hätte? Wenn sie wirklich total überempfindlich war? Er war jetzt schon über eine Stunde zu spät dran und alle ihre Schwestern waren sich ihres Elends bewusst. Deshalb waren sie so gereizt. Sarah und Joley versuchten nur, sie zu beschützen, jede von beiden auf ihre eigene Weise. Aber das brauchte sie nicht. Sie war durchaus in der Lage, sich selbst gegen den Idioten mit dem brillanten Verstand zu wehren. Wie konnte er es wagen, sie zu versetzen?
»Ich bin sicher, dass Ty sehr vorsichtig fahren würde, wenn er mit Libby einen Ausflug macht«, sagte Joley. »Ihm liegt ganz offensichtlich viel an ihr.« Sie sah Sarah finster an und wollte sie zwingen, einen Rückzieher zu machen. Libby wirkte todunglücklich, und wenn Tyson nicht innerhalb der nächsten fünf Minuten auftauchen würde, würde Joley persönlich dafür sorgen, dass er so schnell mit keiner Frau mehr ausgehen würde.
Libby erhob sich abrupt. »Ich fahre zu ihm. Er hat sich schon mehr als eine Stunde verspätet. Ich denke gar nicht daran, noch länger hier rumzusitzen und auf ihn zu warten. Ich werde ihm sagen, was für ein Blödmann er ist und dass er mich nie mehr anrufen oder besuchen soll.«
»Ruf ihn doch einfach an«, riet ihr Sarah. »Warum willst du dir zumuten, es ihm ins Gesicht zu sagen? Halte dich einfach von ihm fern und spare dir den ganzen Kummer.« Sie hätte ihre jüngere Schwester gern in ihre Arme gezogen und sie festgehalten, bis dieser Ausdruck von Niedergeschlagenheit und Verletztheit für alle Zeiten von ihren Zügen verschwunden war.
»Nein, das muss ich persönlich tun, Sarah«, sagte Libby. »Er ist anders. Ich weiß, dass es dir schwer fällt, mit ihm auszukommen. Und in Momenten wie diesem kann ich dir selbst nicht sagen, warum ich mich schon immer zu ihm hingezogen gefühlt habe, aber es ist so. Ich unterhalte mich gern mit ihm, und ich verstehe ihn sogar dann, wenn er das, was er sagen will, nicht richtig ausdrückt, was meistens der Fall ist. Wenn wir zusammen sind, greifen die Zahnräder eben perfekt ineinander. «
»Er braucht dich«, sagte Elle mit sanfter Stimme. »Und du brauchst ihn. Es tut mir Leid, dass er dir wehtut, Libby. Ich weiß, dass von seiner Seite keine böse Absicht dahintersteht. Ich hätte ihn nicht in deine Nähe gelassen, wenn seine Gefühle nicht aufrichtig wären. Er besitzt den analytischsten Verstand, der mir je begegnet ist, und die Geschwindigkeit, mit der er Schlüsse zieht, ist rasant. Das muss ihn manchmal verrückt machen. Aber wenn es um dich geht, ist er nicht analytisch, selbst wenn er sich noch so sehr anstrengt. Du berührst ihn in seiner Seele, und das ist ihm sehr bewusst. Und ihm ist auch deutlich bewusst, wie sehr er dich braucht.«
»Warum versucht er dann, sie zu verändern?«, fragte Sarah.
»Gefühle sind ihm nicht geheuer, Sarah«, sagte Elle.
Elle wirkte müde, und Libby legte einen Arm um ihre jüngste Schwester. Augenblicklich floss eine wohltuende Wärme zwischen ihnen. Elle lehnte ihren Kopf kurz an Libbys Schulter.
»Ich kann ihm nur raten, sich zu beeilen und sich nicht ewig vor seinen eigenen Gefühlen zu fürchten«, zischte Sarah. »Damon waren Gefühle anfangs auch nicht geheuer, aber er hat mich nie versetzt und auch keine Abneigung gegen meine Familie gehabt, nur weil wir nicht ganz so sind wie andere.«
»Nicht ganz so?«, fragte Joley spöttisch. »Wir sind total ausgeflippt, und das weißt du selbst. Du kannst dem Mann keinen Vorwurf daraus machen, wenn er nicht glaubt, dass wir tun, was wir tun. Sieh den Tatsachen ins Gesicht, Sarah. Er hatte allen Grund zu glauben, wir seien eine Familie von Scharlatanen, und trotzdem wollte er Libby unbedingt sehen. Das sollte dir etwas darüber sagen, was der Mann für sie empfindet. Seine Gefühle müssen echt sein.«
Libby schnappte sich ihre Handtasche. »Wir streiten uns grundsätzlich nicht miteinander und zwischen uns gibt es auch keine Auseinandersetzungen. Ich lasse nicht zu, dass Tyson Derrick das ändert.«
»Libby, Schätzchen.« Sarah sprang eilig auf und schlang ihre Arme um ihre Schwester. »Wir stehen einander so nah, dass uns niemand auseinander bringen könnte. Falls deine Wahl auf Tyson Derrick fallen sollte, werde ich ihn nicht nur akzeptieren, sondern ich werde ihn mit der Zeit auch ins Herz schließen. Das musst du wissen. Ich mache mir nur Sorgen um dich und möchte dich mit allen Mitteln beschützen. Dabei übertreibe ich manchmal, das ist alles. Du besitzt nicht nur äußere, sondern auch innere Schönheit. Du erkennst das an dir selbst nicht, aber du bringst Glanz in jeden Raum, den du betrittst. Wenn er das nicht sieht, hat er dich nicht verdient.«
Libby schlang ebenfalls die Arme um sie und löste sich dann von Sarah. »Ich weiß zumindest, dass ich etwas Besseres verdiene als einen Mann, der mich versetzt, wenn er mit mir verabredet ist.«
Libby konnte die Blicke ihrer Schwestern auf sich fühlen, als sie in ihren Wagen stieg und die Tür mit gezügelter Aggression zuschlug. Sie war genauso aufbrausend wie ihre Schwestern und konnte sich ebenso glühend ärgern wie sie, aber ihre Wut verrauchte auch schnell wieder. Sie fand für alles und jeden eine Entschuldigung, und sie hielt sich selbst für stark. Wenn es notwendig war, konnte sie es gegen jeden aufnehmen. Allerdings war sie in der Lage, immer auch den Standpunkt der anderen zu berücksichtigen. Aber das machte sie noch lange nicht zu einem Fußabstreifer. Und wenn Ty sich einbildete, bloß weil er Verstand besaß und besser küssen konnte als jeder andere Mann weit und breit, könnte er sich erlauben, so mit ihr umzugehen, dann irrte er sich.
Sie fuhr auf direktem Wege zu dem Haus, das Ida Chapman ihrem Sohn und ihrem Neffen vermacht hatte. Es war ein riesiges Haus auf einem wunderschönen Stück Land hoch oben auf einer Klippe. Von der langen Fensterreihe in der Fassade hatten die Bewohner einen Ausblick auf das wogende Meer. Sie parkte vor der Doppelgarage und marschierte entschlossen zur Haustür. Sie läutete, doch niemand reagierte.
Libby ging zur Garage zurück, um nachzusehen, ob Tysons Wagen dort geparkt war. Die Tür stand einen Spaltbreit offen und sie schlüpfte hinein. Drinnen war es düster, und sie hatte bereits zwei Schritte in die Garage hinein gemacht, als ihre Augen sich an das schlechte Licht gewöhnten und sie am hinteren Ende in der Nähe von Tysons Wagen zwei Männer wahrnahm. Beide richteten sich auf und drehten sich zu ihr um. Keiner der beiden Männer war ihr bekannt, doch in der Art, wie sie sich ihr zuwandten, drückte sich Verstohlenheit oder Schuldbewusstsein aus.
Libbys Herz begann rasend zu flattern. Sie wich behutsam zwei Schritte zurück. Sie hatte nicht die geringste Chance, ihren Wagen zu erreichen und wegzufahren, ehe die beiden sie aufhalten konnten, und daher machte sie schleunigst kehrt, rannte die Stufen zu Tysons Haus wieder hinauf und betete, dass die Haustür nicht abgeschlossen war. Sie hörte schwere Schritte, die ihr folgten, als sie die Tür aufriss, sie hinter sich zuschlug und versuchte, sie eilig von innen abzuschließen.
»Warten Sie!« Libby hörte den heiseren Ruf hinter sich. Die Erinnerung an Jonas, wie er in einer Blutlache am Straßenrand lag, und Edward Martinellis Drohungen reichten aus, um die Alarmglocken in ihrem Kopf schrillen zu lassen.
»Tyson! Sam! Hilfe!« Sie schrie die Namen aus voller Kehle. »Ruft die Polizei. Tyson!« Der Türknopf drehte sich, bevor sie das Schloss verriegeln konnte, und sie sprang von der Tür fort und rannte durch das Wohnzimmer in die Richtung, von der sie hoffte, dass dort die Küche war. Sie hatte keine Ahnung vom Schnitt des Hauses und von der Raumaufteilung, aber so gut wie jeder hatte ein Telefon in der Küche.
Sie fand eine Tür, riss sie auf und hörte, dass die Männer hinter ihr her rannten. Eine beleuchtete Treppe führte zum Keller hinunter. Dort musste Tysons Labor sein. Libby schlüpfte durch die Tür und schloss sie hinter sich, und während sie die Treppe hinunterrannte, kam ihr Tyson entgegengeeilt. Er riss sie in seine Arme und hielt sie fest an sich gepresst. »Was ist los? Warum bist du hier? Was ist passiert?«
Die Tür am oberen Ende der Treppe wurde geöffnet und die beiden Männer stiegen behutsam herunter. Tyson stieß Libby hinter sich und bot ihr mit seinem Körper Schutz. Sam tauchte hinter den Männern auf der Treppe auf. »Ich habe Libby schreien hören und bin nach unten gerannt und habe die beiden hier in unserem Haus vorgefunden, Ty.«
»Harry Jenkins und Joe Fields.« Tys Stimme war gesenkt, als er die beiden bei ihren Namen nannte, doch seine Wut war nicht zu überhören. »Was zum Teufel habt ihr in meinem Haus zu suchen? Und was habt ihr mit Libby angestellt?« Er trat einen Schritt vor, und seine Hände ballten sich zu Fäusten.
Harry und Joe wechselten einen langen nervösen Blick miteinander. Harry machte einen behutsamen Schritt auf Ty zu und hatte eine Hand zu einer versöhnlichen Geste gehoben. »Wir wollten sie nicht erschrecken. Sie hat uns überrascht, Ty. Wir haben uns gerade mal umgesehen, als sie plötzlich hereinkam. «
»Was soll das heißen, Sie haben sich ›gerade mal umgesehen‹? «, fragte Sam barsch. »Sie dachten wohl, Sie könnten unangemeldet in unser Haus spazieren? Wer sind diese beiden Idioten, Ty? Soll ich den Sheriff verständigen?«
»Das ist nicht nötig«, sagte Joe. »Wir wollten uns mit Ty unterhalten und haben versehentlich die Dame erschreckt. Das war nicht unsere Absicht.«
»Und wir waren auch nicht im Haus«, fügte Harry hinzu. »Wir waren in der Garage.«
»Ihr habt euch also in meiner Garage rumgetrieben?«, fragte Tyson. »Und dann jagt ihr Libby in mein Haus? Was zum Teufel geht hier vor?«
»Wir haben eine halbe Stunde lang an die Tür geklopft, Ty«, sagte Harry und ließ einen Finger unter seinen Hemdkragen gleiten. »Als uns niemand aufgemacht hat, wollte ich in der Garage nachsehen, ob deine Fahrzeuge da sind, aber ich konnte keinen Lichtschalter finden. Den Wagen konnte ich von der Tür aus sehen, aber dein Motorrad nicht, und deshalb sind wir in die Garage hineingegangen. Wir sind den weiten Weg hierher gefahren, weil wir mit dir persönlich sprechen wollten, und wir wollten nicht einfach unverrichteter Dinge umkehren und wieder zurückfahren. Du hast mir vor etwa einem Jahr erzählt, du hättest ein Labor in deinem Haus. Da du während der Arbeit immer taub für alles bist, habe ich mir gesagt, du könntest zu Hause sein, auch wenn du die Tür nicht aufmachst.«
»Und deshalb habt ihr Libby gejagt?«
»Jetzt hör schon auf, Ty«, platzte Harry aufgebracht heraus. »Du weißt genau, dass ich kein psychopathischer Killer bin. Ich wollte ihr nur versichern, dass wir nicht die Absicht hatten, etwas zu stehlen.« Er lief durch einen der drei langen Gänge zwischen den Reihen von Arbeitsflächen und musterte die diversen Geräte, die darauf standen. »Ich habe doch schon gesagt, dass es mir Leid tut. Was willst du denn noch mehr?«
»Ich will, dass du dich bei Libby entschuldigst, weil du ihr einen teuflischen Schrecken eingejagt hast. Und ich will von dir hören, dass du verstanden hast, dass ich dich zu Brei schlage, falls du jemals wieder in ihre Nähe kommen solltest.«
Libbys Finger krallten sich von hinten in Tys Hemd. Er war Naturwissenschaftler aus Leidenschaft und mit Sicherheit kein gewalttätiger Mann, doch sein Tonfall ließ sie erschauern. Seine Stimme klang eiskalt, fies und regelrecht gefährlich.
Ty musste den kleinen Schauer gespürt haben, der ihr über den Rücken gelaufen war, denn er drehte sich zu ihr um und zog sie schützend unter seine Schulter. Seine Augen funkelten drohend, und Libby begriff, dass Tyson Derrick noch eine ganz andere Seite hatte, die sie überhaupt nicht kannte.
»Das mit der Entschuldigung war kein Scherz, Harry. Ich will von euch beiden eine Entschuldigung hören, denn sonst ruft Sam den Sheriff und ich erhebe Anklage wegen Einbruch.«
Harry, der zwei Tische weit von ihm entfernt war, sah ihn finster an. »Es tut mir Leid – wie war doch Ihr Name?«
»Sie heißt Dr. Drake.«
Der Stahl in Tys Stimme ließ Libby wieder zusammenzucken.
»Es tut mir Leid, Dr. Drake«, sagte Harry. »Ich wollte Ihnen ganz gewiss keine Angst einjagen. Ich bin Harry Jenkins, und ich arbeite gemeinsam mit Ty bei BioLab. Das ist mein Kollege Joe Fields. Ich bin Biochemiker, und Joe arbeitet in der Marketingab teilung.«
»Ich schließe mich der Entschuldigung aufrichtig an«, sagte Joe. »Ich habe versucht, Ihnen etwas nachzurufen, aber Sie waren bereits zur Tür hinausgelaufen, bevor wir Sie einholen konnten.«
Ehe Libby etwas dazu sagen konnte, mischte sich Sam ein. »Sie haben Tag und Nacht hier angerufen, Jenkins. Was zum Teufel ist so wichtig, dass Sie in unser Haus einbrechen mussten ?«
»Sie müssen Tys Cousin Sam sein.« Harry lief unruhig im Labor umher und beugte sich einmal vor, um sein Auge an ein Mikroskop zu halten. »Tolle Geräte hast du dir angeschafft, Ty.«
»Raus mit der Sprache, Harry«, sagte Ty. »Was ist so wichtig? «
Harry sah ihn finster an. »Das weißt du selbst, Ty. Der Direktor hat mir einen Besuch abgestattet. Er hat meine Berichte in Frage gestellt. Er hat mich in Frage gestellt, du verdammter Mistkerl, wie er es immer tut, wenn du einschreitest, um den heldenhaften Retter sämtlicher Projekte im Labor zu spielen. Du, sein unbestrittener Star. Ich will, dass du dich aus dieser Geschichte raushältst. Das ist mein Projekt. Ich habe meine ganze Arbeitskraft in dieses Medikament gesteckt, und ich werde mir das Projekt nicht von dir aus der Hand nehmen lassen. «
»Deine Berichte sind nicht vollständig, Harry«, sagte Ty und ignorierte die erhobene Stimme seines Kollegen. »Ich bin zuerst zu dir gekommen und habe versucht, es dir zu sagen, aber du hast dich geweigert, mir zuzuhören. Sieh dir alle Daten an und nicht nur ausgewählte Fakten, die deine Theorien stützen. «
»Wir haben Verluste in Höhe von Millionen, möglicherweise sogar Milliarden, zu erwarten, wenn du dich weiterhin einmischst«, sagte Joe. »BioLab steht hundertprozentig hinter diesem Medikament. Es wird Tausende von Leben retten, aber das weißt du ja selbst.«
»Ich weiß, dass es Menschen das Leben kosten wird.«
Harry schlug so fest mit der Hand auf den Tisch, dass die gläserne Arbeitsplatte bebte. »Das sieht dir mal wieder ähnlich, Derrick. Du musst immer im Rampenlicht stehen. Du weißt genau, dass ich hier einen unglaublichen Erfolg zu verbuchen habe, und die Vorstellung ist dir unerträglich.«
Tyson schlang seinen Arm um Libbys Taille. Er wusste, was jetzt bevorstand, denn dazu war es zwischen ihm und dem anderen Biochemiker schon zahllose Male gekommen, wenn er keine Kompromissbereitschaft zeigte. Er verflocht seine Finger mit ihren und hoffte, sie würde es verstehen. Dann zuckte er die Achseln. »Harry, warum müssen wir immer wieder dieselben Argumente anführen? Wir wissen beide, dass du das Verfahren abgekürzt hast. Dabei hast du meine Forschungen als Grundlage benutzt.«
»Und das ist vollkommen legitim. Deine Studie ist nicht dein Privateigentum, Derrick. Ich wusste von Anfang an, dass es um dein Ego geht«, fauchte Harry hämisch. »Du willst nicht, dass jemand deine Studien heranzieht und möglicherweise Verbesserungen an dem vornimmt, was du getan hast.«
»Ich möchte nur für Firmen arbeiten, die für ihre gute, solide Grundlagenforschung bekannt sind, Harry. Und ein gründlicher Forscher übersieht nicht nur deshalb offensichtliche Schwachpunkte, weil er sich nicht die Zeit nehmen will, sie zu beheben.« Tyson sah finster den Mann an, der in die Daten auf dem Bildschirm eines der Computer vertieft war. »Verdammt noch mal, verschwinde.«
»Du arbeitest gerade jetzt schon wieder an meinem Medikament. Wer hat dir Zugang zu meinen Dateien gegeben? Ich wusste es doch gleich. Du hast einen Spion in mein Team eingeschleust. «
»Sei nicht albern, Harry. Ich brauche keinen Spion, um mir auszurechnen, was du getan hast. Was ich herauszufinden versuche, ist, was du nicht getan hast.«
»Ich werde eine gerichtliche Verfügung erwirken, die dich zwingt, die Finger von meiner Arbeit zu lassen«, sagte Harry.
Tyson schnaubte höhnisch. »Tu das, Harry.«
Joe hielt eine Hand hoch. »Wir sollten uns alle wieder beruhigen. «
»Ich bin vollkommen ruhig«, sagte Ty. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass ihr euch widerrechtlich auf privatem Grund und Boden aufhaltet und Harry mir droht.«
Joe rang sich mühsam ein gepresstes Lächeln ab. »Harry muss sich beruhigen. Niemand will eine gerichtliche Verfügung erwirken, Ty. Wir sind vernünftige erwachsene Männer. Du arbeitest schon lange genug für BioLab, um zu wissen, dass die Firma nie ein Medikament auf den Markt brächte, das eine Gefährdung darstellen könnte. Die Studien sind erstaunlich. Dieses Medikament kann wirklich Leben retten, und wir finden das wahnsinnig aufregend.«
»Was ist mit den Todesfällen, Fields? Findet ihr die auch aufregend ?«
Joe winkte ab. »Nur ein sehr kleiner Prozentsatz der Testpersonen ist gestorben, Ty, und in jedem der Fälle hat der Patient sich selbst das Leben genommen. Du weißt ebenso gut wie ich, dass Selbstmorde unter chronisch kranken Menschen nicht ungewöhnlich sind. Das ist eine traurige Tatsache, aber BioLab kann nicht für Patienten zur Rechenschaft gezogen werden, die während der Testreihen beschließen, ihrem Leben ein Ende zu bereiten.«
»Du willst also weder untersuchen, ob an dem Medikament in seiner jetzigen Form etwas nicht stimmt, noch wie dieser Fehler behoben werden könnte?«, fragte Tyson. »Wenn Harry als Entdecker eines Medikaments genannt werden will, das Millionen von Leben rettet, dann solltest du ihn dafür zur Verantwortung ziehen. Lass nicht zu, dass er zweitklassige Arbeit leistet.«
»Zweitklassige Arbeit!«, brüllte Harry. »Du Scheißkerl.« Er stürzte sich auf Tyson.
Ty trat einen Schritt zur Seite und wich seinem Angreifer mit einer unerwartet geschmeidigen Bewegung aus. Harry landete hart auf dem Boden vor seinen Füßen.
»Du hattest doch gewiss nicht vor, mich anzugreifen, Harry?«, fragte Ty, dem die Belustigung deutlich anzuhören war. »Du bist ein erwachsener Mann und solltest etwas würdevoller auftreten.«
Libby wich weiter zurück, als Harry finster zu Tyson aufblickte. Tyson hatte ihn mit seinem Tonfall eindeutig verhöhnt.
Harry kam mit geballten Fäusten wieder auf die Füße. »Du hältst dich ja für so überlegen, Derrick. So war es schon immer. Glaubst du, dein Geld macht dich über jeden anderen erhaben ?«
»Geld ?«, fragte Ty verblüfft. Auf den Gedanken war er offensichtlich noch gar nicht gekommen. »Arbeitsethos, Harry, die Liebe zur Wissenschaft. Intelligenz wäre auch eine Überlegung wert.«
Harry versuchte erneut, mit wüsten Schwingern auf Ty einzuschlagen. Doch dieser fing die Schläge geschickt ab und klatschte Harry zweimal leicht auf die Wange. Das schien Harry nur noch mehr in Rage zu bringen.
Joe Fields ging dazwischen, packte Harry und zerrte ihn fort. »Wenn er wollte, könnte er dich eindeutig zu Brei schlagen, Harry. Damit ist niemandem geholfen. Wir sind hierher gekommen, um vernünftig miteinander zu reden.«
»Wie könnte man mit diesem selbstgefälligen Mistkerl vernünftig reden?«, fragte Harry. Sein Blick fiel auf Libby. »Der einzige Grund, weshalb sich jemand freiwillig mit ihm abgeben würde, ist sein Geld. Nichts anderes könnte diesen ekelhaften Kerl erträglich machen.«
Libby sah Tyson an. Ein Muskel dicht neben seiner Mundpartie zuckte, und seine Augen wurden eisig. Abgesehen davon war es nahezu unmöglich, ihm äußerlich anzumerken, dass Harrys Pfeil ein Ziel gefunden hatte, aber sie fühlte den stechenden Schmerz. Harry hatte einen viel größeren Treffer gelandet, als ihm klar war. Diese Erkenntnis brach schlagartig über Libby herein. Tyson hielt sich nicht für liebenswert. Wieso auch? Seine Eltern hatten ihn nicht verstanden und ihn nicht um sich haben wollen, und sogar Sam sagte ihm, wie schwer er manchmal zu ertragen war. Sie litt mit ihm. Er stand mit zurückgezogenen Schultern groß und aufrecht da und sah Harry Jenkins fest an.
»Du kannst über mich sagen, was du willst, Harry, aber das ändert nichts an den Tatsachen. Das Medikament weist Mängel auf, und es wird Menschen töten. Du hast nicht die Absicht, die Fehler zu beheben. Du willst für deine Arbeit respektiert werden, aber diesen Respekt wirst du niemals bekommen, es sei denn, du legst deine schlampige Arbeitsweise ab. Das Medikament könnte irgendwann einmal eine ganz erstaunliche Entdeckung sein, aber nicht in seiner derzeitigen Form. Du überstürzt die Dinge, um Ruhm einzuheimsen.«
»Als ob es dir etwas ausmachen würde, wenn Leute sterben«, fauchte Harry ihn an. »Dir wäre es doch vollkommen gleichgültig, wenn die Hälfte der Weltbevölkerung der Pest zum Opfer fiele. Versuch bloß nicht, dich selbst als jemanden hinzustellen, der die Welt retten will.«
»Schluss jetzt«, brach es aus Libby heraus. Sie trat einen Schritt vor, marschierte durch den Gang zwischen den Arbeitsplatten und baute sich mit den Fäusten in den Hüften vor Ty auf. »Es reicht. Sie sind nicht hergekommen, um vernünftig über ein Medikament zu reden, das offensichtlich bei einer bestimmten Altersgruppe beträchtliche Nebenwirkungen hat. Ich habe schon vor Monaten Gerüchte über diese Nebenwirkungen gehört, aber seit Sie in dieses Haus gestürmt sind, haben Sie Ty noch nicht einmal gefragt, was ihm Sorgen bereitet oder was er in der Zwischenzeit herausgefunden hat. Keiner von Ihnen beiden hat sich danach erkundigt. Das zeigt in meinen Augen keine Spur von Verantwortungsbewusstsein. Sie können bis Weihnachten hier stehen bleiben und Ty alle erdenklichen Beschimpfungen an den Kopf werfen, aber wenn er der Überzeugung ist, dass mit dem Medikament etwas nicht stimmt, dann können Sie darauf wetten, dass die Sache einen Haken hat. Und so etwas können Sie nicht geheim halten.«
Joe Fields schüttelte den Kopf. »Dr. Drake, diese Auseinandersetzung ist ziemlich übel verlaufen, aber wir sind tatsächlich hergekommen, weil wir versuchen wollten, eine Lösung für die Situation zu finden. Ich bin sicher, Sie können die Reaktionen eines Mannes verstehen, der sieht, dass ihm jemand seine gesamte Arbeit stiehlt.«
»Stiehlt?« Libby schüttelte die Hand ab, mit der Ty sie zurückhalten wollte. »Ty würde kein Glas Wasser stehlen, wenn er in der Wüste am Verdursten wäre. Harry Jenkins hat Tys Forschungen als Grundlage benutzt. Ty hat die gesamte harte Arbeit geleistet, und Jenkins ist aufgesprungen, sowie er gesehen hat, dass Ty auf etwas Wichtiges gestoßen ist.«
»Ich glaube, wir sollten jetzt besser gehen«, sagte Fields. »Wir werden das Problem nicht dadurch lösen, dass wir uns miteinander streiten. Es tut mir Leid, dass sich die Situation derart zugespitzt hat, aber wenn Sie unbeirrt an diesem Medikament weiterarbeiten, Derrick, dann werden Sie von unseren Anwälten hören.«
Tyson trat aggressiv einen Schritt nach vorn und brachte Libby ins Abseits, als er sich vor Fields aufbaute. »Entweder ihr haltet mich beide für dumm oder ihr habt vergessen, dass wir alle für BioLab arbeiten und dass sämtliche Urheberrechte an dem Medikament und der Forschung und an allem anderen im Besitz der Firma sind. Damit ihr Anwälte heranziehen könnt, müsstet ihr mir die Absicht nachweisen können, BioLab zu schaden, aber he! Wenn ich es mir recht überlege, fände ich es ganz prima, wenn das alles an die Öffentlichkeit käme.«
Fields zog fest an Harry und zerrte ihn regelrecht die Treppe hinauf. Tyson bedeutete Sam mit einer Kopfbewegung, die beiden zur Tür zu begleiten. Sam nickte und lief langsam hinter den beiden Männern her.
Tyson blieb einen Moment stehen und sah die Treppe hinauf, bevor er sich an Libby wandte. »Entschuldige den Zwischenfall. Harry Jenkins kann sehr unangenehm werden.«
»Die beiden haben mir einen teuflischen Schrecken eingejagt. «
»Ich weiß. Es war dir deutlich anzusehen. Danke, dass du dich für mich eingesetzt hast. Das kommt nicht gerade oft vor, und ich weiß es wirklich zu schätzen.«
»Willst du mich nicht fragen, warum ich überhaupt hergekommen bin?«, sagte Libby herausfordernd.
Seine Finger gruben sich in ihr Haar. »Das habe ich herausgefunden, während ich so getan habe, als hörte ich Harry und Joe zu. Ich habe das PDG-Medikament in seine einzelnen Komponenten zerlegt und dabei jegliches Zeitgefühl verloren. Ich kann dir gar nicht sagen, wie Leid mir das tut. Ich habe den Wecker gestellt, aber falls er geläutet hat, habe ich ihn nicht gehört.«
»Du hast dir einen Wecker gestellt, damit du die Verabredung mit mir nicht vergisst?« Sie warf einen Blick auf die Uhr auf der Treppe. Daneben stand ein unberührtes Tablett vermutlich noch genau da, wo Sam das Essen im Lauf des Tages abgestellt haben musste.
Ty seufzte. »Das klingt schrecklich, aber es ist mein Ernst, Libby, es tut mir wirklich Leid. Es wird nicht wieder …«
Sie legte ihm einen Finger auf die Lippen. »Erzähl mir jetzt bloß nicht, dass es nicht wieder vorkommen wird. Natürlich wird es wieder vorkommen. Es ist eine feststehende Tatsache, dass deine jeweilige Arbeit dich vollständig in Anspruch nehmen kann. Hast du einen zweiten Laborkittel? Ich will sehen, worauf du gestoßen bist.«
Tyson verschlug es die Sprache. Eine solche Reaktion hatte er noch nie erlebt. Auch hatte niemand sein leidenschaftliches Interesse an seiner Arbeit jemals mit ihm teilen wollen. »Bist du sicher?« Er brachte die Worte kaum heraus, und seine Stimme klang sogar in seinen eigenen Ohren belegt.
»Noch bevor Irene mir gegenüber erwähnt hat, dass sie Drew als Testperson anmelden möchte, habe ich so viel wie möglich über dieses Medikament gelesen. Es klang so viel versprechend, dass ich mich eingehend damit befasst habe. Etliche meiner Kollegen haben ihr Wissen oder ihre Meinung beigesteuert, und je mehr ich darüber in Erfahrung gebracht habe, desto größer wurde das Unbehagen, das mich beschlich. Deshalb habe ich Irene dringend davon abgeraten, Drew in das Programm einzugliedern, solange wir nicht mehr über dieses Medikament wissen.«
»Du warst zu Recht misstrauisch«, sagte Ty. »Die Nebenwirkungen bei jungen Leuten sind ganz anders als bei Erwachsenen, und doch wird das Medikament bei beiden Gruppen eingesetzt. Erwachsene scheinen damit umgehen zu können, aber Jugendliche haben eindeutig ein Problem damit.« Er griff über ihren Kopf, um einen Laborkittel von einem Regal zu ziehen. »Hier, schlüpf rein.«
»Und dann gehen wir essen, Ty«, sagte Libby. »Damit du etwas in den Magen bekommst, das brauchst du nämlich.«
»Du hörst dich an wie Sam«, sagte Tyson, als er zu seinem derzeitigen Arbeitsplatz vorausging. »Der will mich auch immer mästen.«
»Er hat dir wahrscheinlich schon vor Stunden das Mittagessen hingestellt.«
»Ach ja?« Ty sah sich verwirrt um. »Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er da war. Der arme Sam. Ich muss ihn um den Verstand bringen. Er nimmt sich die Zeit, um etwas für mich zu kochen, und ich bemerke ihn nicht einmal, wenn er mir das Essen bringt. Ich bin der einzige Verwandte, den er noch hat, und mit mir ist in der Hinsicht nicht viel anzufangen. «
Libby rieb seinen Arm. »Verwandte lieben einander bedingungslos. «
Ihre Blicke trafen sich. »Das gilt nicht für meine Familie.«
Sein grimmiger Tonfall ließ sie zusammenzucken. »Liebst du Sam denn nicht bedingungslos?«
Er wandte sich den Daten auf dem Bildschirm seines Computers zu. »Doch.«
Libby lächelte in sich hinein. Seine Stimme klang mürrisch. Alles, was mit seinen Gefühlen zu tun hatte, war ihm unbehaglich. »Dann weißt du also, wie man bedingungslos liebt.«
Tyson trommelte mit seinen Fingern auf die Tischplatte und beugte sich mit sichtlichem Unbehagen noch weiter zu seinem Computer vor. »Ich weiß, dass das Problem in der Abstimmung der einzelnen Komponenten aufeinander liegt, aber ich konnte es bisher noch nicht isolieren. Der alte Harry könnte ein wirklich guter Biochemiker sein. Sein Grundgedanke ist richtig, aber irgendetwas stimmt nicht, und ich komme einfach nicht dahinter.«
»Die meisten Studien richten ihr Augenmerk auf Erwachsene und nicht auf Heranwachsende. Was wir bräuchten, wären weitaus eingehendere Untersuchungen über das Gehirn Jugendlicher«, warf Libby ein.
Tyson nickte zustimmend. »Genau darüber habe ich gerade erst vor ein paar Tagen mit meinen Chefs gesprochen. Sie scheinen nicht zu verstehen, dass ein Gehirn, das noch nicht vollständig entwickelt ist, anders auf Medikamente reagiert als das eines Erwachsenen.«
»Vielleicht wollen sie es gar nicht wissen, Ty«, sagte Libby behutsam. »Es gibt zu wenig Forscher, die sich vorwiegend mit Kindern und Jugendlichen befassen, und die meisten von ihnen arbeiten für die Pharmaindustrie. Vielleicht bestünde die Lösung darin, die Forschungen von Firmen durchführen zu lassen, die nicht zur Pharmaindustrie gehören.«
Er schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Libby. Die Männer und Frauen in meinem Team forschen mit großem Engagement. Ihnen liegt ihre Arbeit am Herzen und nicht das Geld, das die Firma damit verdienen könnte. Sie wollen Mittel und Wege finden zu helfen. Ich glaube, wir müssen die Bedeutung der Forschung für Heranwachsende hervorheben. Die meisten Leute haben die unrealistische Vorstellung, Teenager seien nicht anfällig für Krankheiten und psychische Störungen. Vielleicht wollen sie dieser Tatsache nicht ins Gesicht sehen und lassen daher diesen speziellen Aspekt bei der Forschung außer Acht.«
Libby gab ihm einen Schubs mit ihrer Hüfte, damit auch sie die Daten sehen konnte. »Wir sollten mit Drew reden und die Einwilligung seiner Mutter einholen, ihm Blut abzunehmen. «
»Und die Berichte über ihn anfordern, die im Rahmen dieser Studie verfasst worden sind«, stimmte Ty ihr zu. »Das wäre sehr hilfreich. Meinst du, Irene wird uns ihre Einwilligung geben?«
»Sie war mehrfach bei uns, um sich zu entschuldigen.«
»Das sollte sie auch tun. Sie hat dich zusammengeschlagen.«
»Nicht nur dafür. Ich bezweifle, dass sie fest genug zugeschlagen hat, um Schaden anzurichten. Aber sie hat die bemerkenswerte Geschichte des Stillstands, den ich bei Drews Krankheit erreicht habe, tatsächlich an ein Revolverblatt verkauft. «
Tyson richtete sich auf und sah sie finster an. »Sie hat behauptet, du hättest Drew geheilt, und diese Geschichte hat sie dann an ein Schundblatt verhökert?«
Libby spürte, dass die Anspannung im Raum beträchtlich zunahm. Sie schluckte schwer. Tyson mochte zwar auf dem Weg sein, die magischen Gaben der Drakes als real zu akzeptieren, aber am Ziel angelangt war er bei weitem nicht. Ihm war bei diesen Dingen äußerst unbehaglich zumute und ihr gefiel es nicht, ständig mit seinem Misstrauen konfrontiert zu werden, wenn sie mit ihm darüber sprach. »Weißt du, Ty, ich lebe Tag für Tag mit unerklärlichen Dingen. Sie gehören in meinem Leben zum Alltag. Wenn wir darüber nicht reden können, ist jeder weitere Versuch, eine Beziehung aufzubauen, zwecklos.«
Seine Augen wurden schmal, und er nahm ihr Kinn in die Hand. »Ich versuche nicht, eine Beziehung mit dir aufzubauen, Libby, ich habe eine Beziehung mit dir. So weit ich zurückdenken kann, wollte ich dich. Vielleicht war mir nicht immer klar, dass ich dich wollte, aber du warst mir wichtig und ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken oder mich Phantasien über dich hinzugeben. Deine Familie jagt mir keine Angst ein. Ich habe viele Fehler, aber ich bin zäh. Ich weiß, dass wir zusammengehören. Vielleicht weißt du es noch nicht, aber ich weiß es ganz genau.«
»Ich liebe meine Familie, Ty. Ich werde sie immer lieben, und ich werde immer in ihrer Nähe sein müssen. Daran führt kein Weg vorbei.«
»Ich weiß. Ich kann es jedes Mal erkennen, wenn ich dich zusammen mit deinen Schwestern sehe. Falls ich verärgert gewirkt haben sollte, dann bezog sich das nicht auf deine Familie, sondern auf Irene, die nicht nur dich reinlegt hat, obwohl ihr offensichtlich miteinander befreundet seid, sondern auch ihren eigenen Sohn. Ich bin sicher, dass dieser ganze Rummel seiner Verfassung nicht zuträglich war.«
Tyson senkte den Kopf, um sie zu küssen, weil er ihr einfach nicht widerstehen konnte. Ihre Augen weiteten sich und nahmen eine sinnliche Glut an, die sein Inneres schmelzen ließ. Er schlug jede Vorsicht in den Wind. Seine Hand legte sich auf ihren Nacken, um sie noch näher an sich zu ziehen, und seine Finger griffen in ihre dichte dunkle Mähne, um ihren Kopf in einen perfekten Winkel zu bringen, der seinem Mund den bestmöglichen Zugang gewährte. Sie war alles, was er sich jemals gewünscht hatte, alles, was er sich jemals erträumt oder sich in seinen kühnsten Phantasien ausgemalt hatte. Er wollte sie mit jeder Zelle seines Körpers, mit jeder Faser seines Wesens.
Er küsste sie, genoss ihren herrlichen Geschmack und betrieb sein Vorhaben diesmal aggressiv. Er wollte, dass sie all die Dinge fühlte, die er ihr mit Worten anscheinend nicht übermitteln konnte. Es ging nicht nur darum, dass ihr Körper ihn erregte. Sie hatte ein paar Schwachstellen gefunden und war in sein Inneres eingedrungen und hatte sich dort zusammengerollt. Dort war sie schon viel länger, als er es sich jemals eingestanden hatte.
»Nachts vor dem Einschlafen höre ich dich manchmal lachen«, murmelte er mit dem Mund auf ihren Lippen. Sein Verlangen nach ihr war nahezu unerträglich, sein Begehren geradezu schmerzhaft. »Dann liege ich da und wünschte, du wärest bei mir.«
Sein Mund machte sie verrückt und ließ die Welt in so weite Ferne gleiten, dass sie an nichts anderes mehr denken konnte als an ihn. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, und ihr Körper schmolz in dieser Glut, wurde geschmeidig, nachgiebig und zerfloss. Sie konnte jeden einzelnen seiner Muskeln spüren und seine Gier und seine Leidenschaft schmecken. Eine Hand war noch in ihr Haar gewühlt und die andere glitt über ihre Taille, ihre Hüfte und unter ihre Bluse. Sie hätte schwören können, dass seine Fingerkuppen winzige elektrische Impulse durch ihren Körper sandten, um sämtliche Nervenenden ausfindig zu machen.
Ihre Hände krochen unter sein Hemd, weil sie ihm näher sein wollte, und überrascht fühlte sie die strammen Muskeln, als sie ihre Handflächen zart über seine Brust gleiten ließ. Sie ertrank in seinen Küssen, lechzte nach ihm und spürte, wie die Spannung um etliche Kilowatt in die Höhe schoss und sich mit der Kraft thermonuklearer Energie in ihrem Körper ausbreitete.
Tyson riss seinen Mund von ihr los und atmete tief durch, um seine Selbstbeherrschung wiederzuerlangen. »Wir können nicht hier bleiben, Libby.«
Sie sah verständnislos zu ihm auf und war ein wenig benommen von ihrer Reaktion auf ihn. »Nein?«
»Nein, Sam könnte jeden Moment reinkommen, und ich kann meine Finger nicht von dir lassen.« Tyson sah auf sie hinunter, während seine Arme sie immer noch eng an seinen Körper gepresst hielten. »Komm, ich möchte dir ein paar ganz besonders schöne Stellen an der Küste zeigen. Wir können das Motorrad nehmen. Richtig angezogen bist du ja schon dafür.«
Libby schlang ihre Arme um seine Taille. Es war eigentlich albern, da sie eine unabhängige und selbstständige Frau war, aber Tyson vermittelte ihr ein Gefühl von Schutz und Geborgenheit, wenn er sie so eng an sich schmiegte. Und sie konnte den kleinen schuldbewussten Schauer nicht unterdrücken, der sie durchzuckte, als sie den besitzergreifenden Blick sah, mit dem er sie musterte. »Vor ein paar Stunden hatte ich all meinen Mut zusammengerafft, Ty, aber inzwischen habe ich ihn wieder verloren. Ich habe zu viele Kopfverletzungen von verunglückten Motorradfahrern gesehen.«
»Du hast gesagt, du kämest auf meinem Motorrad mit.« Sein Kinn schmiegte sich von oben an ihren Kopf.
»Das war, als du mich geküsst hast, bis ich nicht mehr klar denken konnte.«
Er zog seinen Kopf zurück, um sie anzusehen, und ein Lächeln hellte sein Gesicht auf. »Du konntest nicht mehr klar denken?«
»Nein. Ich war schon froh, dass ich noch wusste, wie ich heiße«, gestand Libby mit einem leisen Lachen.
Als sie ihre Arme enger um Tys Taille schlang, fühlte sie sich plötzlich von einer Woge Feindseligkeit umgeben. Sie blickte auf und sah, dass Sam auf dem Treppenabsatz stand und finster auf sie herabsah. Er streckte die Hand nach der Uhr auf dem kleinen Telefontisch neben der Treppe aus, doch dabei war sein Blick auf sie gerichtet und in dem Moment, in dem er in seiner Wachsamkeit nachgelassen hatte, weil er sich unbeobachtet fühlte, wusste sie, dass Sam absolut dagegen war, dass Tyson und Libby sich miteinander trafen.
Wenn Tyson ihretwegen wirklich nichts gegessen, nicht geschlafen und nicht einmal gearbeitet hatte, dann konnte sie ihm diese Feindseligkeit eigentlich nicht übel nehmen, aber das Wissen, dass jemand sie nicht mochte, bereitete ihr Unbehagen. Ihres Wissens war das bisher noch nie vorgekommen. Sie versuchte augenblicklich, sich von Ty loszureißen, doch er hielt sie nur noch fester, als er mit einem kleinen Grinsen zu seinem Cousin aufblickte.
»He, Sam, wir wollten gerade aufbrechen. Ich nehme Libby auf dem Motorrad mit. Gehst du heute Abend aus?«
»Ty, ich würde dich gern einen Moment sprechen«, sagte Sam grimmig.
»Klar. Ich bin gleich wieder da, Libby«, versicherte Tyson ihr, als er die Treppe hinaufstieg.
Libby sah, wie die beiden Männer gemeinsam in den Flur gingen. Keiner schloss die Tür. Ihre Stimmen drangen klar und deutlich zu ihr hinunter.
»Du willst sie doch nicht im Ernst auf deinem Motorrad mitnehmen, oder?«, fragte Sam barsch. »Bist du verrückt geworden? Wenn etwas schief geht, wird sie dich auf Schadenersatz verklagen.«
»Was ist los mit dir, Sam?«, fragte Ty.
»Der gute alte Harry ist ein Mistkerl erster Güte, Ty, aber er hat eine gute Frage gestellt. Was will sie von dir? Du hast eine ganze Menge Geld. Glaubst du etwa, das wüsste sie nicht?«
Libby stockte der Atem. Ihr hatte noch nie jemand vorgeworfen, sie sei hinter dem Geld anderer Leute her. Sie würde Sam gehörig ihre Meinung sagen. Mit diesem Vorsatz ging sie einen Schritt auf die Treppe zu.
»Damit willst du wohl sagen, Sam, einen anderen Grund als mein Geld könnte es unmöglich dafür geben, dass eine Frau mit mir zusammen sein möchte. Ist es das? Bin ich wirklich derart verkorkst?«
»Das habe ich nicht gesagt, Ty, aber denk doch mal nach. Ausgerechnet Libby Drake? Sie willigt ein, sich mit dir auf dein Motorrad zu setzen, weil du sie küsst und sie nicht mehr klar denken kann? Das ist ein Haufen Blödsinn, und du bist klug genug, um das selbst zu wissen. Die ideale Frau lässt sich nicht mit einem Mann ein, der alles andere als ideal ist, es sei denn, sie hat Hintergedanken.«
»Du scheinst dir deiner Sache sehr sicher zu sein. Warum hältst du es für ausgeschlossen, dass sie mich respektiert, weil ich bin, wer ich bin? Dass sie mich interessant und einmalig finden könnte? Besteht diese Möglichkeit etwa nicht?«
Libby blieb abrupt stehen, denn Tyson war deutlich anzuhören, dass er tief verletzt war. Seine Eltern hatten nichts von ihm wissen wollen, und jetzt hatte Sam, sein einziger Verwandter, genau das gesagt, was Ty garantiert das Herz brechen würde. Wut loderte in ihr auf, und sie stürmte die Treppe hinauf. Ihr war ganz egal, wie peinlich es den beiden sein würde, dass sie dieses Gespräch mit angehört hatte. Sie schlang einen Arm um Tysons Taille und funkelte Sam entrüstet an.
»Ich wollte euch nicht belauschen, aber es war nicht zu vermeiden, Sam. Ich versichere dir, dass ich in meinem Beruf blendend verdiene. Ich brauche Tysons Geld nicht.«
»Was du nicht sagst.« Sams Stimme triefte vor Sarkasmus. »Und im Moment kannst du es kaum erwarten, einen Ehevertrag zu unterschreiben.«
»Dafür, dass ich mit ihm Motorrad fahre?«
»Ja, so etwas Ähnliches dachte ich mir«, zischte Sam.
»Es reicht, Sam«, sagte Tyson. Er nahm Libbys Arm. »Wir gehen jetzt, und ich kann dir nicht mit Sicherheit sagen, wann ich wieder nach Hause komme.«