23

«Wie sich das Blatt doch wenden kann.»

De Parada lächelte, doch sein Blick blieb dunkel, wie immer, wenn er über den Krieg sprach. Er nahm seinen Krug und trank ihn in einem Zug leer.

Auch Matthes konnte über die Einnahme von Donauwörth keinen Triumph empfinden. Sie saßen in einem Wirtshaus nahe der Stadtkommandatur und versoffen ihren Sturmsold. In den düsteren Winkeln der niedrigen, holzvertäfelten Schankstube standen die Essenschwaden, und vom Nebentisch zog der Qualm des neumodischen Tabakkrauts herüber.

Dabei hatte es zunächst ausgesehen, als stünde Fortuna auf Seiten der Schweden, als die in einem Aufsehen erregenden Sturm auf Landshut nahezu die gesamte bayerische Reiterei vernichtet hatten. Dass dabei Feldmarschall Aldringen im Kugelhagel umgekommen war, berührte Matthes noch im geringsten. Es hieß sogar, seine eigenen Kroaten hätten ihn erschossen. Trotz dieser Niederlage hatte sich der König von Ungarn nicht von seinem Kurs abbringen lassen, die Verbindungs- und Versorgungslinien der Schweden entlang der Donau und im Schwäbischen zu durchbrechen. Nur zwei Tage nach der Niederlage von Landshut gelang es ihm, erst Regensburg einzunehmen und jetzt die schwedisch besetzte einstige Reichsstadt Donauwörth. Weimar und Horn waren ihnen wutschnaubend auf den Fersen, aber genau dies hatte König Ferdinand beabsichtigt: Er suchte die Entscheidungsschlacht. Er musste nur noch die Ankunft des mächtigen spanischen Heeres abwarten, das vom Schwarzwald her im Anmarsch war.

«Wenn nun die Schweden angreifen, bevor der Kardinalinfant uns erreicht hat?», fragte Matthes.

De Parada schüttelte den Kopf. «Bis Horn und Weimar mit ihren abgerissenen Truppen hier sind, haben wir uns längst drüben bei Nördlingen verschanzt.»

«Aber in Nördlingen sitzt eine schwedische Garnison ein.»

«Die soll ja eben ausgehungert werden. Wenn Nördlingen auch noch fällt, bricht die gesamte schwedische Versorgung zusammen wie ein Kartenhaus. Und angreifen werden die Schwedischen uns bei Nördlingen kaum. Bei dem hügel- und waldreichen Gelände dort wäre das Selbstmord.»

Matthes musste zugeben, der Schachzug des jungen Königs war klug bedacht. Überhaupt schien alle Welt Ferdinand unterschätzt zu haben: Nicht nur den schönen Künsten war er zugeneigt; auch in der Kriegführung hatte er bislang eine geschickte Hand bewiesen. Dabei war ihm ganz offensichtlich am rigorosen Katholizismus seines Vaters wenig gelegen, was Matthes einen Funken Hoffnung für die Zukunft gab – falls der junge Ferdinand denn jemals die Kaiserkrone übernehmen würde.

Matthes hob die Hand und winkte das Schankmädchen heran.

«Noch zwei Krüge. Aber diesmal weniger knauserig eingeschenkt.»

Das Mädchen grinste: «Sehr wohl, Herr General.»

De Parada winkte ab. «Für mich nichts mehr. Dorothea wartet sicher schon, und ich muss zuvor noch beim Generalwachtmeister vorbei. Bis morgen früh also.»

Er klopfte ihm auf die Schulter und schlenderte mit der ihm eigenen Ruhe hinaus. Matthes sah ihm nach. Der Rittmeister hatte sein Quartier im Baudrexlhaus aufgeschlagen, einem stattlichen Fachwerkhaus gleich am Rathausplatz, während er selbst bei seiner Kompanie am Fuße des Schellenberg, vor den Toren der Stadt, lagerte. Unter dem neuen Oberbefehlshaber herrschte eine weitaus striktere Hierarchie als unter Wallenstein – ob dies an den Generälen oder am König lag, vermochte Matthes nicht zu beurteilen. Jedenfalls wurden neuerdings nur die höheren Dienstränge in die noblen Stadtquartiere verteilt, er selbst musste, wie alle Wachtmeister oder Feldweybel, mit der Vorstadt oder dem freien Feld vorlieb nehmen. Allerdings hatte de Parada ihm angedeutet, dass Matthes, sofern er sich bei der nächsten Schlacht bewährte, zum Rittmeister befördert würde. Das habe er an höchster Stelle läuten hören.

Matthes musste unwillkürlich lächeln, als er daran dachte, mit welchem Stolz in den Augen de Parada dies verraten hatte. Der Napolitaner schätzte ihn sehr. Längst war ihr Verhältnis nicht mehr das zwischen Befehlshaber und Untergebenem, sondern eines unter Kameraden. Fast hätte Matthes de Parada als Freund betrachtet, wenn ihm bei diesem Wort nicht unweigerlich der grausame Tod Gottfrieds in den Sinn gekommen wäre.

Alles in allem war Matthes fast zufrieden mit seinem Entschluss, im Heer zu bleiben. Denn was Ferdinand anordnete, hatte Hand und Fuß und diente allein dem Ziel, die Schweden und ihren deutschen Vasallen Bernhard von Weimar ins baltische Meer zu jagen oder gleich in die Hölle. Doch der Preis der Stärke kaiserlicher Macht erschien, wenn er es recht betrachtete, doch zu hoch. Und was kam nach der nächsten Schlacht? Würde das Morden und Brennen weitergehen? Gegen die Franzosen womöglich? In seinen Jahren als Soldat hatte er genug Elend gesehen und erlebt, um nicht mehr wie ein Weib in Flennen auszubrechen angesichts der unzähligen Toten, Halbtoten und Verstümmelten, die er auf den Schlachtfeldern zu sehen bekam. Was er indessen auf dem Weg die Donau aufwärts erblickt hatte, war ein einziges Bild der Trostlosigkeit. Alle unbefestigten Dörfer und Weiler, an denen sie vorbeigezogen waren, standen ausgeraubt und niedergebrannt, verlassen bis auf ein paar wenige abgemagerte Frauen und Kinder, die ihnen mit toten Augen nachstierten. Die einstmals fruchtbaren Felder lagen verwüstet, die Frucht verdorrt oder verfault, die Weiden von Soldatenstiefeln und Pferdehufen zertrampelt, die Brunnen zugeschüttet. Zu oft war das Land beiderseits der Donau Durchzugsgebiet der Heere gewesen. Nun war es totes Land, das sich auf Jahre, auf Jahrzehnte vielleicht, nicht mehr erholen würde.

Matthes starrte in seinen Bierkrug. Und jetzt auch noch Jakob! Was hatte sein kluger, sanftmütiger Bruder in diesem Krieg zu suchen? Er sah ihn vor sich, auf den Mauern der Festung Schweidnitz, den erschrockenen Blick, sein Rufen – und dann dieser Brief, den er ihm nach Pilsen geschickt hatte. Warum war er nicht zu Hause geblieben, bei der Mutter, und verabreichte kranken Stadtbürgern Pillen und Tinkturen? Er, Matthes, hatte geheult, als er Jakobs Schreiben erhalten hatte. Wenn er jetzt nur an ihn dachte, mochte er gleich wieder schreien vor Wut und Enttäuschung.

Das Schankmädchen ließ sich am Nebentisch nieder und begann mit zwei jungen Söldnern zu poussieren. Matthes trank sein Bier aus. Hätte er Frau und Kinder, so wie de Parada, dann wäre wenigstens etwas Lebendiges um ihn. Wie es wohl Agnes ging? Längst schon hätte er ihr nach Stuttgart, seiner Mutter nach Ravensburg schreiben müssen, dass sie sich in Sicherheit bringen sollten, hinüber in die eidgenössische Schweiz. Doch dazu war es nun zu spät. Viel zu spät.

Er ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und begann lautlos zu weinen.

 

Agnes fand Prinzessin Antonia auf einer versteckten Bank im ‹Garten der Herzogin›. Das Gesicht der jungen Frau war tränennass.

«Ist die Lage denn so ernst, dass Ihr fliehen müsst?» Agnes merkte, wie heiser ihre Stimme klang.

«Ich weiß es nicht. Mir ist, als wäre mein Kopf ein aufgestöbertes Wespennest. Nördlingen ist belagert, zwanzigtausend Mann zählen die Kaiserlichen, und noch einmal so viele Spanier erwarten sie in den nächsten Tagen. An der Donau ziehen die Schweden ihre Truppen zusammen, mein Bruder marschiert morgen mit seinem Landesaufgebot los, um Bernhard von Weimar und den Rheingrafen zu unterstützen. Und im Osten des Herzogtums sind schon Tausende auf der Flucht.»

«Vielleicht ist es ja nur ein Kräftemessen. Vielleicht kommt es gar nicht zum Gefecht.»

Antonia schüttelte heftig den Kopf. «Der Kaiser will diese Schlacht. Und er will die württembergische Residenz einnehmen. Das haben unsere Kundschafter in sichere Erfahrung gebracht.» Wieder begann sie zu weinen.

Agnes setzte sich neben sie und trocknete ihr mit einem Spitzentuch aus Antonias Rocktasche die Wangen. «Beruhigt Euch doch, Prinzessin. Wie oft kam es in diesen Jahren schon anders, als wir alle dachten. Ihr dürft nicht gleich das Schlimmste befürchten.»

Dabei befürchtete Agnes selbst das Allerschlimmste.

Ein warmer Wind kam auf und ließ die Blätter des Weinlaubs über ihnen leise rascheln. Das Jahr versprach eine gute Ernte. Wer würde die Trauben im Land lesen?

«Vielleicht hast du Recht, Agnes. Der Herzog meint auch, unsere Reise nach Straßburg habe er nur vorsichtshalber angeordnet, er wolle uns Frauen eben in Sicherheit wissen. Straßburg sei eine reiche Stadt, friedlich, von Seuchen verschont und hinter den großen Festungswällen in höchstem Maße sicher. Eberhard ist sich gewiss, dass die vereinten protestantischen Truppen siegen werden. Und dann kehren wir zurück. So Gott will.»

«Ganz bestimmt. Und unserer schönen Stadt hier wird nichts geschehen.»

«Ach, ich mache mir große Sorgen um euch alle, die zurückbleiben. Jetzt, wo es hier rundum von Soldatenvölkern wimmelt. Wie gern würde ich euch mitnehmen. Aber du kennst ja die Order meines Bruders: Nur die Hofchargen und deren Kammerdiener dürfen mit. Übrigens: Hast du es schon erfahren?»

«Was?»

«Rudolf hat abgelehnt, er will hierbleiben. Ich glaube, er liebt dich wirklich.»

Agnes lehnte sich gegen die kühle Steinmauer. Vielleicht liebte sie ihn ja auch, diesen aufrichtigen, selbstlosen Mann. Waren nicht Verbundenheit und Treue eine allemal bessere Grundlage für ein Leben zu zweit als kopflose Leidenschaft?

«Hör zu, Agnes. Versprich mir, dass ihr die Stadt verlasst, sobald sich die Kaiserlichen nähern. Sie werden von Osten kommen, durch das Remstal. Da bleibt euch genug Vorsprung, um in den Schwarzwald zu entkommen. Geht nach Wildbad. Die Stadt ist mit Mauern und Toren gut befestigt. Mit meiner Empfehlung könntet ihr im Ulrichsbau Quartier nehmen. Oder noch besser: Geht nach Freudenstadt. So weit hinauf in die Berge werden die Truppen nicht kommen. Ich werde euch auf jeden Fall einen herzoglichen Geleitbrief ausstellen lassen, das wird mir mein Bruder nicht verwehren können. Damit kommt ihr zumindest an den protestantischen Verbänden unbehelligt vorbei.»

Sie hatte hastig gesprochen, als bliebe ihr keine Zeit mehr. Dabei würde es noch Tage dauern, bis der herzogliche Hofstaat zum Abmarsch bereit war.

In diesem Augenblick kam David angelaufen.

«Hier bist du, maman. Ich habe dich überall gesucht.» Er verneigte sich kurz vor der Prinzessin, dann fuhr er fort. «Der Ahn geht es sehr schlecht, sie liegt auf dem Bett und stöhnt ununterbrochen.»

«O Gott! Rasch, gehen wir.»

«Wird – wird Stuttgart fallen?», wandte der Junge sich unvermittelt an Antonia. «Ist deshalb der ganze Hof im Aufbruch?»

«Euch wird nichts geschehen, ich habe mit deiner Mutter alles besprochen. Rudolf wird auf euch Acht geben.»

Sie eilten zurück ins Schloss, vorbei an Bediensteten, die Truhen und Koffer, Hutschachteln und Geschirrkisten herumschleppten, Anweisungen wurden gebrüllt, Flüche ausgestoßen, irgendwo brach jemand in Schluchzen aus. Es herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander. Als sie ihre Kammer betraten, lag Marthe-Marie ausgestreckt auf dem Bett, wie aufgebahrt, die Augen starr an die Decke gerichtet. Selbst hier drinnen war das Geschrei der Diener und Mägde noch zu hören.

«Was ist mit dir?» Agnes setzte sich auf den Bettrand und streichelte die Hände der Mutter, die bleich und kalt in ihrem Schoß ruhten.

«Ich habe Schreckliches geträumt!» Marthe-Maries Augen waren weit aufgerissen. «Von zwei Hunden. Mitten in einem Heerlager. Haben sich ineinander verbissen, ein heller und ein dunkler Hund. Das Blut ist ihnen in Strömen über das Fell gelaufen. Und dann –», sie war plötzlich kreideweiß, «dann waren da plötzlich Jakob und Matthes. Sie sahen so verzweifelt aus. Dann krachte eine Büchse, und ich wurde wach. Agnes, ich hab solche Angst, dass sich die beiden Jungen gegenseitig umbringen.»

Agnes sah sie verstört an. Als dazumal, vor vielen, vielen Jahren, sich die beiden Hunde vor dem Ravensburger Rathaus bis aufs Blut gebissen hatten – da war ihre Mutter gar nicht dabeigewesen. Sie konnte davon nichts wissen. Gütiger Herr im Himmel, wenn dies nun ein Zeichen war?

«Wenn ich die Augen schließe, kann ich das Gemetzel sehen. Überall Blut und Leichen, und mitten in dieser Hölle sehe ich Jakob und Matthes.»

Vergeblich kämpfte Agnes gegen das Entsetzen an. «Du kannst nicht in die Zukunft sehen, niemand in unserer Familie kann das. Es sind nur deine Ängste, die dich quälen. Bitte, Mutter, steh jetzt auf. Du solltest etwas essen, hattest ja den ganzen Tag noch nichts. David, geh in die Küche und hol eine Schüssel Milchbrei.»

«Nein, er soll bleiben.» Unerwartet rasch hatte sich Marthe-Marie erhoben und begann in ihrer Truhe zu wühlen.

«David muss mit mir in den Garten. Du kennst doch dort jeden Winkel, mein Junge. Zeig mir ein Versteck für unsere Ersparnisse.» Sie zog die Lederschatulle aus der Truhe. «Die schwarzen Reiter werden nach Stuttgart kommen, die sollen unser Geld nicht finden.»

David warf seiner Mutter einen fragenden Blick zu. Agnes nickte.

«Nun komm. In diesem Tumult wird keiner auf uns achten.» Marthe-Marie nahm den Jungen bei der Hand. Sie wirkte wieder gänzlich klar. «Zeig mir dein bestes Versteck.»

Agnes folgte den beiden ins Stiegenhaus. Sie sah, wie ihre Mutter auf dem Absatz stehen blieb. Marthe-Marie blickte einen Augenblick lang auf die vielen Menschen hinab, die von links nach rechts, von oben nach unten rannten, dann gab sie sich einen Ruck und eilte los, so überhastet, dass sie auf der vierten oder fünften Stufe unversehens strauchelte, kopfüber die steile Stiege nach unten stürzte, sich einmal überschlug und rücklings im unteren Stockwerk liegen blieb. Mit einem Schlag herrschte Totenstille im Treppenhaus. Marthe-Marie rührte sich nicht.

Agnes schrie auf. «Mutter!»

Dann stürzte sie ihr nach. Ein alter Knecht kniete bereits neben der Verunglückten und befühlte Handgelenk und Stirn.

«Sie lebt. Tragen wir sie vorsichtig in ihre Kammer.»

Kurz darauf lag Marthe-Marie auf dem Bett, doch ihr Atem ging merkwürdig kurz und flach. Agnes öffnete ihr das Mieder, dann bat sie den Knecht, den Hofarzt zu holen.

«Der Herr Medicus wird keine Zeit haben. Die Herrschaften sind doch alle beim Packen.»

«Dann gehe ich eben selbst. Bleib bitte bei ihr.»

Endlich fand sie Doctor Schopf in der Hofapotheke. Es bedurfte eines lautstarken Zornesausbruchs von ihrer Seite, bis sich der alte Hofarzt endlich bequemte, nach ihrer Mutter zu sehen. Unwillig folgte er ihr die steilen Treppen hinauf, murrte, er habe schließlich in dieser Lage anderes zu tun, als der Dienerschaft Pflästerchen aufzulegen. Als er jedoch Marthe-Marie erblickte, wurde er still und begann sie gründlich und mit ernster Miene zu untersuchen.

«Äußerst kurios.» Er kratzte sich sein schütteres Haar. «Von den geprellten Rippen abgesehen, hat sie wohl keine ernsthaften Verletzungen, keine Brüche. Auch deutet nichts auf innere Blutungen. Aber diese graue Gesichtsfarbe, der kalte Schweiß, der kurze Atem – das gefällt mir nicht. War sie denn in letzter Zeit krank?»

«Nein, nichts. Das heißt, sie war vor dem Sturz auf eine sonderbare Art außer sich, hatte Albträume, dann im wachen Zustand Gesichte. Es ist, weil – ihre beiden Söhne sind im Krieg, und gestern kam die Nachricht von dem bevorstehenden Gefecht bei Nördlingen.»

«Nun, dann könnte es auch ein Schockzustand sein.» Er kramte in seiner Tasche und holte ein Fläschchen heraus. «Ich gebe ihr etwas zur Beruhigung. Im Allgemeinen klingen Schockwirkungen nach einigen Stunden wieder ab. Gebt ihr etwa jede Stunde fünf Tropfen hiervon auf die Zunge. Ich sehe gegen Abend nochmal nach ihr. Und lasst viel frische Luft herein.»

«Wie soll ich Euch nur danken, Doctor Schopf?»

Der Alte winkte ab. «Wüsste ich nicht, wie viel Prinzessin Antonia an Euch gelegen ist, so wäre ich sicher nicht gekommen.»

Die nächsten Stunden saßen David und Agnes stumm am Bettrand, verabreichten Marthe-Marie die Medizin und beobachteten, ob sich irgendeine Besserung zeigte. Es tat sich nichts.

Erst als es dämmerte, vermeinte Agnes ein Zucken ihrer Augenlider zu erkennen. Ging nicht auch Marthe-Maries Atem gleichmäßiger? Sie beugte sich über ihr Gesicht.

«Mutter? Hörst du mich? Wenn du mich hören kannst, gib mir ein Zeichen.»

Agnes nahm ihre Hand, um zu erspüren, ob sich die Finger bewegten. Da öffnete Marthe-Marie die Augen, die rotgerändert waren, mit verschleiertem Blick.

«Was machst du nur für Sachen?», flüsterte Agnes. «Hast du Schmerzen? Hast du Durst? David, rasch, einen Becher Wasser vom Waschtisch. Hier, Mutter, trink. Aber vorsichtig, in ganz kleinen Schlucken.»

Beim dritten Schluck rann das Wasser aus den Mundwinkeln. Auch hatte Marthe-Marie die Augen wieder geschlossen.

«Bitte, Mutter, sprich mit mir. Sag irgendetwas.»

Entweder war ihre Mutter eingeschlafen oder erneut in Ohnmacht gefallen. Wenn doch nur der Medicus wieder käme. Da bewegten sich die eingefallenen Lippen. Ein leises Zischen, dann ein Hauchen. Agnes hielt ihr Ohr dicht an Marthe-Maries Mund.

«Jakob? Willst du Jakob sagen?»

Sie spürte einen leisen Druck an der Hand. Im nächsten Moment verstand sie ganz deutlich: Matthes. Danach versank Marthe-Marie wieder in ihren Schlaf oder wie immer man ihren Zustand bezeichnen mochte.

Es klopfte, und David öffnete die Tür. Es war Antonia mit einer versiegelten Papierrolle in der Hand.

«Der Geleitbrief, Agnes.»

Dann sah sie die leblose Gestalt im Bett. «Gütiger Gott, was ist mit deiner Mutter? Ist sie krank?»

«Sie ist die Treppe hinabgestürzt. Seither kommt sie nicht mehr recht zu Bewusstsein. Ich fürchte, Prinzessin, der Geleitbrief wird mir nichts nutzen.»

«Sag nicht so was. Sie wird wieder auf die Beine kommen. War der Hofarzt schon da?»

Agnes nickte. «Er wollte vor der Nacht noch einmal vorbeischauen.»

«Dann bleibe ich so lange hier. In den Frauengemächern stehe ich ohnehin nur im Weg herum.»

«Wann brecht Ihr auf?»

«Übermorgen.» Sie unterdrückte ein Seufzen und strich ihren dunkelgrünen Brokatrock glatt.

In diesem Moment stürmte ohne Ankündigung Doctor Schopf herein.

«Oh, Euer Durchlaucht – verzeiht.» Er verneigte sich galant vor der jungen Frau, dann trat er ans Krankenbett.

«Ihre Konstitution hat sich ein wenig stabilisiert», sagte er, nachdem er Augen, Rachen und Brust untersucht hatte. Marthe-Marie blieb währenddessen weiterhin ohne Bewusstsein. «Aber da ist noch etwas anderes.»

Er bewegte nacheinander ihre Arme, ihre Beine, ihre Hände, knetete sie, hob sie hoch und ließ sie wieder fallen.

«Es tut mir sehr Leid.» Sein Gesicht wirkte niedergeschlagen. «Ihre Frau Mutter ist offenbar gelähmt. Ich kann da nichts tun.»