4

Die freie Reichsstadt Esslingen lag hinter ihnen. Sie hatten in einer Fremdenherberge unterhalb des Zollbergs genächtigt, in einem heruntergekommenen Fachwerkbau nahe der mächtigen steinernen Neckarbrücke. Nun reihten sie sich ein in den Zug der Kaufleute, Kleinkrämer und Handwerksgesellen, die auf dieser bedeutenden Fernstraße im Herzen Württembergs immer zahlreicher wurden und den Neckar entlang in Richtung Residenz marschierten oder noch weiter, bis an den Rhein oder gar bis Flandern.

Kaspar hatte sein Versprechen tatsächlich gehalten. Außer auf der Alb, wo sie in einer Scheune hatten nächtigen müssen und vor Morgengrauen von aufgebrachten Bauern verjagt worden waren, hatten sie jeden Abend eine Herberge aufgesucht. Zu Agnes’ Enttäuschung indes keines der schmucken Gasthäuser an den Marktplätzen, vielmehr einfache Unterkünfte mit Schlafsaal oder Strohsäcken in der Schankstube, die wohlfeil waren und auch noch zu später Stunde den Reisenden offen standen. Sie fanden sich überall in den Vorstädten oder entlang der Landstraßen. Meist waren die Stuben schmutzig und überfüllt, doch nach jener ersten Nacht im Schafstall hatte sich Agnes an Gestank und Kakerlaken kaum noch gestört. Wenigstens lagen sie warm und trocken und waren vor Wegelagerern geschützt. Ohnehin hatten die Ausgaben für Brücken- und Wegezoll, für Ufer-, Grenz- und Pflastermaut den Inhalt ihrer Reisekasse empfindlich geschmälert, und so war Agnes für dieses Mal beinahe froh, dass sie ihren Kopf nicht durchgesetzt hatte.

Jetzt, da sie nahezu am Ziel ihrer Reise waren, dankte sie Gott, dass er sie vor Heimsuchungen wie Unwetter, Überfällen oder durchziehenden Kriegsvölkern bewahrt hatte. Selbst das Wetter hatte sich zusehends zum Besseren gewandt: Nach zwei trüben, regnerischen Tagen war es endlich trocken, wenngleich kälter geworden, und heute Morgen schien sogar die Sonne auf die Weingärten, die sich hier überall die Hügel hinauf zogen.

Agnes schlang sich die Reisedecke fester um die Schultern und dachte daran, wie sie sich am Vortage auf einer dieser Terrassen, mitten zwischen den kahlen Rebstöcken, geliebt hatten. Sie musste lächeln und warf einen Seitenblick auf Kaspar. Zum ersten Mal nahm sie so etwas wie Anspannung in seinem Gesicht wahr. Gewiss drehten sich seine Gedanken um die Audienz beim herzoglichen Kapellmeister.

Am Rande eines hübschen Weingärtnerdorfs machten sie Rast. Vor ihnen, am jenseitigen Ufer, erhob sich die Ruine der Burg Württemberg hoch über dem Neckartal.

«Noch drei oder vier Wegstunden, und wir sind da», sagte Kaspar, während er das Maultier zum Grasen ausspannte. Dann hielt er inne. «Die Steiger-Brüder – ihre Eltern waren Spielleute wie die meinen. Ich kenne sie seit meiner Kindheit.» Er räusperte sich. «Weißt du, sie sind aus grobem Holz geschnitzt, vielleicht etwas ungehobelt, aber sie haben einen guten Kern.»

Agnes musste lachen. «Schaust du deshalb so gramvoll? Was kümmern mich diese Brüder. Ich hatte schon gefürchtet, du bereust es, mich mitgenommen zu haben.»

«Aber du bist doch meine Glücksgöttin, meine Fortuna.» Er ließ das Maultier stehen, wo es stand, noch halb im Geschirr, und riss sie stürmisch in seine Arme, bedeckte ihren Hals, ihren Nacken mit Küssen, bis Agnes ihn schließlich von sich schob.

«Siehst du nicht die Frauen dort hinten am Brunnen? Wie sie sich die Augen ausstieren nach uns. Lass uns rasch etwas essen und dann weiterfahren.»

Noch vor der Abenddämmerung erreichten sie von Norden her die Residenz, die zu drei Seiten von Weinbergen und Waldstücken überragt wurde. Das trutzige Schloss des Herzogs mit seinen mächtigen Rundtürmen beherrschte die Stadtsilhouette. Ihr Weg führte am Bachufer entlang bis zu einer hohen, weiß gekalkten Mauer. Dahinter verbarg sich der fürstliche Lustgarten, erklärte Kaspar ihr. Zu sehen von der Pracht war nur das kahle Geäst riesiger Pappeln und Platanen, die hier und da über die Mauer ragten.

Die Esslinger Vorstadt, in der die Gebrüder Steiger wohnten, zeigte wenig vom Glanz einer Residenzstadt. Zwischen niedrigen, nicht gerade ansehnlichen Holzhäusern führten Gassen ohne Pflaster, eng, krumm und holprig. An den Ecken häufte sich Mist, in dem frei laufende Schweine wühlten. Agnes rümpfte die Nase.

«Wart nur, wenn an heißen Tagen der Nesenbach zu stinken beginnt.» Kaspar lenkte den Karren in eine finstere Sackgasse, die so eng war, dass kein Kind mehr zwischen Radnabe und Häuserwand gepasst hätte. «Die Stuttgarter nennen ihn ‹Wälzimdreck›. Aber keine Sorge, wir werden bald oben in der Liebfrauenvorstadt wohnen. Da ist die Luft rein, und die Gassen werden jeden Tag zweimal gekehrt. So, da wären wir.»

Sie hielten vor einem verwitterten Lattenzaun, der nur noch durch Brombeergestrüpp zusammengehalten schien. Dahinter drängten sich fünf, sechs Häuschen und Schuppen um einen mit Unkraut überwucherten Hof, wobei kaum auszumachen war, was davon Schuppen, was Wohnhaus war. Neben einem Haufen altem Gerümpel und Gerätschaften nahm eine Frau in fleckigem Kittel und Kopftuch gerade die Wäsche von der Leine.

«Warte hier.» Kaspar sprang vom Karren. «Ich will unseren Besuch erst anmelden.»

Das sollte indes nicht nötig sein. Die hagere Frau hatte sich umgedreht und sah sie misstrauisch an. Dann stieß sie einen Schrei aus. «Jesses! Dass mich der Donner und Hagel erschlag – der Gaukler-Kaspar!»

Sie kam zum Zaun geschlurft und stemmte die Arme in die Hüfte. Ihr Gesicht war faltig wie ein alter Mostapfel, dabei von ungesunder grauer Farbe. Unterhalb ihrer langen Nase prangte eine Warze, die sich wohl durch häufiges Kratzen entzündet hatte. Agnes kauerte sich auf dem Kutschbock zusammen, als hätte ein Flurschütz sie beim Äpfelklau erwischt.

«Jetzt sag bloß», begann die Alte zu meckern, «du willst dich wieder mal bei uns einquartieren. Das kannst du dir gleich aus dem verlausten Hirn schlagen. Wir haben kein Fleckchen mehr frei. Und wer ist die da?» Sie wies mit dem Kopf zu Agnes. «Noch eine Gauklerin? Was bringst du diesmal – eine Tierbändigerin? Eine Wahrsagerin?»

Kaspar duckte sich wie unter einem Schlag, sein Lächeln gefror.

«Jetzt hör auf, Else. Agnes ist meine künftige Frau.»

Die Alte lachte höhnisch auf. «Deine künftige Frau. Und dazu eine Bürgerstochter, wenn ich mir das hübsche Gewand und die feinen Schuhe recht besehe. Einen sauberen Fang hast du da gemacht.»

«He, Weib, was zeterst du so herum?» Im Türrahmen einer der Hütten erschien ein untersetzter Kerl, kaum jünger als Else, barhäuptig, mit ungekämmtem langen Haar und Vollbart und der roten großporigen Nase eines Trinkers. Wie es schien, war er eben erst aus dem Bett gestiegen.

Kaspar stieß die Gartenpforte auf und lief auf ihn zu, ohne sich weiter um die Alte zu kümmern.

«Melchert!»

«Ja, Sackerment – Kaspar! Alter Fatzvogel! Endlich mal ein Lichtblick in unserer trübseligen Hütte.»

Der Mann breitete die Arme aus und zog Kaspar an sich. Er schien sich aufrichtig zu freuen, und Agnes entspannte sich ein wenig. Trotzdem hätte sie am liebsten die Zügel aufgenommen und wäre auf und davon. Was für ein Rattenloch!

Kaspar und Melchert schlenderten Arm in Arm heran.

«Das ist Agnes, meine Braut.»

Während Kaspar ihr galant vom Wagen half, flüsterte er ihr ins Ohr: «Mach ein freundliches Gesicht, Prinzessin, sonst müssen wir heute Nacht im Stadtgraben schlafen.»

«Willkommen im Hause Steiger. Das müssen wir feiern.» Melchert schüttelte ihr die Hand. «Kommet no rei!»

Er schob seine Frau zur Seite und ging voraus in eine düstere Stube, die offensichtlich die gesamte Grundfläche des Hauses ausmachte und in der der Dunst von Kohlsuppe hing, vermischt mit dem Geruch nach billigem Fusel.

Agnes war entsetzt: Durch das einzige Fensterchen mit seiner verdreckten Glasscheibe drangen kaum Tageslicht und Luft, der Boden bestand aus gestampftem Lehm. Lediglich unter Tisch und Eckbank waren nachlässig ein paar Dielenbretter verlegt. Links von der Eingangstür trennte ein Vorhang von unbestimmter Farbe den Raum ab – jetzt war er halb zurückgezogen und gab den Blick auf eine unordentliche Bettstatt frei. Der Schlafstelle gegenüber, dicht beim Esstisch, befand sich die Küchenecke mit einem rußgeschwärzten Herd, der immerhin ein Rohr zur Außenwand besaß. So würden sie wenigstens nicht ersticken müssen, dachte Agnes grimmig, falls sie es überhaupt länger als eine Nacht hier aushielt. Dann entdeckte sie die Holzstiege, die steil nach oben führte. Vielleicht gab es dort ja einen annehmbaren Schlafraum für sie.

Kaspar zog einen schmalen Lederschlauch unter seinem Reisemantel hervor. «Tiroler Zwetschgenwasser. Für euch.»

«Worauf warten wir? Kommet no, setzt euch.» Melcherts Äuglein über den schweren Tränensäcken strahlten. «Else, mach Feuer, hier friert einem ja der Arsch ab.»

«Wenn du deinen Arsch mal bewegen würdest, würde er auch nicht abfrieren.»

Mit grimmigem Gesicht scheuchte die Alte zwei Hennen aus der Stube, legte einen Kanten Brot auf die Tischplatte und brummelte: «Mehr hab ich nicht im Haus.» Dann machte sie sich am Ofen zu schaffen. Agnes fiel auf, dass sie beim Gehen den linken Fuß nachzog.

«Und jetzt erzähl, was dich diesmal in unser schönes Stuegert verschlagen hat.» Melchert nahm einen tiefen Schluck, rülpste und reichte dann den Schlauch an Kaspar weiter.

«Die Sehnsucht nach euch, was sonst.» Kaspar trank. «Doch im Ernst: Ich hab dieses Wanderleben bei Wind und Wetter gründlich satt, du magst dich ja vielleicht noch erinnern an jene Zeit. Ich bin Sänger, ich will Kunst machen und nicht diesen Klamauk auf den Marktplätzen. Eines Tages dann», er warf Agnes einen innigen Blick zu, «bin ich diesem schönen Mädchen begegnet und habe beschlossen, ein neues Leben zu beginnen. Wir wollen hier sesshaft werden und heiraten.»

Melchert klatschte in die Hände. «Hört, hört!»

«Sesshaft!» Mit verächtlichem Schnauben richtete sich Else auf. «Wohl hoffentlich nicht bei uns.»

«Heilige Cäcilia, was denkst du? Ich werde mir mein Auskommen als Sänger oder Lautenist suchen und dann ein dreistöckiges Steinhaus beziehen, oben in der Vorstadt der Reichen. Also lass dir nicht noch mehr graue Haare wachsen, Else. In ein paar Tagen seid ihr uns los. Außerdem werde ich meinen Teil zum Unterhalt beitragen.»

«Pah! Du magst das Kätzlein schmücken, wie du willst – wir haben keinen Platz mehr für Gäste. Oder», fauchte sie ihren Mann an, «hast du die Scherereien mit der Stadtwache schon vergessen?»

Agnes sprang auf. «Es reicht, Kaspar. Ich will gehen.»

Sie hatte die Nase gestrichen voll. Lieber würde sie ihren letzten Heller für eine Herberge ausgeben, als sich von dieser Vettel weiterhin ein dummes Maul anhängen zu lassen.

«Ein wenig zartbesaitet, die Kleine, was?» Melchert nickte Kaspar zu und wandte sich dann an Agnes. «Setz dich wieder auf deinen Hintern und trink endlich einen Schluck mit uns. Die gute Else meint das nicht so. Und außerdem bin immer noch ich der Herr im Haus. Bleibt, solange ihr wollt. Ihr könnt oben auf der Bühne schlafen, Lienhard muss halt in die Stube ausweichen.»

«Wo steckt der Bursche eigentlich?»

Melchert zuckte die Schultern. «Was weiß ich. Er schneit herein, wie es ihm passt, kennst ihn doch.» Die Worte gingen ihm inzwischen schwer von der Zunge. «Aber er ist nie länger als ein, zwei Tage fort.»

«Und wie ist es ihm ergangen in den letzten Jahren? Hat er endlich eine Frau gefunden?»

«Eine?» Melchert lachte schallend. «Er schleppt jede Woche eine andere an, manchmal auch zwei, und zwar nicht die schlechtesten.» Er zwinkerte Kaspar zu und senkte die Stimme. «Ich lass mir diese Besuche ja gern gefallen, so richtig was fürs Auge – und für was anderes auch.» Sein Lachen ging in bellenden Husten über.

Agnes verzog angewidert das Gesicht.

«Verzeiht, Gnädigste.» Melchert grinste schief. «Hatte ganz vergessen, dass wir eine vornehme Dame bei Tisch haben.»

Er beugte sich zu Kaspar. «Ist die eine Katholische?»

«Ihr dürft mich ruhig selbst fragen, ich bin ja nicht taubstumm», versetzte Agnes schnippisch. «Im Übrigen bin ich lutherisch erzogen.»

«Sehr gut, sehr gut. Den Katholiken darf man nicht trauen, die sind boshaft und schadenfroh.»

«Vorsicht, alter Freund.» Kaspar nahm ihm den Branntwein aus der Hand. «Ich bin selbst katholisch getauft.»

«Schwätz nix daher. Ihr Gaukler und Fahrende seid doch weder petrisch noch paulisch.»

«Gib nur acht, Kaspar», mischte sich Else ein. «Falls du dich mit deinen Gesangskünsten drüben im Schloss vorstellen willst, halt lieber den Mund von deiner papistischen Vergangenheit. In der Hofkapelle werden seit der Schlacht bei Prag keine Katholischen mehr geduldet.»

Zu Agnes’ Überraschung stellte sie ihr und sich selbst einen Krug Bier hin. «Hier, Gauklerin. Ich seh doch, du magst keinen Branntwein.»

Ihr verknittertes Gesicht wirkte mit einem Mal freundlicher. Dankbar nahm Agnes einen kräftigen Schluck.

«Und das ist auch recht und billig so.» Melchert donnerte die Faust auf den Tisch. «Man muss diese Ablassprediger hauen und stechen, wo man sie trifft.»

«Du faselst daher wie der neue Pfarrer von Sankt Leonhard.» Else nahm ihm den Branntwein aus der Hand. «Hör lieber auf zu saufen, ich kann dieses Mönchsgezänk nimmer hören.»

«Dann halt dir die Ohren zu, Weiber verstehen davon ohnehin nix. Anstelle des Herzogs hätte ich längst die württembergischen Truppen nach Böhmen und in die Pfalz geschickt und den Kaiserlichen ordentlich eins über die Mütze gegeben. Stattdessen lässt er im Norden Wälle und Landgräben ausheben wie ein ängstliches Waschweib, wegen einer Handvoll Spanier in der Pfalz. Hätte er die lieber rechtzeitig niedermetzeln lassen.»

«Würdest wohl selbst gern Krieg spielen?» Kaspar schlug ihm gegen die Schulter. «Aber so einen Schlappsack wie dich tät eh keiner anwerben, glaub mir.»

«Jetzt hört doch auf.» Agnes brach ihr Schweigen. «Wir können froh sein, dass der Krieg so fern ist.»

«So fern ist er gar nicht», entgegnete Else mürrisch und kratzte an ihrer Warze. «Um ein Haar hätten diese verfluchten Spanier nicht nur die Pfalz, sondern auch unser Herzogtum besetzt. Dafür fallen sie jetzt an der Grenze über unsere Dörfer her und plündern sie und brennen sie nieder. Ich sag euch, das wird noch alles übel ausgehen.»

 

Als Agnes am nächsten Morgen erwachte, lag das Haus totenstill. Nur Kaspars regelmäßige Atemzüge waren zu hören. Sie hatte wider Erwarten tief und fest geschlafen und nicht einmal mitbekommen, wann Kaspar zu Bett gegangen war. Vorsichtig, um ihn nicht zu wecken, erhob sie sich von ihrem Strohlager und kleidete sich an. Jetzt erst, im Dämmerlicht des Morgens, sah sie, was für eine heillose Unordnung auf dem kleinen Dachboden herrschte. Allenthalben lagen Kisten und altes Gerümpel unter einer dicken Staubschicht, von den Dachsparren hingen Spinnweben wie graue Schleier, mehrere Eimer standen an Stellen, wo das Dach offensichtlich undicht war. Nach dem Morgenessen würde sie hier erst einmal Ordnung schaffen.

Leise kletterte sie die Holzstiege nach unten. Der Vorhang der Schlafkammer war zurückgezogen, die Bettstatt von Else und Melchert leer. Sie schlüpfte in ein Paar Holzpantinen, die an der Türschwelle standen, und ging zum Hof hinaus. Da entdeckte sie Else vor einem der Schuppen.

«Guten Morgen, Else.»

Statt eines Grußes drückte Else ihr einen Sack mit Körnern in die Hand.

«Bist du endlich auf? Drei Hand voll für die Hühner in unserem Schuppen, danach suchst du die Eier zusammen. Sechs müssen es mindestens sein. Und dann kannst du zum Essen kommen.»

«Schon recht. Warte mal – wo finde ich hier Reitende Boten, die Nachrichten überbringen?»

Else sah sie verständnislos an. «Nachrichten überbringen? Wir schwätzen mit den Leuten, wenn wir was wollen.»

«Ich meine Briefe – nach Ravensburg.»

Else zuckte die Schultern. «Vielleicht am Rotebildtor. Beeil dich, ich muss zur Arbeit. Wegen euch bin ich viel zu spät dran.»

«Du bist Köchin im Schloss, nicht wahr?»

«Wer hat dir denn den Bären aufgebunden? Ich spüle das dreckige Geschirr der hohen Herrschaften, nichts weiter.»

Dieser Schwindler, dachte Agnes und betrat den niedrigen Schuppen. Dann hatte ihr Kaspar damit ebenso ein Märchen aufgetischt wie mit der Behauptung, Melchert sei Winzer. Dass Elses Mann sich als einfacher Taglöhner bei verschiedenen Weinbauern verdingte, hatte sie bereits am Vorabend erfahren.

Während sie in dem bestialischen Gestank des Stalls die Hühner fütterte und immerhin sieben Eier zusammenklaubte, schrieb sie in Gedanken an ihre Eltern: Dass sie mit Kaspar auf dem besten Wege sei, in Stuttgart Fuß zu fassen, und sie sich keine Sorgen machen sollten. Dass sie bei ehrbaren Leuten untergekommen seien und ihr künftiger Ehemann bald seine Stellung als Sänger und Musiker in der Hofkapelle antreten werde.

Ich verbreite schon dieselben Lügen wie Kaspar, dachte sie kopfschüttelnd. Doch um nichts in der Welt hätte sie zugegeben, in was für ein elendes Loch sie hier geraten war. Es war schließlich nur eine Frage der Zeit, bis sich das Blatt zum Besseren wenden würde. Das Einzige, was zählte: Kaspar und sie waren füreinander da.

Als Agnes ins Haus zurückkehrte, löffelte ihr Geliebter mit verquollenem Gesicht seinen Milchbrei.

«Guten Morgen, Prinzessin», flüsterte er heiser und blinzelte ihr zu.

Else reichte ihr ein volles Schälchen. «Mach nachher das Geschirr sauber und räum auf. Bin schließlich nicht eure Dienstmagd.»

Agnes nickte widerwillig und setzte sich neben Kaspar.

«Wirst du dich heute bei diesem Hofkapellmeister vorstellen?», fragte sie.

«Ich denke schon. Das heißt – vorher sollte ich mich mit Lienhard besprechen, schließlich ist er mit Salomo bekannt.»

«Spielt Lienhard auch in der herzoglichen Kapelle mit?»

Elses lautes Lachen ließ Agnes zusammenzucken. «Lienhard spielt vielleicht mit Weibern, aber nicht auf Instrumenten.»

«Was soll das heißen?»

Kaspar verdrehte gequält die Augen. «Nun ja, er ist nicht direkt in der Kapelle. Er hält die Instrumente sauber. So eine Art Knecht des Hofkapellmeisters eben.»

«Das war er, mein Lieber.» Else wickelte sich in ihren Umhang und ging zur Tür. «Salomo hat ihm den Laufpass gegeben, weil er nie zur Stelle war, wenn es Arbeit gab. Geschieht ihm recht, diesem Nichtsnutz. Falls Salomo dich also jemals empfangen sollte, erwähne Lienhards Namen besser nicht. Sonst bist du mit einem Tritt im Arsch gleich wieder draußen.»

 

Agnes fluchte lauthals vor sich hin, während sie mit den Fingernägeln den Hühnerkot aus den Dielenbrettern kratzte. Sie war an die mitunter harte Arbeit im Haus gewöhnt, schließlich konnte sich eine Schulmeisterfamilie in Zeiten wie diesen weder Köchin noch Dienstmagd leisten. Was sie aber hier in diesem Drecksloch jeden Tag schuftete, glich einem Frondienst. Sie wettete, dass Else seit Monaten weder Schrubber noch Besen angerührt hatte.

Die Alte hatte keine Scheu, ihr alle möglichen Pflichten aufzubürden. Vor dem Morgenessen solle sie die Hühner und die Mastsau füttern, danach, wenn alle aus dem Haus waren, die Böden und den Herd schrubben. Die Bühne oben müsse auch endlich gründlich gesäubert werden, das könne sie aber nach und nach erledigen; wichtiger sei das Waschen und Ausbessern der Wäsche. Mit dem Brunnenwasser sei sparsam umzugehen, die Betten müssten nach Ungeziefer abgesucht und der zu ihrem Haus gehörige Teil des Hofes von Müll und Unrat gereinigt werden – und so fort.

«Wenn wir mit euch schon zwei hungrige Mäuler mehr stopfen, kannst du dich wenigstens im Haus nützlich machen», waren Elses barsche Worte gewesen, als sie sich am zweiten Abend zu murren erdreistet hatte.

Dabei hatte Else die Vorratskammer abgeschlossen, und Agnes musste bis zum Abendessen mit trocken Brot und Wasser vorlieb nehmen. Den täglichen Einkauf verrichtete selbstredend Else, auf ihrem Heimweg, um zu vermeiden, dass «unnützer Kruscht» gekauft würde, wie sie es nannte. Nach dem Abendessen rechnete sie dann peinlich genau Kaspars und Agnes’ Anteil heraus.

Agnes biss die Zähne zusammen, als sie sich mit der Bürste über den speckigen Lehmboden hermachte. Anschließend sammelte sie die Nachttöpfe ein. Da ihr Else keine Anweisung gegeben hatte, wohin sie die nächtliche Notdurft zu entsorgen hatte, kippte sie deren Inhalt kurzerhand über den Gartenzaun.

Den fünften Tag waren sie nun schon in Stuttgart. Aus der Vorstadt war sie bislang keinen Schritt herausgekommen, und Kaspar hatte beim Hofkapellmeister noch immer keine Audienz erwirken können. Als sie ihn am Vorabend gefragt hatte, wo er denn den ganzen Tag unterwegs sei, hatte er ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht und geantwortet: «Man muss auf zwei Beinen stehen, und deswegen sehe ich mich nach weiteren Möglichkeiten um, zu Lohn und Brot zu kommen.»

Ein Gutes hatte ihre tägliche Schufterei: Sie fühlte sich jetzt, wo sie dem ärgsten Dreck zu Leibe gerückt war, wesentlich wohler in dem Haus. Fast zufrieden betrachtete sie den Wohnraum, in den durch die frisch geputzten Fenster tatsächlich die Nachmittagssonne schien. Morgen würde sie noch den Vorhang zur Schlafecke ausbürsten – dann sah das hier endlich nach einer menschlichen Behausung aus und nicht mehr wie ein Ziegenstall.

Sie hörte die Gartenpforte quietschen. Hoffentlich war das nicht Lienhard, der vor den anderen heimkehrte. Sie mochte Melcherts jüngeren Bruder nicht, vom ersten Augenblick an war er ihr zuwider gewesen. Dabei war er mit seinem kräftigen Wuchs, den welligen blonden Haaren und dem sorgfältig gestutzten Backenbart ein durchaus gut aussehender Mann, der noch mehr als Kaspar Wert auf sein Äußeres legte. Aber er war schmierig und aalglatt, aus seinem Mund troffen Höflichkeitsfloskeln und Komplimente wie Öl aus der Presse, während seine grauen Augen eiskalt blieben.

Einmal hatte er eine Frau mit karottenrotem Haar mitgebracht, ganz offensichtlich eine Hübschlerin. Ohne ein weiteres Wort, nur mit einem breiten Grinsen in Agnes’ Richtung, war er mit ihr die Stiege hinauf verschwunden. Dann hörte man Gekicher und Geflüster, das rasch überging in unterdrücktes Stöhnen. Als die beiden fertig waren, kam Lienhard auf einen Krug Bier wieder herunter und flüsterte Kaspar ins Ohr, so laut, dass es Agnes hören musste: «Keine Sorge – euer Lager ist unberührt. Der Roten besorg ich es immer im Stehen.»

Zu Agnes’ Erleichterung war es Kaspar, der die Haustür öffnete und einen Schwall eiskalter Luft mit hereinbrachte. Er strahlte.

«Ich habe gute Neuigkeiten für uns. Der Schellenwirt will sich durch den Kopf gehen lassen, ob er mich singen und spielen lässt. Ist das nicht wunderbar? Drück mir beide Daumen, Liebes. Ich muss nur noch eine Lizenz beim Rat der Stadt erlangen, aber das wird wohl das Geringste sein.»

Agnes musste ihre Enttäuschung herunterschlucken. Im ersten Moment hatte sie geglaubt, Kaspar sei endlich von diesem Hofkapellmeister empfangen worden. Stattdessen würde er nun für ein paar Batzen in irgendwelchen Kaschemmen und Beizen aufspielen, seine Künste an eine Hand voll besoffener Zechkumpane verschwenden. Aber sie wollte nicht undankbar sein: Kaspar hatte sich seit Tagen die Hacken abgerannt; das mit dem Schellenwirt war immerhin ein Anfang.

An diesem Abend konnte Kaspar das Kostgeld nicht mehr bezahlen, und auch Agnes hatte ihre restlichen Ersparnisse für den Boten nach Ravensburg ausgegeben.

«Jetzt wart halt noch zwei, drei Tage, liebe Else.» Kaspar strich der Alten über den runzligen Arm. «Dann hab ich mein erstes Geld im Sack, und du kriegst deinen Anteil.»

«Das ist mir einen Hennenfurz wert, ob du irgendwann mal Geld haben wirst. Ich will mein Kostgeld jetzt. Und wenn ihr nichts habt, packt ihr morgen halt euer Bündel.»

»Was bist du für ein undankbares altes Weib.» Agnes wäre der Alten am liebsten an die Gurgel gefahren. «Von früh bis spät rackere ich mich ab und mach euren Dreck weg. Das ist zehnmal mehr wert als dieser Fraß, den du uns hier vorsetzt. Schlechterdings sind wir dir überhaupt kein Kostgeld schuldig.»

«Das schlägt ja dem Fass den Boden aus! Du kannst dich auf der Stelle vom Acker machen, du aufgeblasene Wachtel. Dir heul ich keine Träne nach.»

«Jetzt hört schon auf mit eurem Gezänk.» Kaspar schob sich zwischen die beiden. «Hör zu, Else, ich geb euch das Maultier in Zahlung. Falls ich nächste Woche das Kostgeld immer noch nicht parat habe, verkaufen wir’s, und ihr bekommt den halben Erlös.»