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Der Körper war gefunden worden im flachen Wasser am Rande eines kleinen Sees, ein Stück weit nördlich von Sunnydale außerhalb der Stadt. Bei dem Verstorbenen handelte es sich um Brian Andrews, einen Basketballspieler, der zum Zeitpunkt seines Todes mit niemand Besonderem gesehen worden war. Jedenfalls behaupteten das die Jugendlichen, die sich um den See versammelt hatten und behaupteten, seine Freunde zu sein. Im Polizeibericht stand, dass Brian, aus welchen Motiven auch immer, vermutlich betrunken ins Wasser gegangen war, ausrutschte und dann ertrank.
»Hat einer von euch beiden Brian näher gekannt?«, erkundigte sich Willow bei Xander und Buffy, als die Freunde an einem der runden Tische in der sonnendurchfluteten Cafeteria der Sunnydale High saßen. Willow schenkte ihrem Essen keine Beachtung; aber Buffy und Xander pickten sich die besten Stücke aus einem anständigen Mittagessen heraus, das sie aus zwei eher mittelmäßigen Mahlzeiten zusammengestellt hatten - einem Burrito, einem halben Apfel, einer noch recht vollen Tüte Barbecue-Chips sowie ein paar verirrten roten Weintrauben. An den anderen Tischen sitzend oder lässig gegen die Wände gelehnt, diskutierten auch die anderen Schüler die aktuellen Themen: Der Ende des Monats bevorstehende »Miss Sunnydale High«-Wettbewerb, die beiden Mädchen, die sich gestern dafür eingeschrieben hatten und ihre Chancen, ihn zu gewinnen. Und der Tod von Brian Andrews. So ziemlich in dieser Reihenfolge.
»Das Einzige, was ich weiß, ist, dass der Bursche im Basketballteam war«, erzählte Xander. »Und er war nicht mal besonders gut.«
»Das ist gemein«, empörte sich Willow. »Er ist tot, und das weißt du genau.«
»Ich will ja nicht sagen, dass er tot ist, weil er nicht gut war, aber dass er tot ist, macht ihn auch nicht zu einem besseren Spieler.«
»Schätze, du hast Recht«, gab Willow zu. Sie drehte nachdenklich das Armband hin und her, das ihr ihre Eltern zum Hanukkah geschenkt hatten, ein goldenes Band mit einem Aquamarin. Passend zu dem Stein hatte sich ein gelbes Plastik-Amulett gesellt. Oz hatte es ihr in der Einkaufspassage gekauft. Willow nahm eine der Weintrauben, die Xander ihr hinhielt und steckte sie in ihren Mund. »Wenn er nur im Schwimm-Team gewesen wäre. Vielleicht wäre er dann nicht ertrunken.«
»Willow«, hielt Xander vorwurfsvoll dagegen. »Das Wasser war an der Stelle höchstens mal 90 Zentimeter tief.«
»Noch schlimmer. Es ist ja wohl peinlich, im 90 Zentimeter tiefen Wasser zu ertrinken, wenn man nur ein paar Schritte weiter gehen muss, um in anständigen 2 Metern Tiefe unterzugehen.«
Buffy schob das Tablett weit von sich fort, so dass Xander sich weit strecken musste, um sich die übrig gebliebenen Chips angeln zu können. »Ich habe Brian Andrews getroffen, als ich gerade in Sunnydale ankam«, sagte sie nachdenklich. »Glaubt es oder glaubt es nicht, aber damals war er echt nett zu mir. Ich wurde angerempelt und ließ meine Bücher fallen. Er half mir, sie wieder aufzuheben. Das habe ich nie vergessen.«
Einen Moment herrschte betretene Stille an ihrem Tisch, die inmitten des Stimmengewirrs um sie nicht weiter auffiel. Dann sagte Buffy mit gesenkter Stimme, die nur ihre Freunde hören konnten - auf der Sunnydale High gab es viele neugierige Schüler: »Ich werte es mal als gutes Zeichen, dass es bei seinem Tod anscheinend nichts Auffälliges gibt. Wahrscheinlich war er betrunken und unvorsichtig. Die Polizei hat nichts von doppelten Risswunden an seinem Hals erwähnt.«
»Nur ein paar Kratzer am Nacken, habe ich gehört«, kam es von Xander. »Wahrscheinlich haben einige Fische da ein kleines Picknick veranstaltet.«
Buffy nickte. Brians Familie tat ihr schrecklich Leid. Aber immerhin handelte sich hierbei um nichts, das sie als Jägerin hätte wissen oder verhindern können. Manche schlimmen Katastrophen waren einfach natürliche und normale schlimme Katastrophen. Vielleicht war diese Tragödie eine davon.
Vielleicht. Sie erinnerte sich an einen kleineren und schmaleren Brian Andrews, der sie unbeholfen anlächelte, während er ihr half, ihre Geographie- und Algebra-Bücher inmitten des Gewusels der Schülerfüße aufzuheben.
»Hallo miteinander!«
Buffy drehte sich auf ihrem Stuhl um und sah hinter sich Allison Gianakous, die ein breites Lächeln auf ihren Lippen trug.
»Hi Allison«, erwiderte Buffy. »Wie geht’s dir? Mir fehlt dein Lorbeerkranz.«
»Ja, na ja«, stotterte Allison. Verlegen ließ sie sich auf den leeren Stuhl neben Xander fallen, legte ihre Ellenbogen auf den Tisch und spielte mit einer übrig gebliebenen Apfelscheibe auf dem Gemeinschaftstablett. Es war offensichtlich, dass ihr mehr auf der Seele lag als nur ein kleines Nachmittagsschwätzchen. Allison gehörte nicht zu Buffys Freundeskreis, aber ihre Körpersprache signalisierte eindeutig, dass sie sich mit den anderen gut stellen wollte.
Ihr lag etwas auf dem Herzen.
»Was willst du?« Das war mal wieder typisch für Xander. Die Gabe, in den richtigen Augenblicken Sensibilität zu zeigen, war ihm einfach nicht gegeben.
»Eigentlich«, antwortete Allison, »hatte ich gehofft, ihr Leute könntet mir bei einer Sache helfen.«
»Bei was denn?«, erkundigte sich Willow.
»Wie würdet ihr mich beschreiben?«, fragte Allison.
»Was meinst du mit beschreiben?«, fragte Buffy vorsichtig zurück.
»Wenn ihr mich jemandem beschreiben wolltet, was würdet ihr dann sagen?«
»Warum, willst du ein Verbrechen begehen?«, witzelte Xander. »Willst du schon mal vorarbeiten und dem Polizeizeichner so ’ne Menge Zeit ersparen?«
»Kommt schon«, stöhnte Allison und rollte mit ihren Augen.
»Okay«, fing Willow an. »Du hast braunes Haar, braune Augen, keine Sommersprossen. Äh…«
»Würdet ihr sagen, dass ich hübsch bin?«
Buffy öffnete ihren Mund, nur um ihn sofort wieder zuschnappen zu lassen. Dieses Gespräch konnte ebenso schnell gefährlich werden wie ein nächtlicher Spaziergang über den Friedhof von Sunnydale. Und sie wollte Allisons Gefühle nicht verletzen. »Ah, na ja, Schönheit liegt im Auge des Betrachters«, bot sie an.
»Das war die Ästhetik-Vorlesung für Anfänger von Buffy Summers«, warf Xander ein.
»Nein, wirklich«, beharrte Allison. »Würdet ihr sagen, dass ich hübsch bin?«
Willow, Xander und Buffy sahen sie lange an. Schließlich holte Willow tief Luft und sagte: »Na ja, klar doch, Allison…«
»Aber ich bin nicht hübsch«, stellte Allison fest. »Ihr würdet nicht sagen, dass ich hübsch bin, ihr würdet sagen, dass ich…«
»Groß bin?«, setzte Buffy den Satz fort.
»Ganz genau!«, bestätigte Allison. »Groß. Und wie würdet ihr die meisten erfolgreichen Basketball-Spieler beschreiben?«
»Groß!«, rief Xander so enthusiastisch aus, als hätte er gerade die Millionen-Dollar-Frage richtig beantwortet.
»Eben«, nickte Allison. »Versteht ihr?«
»Nicht wirklich«, gab Buffy zu.
»Tut ihr doch«, insistierte Allison. »Ich will meinem Dad zeigen, dass ich nicht sein Sklave bin. Ich will ihm beweisen, dass ich mindestens so viel drauf habe wie mein Bruder. Dass ich ein Leben habe und es leben sollte!«
»Es wie leben sollte?«, hakte Buffy nach.
»Ich will Brian Andrews’ Stelle im Basketball-Team übernehmen!«
Buffy, Willow und Xander antworteten wie aus einem Munde: »Du machst wohl ’nen Witz, oder?«
»Warum sollte ich?« Allison ergriff Buffys Arm.
»Oh, ich weiß nicht«, antwortete Buffy, während sie sich so höflich wie möglich aus Allisons Griff befreite. »Vielleicht weil du ein Mädchen bist und Brian Andrews in einer Jungen-Mannschaft spielte?«
Allison schüttelte ihren Kopf. »Aber versteht ihr denn nicht? Darum geht’s doch. Wer hat bloß diese Regeln über Mädchen-Mannschaften und Jungen-Mannschaften erfunden? Männer natürlich, wer sonst. Das lasse ich mir nicht bieten! Es wird Zeit, dass wir, die wir auf der Sunnydale High das weibliche Geschlecht repräsentieren, unseren Mund aufmachen und uns weigern, weiterhin von diesen Regeln unterdrückt zu werden!«
»Ich habe mich nie einer Mann-Frau-Regel unterwerfen müssen«, warf Willow vorsichtig ein. »Wenigstens glaube ich das.«
»Du kommst da ein paar Jahre zu spät, Allison«, legte Xander weniger vorsichtig los. »Frauen haben jetzt die Hosen an. Schau dir bloß mal Xena an. Okay, die trägt zwar keine Hosen, ist aber vollkommen egal, denn wenn ihr ein Mann blöd kommt, schickt sie ihn einfach ins Reich der Träume. Oder denk mal an…«, aber er unterbrach seinen Redeschwall, als er merkte, wie Buffy ihm einen dieser Was-laberst-du-da-eigentlich-Blicke zuwarf.
Allison hörte ihm gar nicht zu. »Zwei neue Mädchen haben mir von zusammengelegten Mannschaften erzählt und dass dieser Trend an unserer Schule total verpennt wird. So bin ich auf den Gedanken gekommen, warum soll ich eigentlich nicht in einer Jungen-Mannschaft spielen dürfen? Also habe ich Direktor Snyder vor Unterrichtsbeginn gefragt, ob ich es mal ausprobieren darf.«
»Und er sagte…«, erkundigte sich Willow.
»Nein, war doch klar«, schnappte Allison beleidigt.
»So ein Pech aber auch«, bekundete Buffy ihr Beileid. Sie sprang auf, schnappte sich ihren Rucksack vom Tisch und schwang ihn sich über die Schulter. Xander und Willow taten es ihr gleich. »War aber eine tolle Idee. Ich seh euch später, Leute.«
»Warte, Buffy«, rief Allison ihr hinterher. »Wenn ihr mich alle begleitet, wenn ich nochmal frage, dann stimmt er vielleicht doch zu. Gemeinsam sind wir stark. Und falls er Nein sagt, weiß er, dass wir für die Sache kämpfen werden.«
Buffy hob eine Hand zum Gruß und ging schneller in Richtung Cafeteria-Ausgang. Andere Schüler gingen in dieselbe Richtung. »Allison«, rief sie über ihre Schulter zurück, »tut mit wirklich Leid, aber mich beschäftigen momentan so viele andere Sachen, da bleibt gar kein Platz für eine weitere. Vielleicht findest du ja jemand anderen, der für diese Sache mit den zusammengelegten Mannschaften kämpfen möchte.«
»Wen denn?«
»Oh, äh, keine Ahnung. Vielleicht die beiden neuen Mädchen? Neue Schüler stehen bei den Lehrern immer höher im Rang.« Sie hielt kurz inne. »Wenigstens die erste Zeit.«
»Aber ich kenne sie doch gar nicht richtig«, wandte Allison ein.
Buffy warf Willow einen frustrierten Blick zu. Willow hob eine Augenbraue und atmete leise aus. Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände: Gestern Abend haben wir Allison im Lachenden Griechen wie eine Freundin behandelt. Und jetzt sollen wir so tun, als würde sie uns nicht interessieren?
Xander hatte schon lange nicht mehr zugehört. Er befasste sich lieber mit dem kurzen, tänzelnden Rock einer Schülerin, die vor ihm ging.
Im Foyer der Schule fanden sich die Schüler zu fest definierten Gruppen zusammen. Jeder Schüler versuchte, diejenigen zu vermeiden, die nicht mindestens genauso angesagt waren wie sie selber. Gleichzeitig machten sich die Außenseiter einen Spaß daraus, die coolen Typen anzurempeln.
Um Allison abzuschütteln, löste Buffy sich von ihren Freunden und schlug mit schnellen Schritten eine andere Richtung ein. Doch ihre Verfolgerin hatte keine Schwierigkeiten, sie mit ihren langen Beinen einzuholen. Buffy beschloss daher, nicht an ihrem Spind anzuhalten, da sie so bloß Allison die Gelegenheit geben würde, sie mit ihrem Rumgejammere und ihrer abgefahrenen Idee noch mehr zu nerven.
Vor der Tür des Direktors packte Allison Buffy plötzlich am Arm und hielt sie jäh an. Buffy machte sich mühsam von Allisons Griff los. »Allison!«, sagte sie spürbar beherrscht. »Nun mach mal ’nen Punkt. Ich kann dir echt nicht helfen. Okay? Vielleicht weißt du es nicht, aber ich könnte mehr Schaden anrichten, als du dir vorstell…«
Doch Allison ließ sie nicht ausreden. Sie hatte Buffy überhaupt nicht zugehört. »Okay. »Dann lasse ich dich in Ruhe. Sofort, nachdem wir mit Direktor Snyder gesprochen haben. Direktor Snyder!«
Der Direktor, ein kleiner Mann, der schon langsam glatzköpfig wurde, trat aus seinem Büro. Er hatte einen Erstsemester, ein dürrer Schüler, am Kragen gepackt. Sein Blick tastete Allison ab, während der Schüler wie ein Fisch am Haken herumzappelte. »Was wollt ihr?«, fragte er ungnädig.
»Ich bringe eine Zeugin mit«, stellte ihn Allison mit verschränkten Armen vor vollendete Tatsachen. Sie war ein gutes Stück größer als Snyder, und auf die Entfernung mochte sie sogar überzeugend ausgesehen haben, aber Buffy konnte sehen, wie ihre Arme zitterten. »Buffy Summers denkt, dass ich für das Basketball-Team der Jungen-Mannschaft vorspielen dürfen sollte. Das denke ich auch. Also frage ich noch mal, Direktor Snyder. Erlauben Sie, dass ich für die Position von Brian Andrews vorspiele?«
Direktor Snyder sah von Allison zu Buffy und von Buffy zu Allison. Sein Gesichtsausdruck verwandelte sich langsam von einer knurrigen Fratze in ein belustigtes, aber kaltes Lächeln. »Buffy Summers ist deine Fürsprecherin? Ich hätte eine klügere Wahl vorgeschlagen, Ms. Gianakous«, höhnte er. »Falls du es nicht gewusst hast, Ms. Summers ist für mich nicht unbedingt eine glaubwürdige Zeugin. Und wenn ihr mich nun entschuldigen würdet, ich habe hier einen Sprühdosenkünstler, der nachsitzen möchte.«
Allison hielt nur mit Mühe ihre Tränen zurück. »Aber…«, fing sie an.
»Kein Aber, Ms. Gianakous«, verkündete die Stimme des Direktors, während er den unglücklich aussehenden Graffiti-Artisten hinter sich herzog. »Ich lasse nicht zu, dass du für die Jungen-Mannschaft vorspielst. Die Gleichberechtigung ist eine Sache, aber die Fähigkeit, sich gegen Jungen durchzusetzen und einen Drei-Punkter zu schaffen, ist eine ganz andere.«
Allison starrte ihm mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung nach. Buffy stöhnte, legte ihre Hand auf Allisons Schulter und sagte: »Hey, tut mir Leid. Ich habe versucht, dir zu sagen, dass ich nicht unbedingt die Lieblingsschülerin von Snyder bin. Aber das ist nicht das Ende der Welt.«
Allison ballte ihre Fäuste. »Wirklich nicht, Buffy? Wessen Welt meinst du gerade?« Dann bahnte sie sich energisch ihren Weg durch einen Pulk Schüler und verschwand erst aus Buffys Blickfeld, als einige Mitglieder der Basketball-Mannschaft, die noch größer waren als Allison, hinter ihr hergingen.
Buffy hatte die beiden neuen Schülerinnen noch nicht getroffen, aber Cordelia hatte sich die Gelegenheit natürlich nicht entgehen lassen. Es war ein langer Montag gewesen, und Buffy wollte an diesem Nachmittag schnell nach Hause, sich ein wenig ausruhen, bevor die Nacht hereinbrach und sie wieder auf Patrouille gehen musste und - wenn möglich - das Rätselraten, das sie im Politikunterricht hingelegt hatte, vergessen, dabei einen Müsli-Riegel knabbern und die neuen Broschüren der verschiedenen Colleges durchsehen, die aller Wahrscheinlichkeit nach mit der Post gekommen waren. Es war schon sehr erstaunlich, dass Colleges aus jeder Ecke der Vereinigten Staaten zu glauben schienen, dass sie unbedingt und auf jeden Fall die Bewerbung dieser einen, in akademischer Hinsicht nicht sonderlich beeindruckenden, Schülerin der Abschlussklasse aus Sunnydale, Kalifornien haben mussten. Nicht selten kannten die sehr persönlichen Briefe, die den farbenprächtigen Broschüren beilagen, Buffy nicht ganz so gut, wie sie vorgaben. Einige waren an Buffy Sommers, Buffy Simmers, Becky Summer, Biffy Summit, Büffet Sondheim, und einmal sogar an ein bemitleidenswertes Mädchen namens Boffy Sumac, adressiert.
Buffy verließ das Schulgebäude. Vom Sonnenschein geblendet, setzte sie ihre coole Sonnenbrille auf und schaute sich um. Drüben auf dem Parkplatz wendeten Autos und fuhren in Richtung Straße los. Buffy konnte Willow und Oz sehen, die neben seinem Van standen, sich unterhielten und lachten. Xander lehnte gegen die Rückseite des Fahrzeugs und blätterte in einem Comic. Normalerweise hing Buffy nach Schulschluss mit ihnen herum, aber heute wollte sie wirklich allein sein.
»Da ist ja Buffy Summers! Warum kannst du dich nicht unsichtbar machen?«
Buffy blickte hinter sich und sah Cordelia Chase, die eine Hand an die Hüfte gelegt hatte und sie anstarrte. Cordelia war ein schönes Mädchen - schön unangenehm, schön hochnäsig.
Sie gehörte zur Elite der Schule. Wenn die Elite sich durch Faktoren wie Angesagtsein und sonst nichts auszeichnete. Ihre Kleidung war wie immer makellos, ihre Haare und das Make-up ohne Fehler. Nur wenn sie den Mund aufmachte, um zu sprechen, brach die perfekte Fassade sofort wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Um Cordelia schwänzelten einige ebenfalls dieser Elite angehörige Mädchen herum, sowie zwei gut gekleidete Neuankömmlinge, die Buffy nicht kannte.
»Cordy«, sagte Buffy. »Warum machst du dir die Mühe, mich ausfindig zu machen? Das ist völlig untypisch für dich.«
»Oh«, machte Cordelia. »Aber es ließ sich nicht vermeiden. Es ist meine Aufgabe, unseren neuen Mitschülerinnen Polly und Calli Moon alles von Sunnydale High zu zeigen, damit sie kapieren, was Sache ist. Vor ein paar Jahren haben wir mal einen Schulausflug zu den Teergruben von La Brea gemacht. Du kannst dich nicht daran erinnern, weil du damals in Los Angeles warst, auf irgendeiner anderen Schule.« Sie machte mit ihren Händen eine wegwerfende Geste. »Jedenfalls haben uns die Lehrer damals gezeigt, wo wir hintreten durften und wo nicht, damit wir nicht wie die Stinktiere in die Gruben runtergesaugt wurden, oder wie die pelzigen Säugetierdinger auch immer heißen mögen.«
»Also willst du andeuten, dass ich eine Teergrube bin und ihr seid gigantische, am Boden lebende Stinktiere?«
»Sehr witzig«, sagte Cordelia. »Polly und Calli müssen wissen, wo sie ohne Angst hintreten können, und ich muss ihnen zeigen, wo das ist. Schließlich sind sie neu hier.«
»Aha«, antwortete Buffy nur. Sie vermied es, die neuen Mädchen zu lange anzuschauen, um zu vermeiden, dass diese auf die Idee kamen, Buffy würde Cordelias nichtiges Geschwafel interessieren. Sie sahen wie Zwillinge aus und waren wunderschön, mit langem blonden Haar, grünen Augen und gleichmäßiger Haut. Ihr Lächeln war ansteckend und sie machten, von ihrer Begleitung einmal abgesehen, einen harmlosen Eindruck. Jede trug rubinrote Zapfenohrringe und mit Diamanten besetzte Tennis-Armreife. Es war offensichtlich, dass ihre Familie Geld besaß. Einzig ihr zu starkes Parfüm und ihr zurückgenommenes Benehmen schien nicht so ganz zu Cordelias üblichem Stil zu passen. Irgendwie wirkten sie fast altmodisch. Artig. So wie Menschen in vergangenen Jahrhunderten gewesen sein mussten, als es noch Manieren gab.
Cordelia erklärte kurz, dass Calli und Polly Schwestern waren. Eine ging in die Unterstufe, die andere in die Oberstufe, was Buffys Zwillingstheorie beerdigte, es sei denn, eine von beiden hätte in einer früheren Klasse eine Ehrenrunde gedreht. Sie fuhren reichlich coole, reichlich niedliche Käfer - Polly einen weißen, Calli einen gelben. Cordelia erzählte, dass die Schwestern überlegten, ob sie am Miss Sunnydale High-Wettbewerb teilnehmen sollten. Er wurde von Wayland Software Enterprises gesponsort, einer Firma aus Los Angeles, die darauf hoffte, die Genehmigung für den Bau eines Industriegebietes in Sunnydale zu bekommen. Cordelia ließ keinen Zweifel aufkommen, dass sie auf jeden Fall teilnehmen wollte.
»Dieser Wettbewerb«, fuhr Cordelia mit einem Grinsen fort, das Buffy wissen ließ: Lass die beiden nur teilnehmen, ich bin ihnen total überlegen! »wird so viel besser sein als all diese anderen ätzenden Feiern. Zum Beispiel kommt es hier nicht nur darauf an, wunderschöne Mädchen wie Kühe vorzuführen, obwohl das auch okay wäre. Hier kommt es darauf an, die vielen Talente und Fähigkeiten der jungen Frauen von Sunnydale vorzustellen.«
»So wie deine«, warf Buffy sarkastisch ein.
»Natürlich so wie meine«, schnappte Cordelia. »Ich bin das beste Beispiel. Aber das Tollste an diesem Wettbewerb ist, dass der erste Preis hier nicht nur ein langweiliges Stipendium ist. Wayland Software Enterprises spendiert eine Reise nach Hawaii!«
»Na dann, Cordy«, folgerte Buffy. »Wir werden dich schrecklich vermissen, wenn du mitsamt deiner Krone auf die große Südsee-Reise gehst, aber irgendwie werden wir den Verlust schon überleben.« Sie drehte sich um und ging weg. Sie konnte Cordelias Gemeckere hinter sich hören. Miss Chase mochte es nicht sonderlich, wenn man sie mitten in ihrem Redefluss stehen ließ.
Auf dem Lehrerparkplatz stand Giles, der seine Schlüssel in der Hand hielt und reglos in die Luft starrte, als wäre er zur Salzsäule erstarrt. Ich hoffe, es ist nichts Schreckliches passiert!, dachte Buffy, während sie zu ihm lief.
»Giles, was ist los?«, fragte Buffy, nachdem sie schlitternd neben ihm zum Halt gekommen war. »Vampire? Ghoule? Seemonster? Geister?«
»Die neue Studienrätin«, knurrte Giles grimmig. Seine Augen kehrten ins Hier zurück und richteten sich auf Buffy. Sein Kinn war herausgestreckt und seine Brauen zusammengezogen. »Ich sollte mich bei niemandem über meine Kollegen beklagen, nicht einmal bei dir, aber diese Frau ist einfach unglaublich. Sie hat sich alle Bände in der Bücherei angesehen und besteht darauf, dass wir unser Angebot dem der anderen Büchereien in diesem Bezirk anpassen.«
»Was bedeutet?«
»Was bedeutet, um es mit Mo Moons ach so professionellen Worten zu sagen, dass wir die Bücherei mit wertvoller Literatur über Musik, Poesie und Theater aufstocken sollten, und den übernatürlichen Müll loswerden.«
»Oh je. Warten Sie nur, bis sie zu den wirklich schweren Geschützen in Ihrer Privatsammlung vordringt.«
»In der Tat. Die Frau hat keine Vorstellung davon, worüber sie da spricht, und ich werde niemals zulassen, dass sie die von ihr gewünschten Veränderungen in die Tat umsetzt. Sie hat mir erzählt, sie sei nur vorübergehend Studienrätin, gerade mal für das nächste Jahr. Und ich will verdammt sein, entschuldige den Kraftausdruck, wenn sich jemand, der nur vorübergehend da ist, in dauerhafte Dinge einmischt, von denen er keine Ahnung hat.«
»Genau«, kommentierte Buffy. »Was immer Sie sagen, ich sehe es genau so, zu 100 Prozent.«
»Sie ist eine seltsame Frau«, sagte Giles mit einem Kopf schütteln.
»Aber ich werde mir von ihr nichts vorschreiben lassen. Egal, was ihr Arbeitsvertrag und mein Arbeitsvertrag vorsehen.«
»Absolut«, stimmte Buffy ihm zu. »Übrigens, hat sie zwei Töchter, die sich gerade eingeschrieben haben? Calli und Polly Moon?«
Giles nickte. »Hübsche Mädchen. Ziemlich klug, wie ich gehört habe. Eine ist eine besonders begabte Sängerin, die andere eine außergewöhnliche Dichterin. Mehr als das weiß ich nicht.«
»Ich auch nicht«, merkte Buffy an. »Werde ich vermutlich auch nicht, weil Cordelias Clique sich die beiden gekrallt hat und ich mit denen so wenig wie möglich zu tun habe. Ich versuche sie zu vermeiden. Hey, kann ich Ihnen bei dem Bücherei-Problem irgendwie helfen?«
»Nein, nein. Ich muss nur meine Gedanken sammeln und neue Energie schöpfen. Das hier ist keine Aufgabe für die Jägerin, sondern eine Aufgabe für…«
»… den Superwächter.«
Giles seufzte. »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Ich wünsche dir einen schönen Nachmittag. Und einen erfolgreichen Abend. Sei wachsam und vorsichtig.«
»Versprochen«, gab sie zurück.
Als Giles in sein Auto stieg, überlegte Buffy, ob sie vielleicht den Versuch der Vampire, sie am vorigen Abend zu fangen, erwähnen sollte. Als sie ihm an diesem Morgen davon berichtet hatte, hatte sie sich so kurz wie möglich fassen müssen, denn Mo Moon befand sich in unmittelbarer Nähe in der Bücherei. Und nun schien Giles wegen ihres Eindringens in seinen Zuständigkeitsbereich so schlecht gelaunt zu sein, dass sie lieber den Mund hielt.
Davon mal abgesehen, dachte sie, habe ich die greiffreudigen Vampir-Ladies doch ganz schön rumgescheucht, obwohl es reichlich seltsam war. Ich bezweifle, dass die es noch mal versuchen. Ich kam, ich killte, ich siegte.
Geschäft erledigt.
Während Giles wegfuhr, rief jemand ihren Namen: »Buffy…!« Die Stimme war leise, aber verzweifelt.
Bei der Nennung ihres Namens wirbelte Buffy herum, und ihr Herz nahm einen schnellen Rhythmus an, aber sie sah niemanden, der auf sie zukam oder ihr zuwinkte. Weiter entfernt sah sie Schüler, die umherschlenderten, Lehrer, die in Trauben herumstanden und miteinander sprachen, und Vögel, die sich Insekten aus dem Gras pickten. Meine Einbildung, dachte sie. Restfolgeschäden der Gehirnstörungen durch die Ausdünstungen im Lachenden Griechen. Ich muss mich zusammenreißen.
Doch auf einmal sah sie Brian Andrews vor sich. Er lag tot in einem flachen Tümpel. Ein anderes Bild zeigte den einige Jahre jüngeren Brian beim Aufheben ihrer Bücher. Er kniete auf dem Fußboden, sammelte die Bücher und Hefte für sie auf und versuchte Eindruck bei ihr zu schinden.
Buffy schüttelte die Bilder ab, beschloss aber, in einem Zeitschriftenladen anzuhalten und seinen Eltern eine Beileidskarte zu schicken.
Daheim gab es als Snack etwas weitaus Besseres als schnöde, im Laden gekaufte Müsli-Riegel. Selbstgemachte Limonen-Mohn-Muffins. Buffys Mutter Joyce war heute früher von der Arbeit nach Hause gekommen und machte gerade in der Küche Radau, als Buffy durch die Vordertür eintrat. Der wunderbare Geruch von Gebackenem schwebte in der Luft des Esszimmers, als Buffy es betrat.
»Mom? Du bist schon hier?«
»Glaub es oder glaub es nicht!«, ertönte die Stimme ihrer Mutter aus der Küche. Buffys Mutter arbeite hart in einer Kunstgalerie, wo sie wertvolle Exponate kaufte und verkaufte. In ihrem eigenen Haus war sie meist allein. »Ich habe heute darauf bestanden, ein paar Sachen zu machen, die Mütter nun mal so machen. Ich komme viel zu selten dazu.«
Ein ganzes Blech voll mit frisch gebackenen Muffins kühlte auf einem Tisch in der Küche ab, als Buffy zu ihrer Mutter kam. Mit einem Löffel gab Joyce Teigkleckse auf ein anderes Backblech. Buffy stellte ihren Rucksack auf einen Küchenstuhl und setzte sich auf einen anderen. Sie nahm sich einen Muffin und warf ihn zwischen ihren Händen hin und her, während die Delikatesse allmählich abkühlte. Neben dem Backblech lag ein ganzer Haufen Post. Zahlreiche farbenprächtige College-Broschüren lugten unter weißen Umschlägen mit Rechnungen hervor.
»Okay, Mom«, krähte Buffy neugierig. »Was ist los?«
»Was meinst du damit?«
»Ich kenne dich, du kennst mich, wir sind eine glückliche Familie, also lass uns bitte nicht um die heißen Muffins herumtanzen. Heute ist Montag, und es ist 16.15 Uhr, und trotzdem bist du hier.«
Joyce schob das Blech in den Ofen und wischte dann ihre Hände an der Schürze ab, die sich dabei löste.
Sie zuckte mit den Schultern, warf die Schürze auf die Arbeitsfläche und setzte sich neben ihre Tochter.
»Oh, es ist wirklich nichts«, behauptete sie. »Ich wollte dir nur mal wieder nahe sein. Wir haben so selten Zeit füreinander. Was gibt es Neues in der Schule? Irgendwas Aufregendes?«
Buffy zuckte mit den Schultern. »Zwei neue Schülerinnen, total auf Cordys Schiene. Und ich bin die neue beste Freundin von Allison Gianakous. Stell dir mal vor, sie will für den Platz von dem toten Jungen im Basketball-Team vorspielen.«
Joyce schaute nachdenklich. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich das für eine gute Idee halte. Jungen spielen sehr viel härter als Mädchen.«
Buffy riss ihre Augenbrauen in die Höhe.
»Oder nicht?«
»Mom, in letzter Zeit bist du praktisch zu keinem Spiel gegangen, sei es nun ein Jungen- oder Mädchenspiel. Da gibt es wirklich keinen Unterschied mehr. Und trotzdem, obwohl ich Allison gesagt habe, dass mir das vollkommen schnuppe ist, und das ist es tatsächlich, verstehe ich einfach nicht, warum Direktor Snyder sich so querstellt. Wenn jemand gut genug ist, sollte er oder sie eine Chance bekommen.«
Joyce nickte zustimmend. »Viele Schritte wurden für die Gleichberechtigung der Geschlechter unternommen. Aber ich schätze, es wird immer Rangeleien geben.«
»Mit Sicherheit.«
»Und da wir nun schon von weiblichen Aktivitäten sprechen«, holte Joyce mit einem strahlenden Lächeln aus, »in ein paar Wochen gibt es ein Fest, von dem du vielleicht gehört hast.«
Buffy hörte mit dem Kauen auf. Na endlich, dachte sie. Das Thema, auf das wir uns zubewegt haben, seitdem ich mich hingesetzt habe. »Du meinst nicht zufällig die Wahl der Miss Sunnydale High?«
»Mmm-hmm«, machte Joyce. »Wie es der Zufall so will, wird es in der Pause eine Mutter-Tochter-Modenschau geben. Geschäftsfrauen und ihre Töchter, die Kleidungsstücke von einigen ortsansässigen, unabhängigen Kleidungsgeschäften vorführen. Die Einnahmen kommen der Vereinigung der Einzelhändler von Sunnydale zu Gute. Auf die Weise wollen wir Wayland Enterprises willkommen heißen und ihnen gleichzeitig klar machen, dass wir uns nicht kampflos geschlagen geben.«
»Das ist schön.«
»Und ich wollte dich fragen, ob du mit mir zusammen auftreten würdest.«
Buffy schluckte den letzten Bissen des Muffins herunter, um Zeit zu gewinnen. Cordelia und ihre Clique würden einen Riesenspaß dabei haben, zuzusehen, wie sie mit ihrer Mutter den Laufsteg herabstolzierte, während die Teilnehmerinnen des Schönheitswettbewerbes sich hinter den Vorhängen ihre kleinen Miss Sunnydale-Ärsche ablachten. Sie atmete tief ein, schnappte sich einen weiteren Muffin und sagte: »Klar doch, Mom, warum nicht?«
»Aber…«, schob Joyce mit seltsam belegter Stimme nach. »Bevor du ja sagst, solltest du wissen, dass dein Vater heute Nachmittag angerufen hat. Er lässt dir ausrichten, dass er an genau dem Wochenende eine Hütte in den Bergen gemietet hat, und hofft, dass du ihm dort beim Wandern Gesellschaft leistest.«
»Oh«, war alles, was Buffy herausbrachte. Oh-oh! Gegensätzliche Pläne der Elternteile!
»Es ist natürlich deine Entscheidung. Ich werde auch keinen Druck auf dich ausüben.«
»Natürlich nicht«, sagte Buffy. Hah!
Sie schmiss sich die Überreste des Muffins ein und ging mit ihren Büchern nach oben in ihr Schlafzimmer. Ihre Entscheidung, egal wie, würde ein Elternteil enttäuschen. Na klasse.
Buffy verbrachte die nächsten Stunden mit dem Durchblättern der College-Broschüren, las sich ihre Hausaufgaben für den Politik- und Physikunterricht durch und dachte über Modenschauen und Holzhütten nach. Eine kurze Zeit fühlte sie sich fast normal, auf fast schon glorreiche Weise gewöhnlich. Die Sonne ging unter. Sie schaltete die Lampe neben ihrem Bett ein.
Ein paar Minuten später rief Joyce Buffy zum Abendessen. Nachdem Buffy vom Bett aufgestanden war, warf sie einen flüchtigen Blick aus dem Fenster und sah zwei Vampire unten auf dem Fußsteig, vor ihrem Rasen. Es waren ihre alten Bekannten, gegen die sie am Sonntagabend nach dem Essen im Lachenden Griechen gekämpft hatte. Sie schienen miteinander zu streiten. Mit rasendem Puls griff sich Buffy ein paar Pflöcke aus ihrer Schreibtischschublade und sauste die Treppe hinunter in die Nacht. Mit ihren Sinnen tastete sie die Dunkelheit ab. Sie schnüffelte, starrte, versuchte, die Anwesenheit der Vampire zu spüren.
Aber sie waren fort.
Und was sollte das jetzt?
Sie ging zurück ins Haus, um sich Joyces schlanke Küche zu gönnen, schüttelte ihren Kopf und überlegte sich, dass sie das Wort »normal« wohl aus ihrem Vokabular streichen sollte. Es gehörte da einfach nicht hin.
»Und das wird es auch nie«, flüsterte sie mürrisch.