In seinem kleinen Büro an Bord des Schiffes kippelte Tomas Ramirez mit seinem Stuhl auf die Hinterbeine und musterte den Grünuniformierten auf der anderen Seite des Schreibtischs. Major Andrew LaFollet gab den Blick aus ebenso forschenden grauen Augen zurück. Zwischen den beiden Männern herrschte unterschwellige Spannung – keine Verärgerung, kein Mißtrauen, sondern die Wachsamkeit, die zwei Wachhunden bei ihrem ersten Aufeinandertreffen anzumerken ist.
»Also, Major«, fragte Ramirez schließlich, »verstehe ich Sie richtig, daß Sie und Ihre Männer auf Dauer Lady Harrington zugeteilt sind? Aus dem, was Commander Chandler mir sagte, habe ich geschlossen, daß es sich um eine vorübergehende Verwendung auf Befehl von Protector Benjamin handelte.«
»Ich bedaure, daß es zu diesem Mißverständnis gekommen ist, Sir.« Für einen Grayson war LaFollet hochgewachsen. Er besaß einen kräftigen, muskulösen Körperbau, aber er war fast einen Kopf kleiner als Ramirez und wirkte neben dem Colonel beinahe winzig. Außerdem war er zehn Jahre jünger als Ramirez, aber durch die Prolong-Behandlungen, die Ramirez erhalten hatte, sahen sie gleichaltrig aus. Dennoch war weder in LaFollets Gesicht noch in seiner Körperhaltung Unsicherheit zu entdecken. Er fuhr sich mit der Hand durch das dunkle, rötlichbraune Haar, während er die Stirn runzelte und sich offensichtlich überlegte, wie er sich diesem Fremden am besten verständlich machte.
Er hob den Blick zu einem Punkt über Ramirez’ Kopf. »Im Augenblick, Colonel«, sagte er in seinem langsamen, leisen graysonitischen Akzent, »scheint die Gutsherrin nicht sehr klar zu denken.« Der Ausdruck seiner Augen, als er den Blick wieder senkte, warnte den Colonel, daß jeder es bedauern würde, der versuchte, ihm diese Aussage als Kritik auszulegen. »Ich vermute, sie glaubt, wir gehörten nur vorübergehend zu ihrem Inventar.«
»Und damit hat sie unrecht?« fragte Ramirez nach einem Augenblick.
»Jawohl, Sir. Nach graysonitischem Gesetz muß ein Gutsherr jederzeit von seiner – oder in diesem Fall ihrer – Leibwache begleitet werden, ob auf Grayson oder nicht.«
»Auch im Sternenkönigreich?«
»Ob auf Grayson oder nicht«, wiederholte LaFollet, und Ramirez blinzelte.
»Major«, sagte er dann, »ich weiß, daß Sie nicht die Gesetze machen, aber Lady Harrington ist auch Offizier in der Navy Ihrer Majestät.«
»Dessen bin ich mir bewußt, Sir.«
»Aber was Sie vielleicht nicht wissen, ist die Tatsache, daß das Reglement die Anwesenheit bewaffneter Zivilisten oder Angehöriger fremder Nationen in einem Schiff der Königin verbietet. Um es ganz offen zu sagen, Major LaFollet, Ihre Anwesenheit in der Nike verstößt gegen das Gesetz.«
»Das tut mir leid zu hören, Colonel«, entgegnete LaFollet höflich, und Ramirez seufzte.
»Sie beabsichtigen wohl nicht, mir die Sache irgendwie leichter zu machen, nicht wahr, Major?« fragte er trocken.
»Es liegt keinesfalls in meiner Absicht, Ihnen, der Königlich-Manticoranischen Navy oder dem Sternenkönigreich Schwierigkeiten zu bereiten, Colonel. Ich beabsichtige lediglich, meine Pflicht zu tun, wie es mein Eid von mir verlangt, und meine Gutsherrin zu schützen.«
»Die Royal Marines schützen die Kommandanten der Sternenschiffe Ihrer Majestät«, stellte Ramirez fest, und diesmal klang seine tiefe Stimme tonloser und bestimmter.
»Bei allem schuldigen Respekt, Colonel, aber das geht an der Sache vorbei. – Und«, setzte LaFollet mit unbewegtem Blick hinzu, »zwar weiß ich genau, daß nichts, was geschehen ist, Ihre Schuld oder die der Royal Marines war, aber Lady Harrington hat doch genug mitgemacht.« Ramirez verkrampfte einen Augenblick lang die Kiefer, dann holte er tief Luft und zwang sich, sitzen zu bleiben. LaFollet hätte nicht in respektvollerem Ton sprechen können, und zum Teil mußte Ramirez ihm in seiner ruhigen Anklage sogar recht geben. Er überlegte einen Moment lang, dann beschloß er, einen anderen Weg zu gehen.
»Major, nachdem unser Parlament nun beschlossen hat, der Volksrepublik Haven den Krieg zu erklären, und wir die aktiven Operationen wiederaufnehmen, könnte es Jahre dauern, bis Lady Harrington wieder nach Grayson zurückkehrt. Sind Sie und Ihre … wie viele – zehn Männer? Zwölf?«
»Wir sind insgesamt zwölf, Sir.«
»Also zwölf. Sind Sie alle zwölf willens, so lange außerhalb Graysons zu verbringen, während das Corps bereitsteht, für Lady Harringtons Sicherheit zu garantieren?«
»Sie wird nicht ständig an Bord des Schiffes sein, Sir. Wann immer sie von Bord geht, läßt sie die Marineinfanterieposten zurück. Und um Ihre Frage zu beantworten: Solange wir bei unserer Gutsherrin sind, befinden wir uns nicht außerhalb Graysons.« Ramirez konnte nicht verhindern, daß er flehentlich zur Decke blickte, und LaFollet gestattete sich ein schmales Lächeln. »Nichtsdestotrotz, Sir, weiß ich natürlich, wie Ihre Frage gemeint ist, und die Antwort lautet ja. Wir sind willens, soviel Zeit außerhalb Graysons zu verbringen, wie wir müssen.«
»Sie können für jeden einzelnen Ihrer Männer sprechen?«
»Können Sie für jeden einzelnen Ihrer Männer sprechen, Sir?« LaFollet hielt dem Starren des Colonels stand, bis Ramirez grimmig nickte. »Das kann ich allerdings, Sir. Und jeder von uns ist ein Freiwilliger, was meines Wissens auch auf Ihre Marines zutrifft.«
»Darf ich fragen, weshalb Sie sich freiwillig gemeldet haben?« Im falschen Tonfall hätte diese Erkundigung eine Beleidigung bedeutet; wie Ramirez sie stellte, signalisierte sie aufrichtige Neugier, und so zuckte LaFollet die Schultern.
»Sicher, Sir. Vor dem Putschversuch Makkabäus’ war ich der Palastgarde zugeteilt. Ebenso mein älterer Bruder, er diente in Protector Benjamins Leibwache. Er wurde bei dem Putschversuch getötet, und Lady Harrington übernahm nicht nur seine Aufgabe, den Protector zu schützen, sie tötete den Mörder meines Bruders darüber hinaus mit bloßen Händen – und danach schützte sie den ganzen Planeten vor der Vernichtung.« Er sah Ramirez ernst in die Augen. »Grayson schuldet ihr seine Freiheit; meine Familie steht bei ihr in Ehrenschuld, weil sie die Aufgabe erfüllt, die mein Bruder nicht mehr erfüllen konnte, und seinen Tod gerächt hat. Ich habe mich an dem Tag zur Leibwache der Gutsherrin von Harrington gemeldet, an dem die Gründung des Gutes bekanntgegeben wurde.«
Ramirez lehnte sich noch weiter zurück und sah den Major prüfend an. »Ich verstehe. Vergeben Sie mir nun folgende Frage, Major. Ich weiß aus den Nachrichten, daß längst nicht alle Graysons erfreut darüber sind, eine Frau als Gutsherrn zu haben. Können Sie, wenn Sie diese Tatsache berücksichtigen, denn sicher sagen, daß alle Ihre Männer Ihre Loyalität teilen?«
»Sie alle meldeten sich freiwillig für diese Aufgabe, Colonel.« Zum ersten Mal war in LaFollets Stimme ein frostiger Unterton zu bemerken. »Was ihre persönliche Motivation angeht, so fiel Armsman Candless’ Vater an Bord der Covington in der Schlacht um Blackbird. Corporal Mattinglys älterer Bruder starb in der gleichen Schlacht an Bord der Saul. Armsman Yard verlor einen Vetter und einen Onkel in der Ersten Schlacht von Jelzins Stern; ein anderer Vetter überlebte die Schlacht von Blackbird nur, weil Lady Harrington darauf bestand, daß alle graysonitischen Rettungskapseln eingeholt wurden, obwohl jederzeit die Saladin zurückkehren konnte, bevor sie gefunden wurden. Sein Sender war beschädigt, und unsere Ortungsgeräte hätten ihn nicht aufspüren können – die der Fearless fanden ihn. In meiner Abteilung – in der gesamten Leibwache – gibt es nicht einen Mann, der nicht eingetreten wäre, weil er in Lady Harringtons Schuld steht, aber das ist nur ein Teil der Erklärung, Sir. Sie ist jemand Besonderes, Sir. Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll, aber …«
»Müssen Sie gar nicht«, brummte Ramirez, und LaFollet sah ihn erstaunt an. Etwas in den Augen des Colonels ließ ihn sich entspannen und den Blick senken. Er starrte aufmerksam auf seine Hand, die über die Armlehne des Stuhles strich.
»Für … für einen Grayson ziemt es sich eigentlich nicht, es auszusprechen, Sir«, sagte er bedächtig, »aber wir sind in ihre Leibwache eingetreten, weil wir sie lieben.« Er stellte die Handbewegung ein und sah zu Ramirez auf. »Und noch mehr, sie ist unsere Gutsherrin, unsere persönliche Lehnsherrin. Wir schulden ihr die gleiche Loyalität wie Sie Ihrer Königin, Colonel, und wir sind entschlossen, unsere Pflicht zu erfüllen. Wenn ich recht verstanden habe, dann hat der Protector unseren Botschafter angewiesen, Ihrem Premierminister die gleiche Information zu übermitteln.«
Ramirez strich sich langsam über die Stirn. Er war in der Lage, Unnnachgiebigkeit zu erkennen, wenn er ihr begegnete, und der Status des Captains als auswärtige Adelige warf Fragen auf, bei denen er wirklich froh war, sie nicht lösen zu müssen. Und noch wichtiger, LaFollet hatte einen wesentlichen Punkt angesprochen, ohne vielleicht wirklich zu wissen, wie wichtig er für die Sicherheit des Captains war. Schließlich war es eher unwahrscheinlich, daß North Hollow einfach aufgeben würde, wenn es Summervale nicht gelang, sie zu töten. Sobald sie das Schiff verließ, konnten Ramirez’ Marines für ihre Sicherheit nicht mehr garantieren, aber nach allem, was er bisher von LaFollet und seinen Leuten gesehen hatte, bedurfte es mindestens einer taktischen Kernwaffe, um an ihnen vorbeizukommen.
Ramirez fragte sich, inwiefern dieser Eindruck sein Urteil wohl beeinflussen mochte. Wahrscheinlich stärker, dachte er, als ich gestatten sollte. – Nein, das ›wahrscheinlich‹ kann ich wohl weglassen. Ganz bestimmt hatte der Eindruck mehr Gewicht, als er haben sollte, und Ramirez mußte feststellen, daß ihm dies letztlich gleichgültig war.
»Also gut, Major«, sagte er schließlich. »Ich kann Ihre Einstellung verstehen, und unter uns gesagt bin ich froh, daß Sie hier sind. Solange und falls mir zuständige vorgesetzte Stellen nicht befehlen, gegen Ihre Leute wegen des Tragens von Waffen an Bord des Schiffes einzuschreiten, werden Sie Ihre Waffen behalten. Ich werde außerdem dafür sorgen, daß einer Ihrer Leute zusammen mit den normalen Marineinfanterieposten vor der Kabine der Kommandantin Wache hält. Man wird Sie informieren, sobald Captain Harrington das Schiff verläßt. Alles weitere müssen Dame Honor und Sie unter sich ausmachen, aber da ich den Captain kenne, bezweifle ich sehr, daß sie Sie einen Posten innerhalb ihrer Kajüte aufstellen läßt, ganz gleich, was das graysonitische Gesetz vorsieht.«
»Selbstverständlich sieht es so etwas nicht vor, Sir.« Die Vorstellung ließ LaFollet erröten, und der Colonel grinste hinter vorgehaltener Hand. Dann wurde er wieder ernst.
»Ich fürchte, es gibt noch eine Sache, die Sie akzeptieren müssen, Major LaFollet. Nicht von mir oder der Navy, sondern von Dame Honor selbst.« Fragend hob LaFollet eine Augenbraue, und Ramirez antwortete mit einem Seufzen. »Sie wissen natürlich über Captain Tankersleys Tod Bescheid?« Der Major nickte, und Ramirez zuckte unfroh mit den Schultern. »Captain Harrington kennt den Verantwortlichen. Ich rechne damit, daß sie deswegen Schritte unternimmt, und dann werden Sie nicht in der Lage sein, sie zu beschützen.«
»Das wissen wir, Sir. Es gefällt uns nicht, Colonel, aber um offen zu sein, selbst wenn wir könnten, würden wir nicht versuchen, sie daran zu hindern.«
Ramirez konnte angesichts von LaFollets kalter, mitleidloser Antwort sein Erstaunen kaum verbergen. Die graysonitischen Moralmaßstäbe waren starr, eisern und unnachsichtig; schon der Gedanke, daß unverheiratete Menschen ein Verhältnis miteinander hatten, verletzte ungefähr ein Drittel davon. LaFollet grinste dünn über Ramirez’ Verwunderung, kommentierte sie allerdings mit keinem Wort. Dem Colonel kam allmählich zu Bewußtsein, wie sehr die graysonitischen Untertanen der Kommandantin ihr wirklich ergeben waren.
»Nun, Major«, sagte er daher, erhob sich und reichte LaFollet die Hand, »in diesem Fall heiße ich Sie an Bord willkommen. Kommen Sie mit, ich stelle Sie meinen Offizieren und meinen ranghohen Unteroffizieren vor. Danach kümmern wir uns darum, daß Sie und Ihre Leute Untergebracht werden, und passen den Wachplan an.«
»Vielen Dank, Sir.« In Ramirez’ Pranke ging LaFollets Hand beinahe verloren, aber der Grayson erwiderte den Druck fest. »Wir wissen das zu schätzen, Colonel.«
Honor öffnete die Augen. Zum erstenmal seit viel zu langer Zeit spürte sie beim Erwachen etwas anderes als erstarrte Leere. Der Schmerz war noch immer vorhanden, eingeschlossen in seinen Panzerkokon, denn in einer Hinsicht hatte sich nichts geändert: Sie wagte nach wie vor nicht, ihm freien Lauf zu lassen, bevor sie sich um die Ursache gekümmert hatte. In ihrem Herzen aber war neue, giftige Gewißheit; das Gift war ihr wohlvertraut. Sie kannte nun ihren Feind – sie war nicht länger das Opfer des Unbegreiflichen, sondern von etwas, das sie nur zu gut verstand. Und diese Tatsache hatte das Eis, das ihre Seele einschloß, zum Springen gebracht.
Als sie sich im Bett aufsetzte und sich das Haar aus den Augen streifte, rollte Nimitz sich von ihrem Brustkasten. Auch in ihm konnte Honor den Unterschied spüren. Der Baumkater hatte Denver Summervale von der ersten Sekunde an gehaßt – und nicht nur wegen dem, was er Honor angetan hatte; Nimitz hatte auf eigene Weise auch Paul Tankersley lieben gelernt. Und das machte wohl den Unterschied in ihm wie auch in ihr aus. Nun kannten sie den Verursacher ihres Schmerzes und den Grund dafür, und der Konflikt zwischen ihnen – zwischen Honors Drang zur Auflösung und Nimitz’ grimmiger Entschlossenheit, sie am Leben zu erhalten – war in einem gemeinsamen, unversöhnlichen Vorsatz verschwunden, ihre Feinde zu vernichten. Sie schwang die Füße auf die Decksohle und ließ die Hand leicht und liebevoll auf der Stelle ruhen, an der Paul hätte liegen sollen. Nun war sie dazu in der Lage; nun konnte sie sich dem Schmerz stellen, auch wenn sie noch nicht wagte, ihn in vollem Ausmaß zu empfinden. Wie seltsam, dachte sie in einem Winkel ihres Verstands. Sie hatte so viele Geschichten darüber gehört, wie die Liebe einem den Verstand rettete; niemand hatte je davon berichtet, daß Haß den gleichen Zweck erfüllen konnte.
Honor stand auf und ging ins Bad, um sich die Zähne zu putzen. In ihrer Erinnerung spielte wieder der Speicherchip ab, den Ramirez ihr gegeben hatte. Sie war sich vollkommen sicher, daß der Colonel die Aufzeichnung ein wenig bearbeitet hatte; dennoch hegte sie nicht den leisesten Zweifel an deren Wahrheitsgehalt. Unglücklicherweise würde sie niemals in einer Gerichtsverhandlung als Beweis zugelassen werden, selbst wenn Honor gewagt hätte, diese Aufzeichnung den Behörden vorzulegen. Ramirez war in bezug auf die Umstände mehr als nur zurückhaltend gewesen, aber die eigentümliche, schmerzverzerrte Atemlosigkeit von Summervales Stimme, als er unverzüglich zu sprechen begann, verriet ihr alles, was sie wissen mußte, über die Methode, mit der man ihn ›überredet‹ hatte, die Informationen preiszugeben. Sie beendete das Zähneputzen. Wenn das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, auch noch immer fahl und geschlagen erschien, so erkannte sie es doch wenigstens wieder, und in den Augen bemerkte sie Verwunderung, Staunen sogar darüber, was all diese Menschen für sie riskierten.
Sie spülte die Zahnbürste aus, zog den Stecker und verstaute sie, ohne die Augen von ihrem Spiegelbild abzuwenden. So viele Kameraden halfen ihr und setzten dazu die eigene Karriere aufs Spiel. Sie befanden sich weiterhin in Gefahr, denn ewig konnte der Handstreich von Gryphon nicht geheimgehalten werden. Summervale selbst würde zwar keine Anzeige erstatten, denn jede Untersuchung würde letztendlich den Speicherchip ans Tageslicht bringen, und ganz gleich, ob die Aufzeichnung mit rechtmäßigen Mitteln erlangt worden war oder nicht, einen Mann in seinem Beruf mußte schon ihre Existenz ruinieren. Möglicherweise hätte solch eine Enthüllung sogar seinen Tod zur Folge – um sicherzustellen, daß er nicht auch über andere ›Klienten‹ ein Wort verlor.
Aber selbst wenn Summervale den Mund hielt, früher oder später würden Gerüchte aufkommen. Zu viele Leute kannten zu viele Einzelheiten. Früher oder später würde irgend jemand über einem Bier oder in einer Runde von Kameraden ein Wort zuviel verlieren, denn die Geschichte war einfach zu gut, um sie zu verschweigen. Honor bezweifelte, daß auch nur ein Aspekt jemals bewiesen werden konnte, denn sie kannte McKeon und Ramirez zu gut, als daß sie angenommen hätte, die beiden hätten sich nicht gedeckt – aber das hieß noch lange nicht, daß nicht irgend jemand in einer Behörde den Gerüchten nicht trotzdem Glauben schenken würde.
McKeon und Ramirez mußten sich dessen genauso bewußt sein wie Honor, und sie hatten es dennoch getan – für sie. Vielleicht, ja vielleicht bedeutete das, daß nicht allein der Haß sie aus ihrem zombiegleichen Zustand herausgeholt hatte. Ja – die Bereitschaft der Leute, um ihrer willen solch ein Risiko einzugehen, war ebenso wichtig gewesen wie ihr Haß, und diese Bereitschaft entsprang einer eigenen Sorte Liebe.
Ihre Augen brannten, und so kniff sie sie fest zu. Ihre Lippen bebten, als schließlich doch die Tränen sich Bahn brachen. Sie rannen ihr die Wangen hinab, so geräuschlos wie das Fallen von Schnee und in seltsamer Weise sanft. Den Panzer, den sie starrsinnig an Ort und Stelle hielt, um ihre Entschlossenheit zu bewahren, konnten die Tränen nicht davonspülen, aber sie wuschen ihn, … reinigten ihn auf mysteriöse Weise. Danach bestand er nur noch aus Panzer, aber nicht mehr aus Eis. Honor lehnte die Stirn gegen den Spiegel und ließ ihren Tränen freien Lauf. Nimitz hopste auf die Toilette und stellte sich auf die Echtpfoten, klammerte die Echthände um Honors Oberarm und drückte seine Schnauze auf ihre Schulter. Sein leises, fast unhörbares Maunzen vibrierte in sie, und mit tränenüberströmtem Gesicht wandte sie sich ihm zu und riß ihn in ihre Umarmung.
Sie wußte hinterher nicht zu sagen, wie lange sie geweint hatte, und es spielte auch überhaupt keine Rolle. Diese Zeit konnte man nicht bemessen, nicht in Minuten und Sekunden schneiden. Schon der Versuch hätte sie entwertet. Aber als Honor ihre Tränen trocknete, wußte sie, daß sie sich verändert hatte. Mike hatte um ihren Verstand gefürchtet, und nun wußte Honor, daß diese Furcht ihre Berechtigung gehabt hatte. Aber nun war der Wahnsinn vorüber. Die tödliche Entschlossenheit blieb bestehen, aber nun war sie so vernünftig wie kalt, so rational wie umfassend.
Sie schneuzte sich die Nase, dann zog sie sich an, ohne nach MacGuiness zu summen. Schließlich wußte sie, wo er ihre Uniformen versteckte, und er hatte es verdient, sich einmal auszuschlafen. Gott allein wußte zu sagen, wie viele Stunden er sich um sie gekümmert und nichts zum Dank erhalten hatte als Totenstille.
Nachdem sie ihre Uniform perfekt gerichtet hatte, flocht sie ihr schulterlanges Haar zu einem einfachen Zopf. Er reichte ihr zwar nicht allzu weit den Rücken hinab, aber sie band ihn mit einem schwarzen Seidenstreifen, dem Zeichen der Trauer und der Vergeltung, zu einem kurzen Pferdeschwanz. Dann setzte sie sich vor ihr Terminal. Die Nachrichten, vor denen sie sich gefürchtet hatte, erwarteten sie, angeführt von einer tränenreichen Aufzeichnung ihrer Eltern. Bevor sie Summervales aufgezeichnete Stimme gehört hatte, hätte sie sich dem nicht stellen können, ohne zusammenzubrechen; nun vermochte sie zuzuhören und die Liebe zu bemerken, die aus den Stimmen ihrer Eltern sprach – ja, sogar mehr als bemerken: sie konnte sie spüren.
Weitere Nachrichten warteten, sogar mehr, als Honor befürchtet hatte, allen voran eine persönliche Mitteilung von Königin Elisabeth. Der Herzog von Cromarty sandte ihr eine steifere, offizieller klingende Botschaft, aber das Beileid in seiner Stimme war echt. Dann kamen weitere: von Admiral Caparelli im Namen der Raumlords, von Lady Morncreek, von Pauls Kommandeur, von Ernestine Corell und Admiral Sarnow … sogar von Dame Estelle Matsuko, Ihrer Majestät Residierende Kommissarin für Planetare Angelegenheiten auf Medusa, und von Konteradmiral Michel Reynaud, dem Kommandeur des Astro-Lotsendienstes im Basilisk-System.
Sie schmerzten. All diese Beileidsbekundungen schmerzten; jede einzelne erinnerte Honor an ihren Verlust, aber nun vermochte sie den Schmerz zu bewältigen. Mehrmals mußte sie innehalten und ihre Tränen trocknen, aber sie arbeitete sich bis zum Ende vor, und als sie zwei Drittel hinter sich gebracht hatte und aufsah, fand sie neben ihrem Ellbogen eine Tasse mit dampfendheißem Kakao. Mit einer Miene, in die sich Zartheit und Schmerz mischten, sah sie die Gabe an und wandte den Kopf, bevor MacGuiness unbemerkt in die Pantry zurückschleichen konnte.
»Mac«, sagte Honor leise.
Er erstarrte und drehte sich zu ihr um. Honor verkrampfte sich. Er trug einen abgewetzten alten Bademantel über dem Schlafanzug. In all den Jahren, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, hatte sie ihn niemals ohne Uniform gesehen. Sein Gesicht wirkte alt und abgespannt – und gebrechlich. So gebrechlich: In seinen Augen stand die Furcht vor der Hoffnung. Honor streckte ihm die Hand entgegen.
MacGuiness trat näher und ergriff sie, und Honor drückte ihm fest die Finger.
»Danke, Mac. Ich weiß nicht, wie ich mich bedanken soll.« Sie sprach so leise, daß er sie kaum verstehen konnte, aber sie sprach wieder mit ihrer eigenen Stimme, und sie dankte ihm für mehr als für eine Tasse Kakao. Seine rotgeränderten Augen glänzten plötzlich mit verdächtiger Feuchtigkeit, und er senkte den Kopf und erwiderte den kräftigen Händedruck.
»Gern geschehen, Ma’am«, brachte er hervor, räusperte sich, straffte die Schultern und drohte ihr mit dem Finger. »Sie bleiben, wo Sie sind«, befahl er. »In einer Viertelstunde habe ich Ihr Frühstück fertig. Sie haben auch so schon genug Mahlzeiten versäumt.«
»Jawohl, Sir«, antwortete sie demütig, und das Zucken seines Mundes, als er sich gegen den Drang zum Lachen wehrte, erfüllte sie mit einem lange nicht mehr gekannten Gefühl der Wärme.
Honor beendete ihr üppiges Frühstück und tupfte sich mit der Serviette den Mund ab. Eigenartig, aber sie konnte sich an keine einzige Mahlzeit zwischen der letzten auf Grayson und diesem Frühstück erinnern. Sie mußte gegessen haben, aber ihr Gedächtnis blieb vollkommen leer, wenn sie versuchte, die Erinnerungen daran zurückzurufen. Erneut durchfuhr sie ein tiefes Gefühl der Schuld, als ihr klar wurde, wie sie MacGuiness behandelt haben mußte. Aber da machte Nimitz einen leisen Laut, der fast so klang wie ein Schelten, und Honor lächelte ihn über den Tisch hinweg an.
»Das war großartig, Mac. Vielen Dank.«
»Ich freue mich, daß es Ihnen geschmeckt hat, Ma’am, und …«
Der Steward unterbrach sich und trat an das summende Comterminal. »Kajüte der Kommandantin, Chief Steward MacGuiness am Apparat«, meldete er sich.
»Ich habe einen Comanruf für den Captain, Chief«, antwortete Commander Monets Stimme. »Von Admiral White Haven.«
Honor erhob sich und rief: »Stellen Sie ihn bitte durch, George.« Der Signaloffizier wartete, bis sie in den optischen Erfassungsbereich des Terminals kam. Sie glaubte zu bemerken, daß er sich ein wenig erleichtert entspannte, als er ihren Gesichtsausdruck sah, aber er nickte nur.
»Selbstverständlich, Ma’am. Schalte jetzt um.«
Sein Bild verschwand und wurde durch das Gesicht des Admirals ersetzt. White Havens blaue Augen glitzerten entschlossen, aber sein Gesicht war ruhig, und er nickte Honor höflich zu.
»Guten Morgen, Dame Honor. Bitte entschuldigen Sie, daß ich Sie so früh an Ihrem ersten Morgen im System störe.«
»Sie stören mich nicht im geringsten, Sir. Wie kann ich Ihnen dienen?«
»Ich rufe aus zwo Gründen an. Zum einen möchte ich Ihnen mein Beileid persönlich aussprechen. Captain Tankersley war ein großartiger Mensch und fähiger Offizier. Sein Tod bedeutet einen Verlust nicht nur für die Navy, sondern für jeden, der ihn kannte.«
»Vielen Dank, Sir.« Honors Sopran klang nur ein wenig belegt, und White Haven gab vor, nicht zu bemerken, daß sie sich räuspern mußte.
»Der zwote Grund für meinen Anruf«, fuhr er fort, »ist folgender: Ich möchte Sie persönlich in Kenntnis setzen, daß während Ihrer Abwesenheit das Parlament für eine Kriegserklärung entschieden hat. Wir haben am letzten Mittwoch um ein Uhr die Kampfhandlungen gegen Haven wieder aufgenommen.« Honor nickte, und White Haven fuhr fort: »Da wir zur Homefleet gehören, werden unsere Operationspläne im Augenblick davon nicht berührt – jedenfalls nicht auf kurze Sicht. Nun ist es jedoch wichtiger denn je, daß die Wiederinstandsetzung Ihres Schiffes mit aller Eile vorangetrieben wird.«
»Jawohl, Sir.« Honor spürte, wie ihr Wärme in die Wangen stieg. »Ich fürchte, ich habe mich über den aktuellen Stand der Reparaturen noch nicht in Kenntnis gesetzt, aber ich werde das so bald wie möglich …«
»Überschlagen Sie sich nicht«, unterbrach White Haven sie beinahe sanft. »Commander Chandler hat während Ihrer Abwesenheit hervorragende Arbeit geleistet, und ich will Sie nun ganz bestimmt nicht unter Druck setzen. Ich melde mich lediglich zu Ihrer Information, nicht, weil ich irgendwelche Schritte von Ihnen erwartete. Davon abgesehen«, und er gestattete sich ein Grinsen, »liegt nun alles in den Händen der Werftheinis, nicht in den Ihren oder meinen.«
»Vielen Dank, Sir.« Honor versuchte, sich die Bestürzung, über den Zustand ihres Schiffes uninformiert ertappt worden zu sein, nicht anmerken zu lassen, aber ihre Röte vertiefte sich und verriet sie.
White Haven wiegte den Kopf. »Als Kommandeur des Kampfverbandes, der Ihnen übergeordnet ist«, sagte er nach kurzem Überlegen, »gebe ich Ihnen die dienstliche Anweisung, sich ein wenig Zeit zu geben, bis Sie die Zügel wieder in Händen haben, Dame Honor. Ein oder zwo Tage wird die Navy schon verkraften können, und« – sein Blick wurde weich – »ich weiß, daß Sie nicht bei Captain Tankersleys Begräbnis sein konnten. Ich nehme an, Sie haben sich um etliche persönliche Angelegenheiten zu kümmern.«
»Ja, Sir. Das habe ich.« Die Wörter kamen härter und kälter heraus, als in Honors Absicht gelegen hatte, und das Gesicht des Admirals gefror. Die Miene, die darauf festgeschrieben stand, verriet keine Überraschung, sondern Bestätigung einer Vermutung – und auch eine Spur von Sorge. Summervale war ein erfahrener Duellant, jemand, der in ›Ehrenhändeln‹ schon oft genug getötet hatte. Von je her mißbilligte White Haven das Duellieren, und ihm war gleichgültig, ob es legal war oder nicht. Der Gedanke, Honor Harrington tot auf dem Rasen liegen zu sehen, erfüllte ihn mit eisiger Kälte.
Er öffnete den Mund, um etwas einzuwenden, doch dann schloß er ihn wieder, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Was auch immer er hätte sagen können – es wäre nutzlos gewesen, das wußte er. Und er besaß nicht einmal das Recht, sich anzumaßen, mit ihr zu streiten.
»In diesem Fall, Captain«, sagte er statt dessen, »ordne ich an, daß Ihnen weitere drei Tage Urlaub erteilt werden. Wenn Sie mehr brauchen, werden wir es arrangieren.«
»Vielen Dank, Sir«, sagte sie, und diesmal war ihre Stimme viel leiser. Sie hatte seinen ersten Impuls sehr wohl erkannt und war sehr dankbar, daß er nachgedacht und seine Einwände unausgesprochen gelassen hatte.
»Dann bis später, Dame Honor«, verabschiedete White Haven sich und beendete das Gespräch.