PROLOG
Rot gefärbtes Licht brach sich auf dem blutbefleckten Beil, das einen kurzen Moment in der Luft schwebte und dann niedersauste, um widerstandslos durch das dicke Fleisch zu schneiden und im darunterliegenden Holz zum Stillstand zu kommen. Das Beil wurde gedreht, herausgezogen und wieder emporgehoben. Nach einem Moment des Zögerns ruckte es wieder hinab und in das Fleisch hinein. Hautfetzen, Blut und Knochen waren über den Boden und die Wände verstreut, wie grässliche, vom Wind aufgewirbelte Blätter. Das Beil wurde wieder herausgezerrt. Der Mann wischte sich mit seinen dicken Wurstfingern den Schweiß von der Augenbraue, knirschte mit den Zähnen und ließ das Beil in hohem Bogen erneut herabfallen.
»Dad«, begann das hochgewachsene, braunhaarige Mädchen, das mit verschränkten Armen unscheinbar gegen den Kühlschrank lehnte. »Es wäre ’ne ganze Ecke sinnvoller gewesen, einfach fertige Hühnerstückchen zu kaufen. Sieh dir nur mal diese unglaubliche Schweinerei an.«
»Gar kein Problem«, antwortete Mr. Gianakous, während das Beil wieder brutal schnell hinabstieß, einen Hühnerflügel abtrennte und das heimatlos gewordene Teil quer über den Tresen sausen ließ. Die Beweise für Mr. Gianakous’ mangelhafte Kochkünste lagen überall in der funkelnagelneuen Küche des Restaurants verteilt, das seine Pforten demnächst öffnen sollte. Hühnerteile, eine Pfanne voll angebrannter Weinsoße, ein klumpiger Teigball, der ursprünglich mal ein Pita-Brot hatte werden sollen.
»Und ob es hier ein Problem gibt«, ließ Allison Gianakous nicht locker. »Wäre es nicht vielleicht besser, wenn wir einen Koch einstellen würden? Einverstanden?«
»Oh, aber ich kann kochen!«, insistierte Mr. Gianakous. Er drehte sich um und blitzte seiner Tochter ein gönnerhaftes Lächeln entgegen. Sein Aussehen wurde von den rasch weniger werdenden Haaren, einem schwarzen Schnauzer und dem reichlich vorhandenen Doppelkinn bestimmt. Noch vor gut einem Monat war er Versicherungsvertreter gewesen. Jetzt war er der Eigentümer und Chefkoch des ersten offiziellen griechischen Restaurants in Sunnydale, Kalifornien. »Meine Träume haben mir verraten, dass dies meine wahre Bestimmung ist. Der Lachende Grieche wird ein fantastisches Restaurant werden, mein Mädchen. Zerbrich dir deswegen bloß nicht deinen hübschen kleinen Kopf.«
Allison knirschte wütend mit den Zähnen. »Dad, ich bin nicht hübsch und ich bin nicht klein. Ich wünschte wirklich, du würdest das nicht mehr sagen.«
Ihr Vater wackelte mit seinen Augenbrauen. »Das kulinarische Talent haben mir meine griechischen Vorfahren in die Wiege gelegt«, meinte er, während er das Beil in das Huhn hineinkrachen ließ und das Rückgrat mit einem peitschenden Knall zerteilte. »Und du hast deine Schönheit von deiner Mutter geerbt, Gott sei ihrer Seele gnädig.«
»Und wenn wir nun jemanden einstellen, der, na ja, mehr Erfahrung hat?«, sinnierte Allison. »Nur um uns in der Anfangszeit zur Hand zu gehen? Oder wir bitten Alex, nach seinen Kursen am Crestwood vorbeizuschauen. Sein Auberginen-Dip ist eigentlich ziemlich lecker und…«
Mr. Gianakous beugte sein Gesicht in Allisons Richtung. Sein angespannter Gesichtsausdruck verriet ihr, dass sie zu weit gegangen war. Radello Gianakous neigte als Vater nicht zu Gewalt, aber er wollte in jeder Situation die Kontrolle haben. In all ihren 16 Jahren hatte sich Allison nie stark genug gefühlt, um ihn herauszufordern.
»Alexander braucht seine Freizeit«, beharrte ihr Vater unnachgiebig. »Er geht jetzt auf das College und College-Schüler müssen gelegentlich ein bisschen Dampf ablassen, Spaß haben und die Mädchen beeindrucken. Für die Reife eines Mannes ist das genauso von Bedeutung, wie es wichtig ist, sich in einem Haufen Bücher zu vergraben.«
»Aber Dad…«
»Kein Aber.« Mr. Gianakous lächelte plötzlich und zerzauste Allisons Haare mit seinen vom Hühnermassaker klebrigen Fingern. »Du bist mir wirklich eine große Hilfe. Zusammen machen wir den Lachenden Griechen zu einem Restaurant, das Sunnydale nie wieder vergessen wird.«
»Oh«, stimmte Allison zu, »darauf kannst du wetten. Sunnydale wird dies hier nie wieder vergessen.« Mit leiser Stimme fügte sie hinzu: »Und mir nie vergeben!«
Der Chefkoch widmete sich wieder seiner noch unerledigten Aufgabe . Er drosch noch ein paar Mal auf das Huhn ein und stopfte die Teile dann in eine Backform. Den Drehknopf des übergroßen Ofens ließ er irgendwo zwischen 300 Grad und 320 Grad Celsius einrasten, ohne auch nur einmal in einem Kochbuch nachgesehen zu haben, wieviel Grad bei welcher Backzeit zum Gelingen nötig waren.
»Ich geh und male das Schild an«, murmelte Allison und eilte aus der Küche hinaus zur Speisekammer neben dem Saal. Sie ließ die schwere Tür hinter sich ins Schloss fallen, zog an der Schnur für die nackt an der Decke hängende Glühbirne und sah zu, wie diese hin und her schaukelte. Schummeriges Licht tastete über Blechbüchsen und Kisten voller Nahrung, Gewürzgläser und zusammengelegte Tischtücher - und über die Spinnweben in den Winkeln. Auf dem untersten Brett eines Wandregals stand eine farblose, aus Holz geschnitzte Figur, die eine Servierplatte emporhielt. Radello hatte sie sich vom Handwerks-Leistungskurs der Highschool von Sunnydale maßfertigen lassen, sehr zu Allisons Missfallen. Eine von ihren vielen Aufgaben war es, die Figur so anzumalen, dass sie aussah wie der Göttervater Zeus, der ein Tablett voller Tintenfische präsentiert. Wenn die Figur dann über der Eingangstür des Restaurants hängen würde, sollte jedem Passanten klar sein, dass in diesem Lokal echt griechische Küche serviert wird.
»Der Mann ist echt unglaublich!«, zischte sie dem gesichtslosen hölzernen Gott zu. »Er träumt davon, dass er ein Chefkoch sein soll, und glaubt auch noch daran! Kauft dieses alte Haus und verwandelt es in ein Restaurant. Hat wahrscheinlich meine Rücklagen für’s College genommen. Und was soll ich jetzt machen? Die Klappe halten und mitmachen, wie immer. Er hat sich seinen Traum erfüllt und ich krieg Alpträume.«
Sie ging zum Fenster hinüber und zog das Rouleau hoch. Draußen schien die Sonne. Obwohl das Fenster über einer Gasse lag, konnte Allison zu ihrer Linken die Straße sehen, als sie ihr Gesicht an das Fensterglas presste. Es war später Mittwochnachmittag, und ganz Sunnydale beschäftigte sich mit den Dingen, die man an einem späten Mittwochnachmittag halt üblicherweise machte. Autos flitzten hin und her. Ein Pärchen auf der anderen Straßenseite schaute in die Auslage von Erins Irischen Antiquitäten. Schüler der Sunnydale High bummelten auf ihrem Weg zur Einkaufsmeile vorbei, darunter Ben Rothman und Sanford Jennings, beides kräftige und nicht übel aussehende Oberstufen-Schüler, die zum Ringer-Team der Highschool gehörten. Kurz darauf folgte eine Clique angesagter Mädchen, angeführt von der perfekt hergerichteten Cordelia Chase, die die schlaksige und unbeholfene Allison selbstverständlich niemals grüßte, da Cordelia total angesagt und Allison total abgesagt war. Ein paar Einzelgänger folgten mit einigem Abstand. Dann sah Allison Buffy Summers, Xander Harris und Willow Rosenberg, die sich angeregt unterhielten. Die drei schenkten der Tatsache, dass eine ihrer Klassenkameradinnen fortan dazu verdammt sein würde, jede freie Minute mit ihrem in Kochdingen absolut, total und sowas von unbegabten Vater in einem stinkigen, verräucherten Restaurant zu verbringen, keinerlei Beachtung.
»Es ist einfach nicht fair«, schimpfte Allison, deren Worte die Scheibe beschlagen ließen. Sie sank auf einen Schemel nieder und ballte die Fäuste. Ihr Vater hatte immer über ihr Leben bestimmt. Ihre Mutter war gestorben, als Allison drei Jahre alt war. Seitdem hatte Radello Gianakous die Geschicke der Familie nach seinem Gutdünken gelenkt, was bedeutete, dass Allisons Bruder und Vater so ziemlich alles machen konnten, wonach ihnen der Sinn stand, und Allison nicht. Radello hatte einen Computerladen besessen, einen Golf-Shop, Versicherungen verkauft und nun das hier. Allisons Bruder Alex durfte Sport treiben, ins Kino gehen und sich die Nächte um die Ohren schlagen, wenn es ihm in den Kram passte - selbst als er noch auf die Highschool ging.
Für Allison galten andere Regeln. Sie musste sofort nach Schulschluß auf der Matte stehen. Nur ein einziges Mal war sie mit ihrem Vater über die Einkaufsmeile gebummelt. Keine Clubs, kein Kino, keine Parties. Kein Wunder, dass sie keine Freunde hatte. Radello litt noch immer unter dem Verlust seiner Frau, und Allison wusste, dass er auf seltsame Weise glaubte, sie zu beschützen, aber es war nicht richtig, dass sie deswegen leiden musste. Wann würde sie an der Reihe sein, neue Dinge auszuprobieren? Manchmal hatte sie das Gefühl, ein Schmiedehammer würde ihr auf den Schädel prügeln und sie immer tiefer im Boden versinken lassen. Schon bald würde es sie gar nicht mehr geben.
»Es muss doch einen Ausweg geben«, stöhnte sie. »Ich brauche Hilfe!«
Allison konnte durch die Wand hindurch hören, wie ihr Vater es schaffte, eine Ballade zu singen und dabei keinen einzigen Ton zu treffen. Immerhin war er gut gelaunt.
Sie erhob sich von dem Schemel und strich mit der Hand über das glatte Holz der Zeus-und-Tintenfisch-Schnitzerei. Ihr Blick fiel auf das griechische Wörterbuch, das neben der Schnitzerei stand. Allison hatte ihrem Vater das Wörterbuch für den Fall gekauft, dass mal ein Kunde in den Laden käme, der tatsächlich Griechisch sprechen konnte. Ihr Vater hatte das Buch aber bloß hier in dem Lagerraum verstaut. Allison ging ein Licht auf. Obwohl Radello vielleicht ein paar Brocken Griechisch sprechen konnte, war er ebensowenig in der Lage Griechisch zu lesen, wie er zum Mond fliegen konnte.
Geschweige denn kochen.
Sie klappte das Wörterbuch bei »Hilfe, bitten um« auf. In Griechisch stand dort »Εητώ βοήδεια«. Sie schnappte sich einen Block mit Bestellformularen und einen Stift und kritzelte den Begriff auf den obersten Papierbogen. Sie suchte das Wort »Göttin«, fand aber nur »Gott«.
»Na klasse«, murrte sie, »nun sparen sie auch schon bei den Wörterbüchern.«
Dann fand sie die Worte für »weiblich« und »Geist«, und schrieb sie neben ihren Hilferuf.
»Εητώ βοήδεια πνεύμα δηλμχός.«
Mit leiser Stimme flüsterte sie: »Hilf mir, Göttin.«
Es klang absolut lächerlich. Schließlich handelte es sich bei den Göttern und Göttinnen um jene behämmerten Figuren, die sie auf die Wände des Speisesaals gemalt hatte. Wirkliche Götter oder Göttinnen gab es nicht.
Oder gab es sie doch?
Allison schüttelte ein Tischtuch aus und hängte es sich wie eine griechische Toga um. Aus Olivenbüchsen, Knoblauch-Mixbechern und ein paar getrockneten Feigenblättern formte sie einen Kreis, in den sie sich stellte, den Stapel Papierbögen zur Decke hoch haltend. »Hilf mir, Göttin«, bat sie mit fester Stimme. »Ist mir vollkommen schnurz, welche Göttin du bist. Nur hilf mir.« Sie kicherte und hörte auf.
Sie war griechischer Abstammung. Das hier waren die Gottheiten ihrer Kultur. Warum sollte ich sie nicht ernst nehmen? Einen Versuch war es wert. Und selbst wenn es nicht funktionierte, hätte niemand eine Ahnung davon, wie lächerlich sie sich hier gemacht hatte.
Sie senkte ihren Kopf und schloss ihre Augen. Sie verlangsamte ihre Atmung, konzentrierte jeden Muskel und jeden Nerv in ihrem Körper auf die Bitte, die sie erhob.
»Hilf mir, Göttin.«
Hilf mir, hilf mir, hilf mir, hilf mir.
Sie wartete und horchte. In der Küche war ihr Vater damit beschäftigt, Pfannen hin und her zu scheppern.
Hilf mir, hilf mir, hilf mir, hilf mir.
Und dann war da auf einmal etwas. Kühle, nach Rosen duftende Luft, die sie kurz liebkoste. Das Papier in ihrer Hand erzitterte. Doch das war schon alles. Keine gespenstische Erscheinung, die einen Lorbeerkranz trug und frohe Kunde brachte, weit und breit in Sicht.
Allison wartete und lauschte.
Aber da war gar nichts - wenn es da soeben überhaupt einen Luftzug gegeben hatte. »Göttin?«, flüsterte sie. Sie kam sich schlagartig wieder dämlich vor.
Doch die einzig wahrnehmbare Stimme war die ihres Vaters, der um Hilfe rief, weil ihm gerade ein Tablett mit Pasteten heruntergefallen war.
Allison schälte sich aus dem Tischtuch heraus, stellte die Büchsen wieder an ihren Platz und lief zur Küche.