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Stuttgart, den 20. Februar
anno Domini 1636
Ich bin sehr glücklich: Dank meiner Verdienste als Feldscher habe ich erwirken können, dass ich nun täglich zu Mutter in die Vorstadt darf, auf eine Stunde in den frühen Abendstunden. Sie sieht sehr elend aus, und ich bin immer wieder nahe daran, ihr zu sagen, dass Agnes und Matthes tot seien. Wenn für sie damit das Warten ein Ende hat – vielleicht vermag sie dann zu sterben. Nicht einmal die Pest hat ihr etwas anhaben können. Ach, ich werde es ihr doch sagen, es ist das Beste, ich glaube ja selbst nicht mehr an ihre Rückkehr. Im Herbst hat der Bote vom Hohentwiel die Nachricht gebracht, sie würden bald heimkehren, und nun haben wir fast März.
Von diesem Widerhold hört man hier in der Residenz die unglaublichsten Dinge: Mit seinen waghalsigen Beutezügen im Umland und seiner Standhaftigkeit gegenüber Angriffen wie Verhandlungsangeboten der Kaiserlichen hält er die Burg noch immer, wo doch alle übrigen Landesfestungen längst gefallen sind. Er soll sogar den Herzog in seinem Exil unterstützen, indem seine Leute, als Bettler verkleidet, in ihre Bettelstäbe Goldstücke nach Straßburg schmuggeln. Wenn dem so ist, würde ich Widerhold dafür allerdings liebend gern ins Gesicht spucken. Denn während dieser saubere junge Herzog mit seinem Hofstaat schlemmt und säuft und die Zeit mit Jagen und Tanzen totschlägt, lässt er seine Untertanen ohne jede Hilfe und Trost.
Dabei ist das Elend hier unermesslich. Obwohl das letzte Jahr sehr fruchtbar war, ist wegen der herumstrolchenden Kriegsvölker die Ernte nicht eingebracht worden – im zweiten Jahr nun schon. Brot und Getreide sind unerschwinglich, die Menschen leben von Eicheln aus den Wäldern, von Brennnesseln, Schnecken und Ratten. Der Kaisersohn und dieser Branntweingeneral Gallas haben sich längst davongemacht. Ja, die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Aus meinem Fensterchen sehe ich jeden Morgen den Totengräber durch die Gassen gehen und die Leichen der Verhungerten aufsammeln. Und des Abends schleicht er in die Häuser und holt die Pesttoten ab, inzwischen an die fünfzig jeden Tag! Die Stuttgarter haben sich wahrlich zu früh gefreut. Was ihnen an Zerstörung durch die Soldaten erspart geblieben ist, haben nun Hungersnot und Pest übernommen: Jede Woche wird ein neues Massengrab ausgehoben.
Beinahe hätte ich vergessen: Gestern hat Stadtkommandant Ossa mich offiziell zum Garnisonsarzt bestallt, nachdem sich mein bisheriger Herr und Meister heimlich mit der Schatulle des Lazaretts aus dem Staub gemacht hat. Ossas lobende und höchst salbungsvolle Worte haben mich zum Lachen gebracht – ein Garnisonsmedicus, der nichts anderes ist als ein erbärmlicher Gefangener! Erneut hat er mich gefragt, ob ich nun endlich dem falschen Glauben abschwören und mich unter die kaiserliche Fahne stellen würde, und wieder hab ich mich geweigert. So darf ich zwar weiterhin das Schloss nur unter Bewachung verlassen, bei der Erfüllung meiner Pflichten indessen lässt man mir nun freie Hand. Endlich kann ich mich nach den Empfehlungen der Tübinger Professoren richten, die sie in ihrem Büchlein gegen die Pestilenz vor einigen Jahren niedergeschrieben haben. So werde ich veranlassen, dass die Häuser der Pesttoten vom Keller bis zum Dachboden gereinigt werden müssen und an alle Bewohner Rauchpulver und Rußpflaster verteilt werden sowie ätherische Öle zum Ausstreichen der Arme.
So viel für heute, es dämmert bald, und ich muss zu unserer Mutter. Wie schwer ist mir jedes Mal ums Herz, wenn ich diesen Gang in die Vorstadt antrete.
Als Agnes erwachte, war der Platz neben ihr leer. Enttäuscht stand sie auf. Sie hatte gehofft, an diesem ihrem letzten Morgen gemeinsam mit Sandor aufzuwachen, mit geschlossenen Augen noch ein wenig zu träumen, seiner Stimme zu lauschen, seine Haut zu spüren.
Nachdem sie sich in aller Hast gewaschen und angekleidet hatte, nahm sie ihren Reisebeutel, den sie am Vortag gepackt hatte, und ging hinunter in die Küche. Matthes und Mugge saßen am Tisch beim Essen.
«Hat jemand Sandor gesehen?»
Käthe stellte ihr einen Napf voll Milchbrei hin. «Er war schon in aller Herrgottsfrühe hier. Ich glaube, er wollte noch zum Kommandanten. Jetzt stärkt Euch erst mal, Ihr werdet es brauchen.»
«Ach Käthe, ich bringe keinen Bissen hinunter.»
Nicht nur der Schmerz des Abschieds von Sandor schnürte ihr die Kehle zu, es war auch die Angst vor den Gefahren auf der Reise. Sie tastete nach dem Holzpferdchen, das sie wieder in ihren Rocksaum eingenäht hatte. Halte Wort und bring mich zurück zu David, dachte sie. Auch wenn ich die Hälfte meines Herzens zurücklassen muss.
Die Wirtschafterin legte ihr für einen Augenblick die abgearbeitete, rissige Hand auf den Arm.
«Denkt nicht an den Abschied. Denkt daran, dass Ihr bald zu Hause sein werdet.»
«Wenn es nur schon so weit wäre. Zehn Tagesritte werden es wohl sein, hat der Kommandant gemeint. Und das auch nur, wenn nichts dazwischen kommt.»
«Es wird nichts dazwischenkommen.» Käthe ging wieder zum Herd. «Nicht, wenn Euer Herr Bruder und sein tapferer Bursche dabei sind.»
«Das will ich meinen.» Mugge grinste. «Zumal uns der Adjutant ausführlichst unterrichtet hat, was geboten ist und was nicht auf solch einer Reise.»
«Er hält uns eben für Waschweiber», knurrte Matthes.
«Seid nicht ungerecht.» Agnes dachte daran, wie sich Sandor am Vorabend zu ihnen in die Küche gesetzt und aus seinem Erfahrungsschatz als reitender Kurier erzählt hatte. Es gebe ein paar schlichte und doch lebensnotwendige Regeln, um unbehelligt zu reisen. Handels- und Fahrstraßen seien zu meiden, ebenso dichte Wälder, da dort keine Flucht zu Pferde möglich sei. Am besten reite man querfeldein und richte sich wie ein Seefahrer nach Sonne und Sternen. «Um Höfe und Siedlungen macht einen großen Bogen.» – «Und wenn wir Proviant brauchen?» – «Es gibt Geheimzeichen, Hinweise von Schnapphähnen und Wegelagerern, die verraten, ob ein Ort besetzt ist oder verlassen. Mitunter täuschen die Bewohner auch vor, dass ihr Dorf unbewohnt ist. Sie heben Türen und Fenster aus den Angeln und verstecken ihr Vieh mit verbundenem Maul in Erdlöchern.»
Sandor hatte nicht aufgehört zu reden und zu reden; es war, als wolle er mit seinen Worten das Unvermeidliche aufhalten.
«Machen wir uns auf den Weg.» Matthes erhob sich. «Höchste Zeit.»
Im Burghof standen ihre Pferde schon bereit. Es waren herrliche Tiere, gepflegt und trotz des vorangegangenen Winters gut im Futter. Nahe bei Stuttgart sollten sie sie bei einem Müller abgeben, der für die herzoglichen Kuriere arbeitete. Neben dem Pferdeknecht warteten Widerhold und der Arzt. Von Sandor war nichts zu sehen. Warum wich er ihr aus? Wie konnte er sie allein lassen an diesem letzten Morgen?
«Ich muss Sandor finden.» Sie drückte ihrem Bruder den Beutel in die Hand und wollte eben zum Portal des Burgschlosses laufen, da sah sie ihn aus den Stallungen treten, ein gesatteltes Pferd am Zügel.
«Was hast du vor?», fragte sie verwirrt, als er vor ihr stand, mit geröteten Wangen und lachendem Gesicht.
«Ich begleite euch bis Stuttgart. Heute Morgen endlich hat Widerhold mir die Erlaubnis hierzu gegeben.»
Eine Stunde später ritten sie durch das erste zarte Grün dieses Frühjahrs. Der Tag versprach sonnig und mild zu werden, und Agnes hatte alle Angst vor der Reise verloren. Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass Sandor neben ihr ritt.
Sie kamen stetig voran, zogen geradewegs nach Norden, quer über die Schwäbische Alb. Das Wetter erlaubte, dass sie bis weit in die Nacht reiten konnten, um dann für ein paar wenige Stunden auf ihren Fellen unter freiem Himmel zu schlafen. Nun, da sich die schwedischen Truppen hinter die Grenzen des Reichs zurückgezogen hatten, war es zumindest hier im Süden ruhig geworden. Mit der Sicherheit eines Blinden, der jeden Winkel seines Hauses kennt, führte Sandor sie quer durch die Lande. Dabei gab es Tage, an denen sie keine Menschenseele zu Gesicht bekamen. Nur wenn es nicht zu vermeiden war, kreuzten sie eine der großen Landstraßen. Dann sahen sie Scharen von zerlumpten Gestalten, auf der Flucht vor Plünderern oder auf der Suche nach Beute oder auch beides zugleich. Wer von ihnen Bauer, Bürger oder versprengter Soldat war, war nicht mehr zu unterscheiden, Hunger und Elend hatten alle gleich gemacht. Je weiter sie nach Norden kamen, in die Nähe der größeren Städte, desto häufiger begegneten sie Krüppeln und Gebrandmarkten, ausgemusterten Soldaten, die sich armlos oder auf ihren Holzbeinen den Weg entlang schleppten, Männern, denen man die Nase abgeschnitten hatte oder die Ohren.
Sie hielten sich stets in Deckung vor den Menschen, warteten im Schutz von Unterholz oder Felsen, bis die anderen vorüber gezogen waren. Einmal trafen sie auf einer Lichtung völlig unvorbereitet auf eine junge Frau, die allein und völlig selbstvergessen die ersten Frühlingsblumen pflückte. Sie schreckte auf, als sie das gedämpfte Hufgetrappel hinter sich hörte.
Sandor sprach sie an, entgegen seinen Grundsätzen, da ihr Proviant zur Neige ging.
«Gibt es hier ein Dorf, wo wir was zu essen bekommen?»
Sie lachte fröhlich und deutete auf einen Hügel, hinter dem eine Kirchturmspitze aufragte: «Mein Dorf. Ein schönes Dorf. Nachts kommen die Wölfe und Füchse. Das ist das Zeichen.»
Wieder lachte sie. Agnes lief ein Schauer über den Rücken.
«Was für ein Zeichen?», fragte sie.
«Dass das Ende der Welt bevorsteht. Hier, das ist für Euch, schöner Mann.»
Sie reichte Sandor den Blumenstrauß. Der schüttelte den Kopf. «Behaltet ihn nur.»
«Danke.» Sie führte den Strauß zum Mund und verschlang die Blumen mit gierigen Bissen.
«Lass uns rasch weiterreiten», flüsterte Agnes. Sie fühlte wieder dieses Entsetzen aufsteigen, das Entsetzen darüber, was der Krieg aus den Menschen gemacht hatte. Sie wollte in kein Dorf mehr, in keine fremde Stadt. Lieber den bohrenden Schmerz des Hungers ertragen als den Jammer dieser Menschen, den ewig gleichen Anblick zerstörter und ausgebrannter Häuser. Erst vor zwei Tagen hatten sie beobachtet, wie zwei Männer auf dem Kirchacker einer Dorfkirche ein frisches Grab geöffnet hatten. Sie wusste längst, dass die Menschen in ihrer Verzweiflung nicht mehr nur verendete Tiere aßen. Man hörte sogar noch Grausigeres: dass Eltern ihre verstorbenen Kinder, Kinder ihre getöteten Eltern brieten. Gelähmt vor Grauen, hatten sie noch gesehen, wie die Männer mit großen Messern an dem Leichnam herumzuschneiden begannen, dann hatten sie ihre Pferde herumgeworfen und waren davongaloppiert. Matthes hatte plötzlich zu schluchzen begonnen.
«Das ist nicht mehr unser Krieg», hatte er immer wieder hervorgestoßen.
«Unser Krieg!», hatte Agnes ihn irgendwann angebrüllt. «Das war noch nie unser Krieg.» Dennoch ahnte sie, was er meinte.
So kämpften sie sich ohne Proviant weiter, ernährten sich von Gräsern und Wurzeln und auf Steinen gerösteten Kröten, die sie am Wegesrand bei ihrem Liebesspiel überraschten. Doch Agnes wusste, noch zwei, drei Tage, dann wären sie am Ziel. War sie zunächst überglücklich gewesen, dass Sandor sie begleitete, so spürte sie nun, dass ein Abschied auf dem Hohentwiel ihr leichter gefallen wäre. Mit jeder Stunde, mit jedem Huftritt, der sie Stuttgart näher brachte, wurde der Gedanke quälender, ihre eben erst erblühte Liebe wieder aus der Hand geben zu müssen. Das einzig Tröstliche: Ihre Mutter war ihr erschienen in einer dieser Nächte, mit zufriedenem Lächeln und den Worten: Ich freue mich. Sie war noch am Leben, dessen war sich Agnes sicher. Nur Jakob hatte sie in diesem Traum nicht erkennen können.
Bereits am achten Tag erreichten sie die weitläufige Ebene der Fildern südlich der Residenz. Keiner sprach ein Wort an diesem kühlen, windigen Apriltag, jeder schien mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Matthes wirkte regelrecht verstört, und Agnes bemerkte, dass ihn noch etwas anderes als die Aufregung peinigte: Immer häufiger zuckte er zusammen, seine linke Hand hielt er unter dem Mantel verborgen.
«Was ist mit dir?», fragte sie.
«Meine Hand. Es hat sich entzündet. Unter den Nägeln.»
Sandor lenkte sein Pferd neben das von Matthes. «Zeig her.»
Die Fingerkuppen der linken Hand waren aufgesprungen und vereitert. Sandor fluchte.
«Dieser Hundsfott von Leutnant! Sieht das schon lange so aus?»
Matthes zuckte die Schultern. «Die Linke hat nie recht verheilen wollen.»
«Warum bist du damit nicht zu unserem Medicus?»
Als Matthes schwieg, sagte Agnes: «Wir brauchen heißes Wasser und einen Verband.» Sie konnte deutlich den Schrecken in Sandors Augen lesen.
«Wenn wir uns beeilen», sagte er, «erreichen wir die Mühle am Nesenbach noch heute Abend. Hältst du das durch?»
«Ja, sicher.»
Es war bereits dunkel, als sie das lang gestreckte, mit einer Mauer umgebene Gebäude erreichten. Sandor stieß einen leisen Pfiff aus. Ein Fenster ging auf.
«Wer da?»
«Sandor Faber.»
Kurz darauf öffnete sich das Tor und ein alter Mann, weißhaarig und mit krummem Rücken, ließ sie ein.
«Danke, Gevatter. Bin mal wieder unterwegs, nach langer Zeit. Meine drei Freunde müssen weiter nach Stuttgart, ihre Pferde lasse ich dir hier.»
Der Alte nickte nur und führte sie in die Küche. Das Feuer war schon am Erlöschen, doch auf dem Herd stand noch ein Kessel mit Suppe.
«Esst und trinkt. Schlafen könnt ihr nebenan. Du kennst dich ja aus, mein Junge.»
Er schlurfte zur Tür.
«Wartet, Gevatter. Dieser Mann hier hat eine böse Hand. Wir brauchen saubere Tücher.»
Der Alte hielt sich Matthes’ Finger dicht unter die Augen. «Wascht die Hand im warmen Wasser dort. Dann mach ich Euch einen Umschlag aus Arnika und Beinwell. Ob das viel hilft, kann ich nicht sagen. Womöglich hat der Brand hat schon hineingeschlagen.»
Während der alte Müller die Wunde versorgte, zog Sandor Agnes zum Fenster.
«Morgen vor Sonnenaufgang werde ich fort sein.» Er strich über den Ring an ihrem Finger und küsste zärtlich ihre Lippen. «Versprich mir eins: Zweifle nie daran, dass wir zusammenkommen.»