18.

Als Libby erwachte, war Tyson fort. Sie blieb einen Moment lang liegen, starrte die Decke an und fühlte sich unerklärlich glücklich. Er musste irgendwo im Haus sein und sie konnte sich eine klare Vorstellung davon machen, was er gerade tat. Jetzt brauchte sie nur noch den Raum zu finden. Offenbar hatte er entschieden, dass die Eingebung, die er letzte Nacht gehabt hatte, ihn auf die richtige Spur geführt hatte.

Sie wickelte sich in ein Bettlaken und lief durchs Haus. Das erste Licht drang durch die Fenster und verlieh den Zimmern ein zartes Taubengrau. Sie hätte sich das Haus schon früher von ihm zeigen lassen sollen, aber so, wie sie übereinander hergefallen waren, hatten sie es kaum ins Schlafzimmer geschafft. Es hatte etwas Gespenstisches an sich, durch den breiten Flur zu laufen und einen Blick in sämtliche Räume zu werfen.

Tyson hatte von einer Wohnfläche von circa fünfhundert Quadratmetern gesprochen. Sie fühlte sich ein wenig verloren, obwohl sie selbst in einem großen Haus aufgewachsen war. Die beiden einzigen Zimmer, von denen sie wusste, dass sie eingerichtet waren, waren das Wohnzimmer und eines der Schlafzimmer. Sie blieb in der großen Küche stehen und sah sich um. Wie alle anderen Räume auch bot sie viel Platz und wirkte freundlich. Alles funkelte und war nagelneu. Die kühlen Fliesen unter ihren Füßen sahen aus wie Marmor und waren spiegelblank. Es war eindeutig ihr Traumhaus, und sie hatte immer noch das Gefühl, sich kneifen zu müssen, damit sie glaubte, dass all das keine reine Halluzination war.

»Wieso bist du schon auf, Schatz?«, fragte Tyson und schlang die Arme von hinten um sie. »Du solltest im Tiefschlaf liegen. Habe ich dich etwa nicht geschafft? Dabei habe ich mein Bestes getan.«

Sie griff hinter sich, schlang die Arme um seinen Hals und bog den Kopf zurück, damit sie einen seiner Küsse bekam, die so sündhaft sexy waren. »Mich schafft so schnell nichts. Du bist schon seit Stunden auf, stimmt’s?«

»Nachdem du eingeschlafen bist, habe ich über unser Gespräch nachgedacht, und die Idee wollte mich einfach nicht mehr loslassen.« Er begrub sein Gesicht an ihrer Kehle, um ihren Duft einzuatmen. »Wie zum Teufel kriegst du es hin, immer so gut zu riechen?«

»Wie rieche ich denn?«

»Nach Sünde. Sex. Und Pfirsichen. Regen. Dieser Geruch macht mich an.« Er presste seinen Körper so eng an sie, dass sie seine Erektion fühlen konnte.

»Ich war schon beim Aufwachen scharf. Sowie ich gesehen habe, dass du nicht da bist, war mir klar, dass du einen brillanten Einfall hattest. Nichts macht mich mehr an.«

Er hob sie auf die Anrichte und spreizte ihre Knie, damit sie die Beine um ihn schlingen konnte. »Dann stehst du also auf intelligente Männer.«

»Du kannst dich ja selbst davon überzeugen«, forderte sie ihn auf und ließ das Laken fallen.

Sein Finger tauchte tief in die feuchte Glut ein und fand sie aufnahmebereit vor. »Du bist doch nicht etwa ein Gripsgroupie ?«

»Aber wie!«

Er küsste sie und genoss es, dass sie ihn genauso sehr begehrte wie er sie. Er spielte mit ihrer Klitoris, bis sie leise stöhnte und ihre Finger sich in seine Schultern gruben. »Von BioLab werde ich dich fern halten. Da laufen lauter kluge Männer rum. Aber in meinem privaten Labor kannst du dich jederzeit rumtreiben. Und wenn ich eine aufregende Entdeckung mache, kannst du dich nackt für mich ausziehen.«

Sie schlang ihm die Arme um den Hals und die Beine um die Taille und rutschte nach vorn, bis sie spüren konnte, wie sich seine Eichel an sie presste und Einlass verlangte. »Für dich ziehe ich mich jederzeit aus«, gestand sie, während sie ihn in sich aufnahm und die Augen schloss.

»Trotzdem lasse ich dich nicht mal in die Nähe von BioLab.«

»Bist du denn nicht der Klügste von allen dort?« Sie bewegte sich mit zurückgeworfenem Kopf im Takt mit ihm, zu einem langsamen, sinnlichen Rhythmus.

»Na klar«, antwortete er. Er würde nie genug von ihr bekommen.

»Dann brauchst du dir doch gar keine Sorgen zu machen. Ich will nur den Klügsten haben.« Sie öffnete die Augen und lächelte ihn an. »Du dummer Kerl. Ich liebe dich. Wie intelligent andere Männer sind, interessiert mich überhaupt nicht.«

Wogen der Lust schwappten über ihn hinweg. »Ich hätte mich schon an dich ranmachen sollen, als mir das erste Mal aufgefallen ist, wie gern ich dich anschaue.«

»Du bist nun mal etwas schwerfällig, Ty, aber ich sehe es dir nach.«

»Schwerfällig?« Er stieß tiefer zu und beschleunigte den Rhythmus, bis sie keuchte. »Nein, das glaube ich nicht.«

Der Orgasmus ereilte beide mit einer erstaunlichen Intensität. Sie klammerten sich aneinander, bis sie wieder Luft bekamen. »Eigentlich ist das ja ziemlich unhygienisch«, sagte sie, als sie wieder reden konnte.

»Wir benutzen die Küche doch für nichts anderes«, sagte er und streckte die Hand nach einer Rolle Küchenpapier aus. »Ich finde sie bestens geeignet.«

»Ob unhygienisch oder nicht, ich werde dir jetzt eine Mahlzeit zubereiten und du wirst sie essen, Ty. Du kannst dich auch gleich damit abfinden, mir all deine neuen Erkenntnisse zu dem Medikament zu erzählen, bevor du wieder verschwindest. Sowie du etwas gegessen hast, lasse ich dich allein, damit du nach Herzenslust arbeiten kannst.«

»Hast du nicht gesagt, du könntest nicht kochen?«

»Ich habe nicht behauptet, dass ich dir etwas Leckeres koche, nur, dass du es essen musst.«

»Dann habe ich ja noch mal Glück gehabt. Ich habe nämlich vergessen, Lebensmittel einzukaufen.«

»Du hast gar nichts im Haus?«

»Nur das Notwendigste.«

»Und das wäre?«, fragte Libby.

»Kaffee und Papiertücher, weil ich weiß, dass ich kleckere.« Er deutete erst auf die Flecken um die Kaffeemaschine herum und dann auf ihre feuchten Schenkel.

»Du Spinner. Weißt du was?«, sagte sie beiläufig. »Ich habe mir überlegt, dass ich wieder mal einen Artikel für das American Medical Journal schreiben könnte.«

»Ach? Und worüber?«

»Über multiple Orgasmen bei Männern. Du würdest ein phantastisches Studienobjekt abgeben. Ich glaube, wenn wir dich beim Sex ein paarmal an ein EEG hängen …« Sie ließ ihren Satz mit einem kleinen Aufschrei enden, als er seinen Kaffeebecher abstellte und sich auf sie stürzte. »Das war nur ein Witz. Es sollte wirklich nur ein Witz sein!«

Er schlang ihr die Arme um den Hals, zerzauste ihr Haar und küsste sie. »Zieh dich an und hör auf, mich in Versuchung zu führen. Du kannst mich bei Sam absetzen. Ich muss noch mit ihm reden und ein paar Anrufe erledigen. Ich hoffe, dass ich einiges aus dem Labor retten kann. In erster Linie ist die linke Hälfte getroffen worden. Dort dürfte so gut wie alles beschädigt sein, aber mit etwas Glück gelingt es mir, noch etwas zu retten. Wir können uns dann heute Abend wieder hier treffen.«

Erst als sie beide angezogen waren, im Wagen saßen und auf der Schnellstraße zu Ida Chapmans Haus fuhren, fragte Libby: »Du hast mir noch nicht erzählt, was dir zu dem Medikament eingefallen ist.«

Er fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und wirkte aufgeregt. »Ich glaube, Harry war eindeutig auf dem richtigen Weg. Die Chancen stehen gut, dass dieses Medikament zumindest dafür eingesetzt werden kann, das Wachstum von Krebszellen zu hemmen, ähnlich wie die Hormontherapie bei Brustkrebs. Das Problem besteht nur darin, dass das Risiko für Heranwachsende zu groß ist.«

»Und du glaubst, du hast die Lösung für dieses Problem entdeckt ?«

»Depressionen können durch ein chemisches Ungleichgewicht im Gehirn ausgelöst werden, stimmt’s? Das wissen wir bereits. Serotonin ist ein Neurotransmitter, der Botschaften von einer Nervenzelle zur anderen befördert. Depressionen können auftreten, wenn der Serotoninspiegel aus dem Gleichgewicht geraten ist.«

»Und daraus erklärt sich die Wirkung von Antidepressiva.« Er hielt eine Hand hoch. »Aber auch die wirken im Gehirn eines Heranwachsenden nicht immer so wie im Gehirn eines Erwachsenen, stimmt’s? Sogar mit diesen Medikamenten gibt es Probleme bei Jugendlichen.«

»Das ist wahr.«

»Im peruanischen Regenwald wächst in der Nähe des Ibenkiki Cyperus ein Pilz, der Balansia Fungus genannt wird und Alkaloide enthält. Dieser Pilz befällt ganz selbstverständlich die Ibenkiki-Pflanze. Ich glaube, der Balansia-Pilz ist die Ursache für die medizinisch wirksamen Eigenschaften, aber Harry hat meine Befunde nicht berücksichtigt und Teile des Ibenkiki ohne die dazugehörige Menge Balansia verwendet. Er vertritt die Theorie, dass sich ein Pilz in ähnlicher Form wie Krebs ausbreitet und sich deshalb auch der Zellen der Pflanze bemächtigt.«

Libby zog die Stirn in Falten. »Du sprichst von Mutterkornalkaloiden. Viele der Mutterkornalkaloide haben eine toxische Wirkung auf das Zentralnervensystem. Das kann sehr, sehr gefährlich sein. So ist LSD entdeckt worden. Und ich muss dir sagen, ich habe den Verdacht, mit dem ich keineswegs allein dastehe, dass genau das zum Wahnsinn der Hexenprozesse hier in Amerika kurz nach 1600 geführt hat. Die Kolonisten haben vergifteten Roggen gegessen, Halluzinationen bekommen und sind ausgerastet. Und bevor du dich auf eine Diskussion mit mir einlässt, solltest du eines wissen – mir ist durchaus bewusst, dass Dopamin ein Derivat ist, das zur Behandlung der Parkinson’schen Krankheit eingesetzt wird, und dass der Mutterkornpilz die Grundlage für viele Medikamente zur Bekämpfung von Migräne ist.«

»Es dreht sich alles um Serotonin. Verstehst du das denn nicht? Es ist absolut einleuchtend. Ich weiß, dass ich Recht habe, Libby. Ich fühle es immer, wenn ich auf der richtigen Fährte bin, und dies ist die richtige Spur. Das Medikament muss bestimmte Mengen Balansia enthalten. Wir müssen diese Mengen genau festlegen. Die Chemie des Gehirns, vor allem des Gehirns Heranwachsender, bleibt weiterhin ein wichtiges Feld, das noch zu erforschen ist.«

Sie bog in die Auffahrt vor seinem Haus ab. »Viel Glück, Ty. Wenn du dich heute Abend nicht im Haus einfindest, mache ich mich auf die Suche nach dir.«

»Ich werde dort sein. Ich habe ein paar Dinge zu erledigen, aber in diesem Durcheinander hier kann ich nicht wirklich arbeiten. Es könnte aber sein, dass ich mehrfach hin und her fahre, um zu versuchen, möglichst viel zu retten.« Er beugte sich zu ihr hinüber und küsste sie.

»Ich kaufe heute Nachmittag Lebensmittel ein und bestücke das Haus mit ein paar Vorräten«, versprach Libby.

Tyson stieg aus und war in Gedanken bereits weit weg. Es gab so viel zu tun. Als Erstes würde er Edward Martinelli anrufen und ihn informieren, dass er die Möglichkeit, jegliche Probleme mit dem Medikament zu beheben, in Reichweite sah.

Sam lag auf dem Sofa und drückte sich einen Eisbeutel aufs Gesicht, als Tyson eintrat. Er schob den Eisbeutel schnell unter ein Kissen und brachte ein mattes Grinsen zuwege. »Mit dir habe ich nicht gerechnet. Ich habe mir ein paar Tage von der Arbeit freigenommen. Ich fand, ein blaues Auge, eine gebrochene Nase und angeknackste Rippen gingen doch etwas zu weit. Ich bezweifle, dass ich wirklich zu gebrauchen wäre.«

Tyson zögerte und bemühte sich, auf die Erfordernisse des Alltags umzuschalten, statt sich von seinem aufgewühlten Verstand vorschreiben zu lassen, die Bedürfnisse seines Cousins zu ignorieren. »Hast du etwas gegessen? Ich kann dir eine Mahlzeit oder ein Getränk zubereiten«, erbot er sich.

Sams Mund sprang weit auf. »Was?«

»Ich habe mir nur Sorgen gemacht, du hättest vielleicht nichts gegessen«, beharrte Tyson und kam sich ziemlich albern vor. »Ich könnte dir etwas kochen.«

»Wie zum Beispiel?«, fragte Sam herausfordernd.

Tyson zuckte die Achseln. »Eier mit Curry.«

»Curry?«

»Gelbwurz gibt der Currymischung die typische Färbung und wird derzeit auf ihr Potenzial hin untersucht, gegen die Alzheimer-Krankheit vorzubeugen. Das Kurkumin scheint die Ablagerungen, die diese Krankheit verursachen, aufzulösen oder ihr Entstehen von vornherein zu verhindern.«

Sam starrte ihn lange Zeit an. »Ich bekomme Kopfschmerzen, Ty. Ich will keine Eier, ob mit oder ohne Curry. Ich werde zwei Schlaftabletten nehmen und den Rest des Tages verschlafen. «

Tyson nickte und machte sich auf den Weg ins Labor.

»Wo warst du letzte Nacht? Du hast mich nicht angerufen. Ich habe mir Sorgen gemacht, weil ich wusste, dass du mit Ed reden wolltest.«

»Tut mir Leid.« Tyson rieb sich den Nasensteg. »Ed hat gesagt, er hätte diese Männer nicht auf dich angesetzt. Ich frage mich, ob Harry etwas damit zu tun gehabt haben könnte. Und gestern habe ich Libby einen Heiratsantrag gemacht.«

Es herrschte Totenstille. Die Uhr tickte laut. Sam nahm eine aufrechtere Haltung ein und verschlang seine Finger miteinander, ehe er aufblickte. »Bist du ganz sicher, dass es das ist, was du willst, Ty?«

»Ich weiß es schon seit einiger Zeit. Ich habe ein Haus in der Nähe gekauft. Dadurch wird sich nicht viel ändern, Sam. Ich bin ohnehin nur drei Monate im Jahr hier.«

Sam seufzte. »Wenn du dir deiner Sache wirklich sicher bist, kann ich nicht viel dazu sagen. Ich hoffe, du bist glücklich mit ihr. Das wünsche ich dir wirklich.« Sein Gesicht hellte sich ein wenig auf, doch sein Lächeln war immer noch gepresst. »Wenigstens werde ich dann zu allen Zusammenkünften der Drake-Familie eingeladen. Das sind doch erfreuliche Aussichten. Die Jungs in der Feuerwache werden mich darum beneiden.« Er stand auf und ging zur Treppe, die zu den Schlafzimmern führte. »Was hast du heute vor?«

»Ich bin auf etwas gestoßen, das die Probleme mit diesem Medikament hervorrufen könnte. Ich muss sehen, ob in meinem Labor noch etwas zu retten ist, und daher werde ich wahrscheinlich heute Nachmittag mehrfach herkommen, um die Dinge, die ich noch verwenden kann, in das andere Haus zu bringen, damit ich dort in Ruhe weiterarbeiten kann.«

»Mach dir keine Sorgen, dass du mich stören könntest. Sowie ich diese Pillen genommen habe, werde ich nichts mehr mitbekommen.« Er blieb auf der Treppe stehen. »Ty?« Er wartete, bis Tyson sich zu ihm umdrehte. »Ich freue mich für dich. Wenn Libby Drake dich glücklich macht, bin ich ganz und gar für sie.«

Tyson stand da und fühlte sich etwas unbeholfen, während er versuchte, den Überschwang an Gefühlen zu verbergen, den es auslöste, von Sam akzeptiert zu werden. Er lächelte ihn strahlend an und hoffte, ihm damit ein Zehntel dessen zu übermitteln, was er empfand. »Danke, Sam.«

Tyson rief Edward Martinelli an, um die Genehmigung einzuholen, sein Team auf die heilenden Eigenschaften des Balansiapilzes anzusetzen. Er legte kurz die Gründe dar, warum er wollte, dass sein Team Studien am Gehirn Heranwachsender betrieb und sich gleichzeitig daranmachte, sowohl die Aktivität der Serotoninrezeptoren zu untersuchen, als auch analytische Testreihen durchzuführen. Er war ziemlich stolz auf sich, weil er daran dachte, Martinelli zu fragen, wie es seiner Frau und seinem Sohn ging. Libby hatte Recht gehabt. Sowohl Eva als auch Robbie hatten die Chagas-Krankheit und wurden bereits behandelt.

Er musste die Mitglieder seines Teams einzeln ausfindig machen, die alle nicht besonders glücklich darüber waren, dass ihre Ferien vorzeitig endeten. Doch die meisten erklärten sich bereit, ins Labor zurückzukehren und die Arbeit aufzunehmen. Den Rest des Nachmittags und den frühen Abend verbrachte Tyson damit, die Trümmer in seinem Labor zu durchsuchen und Sams Lieferwagen voll zu packen, um Geräte in das neue Haus zu transportieren.

Das Entladen des Lieferwagens dauerte länger, als er erwartet hatte, und er vermisste Libby. In den Bädern hingen Handtücher und die Küchenschränke und der Kühlschrank waren mit Lebensmitteln gefüllt. Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, dass er noch Zeit für eine weitere Fuhre hatte, wenn er sich beeilte.

Als er zum Chapman-Haus zurückkehrte, sah er Harry auf der Veranda vor dem Haus auf und ab laufen. Tyson hatte zum ersten Mal in seinem Leben tatsächlich daran gedacht, die Haustür abzuschließen, und jetzt war er froh darüber, denn Sam war oben in seinem Zimmer und schlief, ohne sich etwas Böses zu denken.

Tyson blieb in Sams Lieferwagen sitzen und fragte sich, ob er sich wirklich auf eine weitere unerfreuliche Auseinandersetzung mit Harry einlassen wollte.

»Verdammt noch mal, steig aus, du Feigling.« Harry sprang mit einem Satz von der Veranda. »Du hast mir mein Projekt direkt unter meinem Arsch weggestohlen.«

»Darf ich daraus schließen, dass der Direktor dich angerufen hat?«, fragte Tyson, als er aus dem Lieferwagen stieg und die Tür schloss. »Du wusstest, dass es dazu kommen würde, wenn du dich nicht mit den Problemen befasst, Harry. Statt dich die ganze Zeit in Sea Haven rumzutreiben, hättest du deine Zeit im Labor verbringen sollen, um hinter die Macken des Medikaments zu kommen. Du wusstest bereits nach dem Abschluss deiner ersten Versuchsreihe von den alarmierenden Nebenwirkungen, und statt dich damit zu befassen, hast du sofort die zweite Testreihe begonnen. Damit hast du nicht nur Menschenleben gefährdet, sondern auch deinem Interesse daran, das Medikament auf den Markt zu bringen, geschadet.«

Harry baute sich mit geballten Fäusten vor Tyson auf. »Ich steige bei BioLab aus. Jedes Mal, wenn dich der Hafer sticht, stellt sich Martinelli hinter dich. Du brauchst ihn nur anzurufen, und schon ruft er den Direktor an, und wir müssen alle vor dir katzbuckeln. Du bildest dir ein, du seist seinem Schutz unterstellt, aber außerhalb des Labors kannst du dich nicht hinter ihm verkriechen. Ich mache dich fertig, Derrick.«

»Drohst du damit, mich umzubringen?«

»So dumm bin ich nicht. Dann würdest du ja doch nur wie ein verängstigtes Karnickel zu deinem Freund, dem Sheriff, laufen. Ob ich dir den Tod wünsche? Ja, zum Teufel! Nichts lieber als das. Es wäre die Erfüllung meiner Träume und eine Wohltat für den Rest der Welt. Glaube mir, ich wäre außer mir vor Freude, und das gilt auch für die meisten anderen, die bei BioLab arbeiten. Aber bevor du stirbst, will ich, dass du alles verlierst, woran dir etwas liegt. Deinen guten Ruf. Deine Freundin. Dein Geld. Dein Haus. Einfach alles. Jetzt weißt du, wie abgrundtief ich dich hasse.«

»Verschwinde, Harry. Wenn du dir endlich abgewöhnst, Verfahren abzukürzen, wirst du nicht mehr die Probleme haben, die du dir immer wieder selbst aufhalst.«

Harry trat drohend einen Schritt vor. »Gib mir bloß keine Ratschläge. Es gibt nur einen Grund dafür, dass ein so asozialer Außenseiter wie du überhaupt irgendwo einen Job gefunden hat – du bist Martinellis Spitzel.«

Tyson zuckte die Achseln. »Ich kann dir nicht helfen, Harry, weil du nicht klug genug bist, um es zu begreifen. Du hast für drei andere Firmen gearbeitet, bevor du zu BioLab gekommen bist. Dass du in dem Ruf stehst, schlampig zu arbeiten, wusste ich schon, bevor sie dich engagiert haben. Auf unserem Sektor befinden wir uns in einer kleinen Gemeinde und Dinge sprechen sich herum.«

Harry spuckte auf den Rasen. »Das ist noch nicht das Ende. Du hast dich mit dem falschen Mann angelegt.«

»Harry, du bist widerlich und sonst gar nichts, aber du befindest dich in guter Gesellschaft. Kobras, Kamele und Lamas spucken. Es gibt etliche Tierarten, die ihre Wut auf diese Weise ausdrücken.«

Harry zeigte ihm den Stinkefinger und stampfte davon. Tyson schüttelte den Kopf und ging wieder ins Haus. Harry wäre mit Sicherheit in der Lage gewesen, Libbys Lederjacke zu zerfetzen und Fotos an eine Zeitschrift zu verkaufen. Er könnte sogar eine Explosion im Labor bewerkstelligen. Aber Tyson glaubte nicht, dass Harry genug Grips hatte, um die Ausrüstung für eine Hubschrauberrettungsaktion zu sabotieren. Er blieb auf den Stufen vor dem Haus stehen. Vielleicht war der Rettungsgurt tatsächlich defekt gewesen. Sein Sturz könnte wirklich ein Unfall gewesen sein. Hinter allem anderen, was vorgefallen war, hätte Harry mit Sicherheit stecken können.

Tyson hätte Harry Jenkins gern als einen unintelligenten, unfähigen Biochemiker angesehen, aber das war er nicht. Der Mann war durchaus in der Lage, gute Arbeit zu leisten, aber ihm fehlte die Geduld, die man als Forscher brauchte. Setzte ihn das außer Stande, Mordpläne zu schmieden? Sein Gehirn stellte eine Wahrscheinlichkeitsrechnung an und knabberte am exakten Prozentsatz, während er begann, das Chaos im Labor zu sichten.

 

Libby band sich ihr Haar zu einem Pferdeschwanz zurück. So trug sie es selten, weil es sie noch viel jünger wirken ließ, aber sie hatte Lust, ein Weilchen im Garten zu arbeiten. Die Drakes pflanzten Unmengen von Kräutern und Blumen an, und das hatte sie auch vor, wenn sie mit Tyson in das neue Haus zog, aber in erster Linie wollte sie wieder zu sich finden. Sie hatte viel zu viel Zeit damit verbracht, an Ty zu denken, statt sich auf die Probleme zu konzentrieren, die um sie herum aus dem Boden schossen. Sie brauchte dringend ihren klaren Verstand.

»Gehst du aus dem Haus?«, fragte Elle. »Es wird schon dunkel.«

»Im Moment«, antwortete Libby, »muss ich Erde in meinen Händen fühlen, um meine Bodenhaftung wiederzufinden. Ich habe den ganzen Tag auf Wolken geschwebt und geträumt. Ich komme mir albern dabei vor, aber ich kann es nicht ändern.«

»Mit diesem Klunker an deinem Finger wirst du noch jemanden blenden«, neckte Elle sie und reichte Libby ein Paar Gartenhandschuhe. »Bedecke ihn lieber züchtig.«

Libby hielt den Ring hoch, damit die letzten Sonnenstrahlen auf den Stein fallen konnten. »Er ist so schön. Ty überrascht mich immer wieder. Wenn er arbeitet, vergisst er alles und jeden, aber er kann auch so aufmerksam und rücksichtsvoll sein und mir das Gefühl geben, ich sei etwas ganz Besonderes.«

»Das kommt daher, dass du etwas Besonderes bist.« Elle zog ein zweites Paar Handschuhe an. »Ich bin froh, dass du Tyson gefunden hast und dass er dich so sehr liebt. Ich fühle es, wenn ich in eurer Nähe bin.« Sie nahm den kleinen Eimer mit den Gartengeräten. »Einen so schönen Ring habe ich noch nie gesehen. «

Elle folgte ihrer Schwester zu den Blumenbeeten. »Ich hätte nie geglaubt, dass ich so glücklich sein könnte, trotz allem, was passiert. Aber ich mache mir Sorgen um ihn.« Sie sah sich um und senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern. »Ich habe ein ganz ungutes Gefühl, das ich einfach nicht abschütteln kann, obwohl ich mir dabei wie eine Verräterin vorkomme. «

»Was ist los, Lib?«

»Ich mag Sam nicht, und ich glaube auch nicht, dass ich ihn jemals mögen werde. Damit, dass er mich offenbar verabscheut, kann ich leben, aber er macht Ty ständig in irgendwelchen Kleinigkeiten schlecht.«

»Ach ja?«

Libby nickte. »Wahrscheinlich hat er es sein Leben lang getan. Sam war in der Schule beliebt und ist es heute noch. Er ist es gewohnt, im Mittelpunkt zu stehen, und Ty war für ihn vermutlich ein Klotz am Bein. Sams Mutter hat darauf bestanden, das er sich laufend mit ihm abgibt, und wie alle Kinder hat er sich wohl hinter seinem Rücken über seinen Cousin lustig gemacht. Aber ich glaube nicht, dass er jemals aus diesem Stadium herausgekommen ist. Manchmal ist er so selbstgefällig und überheblich, als hätte Ty keinen Schimmer und als könnte ihn niemand um seiner selbst willen lieben, sondern nur um seines Geldes willen. Ich glaube, er ist tatsächlich davon überzeugt, und das macht mich wütend. Das hat er Ty sogar in meinem Beisein gesagt.«

»Du glaubst also nicht, dass Sam Ty wirklich gern hat?«

»Doch, natürlich. Er kümmert sich um ihn und bringt ihm sogar Mahlzeiten, die Ty so gut wie nie anrührt, aber seine überlegene Haltung stört mich wirklich.«

»Du warst schon immer so mitfühlend und sensibel, Libby. Schon in der Schule war es dir verhasst, wenn ein Kind auf einem anderen herumgehackt oder es gepiesackt hat, aber viele Kinder – und Erwachsene – neigen von Natur aus zu Rivalitätskämpfen. Sie brauchen das Gefühl von Überlegenheit. Dieses Verhalten verstehst du nicht und du wirst es auch nie verstehen. « Elle warf etliche Klumpen Unkraut auf einen Haufen. »Wir hätten früher damit anfangen sollen. Es wird schon so dunkel, dass man kaum noch etwas sieht, obwohl wir Vollmond haben.«

»Ich weiß, es war mir nur ein Bedürfnis, um meinen Frieden wiederzufinden.«

Elle legte ihr eine Hand auf den Arm. »Tyson hat außer Sam keine Familie, Libby.«

»Ich weiß. Deshalb fühle ich mich ja so schuldbewusst. Ich möchte ihn wirklich mögen, und ich habe mich bemüht. Ich halte ihn nur nicht für das, wofür er sich ausgibt. Er ist nicht locker und umgänglich. Das ist Tyson ja auch nicht. Der Jähzorn muss wohl in der Familie liegen.«

»Tyson ist jähzornig?«

»Und wie. Vor allem, wenn jemand nicht nett zu mir ist. Und Sam ist auch jähzornig. Einmal war er so wütend auf mich, dass er mich geschüttelt hat.«

Sturmwolken brauten sich in Elles Augen zusammen. »Kein Wunder, dass du ihn nicht magst. Das hättest du mir sagen sollen. Ich hätte ihm einen Besuch abgestattet.«

Libby lachte schallend. »So viel zum Thema Jähzorn. Aber du brauchst ihn dir nicht vorzuknöpfen. Tyson hat schon genug Schaden angerichtet.«

»Ach ja?«, fragte Elle neugierig. »Was hat er getan?«

»Er hat zweimal zugeschlagen und ihm die Nase gebrochen. Es war grauenhaft.« Libby zog den Kopf ein. »Hinterher war Sam abscheulich zumute. Er hat sich bei mir und bei Ty entschuldigt. «

»Mach dir keine Sorgen, Libby.« Sie lächelte ihre Schwester ermutigend an. »Du wirst einen Weg finden, Sam zu akzeptieren. Es ist doch selbstverständlich, dass du Ty beschützen willst. Du willst uns alle beschützen.«

»Ich hoffe, du hast Recht. Ich verabscheue Sam keineswegs«, erklärte Libby hastig. »Es kann nicht leicht für ihn gewesen sein, mit einem genialen Jungen aufzuwachsen, der ein paar Jahre jünger und ihm in der Schule immer weit voraus war. Ty gibt selbst zu, dass er Sam oft in Verlegenheit gebracht hat. Du weißt ja, wie das mit dem Ego von kleinen Jungen ist.«

Elle lächelte ihre Schwester an. »Es wird nicht lange dauern, und du wirst sogar Sam gegenüber Beschützertriebe entwickeln. Und da er Ty zu sämtlichen Familienfesten begleiten wird, helfen wir dir, ihn weich zu klopfen. Joley kann das besonders gut. Die Männer sind vernarrt in sie.«

Libby zuckte zusammen. »Über Joley hat er auch widerliche Dinge gesagt. Vielleicht kann ich ihn deshalb nicht leiden. Aber das ist wahrscheinlich ein zu starkes Wort. Ich habe gemischte Gefühle. Fest steht, dass er mit Joley ins Bett gehen will, um damit bei seinen Kumpels von der Feuerwehr zu prahlen. «

»Das kannst du ihm nicht vorwerfen. Sie ist unglaublich sexy. Sie kann nichts dafür. Wenn sie über die Straße läuft, entsteht ein Verkehrsstau.«

»Sie mag das nicht, stimmt’s?«

Elle zuckte die Achseln. »Nein, aber sie hat gelernt, es zu akzeptieren. Wir alle leben mit Dingen, die wir nicht mögen. Du weißt selbst, dass Joley überhaupt nicht so ist, wie sie von der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Aber sie hat nun mal dieses Image, das ihren Erfolg und ihre Plattenverkäufe steigert. Im Moment tingelt sie durch die spätabendlichen Talkshows und lacht sich darüber kaputt, was sich die Zeitungen nun schon wieder über sie haben einfallen lassen. Sie bestätigt nicht, dass die Fotos von ihr sind, aber sie bestreitet es auch nicht. Trotzdem verschafft es ihr noch mehr Publicity und sie verwandelt damit etwas Abscheuliches in etwas Positives. Sie weiß genau, was sie tut.«

»Ich begreife nicht, wie sie mit all den Lügen umgehen kann, die über sie verbreitet werden.« Libby schüttelte den Kopf.

In dem Moment wurde die Tür aufgerissen, und Kate winkte, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. »Libby, für dich kam gerade ein wirrer Anruf. Etwas über Irene und Drew und dass du Tyson im Chapman-Haus treffen sollst.«

Libby zog die Gartenhandschuhe aus. »War es Ty?«

Kate zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht, aber ich habe es angenommen. Ich habe ihn gebeten, noch einmal zu wiederholen, was er gesagt hat, aber er hat aufgelegt.«

Elle und Libby sahen einander an und lachten beide. »Das klingt nach Ty.« Sie sagten es gleichzeitig, was sofort den nächsten Lachanfall auslöste.

Libby stand auf und klopfte ihre Jeans ab. »Ich hoffe, Irene hat es sich nicht anders überlegt. Heute Morgen war Tyson ganz aufgeregt. Er war vollkommen sicher, dass er dahintergekommen ist, warum das Medikament bei Heranwachsenden unerwünschte Nebenwirkungen hat. Er konnte es kaum erwarten, weitere Experimente durchzuführen und einen Bericht für BioLab zu schreiben.«

»Ich hoffe, er hat gefunden, wonach er gesucht hat«, sagte Kate. »Wenn ja, glaubst du, dann wäre Drew damit geholfen?«

»Wie ich ihn kenne, würde er erst noch viele Versuche durchführen, aber ich bin sicher, dass er auf der richtigen Spur ist.«

Elle umarmte sie. »Ich freue mich so sehr für dich, Libby. Du wirst dich immer dafür begeistern können, seine Aufregung zu teilen, wenn er etwas entdeckt hat. Und er wird immer versuchen, wissenschaftliche Erklärungen für deine Magie zu finden. Ich glaube, euch wird es nie langweilig werden.«

»Ich bin glücklich«, gestand Libby. »Wer hätte je geglaubt, dass Tyson Derrick mich so glücklich machen könnte?« Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. »Es wird schon spät. Ich sollte losfahren. Letzte Nacht hat er überhaupt nicht geschlafen, sondern durchgearbeitet.« Sie eilte ins Haus, um ihre Autoschlüssel zu holen. Sie hatte Tyson seit dem Morgen nicht gesehen und konnte es kaum erwarten, wieder bei ihm zu sein. Das mochte zwar bei genauerer Betrachtung albern sein, aber selbst das war ihr ganz egal.

Libby eilte zu ihrem Porsche und setzte sich ans Steuer. In einer besonders engen Kurve schaltete sie herunter und plötzlich glitt ein Schatten über den Mond. Ihr Herz machte einen Satz, und sie schaute in den Rückspiegel. Ein Fahrzeug fuhr gerade von der Böschung. Sie hatte es nicht gesehen, weil die Scheinwerfer ausgeschaltet waren und es hinter dem dichten Gestrüpp geparkt war, das am Berghang wuchs.

Angst ließ ihr Herz heftig pochen. Der Wagen fuhr mit dem üblichen Sicherheitsabstand hinter ihr her, und doch fühlte sie sich bedroht. Ihr Mund wurde trocken, und sie spürte Panik in sich aufsteigen. Libby beschleunigte. Sie hatte einen schnellen Wagen, der dafür gebaut war, die Kurven schnittig zu nehmen. Und sie kannte die Straße genau. Sie war hier aufgewachsen. Der Porsche hätte den anderen Wagen mühelos abhängen sollen, doch als sie wieder in den Rückspiegel sah, war der Abstand unverändert.

Libby versuchte sich einzureden, ihre Fantasie ginge mit ihr durch, aber es gelang ihr nicht, sich davon zu überzeugen. Sie spielte mit dem Gedanken, umzukehren und schleunigst wieder nach Hause zu fahren, aber sie war nur noch wenige Meilen vom Chapman-Haus entfernt. Sie sah erneut in den Rückspiegel, und das Herz schlug in ihrer Kehle. Der Wagen näherte sich ihr schnell. Zu schnell.

Sie kämpfte gegen die Panik an und zwang ihren erstarrten Körper zu handeln. Sie hatte den besseren Wagen. Sie war nicht gerade eine besonders gute Autofahrerin, doch es sollte ihr mühelos gelingen, den anderen Fahrer abzuhängen, bevor sie Tysons Haus erreichte.

»Nur keine Panik«, redete sie sich mit klappernden Zähnen zu, als sie die Hand auf den Schaltknüppel legte und das Gaspedal durchtrat.

Der Wagen hinter ihr fuhr immer noch ohne Licht. Er versuchte, sie mit seiner Stoßstange zu rammen. Als es ihm gelang, machte der Porsche einen Satz und ihr Kopf fiel zurück, doch da sie Tempo zugelegt hatte, hatte der Aufprall ihr kaum etwas anhaben können.

Sie fuhr auf eine scharfe Kehre zu, sah in den Rückspiegel und erschrak so sehr, dass ein leises Stöhnen über ihre Lippen kam. Er war immer noch direkt hinter ihr. Sie nahm die Kurve mit quietschenden Reifen dreimal so schnell wie sonst.

Ihre Hände am Steuer zuckten und sandten sie auf den Kies der Straßenböschung. Sie schrie auf, als der Porsche dem Berghang entgegenschlitterte. Steinchen sprühten in die Luft und trafen die Kotflügel und das Fahrgestell. Libby zwang sich, den Porsche auf die Straße zu manövrieren, ohne übertrieben in die Gegenrichtung zu lenken. Der größere, schwerere Wagen war immer noch dicht hinter ihr und glitt immer näher wie ein rachsüchtiger Dämon. Plötzlich schaltete er das Fernlicht an, das im Rückspiegel direkt auf ihre Augen traf, und blendete sie.

»Du bist auf einer geraden Strecke«, rief sie sich ins Gedächtnis zurück. »Halte das Steuer fest und weiche nicht von der Richtung ab.« Schon während sie die Worte zu sich selbst sagte, konnte sie wieder richtig sehen und trat fester aufs Gaspedal.

Sie war schon fast da, aber das Chapman-Haus stand auf einer kleinen Erhebung am Meer. Die Einfahrt bog scharf von der Straße ab, und sie fuhr mit hohem Tempo darauf zu. Mit zu hohem Tempo. Sie wagte es nicht, die Einfahrt zu verfehlen. Daher blieb ihr nichts anderes übrig, als langsamer zu fahren, obwohl das größere Fahrzeug dicht hinter ihr war. Libby biss die Zähne zusammen und riss das Steuer herum. Die Reifen kreischten, und sie spürte den Aufprall, als der schwerere Wagen ihr Heck streifte. Der Porsche kam ins Schleudern und geriet von der Auffahrt auf den Rasen. Libby kämpfte darum, die Kontrolle über den Wagen zu behalten. Ihr Auto prallte gegen Sams Lieferwagen, und sie wurde gewaltig durchgerüttelt, als er abrupt zum Stehen kam.

Libby sah sich hektisch um, doch das größere Fahrzeug war auf der Schnellstraße geblieben und längst aus ihrer Sicht verschwunden. Einen Moment lang blieb sie sitzen und zitterte so heftig, dass sie fürchtete, ihre Beine würden sie nicht tragen. Tränen strömten über ihre Wangen und trübten ihre Sicht. Mit bebenden Händen öffnete sie die Tür und wankte hinaus.