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Zum ersten Mal seit Jahren packte Matthes so etwas wie Angst. Seine Kompanie hatte auf der weiten Hochfläche des Schönfelds Stellung bezogen, im Süden Nördlingens, und wartete mit Hunderten anderer kaiserlich-spanischer Verbände auf den Befehl, sich ins Gefecht zu stürzen. Es war früher Morgen, und Matthes wusste, die Entscheidungsschlacht stand unmittelbar bevor. Das, was am Vorabend und in der Nacht rundum in den Hügeln getobt hatte, war nur der Anfang gewesen.

Drei Wochen hatten sie auf diesen Augenblick gewartet. Drei endlose Wochen, während deren sie die Stadt belagert hatten, in der nicht nur die schwedische Garnison einlag, sondern auch Scharen von Bauersleuten aus dem Umland Zuflucht gesucht hatten. Alle miteinander hausten sie auf engstem Raum, Hungersnot und Pestilenz hatten sich in kürzester Zeit ausgebreitet, das Wasser wurde knapp, denn sie hatten den Zufluss der Eger abgedämmt.

Doch Hunger litten längst auch er und seine Kameraden, denn das verlassene Land rundum konnte ihr riesiges Heer nicht ernähren. Matthes hatte jedes Mal der Hass gepackt, wenn er den fetten Gallas, seit Wallensteins Ermordung der neue Herzog von Friedland, mit seinen Kumpanen prassen und saufen sah. Der Feldmarschall tat das ungeniert und mitten unter den Blicken seiner ausgehungerten Leute, wenn er sich nicht gerade im nahen Schlösschen zu Reimlingen vollfraß, wo der Ungarnkönig residierte. Tag um Tag hatten sie gewartet auf die Verstärkung durch König Ferdinands spanischen Vetter, um endlich losschlagen zu können. Hatten belagert und gehungert, während vom Galgenberg ihre Geschosse gegen die Stadtmauern krachten und der Türmer der Pfarrkirche mit der brennenden Pechpfanne seine Hilferufe an die anrückenden Schweden in den Nachthimmel schickte. Wie de Parada prophezeit hatte, wagten Horn und Weimar nicht, sie in dem unzugänglichen Gelände anzugreifen. Doch ebenso wenig waren die Schweden willens, ihre Nördlinger Garnison im Stich zu lassen.

Anfang September endlich war das Heer des spanischen Königssohnes eingetroffen. Unter Kanonendonner und dem Jubel der Söldner wurden die Welschen begrüßt, die allesamt gesund, wohlgenährt und bestens ausgerüstet waren. Jetzt war die Gelegenheit da, Horn und Weimar mit ihrem geschwächten schwedischen Heer in Grund und Boden zu hauen. Sollten sie nur kommen. Eiligst hatten sie ihre Einheiten in Formation, ihre Geschütze in der Ebene und auf der langgestreckten Hügelkette südlich der Stadt in Stellung gebracht.

Doch am vergangenen Abend dann, zu ungewöhnlicher Stunde, hatte Bernhard von Weimar von Westen her eine ebenso überraschende wie tollkühne Attacke gegen ihre Vorposten geritten und in erbittertem Kampf gegen die spanischen Kürassiere und Musketiere bis auf den Heselberg vorstoßen können. Noch in später Nacht waren die Schlachtrufe und Trompetenstöße zu hören gewesen. Matthes, dessen leichte Reiterei zu diesem Zeitpunkt den rechten Flügel sichern musste, hatte davon nur über die Meldereiter erfahren. Er selbst war bloß in kleinere Attacken verwickelt worden. Aber was immer die nächsten Stunden geschehen mochte, eines war ihm klar geworden: Der Gegner erwies sich als weitaus hartnäckiger als erwartet. Immerhin hatten ihre eigenen Leute in jener Nacht den Albuch sichern können, den höchsten und somit strategisch bedeutsamsten Hügel der Gegend.

Matthes fröstelte. Dort drüben, im dichten Gehölz des Heselbergs, lauerten die Weimaraner; die warteten nur darauf loszuschlagen. Er warf einen verstohlenen Blick auf seinen Freund und Rittmeister, dessen Ross vor ihren Reihen auf und ab tänzelte. In de Paradas klaren, dunklen Gesichtszügen war keine Regung zu lesen.

Da zerriss ein schrilles Trompetensignal die trügerische Stille. Horns rechte Flanke warf sich aus dem Schutz einer langgestreckten Hecke gegen den Albuch, von gänzlich unerwarteter Seite, als das Unglaubliche geschah: Die Geschütze der Schweden blieben im Schlamm stecken, Pulverwagen explodierten, ihre Kürassiere rammten sich beim Rückzug gegenseitig nieder. Das war das Zeichen zum Gegenangriff, endlich hatte das Warten ein Ende. Schon riss der Hagel ihrer Kanonen tödliche Schneisen in die Linien der Schweden. Noch ehe die Reihen über den Bahnen aus zerfetzten Leibern geschlossen werden konnten, stürmten die kaiserlich-spanischen Heerhaufen auf breitester Front, unter den Trommeln des Fußvolks, den Trompetenstößen der Reiterei, sowohl gegen Bernhard von Weimar als auch an der anderen Frontlinie zum Albuch gegen Horn.

Als Matthes seinem Pferd die Sporen gab, war die Angst verflogen. Überhaupt jegliches Gefühl. Eisige Ruhe ergriff ihn; sein Verstand war vollkommen auf de Paradas Befehle konzentriert. Vor ihnen preschten die kroatischen Reiter mit ihren gesenkten Lanzen zum Albuch hin und schlugen Breschen in die feindlichen Linien. Sie setzten nach, zügelten in kurzer Entfernung vor dem Gegner ihre Pferde, feuerten eine Salve ab, zogen das Schwert und gingen dann zur Attacke über. Mitten hinein warf sich Matthes, in das Geviert der Pikeniere und Handschützen. Dann weiter, durch die mit Kiefern bewachsene Schlucht, hinauf auf den kahlen Berg, in die nächsten Reihen geschlagen, mit dem Schwert Piken abgewehrt, sich frei gekämpft, ein brennender Schmerz im Unterarm, einfach nicht darauf achten und rasch die Büchse geladen, um damit eine Schwadron Dragoner in die Flucht zu jagen. Da war keine Zeit mehr nachzudenken, er war mit den anderen zu einem einzigen Körper verschmolzen, einem Ungeheuer, das seine Tentakel in alle Richtungen vorschnellen ließ, er musste nur auf de Parada achten, auf die Trompetensignale, auf die gebrüllten Befehle der Kommandeure, um die anstürmenden Rotten Horns eine nach der anderen zu dezimieren.

Fünf Stunden tobte die Schlacht um den Feldherrnhügel, über ein Dutzend Male setzten die Schweden vergeblich zum Sturm an, fluteten zurück, stürmten erneut. Bald ließen die Wolken von Staub und Pulverdampf nicht mehr die Hand vor Augen sehen. Aber Matthes’ geschärfte Sinne nahmen alles wahr: das Krachen der Piken, das Klirren der Schwerter gegen die Rüstungen, das dumpfe Geräusch, wenn Pferdeleiber gegeneinanderprallen, dazwischen Detonationen und Todesschreie, Pulverdampf und der Geruch warmen Blutes, die heiseren Schlachtrufe der Spanier, ihr «Santiago!» und «Viva España!». Dazu immer wieder das Schmerzgebrüll der Schlachtrosse. Matthes wusste: Man musste die Pferde stechen, am besten in die Nüstern oder Flanken, um die geharnischten Reiter zu überwältigen. Doch Vorsicht: Waren die Reiter geschickt und schnell genug im Sturz, luden sie ihre Pistole und nahmen das sterbende Pferd als Deckung.

Fünf Stunden ein Inferno aus Blitz und Rauch, aus Geschrei, Trommeln, Lärmen und Trompetenstößen. Dann, als die Leibgardisten der Gelben Brigade auseinander sprengten, als Bernhard von Weimar verwundet, das Pferd unter ihm erschossen war und er in letzter Sekunde mit einem herrenlosen Pferd entfliehen konnte, als die letzten Hornschen Völker sich vom Albuch zurückzogen und mit den flüchtenden Weimaranern zusammenprallten, um sich gegenseitig niederzureißen, als Horn selbst schließlich gefangen war – da fand das Gemetzel ein Ende.

Zwischen den Hügeln hingen noch dick die Pulverschwaden, als das dreifache Siegesschmettern der Trompeten ertönte. Das schwedische Heer oder, besser, das, was von ihm übrig war, stob davon in südlicher Richtung, um eilends das Lager aufzulösen und die Bagagewagen anzuspannen. Matthes stand auf halber Höhe des Albuch. Er wusste: Noch während das Schlachtfeld geplündert wurde, würden Isolanis Kroaten den Feinden nachjagen, um Pferde und Bagage an sich zu reißen und dabei nicht zögern, die Fliehenden, Männer, Frauen und Kinder, niederzumetzeln.

Es war vorüber. Matthes stieg vom Pferd und wickelte sich umständlich einen Streifen Stoff um den blutenden Unterarm. Der Tod hatte schreckliche Ernte gehalten. Verkrümmte Körper hingen an den kahlen Flanken des Hügels, krallten sich in die eilig aufgeworfenen Schanzen, Leichen über Leichen deckten den Talgrund zu seinen Füßen, so weit der Blick reichte. Schwerverletzte versuchten unter Schreien, auf die Beine zu kommen, um ihn herum überzog schwarzrot glänzendes Blut wie eine Glasur den kargen Heideboden, auf dem sich die ersten Schmeißfliegen niederließen. Matthes spürte plötzlich, wie sich ihm der Magen hob. Er erbrach sich im Schutz eines Wacholderstrauchs.

«Braucht Ihr Hilfe?»

Ein Knecht des Feldschers kam den Hügel herunter, über der Schulter einen Bewusstlosen, dem das halbe Bein abgerissen war.

«Nicht nötig.» Verlegen trat Matthes aus dem Schatten des Busches. «Hab mich schon selbst verbunden.»

Ein vierschrötiger Kerl, Wachtmeister wie Matthes, stieß ihn in die Seite.

«Was ist, Oberschwab, gehst du nicht auf Partei?» Er rieb sich die Hände. «Ein Glück sind wir bei der Reiterei, jetzt, wo das Fußvolk nur noch Nachles halten darf, was wir beim Beutemachen übrig lassen.»

«Halt’s Maul», gab Matthes zurück. Widerwillig nahm er seinen Fuchs beim Zügel und saß auf.

Er verabscheute das, was nun folgen würde. Aber er brauchte einen Ersatz für sein zweites Pferd, die alte Schimmelstute. Während eines Scharmützels am Vorabend hatte er dem verletzten Tier den Gnadenschuss geben müssen. Und herrenlose Pferde gab es jetzt zuhauf.

Einer zweiten Attacke gleich fielen die kaiserlichen und spanischen Söldner über die Walstatt her, im Siegestaumel, ausgehungert und voller Gier. Hier und dort begannen die ersten Raufereien um die fettesten Brocken, um die Habseligkeiten der blutenden, jammernden Menschenbündel. Matthes hätte gern die Augen verschlossen vor diesem Schauspiel, doch er war auf der Suche nach de Parada und nach einem Pferd. Er musste mitten hindurch durch die Massen von Kadavern, von Leibern ohne Arme oder Beine, mit weggeschossenen Gesichtern, mit aufgeschlitzten Bäuchen, musste vorbei an Rössern, die auf drei Beinen humpelten und denen die Gedärme aus dem Leib hingen, musste die Schreie der Halbtoten hören: «Mach mich tot! Stech mich doch tot!»

Am Rande eines Wäldchens fand er den Rittmeister, auf Knien neben einem keuchenden Jungen. Es war Hannes, ein begnadeter Reiter ihrer Kompanie, Sohn eines verarmten Landedelmannes und gerade einmal neunzehn Jahre alt. Sein halber Unterkiefer war weggerissen, die Zunge hing als blutiger Klumpen seitlich heraus. De Parada hielt die Hände des Verletzten fest, während er mit leiser Stimme auf ihn einsprach. Dann ging ein Aufbäumen durch den Körper des Jungen; sein Blick brach sich.

De Parada erhob sich, faltete die Hände und sprach ein Gebet in seiner Muttersprache. Dann fügte er auf Deutsch hinzu: «Gott gebe dir und uns allen am Jüngsten Gericht eine fröhliche Auferstehung und ewiges Leben. Amen.»

Auch Matthes zog seinen Hut, doch beten konnte er nicht. Das hatte er vor langer Zeit verlernt.

«Gehen wir zurück ins Lager», murmelte de Parada.

«Ich brauch noch ein Pferd.»

«Da hinten, am Waldrand. Der Braune scheint unverletzt.»

Matthes nickte. Wo sie standen, konnten sie den Lärm aus dem Lager der Schwedischen hören, das sich gleich hinter dem Gehölz befand. Sie mussten mitten im Aufbruch sein. Matthes wusste: Wer nicht schnell genug war, würde in der nächsten Stunde Pferd und Wagen, wenn nicht sein Leben verlieren. Plötzlich stockte ihm der Atem: Nur einen Steinwurf von dem hochbeinigen Braunen sah er einen Mann, mit der weißen Armbinde des Feldchirurgen, der dabei war, einen Verwundeten zu retirieren. Es war Jakob.

Matthes stieß einen Schrei aus. Jetzt würde er ihn zur Rede stellen. Blitzschnell lud er seinen Karabiner durch und gab dem Pferd die Sporen.

«Bleib stehen, Jakob Marx!» Er ließ sein Pferd um den verblüfften Bruder tänzeln. Jakobs Haar war dreckverkrustet wie sein Gesicht, seine Kleidung voller Blut. Doch in den hellen Augen stand keine Angst, nur ungläubiges Erstaunen.

«Hat der gottesfürchtige Lutheraner jetzt auch zum Kriegshandwerk gefunden? Wirst gut bezahlt dafür, was? Dafür lässt man die Mutter gerne im Stich.»

«Halt dein schändliches Maul, Matthes, und lass mich meine Arbeit machen.»

«Du sollst stehen bleiben, hab ich gesagt.» Matthes’ Stimme überschlug sich. Er hob seine Büchse und zielte.

«Dann erschieß mich doch!»

Da prallte von der Seite de Paradas Pferd hart gegen das von Matthes. Der Rittmeister schlug ihm die Waffe aus der Hand.

«Bist du des Wahnsinns? Das ist ein Feldscher!»

«Das ist mein Bruder», schluchzte Matthes.

Dann ging alles ganz schnell. Im selben Augenblick, als Jakob den Verletzten in den Schutz der Bäume zog, krachte eine Büchse. Lautlos kippte de Parada vornüber auf den Hals seines Pferdes.

«Weg hier», schrie Matthes und packte de Paradas Zügel. Wieder knallte ein Schuss. «Halt dich fest, Batista. Halt dich um Himmels willen fest.»

Der nächste Schuss fegte Matthes den Hut vom Kopf. In Panik galoppierten ihre Pferde los, Matthes hatte Mühe, den Rappen neben sich nicht zu verlieren. Endlich waren sie außer Gefahr. Matthes parierte die Tiere durch.

«Halt durch, ich bring dich ins Feldlazarett.»

De Parada gab keine Antwort. Er hing wie ein aufgebundener Sack über dem Sattel, bei jedem Tritt schlug sein Kopf gegen die Mähne des Pferdes. Doch er lebte, schien sich mit letzter Kraft am Hals des Tieres festzukrallen.

«Bleib ganz ruhig, Batista, ganz ruhig, wir haben es bald geschafft. Sicher nur ein Streifschuss, wirst sehen. Im Lazarett werden sie dich verbinden, und dann gehen wir einen heben, wir beide.»

Ununterbrochen redete Matthes auf den Verletzten ein, machte ihm Mut, bettelte, nicht aufzugeben, jetzt wo er bald zweifacher Vater sein würde. Redete und schluchzte abwechselnd, bis sie die Hochfläche mit ihrem Lager erreicht hatten. Vor dem Zelt des Feldschers kauerten und krümmten sich Hunderte von Verletzten, es war kein Durchkommen.

Matthes sprang vom Pferd und packte den nächstbesten Mann am Arm. «Rasch, holt den Wundarzt. Rittmeister de Parada ist angeschossen.»

Der Mann stieß ein böses Lachen aus. «Unser Medicus hat nicht mal Zeit zum Luftholen. Das Zelt ist gestopft voll, und die hier warten auch alle schon.»

«Dann helft mir, ihn herunter zu heben.»

De Paradas Arme waren wie im Krampf um den Pferdehals geschlungen; es kostete sie einige Mühe, ihn seitlich herunter zu ziehen.

«Jesses Maria!»

Der Mann schlug sich die Hand vor den Mund. De Paradas Bauch war ein einziger See von dunkelrotem Blut, das ihnen jetzt aus dem zerfetzten Lederwams entgegenquoll. Doch Matthes hatte sich schon den Rock vom Leib gerissen und presste ihn auf die Wunde. De Parada stöhnte auf. Immerhin, er lebte.

«Bleibt bei ihm», sagte der andere, «ich hole Hilfe.»

Aus dem dunklen Gesicht des Rittmeisters war jede Farbe gewichen. Jetzt bewegte er die Lippen.

«Nicht sprechen, Batista. Gleich wird jemand kommen und die Wunde versorgen.»

«Doro – Dorothea.»

«Ich lass sie holen.»

Matthes hielt Ausschau, wen er nach de Paradas Frau schicken konnte. Da entdeckte er seinen Reiterbuben, der ganz offensichtlich auf der Suche nach ihm war.

«Hierher, Mugge!»

«Was für ein Glück! Ihr seid unverletzt. Denkt Euch, ich habe zwei schwedische Pferde eingefangen.»

Rührung überkam Matthes, als sein Trossbube näher trat. Er würde ihm demnächst neues Schuhwerk schenken, das alte war nur noch von Schnüren zusammengehalten.

Mugge beugte sich über den Verletzten. «Himmel, das ist ja der Napolitaner.»

«Lauf schnell, hol seine Frau.»

Endlich erschien ein Knecht des Feldschers, mit frischem Verbandszeug und einem Beutel in der Hand. De Parada hatte inzwischen das Bewusstsein verloren. Zu seinem Vorteil, denn der Knecht musste rasch handeln und schnitt ihm ohne jede Behutsamkeit Hemd und Wams vom Leib, um ihn anschließend zu verbinden.

«Er hat große Mengen Blut verloren. Ein Wunder, dass er sich überhaupt auf dem Pferd hat halten können. Andererseits war das wohl seine Rettung – der Druck des Sattels hat verhindert, dass er verblutet ist.»

«Wird er durchkommen?» Dorothea ließ sich neben ihrem Mann zu Boden sinken und umklammerte dessen Hand. Ihre kleine Tochter vergrub sich in ihrem Rock und begann zu weinen.

«Schwer zu sagen. Euer Mann ist nicht gerade der Kräftigste.»

«Aber zäh», sagte Matthes barscher als beabsichtigt. «Batista de Parada ist nicht der Mensch, der sich einfach davonmacht.»

Nachdem der Knecht ihnen ein Elixier zur Stärkung, ein zweites gegen Fieber dagelassen hatte, schickte Matthes seinen Reitknecht, Stroh und Decken herzuschaffen. Die Nacht versprach trocken zu bleiben, und so würde es das Beste sein, den Verletzten an Ort und Stelle zu lassen und bei ihm zu wachen.

 

In dieser Nacht tat Matthes kein Auge zu. Er starrte in die sternenlose Finsternis, in der hier und da Lagerfeuer glimmten, hörte das Stöhnen der Verwundeten ringsum, das Wimmern von de Paradas Tochter im Schlaf, die leisen Atemzüge Dorotheas, die in eine Decke gehüllt neben ihm saß und ebenfalls wachte. Er fühlte sich schuldig. Er hätte wissen müssen, dass irgendwer Jakob Feuerschutz geben würde. Wäre er nicht auf seinen Bruder losgestürzt, würde Batista de Parada jetzt nicht wie tot auf dem Stroh liegen, mit aufgerissenem Bauch, sondern friedlich in den Armen seiner jungen Frau.

Immer wieder trieb die Erschöpfung ihm Bilder vor Augen, die sich nicht vertreiben ließen: Jakob am Rande des Schlachtfelds, er selbst, wie er die Waffe gegen den eigenen Bruder richtete, Agnes, die sich von ihm abwendete, die Umrisse von Gottfrieds kopflosem Leib unter dem blutigen Rock. Nur seine Mutter konnte er nicht sehen, ihr Gesicht schien im Sumpf der Vergangenheit entschwunden.

Erst bei Sonnenaufgang kam der Rittmeister zu sich. Er erkannte sie, und in seine Augen trat Glanz. Vergeblich suchten seine rissigen Lippen Worte zu formen. Dorothea gab ihm zu trinken, und Mugge brachte einen Kanten Brot. Während sie ihr karges Morgenmahl einnahmen, bemerkte Matthes die Röte auf de Paradas Wangen und Augenlidern. Er legte ihm die Hand auf die Stirn: Sie glühte.

Gegen Abend verkündeten Trompetensignal und Kanonendonner, dass Nördlingen, die ehemals freie protestantische Reichsstadt, eingenommen war. Matthes weckte Dorothea, die nach der durchwachten Nacht an der Seite ihres Mannes eingeschlafen war.

«Wir müssen ihn ins Spital bringen. Das Fieber steigt. Noch eine Nacht auf dem feuchten Boden hält er nicht durch.»

Nachdem sie eine Trage aufgestöbert hatten, machte er sich mit Mugge auf den Weg. Dorothea ging mit halb geschlossenen Augen nebenher, aufrecht trotz der Schwere ihres gewölbten Leibes. Mit der Rechten hielt sie die Hände ihres Mannes umschlossen, die Linke hatte sie ihrer Tochter gereicht. Immer noch lagen unzählige Tote im Gras, die meisten nackt bis aufs Hemd, ihrer Kleidung und Schuhe beraubt, die ersten Rabenvögel wagten sich heran. Die Habsburger Söldner hatten inzwischen ihre Kameraden geholt. Wer hier lag, gehörte zu den Feinden. Wer würde sie begraben?

Drei kaiserliche Musketiere bewachten das Vorwerk des Stadttores.

«Lasst uns durch», sagte Matthes unwirsch. «Einer von Isolanis Rittmeistern ist schwer verletzt.»

«Vivat Ferdinandus», gab der Mittlere ungerührt zurück, ohne den Weg freizumachen.

«Willst du erst Bekanntschaft mit meinem Schwert machen? Aus dem Weg.»

Gewaltsam drängte er die Wächter beiseite und schleppte die Bahre, die ihm schwerer und schwerer in den Händen lag, hinein in die Stadt, die in heillosem Aufruhr war. Überall wimmelte es von Soldaten, Menschen wurden aus Häusern gezerrt, vornehme Damen auf der Flucht schleiften ihre Schleppgewänder durch den Straßenkot, andere Frauen schrien und klagten oder hielten ihre Kinder an sich gepresst, in einigen Gassen hallten Schüsse.

«Wo ist das Spital?» Matthes musste brüllen, um den Lärm zu übertönen.

Ein alter Mann zog den Hut. «Im Gerberviertel, am andern Ende der Stadt. Ich führ euch hin.»

Sie bahnten sich ihren Weg durch den Hexenkessel der eroberten Stadt. Ein spanischer Reiter galoppierte ihnen so knapp vor die Füße, dass sie ins Straucheln gerieten und der Verletzte ums Haar aufs Pflaster gestürzt wäre. Immer wieder wurden sie angerempelt; zwei Trossbuben versuchten, Dorothea ihr silbernes Kettchen vom Hals zu reißen. Die junge Frau behielt ihre stille Ruhe, auch als ihr Kind nicht mehr aufhören wollte zu brüllen. Endlich standen sie vor dem mächtigen Gebäude des Heilig-Geist-Spitals.

«Hier ist es.»

Matthes drückte dem Alten seinen letzten Kreutzer in die Hand. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn. Dann drängte er sich durch die Meute von Vaganten, Bettlern und Verwundeten, schlug gegen das Portal, immer heftiger, bis endlich der Spitalknecht öffnete.

«Noch einer? Wir haben keinen Platz mehr.»

«Soll ich dich in Eisen vor den König von Ungarn schleifen, du Lump? Auf der Stelle nimmst du diesen Offizier auf.»

In der großen Säulenhalle im Erdgeschoss, die einem Kirchenschiff glich, lag ein Strohsack am anderen, und alle waren sie besetzt. In der Luft hing süßlicher Gestank.

«Kommt mit.» Müde schlurfte der Spitalknecht durch die Reihen der Kranken bis zu einem altarähnlichen Aufbau. Er wies auf die erhöhte Fläche davor. «Legt ihn dorthin. Ich hole den Wundarzt.»

Der Chirurgus war ein untersetzter, stiernackiger Mann mit langem grauem Haar. Die tiefen Schatten unter den Augen verrieten, dass er die letzten Wochen kaum geschlafen hatte. Schweigend untersuchte er den Verletzten, beschmierte die Wundfläche mit einer stinkenden schwarzen Paste, legte einen neuen Verband an und flößte ihm einen Trank ein.

«Die Blutung scheint gestillt, bis auf die Austrittswunde im Rücken.»

Er reichte Matthes eine scharfkantige Bleikugel. «Die habe ich im Hosenbund gefunden. Vielleicht möchtet Ihr sie ja wieder verwenden.» Er sagte das ganz nüchtern und ohne Häme. «Die Wundränder am Bauch allerdings sind entzündet. Das sieht nicht gut aus.»

Er musterte Dorothea. «Seid Ihr die Frau des Offiziers?»

«Ja.»

«Dann geht zurück in Euer Quartier. Wir wissen nicht, ob die Leute hier die Pestilenz eingeschleppt haben. Geht, Euerm Kind und dem Ungeborenen zuliebe.»

Matthes durfte bleiben. Er kauerte sich auf die Stufe neben dem Verletzten und lauschte seinen ungleichen Atemzügen. Der Wundarzt hatte versprochen, regelmäßig nach ihm zu sehen, und Matthes vertraute ihm. Dennoch würde er nicht von de Paradas Seite weichen, so wie ihn Gottfried in seiner schweren Krankheit nicht verlassen hatte, damals, in jenem Winter im mährischen Olmütz. Er ballte unwillkürlich die Fäuste. Der Napolitaner war sein Freund geworden. Wer immer dort oben im Himmel regierte: Er durfte ihm nicht ein zweites Mal einen Freund nehmen.

Am nächsten Morgen schien das Fieber erstmals zu sinken. Mugge kam vorbei, um zu berichten, dass man in Kürze noch mehr Schwerverletzte ins Spital bringen würde. Ansonsten habe man bis in die Nacht ihren glänzenden Sieg gefeiert: Dreihundert Fahnen, siebzig Geschütze, viertausend beladene Trosswagen seien erbeutet, darunter zwanzig Wagenladungen Wein und Branntwein. Bis hinter Neresheim hätten Isolanis Kroaten die Schweden gejagt und dabei Bernhard von Weimars kostbares Gepäck erbeutet. Sie selbst hätten zweitausend Mann verloren, ihre Gegner über zehntausend.

Da öffnete de Parada die Augen.

«Wo bin ich?» Das Sprechen fiel ihm schwer.

«In Nördlingen, im Spital.»

«Wir müssen zur Kompanie zurück!»

«Du bist schwer verwundet. Jetzt ruh dich aus, es wird alles gut.»

«Wo sind Dorothea und das Kind?»

«In Sicherheit. Unser Stadtkommandant hat ihnen ein Quartier in der Stadt zugewiesen. Du wirst sie bald wiedersehen.»

In de Paradas Augen schimmerten Tränen. Dann nickte er. «Und du, Matthes?»

«Ich bleibe bei dir, bis du über den Berg bist.»