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Honor Harrington straffte die Schultern und redete sich ein, es bestehe wirklich kein Anlaß, sich lächerlich zu fühlen. Raschelnd schritt sie den gewölbten, uralten Korridor entlang.

In den drei Jahrzehnten, die sie als Offizier der Königin diente, hatte Honor niemals einen Rock getragen. Um genau zu sein, auch vorher nicht, und wenn sie überhaupt einen Gedanken darauf verschwendete, war sie zufrieden, daß Röcke vor etwa fünfzig manticoranischen Jahren – wieder einmal – aus der Mode gekommen waren. Röcke waren unter Null-Ge mehr als nur nutzlos und zu den anderen Aktivitäten, mit denen sie ihre Freizeit verbrachte, fast genauso unpraktisch. Dennoch bewiesen sie einen penetranten Starrsinn, indem sie sich weigerten, endgültig auszusterben. Im Moment erlebten sie innerhalb des Sternenkönigreichs sogar ein bescheidenes Comeback – bei Idiotinnen, die genug Geld besaßen, um ihre komplette Garderobe auszuwechseln und ohnehin den Drang verspürten, bei jedem Modetrend auf dem neuesten Stand zu sein.

Unglücklicherweise trugen auf Grayson Frauen keine Hosen. Punktum! Daß Honor ohne ein einziges Kleid im Gepäck im Jelzin-System eingetroffen war, hatte unter den Zeremonienmeistern gelinde Panik ausgelöst.

Anfänglich hatte sie den Standpunkt vertreten, sie werde unter keinen Umständen je ein Kleid tragen, aber für die Hälfte aller Graysons, die sie kannte, war es schon schwierig genug, sich mit einem weiblichen Gutsherrn abzufinden. Die Vorstellung, daß nicht nur eine Frau, sondern eine Frau in Hosen in die geheiligten Bereiche des Saals der Gutsherren vordrang, hatte die eher konservativen Denker an den Rand des Herzinfarkts gebracht. Selbst die ›Modernisten‹ hatten die Idee mit dermaßen gemischten Gefühlen empfangen, daß Protector Benjamin sie gebeten hatte, ihre Position noch einmal zu überdenken. Diese Bitte von dem Mann, der begeistert Honors Leistungen zum Anlaß für die umwälzenden gesellschaftlichen Reformen auf Grayson genommen hatte, reichte aus, um Honor nachgeben zu lassen – auch wenn sie nicht gerade vor Liebenswürdigkeit gesprüht hatte. Ihr kam die Zeremonie insgesamt eher albern vor, und sie fühlte sich wie eine für ein Historiendrama kostümierte Schauspielerin. Und noch schlimmer: Sie hatte gesehen, in welch anmutiger Weise die Frauen auf Grayson ihre traditionellen, wallenden Röcke bewältigten, und wußte genau, daß sie ihnen in dieser Hinsicht nicht das Wasser reichen konnte. Doch ausgerechnet Admiral Courvosier war es gewesen, der ihr einst einen Vortrag über die Bedeutung der Diplomatie gehalten hatte, und so kam sie nicht umhin, ihre Kapitulation auszuhandeln.

Und nun schritt sie über den widerhallenden Steinflur auf das gewaltige, geschlossene Portal zu. Nimitz trug sie in den Armen, denn ihr Kleid besaß den gepolsterten Schulterschutz ihrer Dienstuniformen nicht. Bis zum Boden reichender Stoff wirbelte ihr beim Gehen beständig um die Beine. Das Gefühl hatte etwas seltsam Sinnliches an sich, aber in dem unvertrauten Aufzug fühlte sie sich völlig deplaziert und mußte sich ständig ermahnen, kürzere Schritte als gewohnt zu machen, um ein wenig schicklicher auszusehen. Wahrscheinlich, dachte sie und verzog ironisch die Lippen, sehe ich genauso albern aus wie ich mich fühle.

Damit jedoch hatte sie unrecht. Ihr Kleid war das Werk des besten Modedesigners auf Grayson, und Honor war mit ziviler Mode einfach zu wenig vertraut, um zu wissen, als wie gewagt es nach örtlichen Standards zu gelten hatte. Seine schlichte, weiße Spinnenseide setzte sich ab von dem dunklen, von Juwelen aufgehellten Grün der hüftlangen Weste – aus Veloursleder, nicht traditionellem Brokat. Gemeinsam betonten sie ihren schlanken, athletischen, hochgewachsenen Körperbau, ihr dunkles Haar und ihren hellen Teint aufs vorteilhafteste. Die Kleidungsstücke saßen perfekt und flossen mit ihren Bewegungen, verhüllten sie, wie es die Tradition gebot, und versuchten doch weder zu verhehlen, daß in ihnen der Körper einer Frau steckte, noch, daß sich diese Frau mit durchtrainierter Eleganz bewegte. Honor trug keinen Schmuck (zumindest diese Tradition wies sie mit aller Entschiedenheit zurück), doch golden prangte der Stern von Grayson auf ihrer Brust. Das bereitete ihr ein gewisses Unbehagen, denn die manticoranische Anzugordnung verbot das Tragen von Auszeichnungen zu Zivilkleidung. Andererseits galt sie auf Grayson niemals als Zivilistin – ganz gleich, was sie trug. Ein Gutsherr verfügte nicht nur über eine persönliche Lehnssouveränität, welche die meisten manticoranischen Aristokraten vor Neid hätte erblassen lassen, sondern kommandierte darüber hinaus auch die auf seinem (oder – ihrem) Gut stationierten Heereseinheiten. Daher wurden Orden bei allen formellen Anlässen getragen … und Honor Harrington, ob Fremdweltlerin oder nicht, war der einzige lebende Träger der höchsten graysonitischen Tapferkeitsauszeichnung.

Als weißer Wirbel glitt sie den Flur entlang, das unbedeckte braune Haar fiel ihr lose auf die Schultern. In den Armen hielt sie den grau und cremefarbenen Baumkater, und auch dies hätte einige Beobachter als seltsam anmuten können. Auf den meisten nicht-manticoranischen Planeten hätte das Mitbringen eines ›Haustiers‹ zu einem förmlichen Anlaß die Dinge nur noch schlimmer gemacht, aber die Menschen dieser Welt kannten Nimitz, und niemand hätte auch nur angedeutet, sie solle ihn zurücklassen. Nicht auf Grayson.

Der Flur schien sich ins Unendliche zu strecken. Er war nicht mit regulären Heeresangehörigen, sondern von Soldaten der Gutsherrengarde gesäumt, die ein Knie neigten, sobald Honor an ihnen vorbeischritt, und Anspannung machte sich in Honors Körpermitte bemerkbar. Ohne stehenzubleiben, ging sie noch einmal die formellen Sätze durch, und obwohl sie sich so erneut davon vergewisserte, daß sie die Zeilen parat hatte, fühlte sie sich kein bißchen ruhiger. Protector Benjamin hatte ihr die Gutsherrnwürde verliehen, bevor sie sich zur medizinischen Behandlung nach Manticore begab, aber das war nicht mehr als eine Bestätigung dessen gewesen, was nun kam. Das Gut von Harrington hatte nur auf dem Papier existiert. Nun umfaßte es Menschen, Siedlungen und die Anfänge von Industrie. Es existierte, und damit war es für Honor an der Zeit, vor das Konklave der Gutsherren zu treten, der letzten Instanz, die über ihre Befähigung zu diesem Amt befinden würde. Und für sie, die Rolle als Beschützerin und Herrscherin über die Menschen – über ihre Leute – anzunehmen und eine direkte Autorität über ihr Leben und Wohlergehen auszuüben, wie kein manticoranischer Adliger sie jemals gekannt hatte. Honor wußte, was sie erwartete, und hatte ihr Bestes getan, um sich darauf vorzubereiten, doch tief in ihrem Innern war sie noch immer Honor Harrington, eine Freisassentochter vom Planeten Sphinx, und dieser Teil von ihr wollte einfach nichts anderes, als sich umzudrehen und davonzulaufen.

Schließlich erreichte sie die gewaltige, eisenverstärkte doppelflüglige Tür der Konklavenkammer. Die Errichtung dieses schweren Hindernisses reichte fast sieben T-Jahrhunderte zurück. In den Wänden daneben befanden sich Schießscharten, und der linke Torflügel war mit gezackten Einschußlöchern übersät. Honors Wissen über die Geschichte Graysons war noch immer sehr lückenhaft, aber es reichte aus, daß sie stehenblieb und das Haupt in tiefem Respekt vor den Einschußlöchern beugte. Die Tafel darunter führte die Namen der Dreiundfünfzig und ihrer persönlichen Waffenträger, derjenigen, die bis zum letzten Mann die Konklavekammer gegen den Putschversuch gehalten hatten, welcher den Graysonitischen Bürgerkrieg auslöste. Zuletzt hatten die Wahren Gläubigen Panzer herangeführt und sich über die Leichen der Gutsherrengarde den Weg durch den Korridor gebahnt, den rechten Türflügel in Stücke geschossen und eine Kompanie Infanterie bei dem verzweifelten Versuch geopfert, zumindest einige der Gutsherren als Geisel gefangenzunehmen, aber keiner der Dreiundfünfzig war ihnen lebend in die Hände gefallen.

Als Honor sich vor der Tafel verbeugte, ging der letzte Gardist auf ein Knie. Sie richtete sich auf, atmete noch einmal tief durch und ergriff den eisernen Türklopfer.

Mit einem schroffen, hallenden Geräusch schlug Eisen auf Eisen. Ein Moment völliger Stille folgte darauf; dann schwangen die riesigen, mehrere Zentimeter dicken Türflügel langsam zur Seite, und Licht fiel zwischen ihnen hindurch. Honor sah sich einem Mann gegenüber, der ein blankes Schwert in der Faust hielt. Hinter ihm erblickte sie die Reihen der Gutsherren, die in der wie ein Hufeisen geformten Kammer saßen. Das Gewand des Torwächters war ein mit Goldtressen besetzter Anachronismus und wirkte noch großartiger als Honors eigene Kostümierung; dennoch ließ sich darin eine Uniform des regulären Heeres erkennen. Am Kragen glänzte das Emblem des Protectors, die geöffnete Bibel und das Schwert – nicht der Schlüssel des Patriarchen, der für die Gutsherrengarde stand.

»Wer ersucht den Protector um Audienz?« verlangte er zu wissen, und Honors Sopranstimme antwortete trotz ihrer Nervosität klar und ohne Schwanken mit den Worten der althergebrachten Formel.

»Ich bitte niemanden um Audienz. Ich komme nicht zu bitten, sondern um Aufnahme in das Konklave zu verlangen und meinen Sitz darin zu erhalten, wie es mir zusteht.«

»Auf wessen Geheiß?« forderte der Torwächter zu erfahren. Er brachte das Schwert in Abwehrhaltung. Gleichzeitig mit Honor hob auch Nimitz stolz den Kopf.

»Auf mein eigen Geheiß, unter Gott und Gesetz«, gab sie zurück.

»Wie lautet Euer Name?«

»Ich bin Honor Stephanie Harrington, Tochter des Alfred Harrington, und gekommen, mein Recht auf den Sitz als Gutsherrin von Harrington zu beanspruchen«, verkündete Honor. Der Wächter trat einen Schritt zurück und senkte in offizieller Anerkennung der Gleichrangigkeit der versammelten Gutsherren die Klinge.

»Dann betretet diesen Raum, auf daß das Konklave der Gutsherren urteilt, ob Ihr des Amtes, das Ihr beansprucht, würdig seid – wie es von je sein Recht ist«, forderte er Honor auf, und mit wogendem Rock schritt Honor weiter.

So weit, so gut, versicherte sie sich und versuchte, sich davon abzuhalten, die vorgeschriebenen Sätze immer wieder zu rekapitulieren. Der Umstand, daß sie eine Frau war, hatte einige Eingriffe in die tausend Jahre alten Formeln erfordert; der Umstand, daß sie technisch eine Ungläubige war, erforderte noch etliche mehr. Sie riß sich zusammen. Hier stand sie nun, inmitten der gewaltigen Kammer, und die versammelten Gutsherren von Grayson blickten schweigend zu ihr hinab.

Mit einem leisen Dröhnen schloß sich hinter ihr die Tür. Der Torwächter strebte an Honor vorbei zum Thron Benjamins IX., des Protectors von Grayson, und ließ sich davor auf ein Knie nieder; die Spitze des juwelenbesetzten Staatsschwertes stützte er auf den Fußboden und beugte sich über die schlichte, kreuzartige Parierstange.

»Euer Gnaden, Euch und dem Konklave präsentiere ich Honor Stephanie Harrington, Tochter des Alfred Harrington, die kommt, um einen Sitz unter Euren Gutsherren zu fordern.«

Benjamin Mayhew nickte ernst und sah für eine Weile schweigend auf Honor herab, dann hob er den Blick und ließ ihn über die Stuhlreihen schweifen.

»Gutsherren«, sprach er. Seine Stimme klang dank der großartigen Akustik der Kammer klar und deutlich. »Diese Frau beansprucht das Recht, bei Euch zu sitzen. Wäre einer unter Euch, der ihr abstritte, würdig zu sein?«

Honors Nerven schienen wie statisch aufgeladen zu prickeln, denn Mayhews Frage stellte diesmal nicht die Formsache dar, die sie bei einem anderen Antragsteller gewesen wäre. Die graysonitischen Reaktionäre waren noch reaktionärer als die anderer Planeten, und Honors erstes Eintreffen im Jelzin-System markierte den Startpunkt für die Umwälzungen im sozialen Gefüge. Eine Mehrheit von Graysons begrüßten die Veränderungen, die über sie gekommen waren, wenn auch mit Enthusiasmus unterschiedlichen Ausmaßes; die Minderheit aber, die gegen die Veränderung war, widersetzte sich ihnen mit militantem Eifer. Seit ihrer Ankunft hatte Honor immer wieder ihre bittere Rhetorik zu lesen und zu hören bekommen. Die Gelegenheit, eine Frau als unwürdig anzufechten, hallte in der antwortenden Stille wider und wartete, daß jemand sie aufgriff.

Aber niemand meldete sich, und Mayhew nickte erneut.

»Wäre einer unter Euch, der zu ihren Gunsten spräche?« fragte er ruhig, und grollend und überwältigend erhielt er »Aye« zur Antwort. Nicht alle Angehörigen des Konklaves beteiligten sich daran, aber niemand widersprach. Mayhew lächelte auf Honor herab.

»Eurem Anspruch wurde von Euresgleichen stattgegeben, Lady Harrington. Kommt nun und nehmt Euren Platz unter ihnen ein.«

Kleidung raschelte, als die Gutsherren sich erhoben und Honor die breiten, flachen Stufen hinaufschritt, um die zweite Sitzreihe zu erreichen. Vor dem Protector blieb sie stehen. Auf dem Boden vor dem Thron lagen zwei kleine Samtkissen. Honor setzte Nimitz vorsichtig auf das eine und kniete selbst auf dem zweiten nieder. Die Behinderung durch den Rock machte das schwieriger, als es gemeinhin gewesen wäre; einen höfischen Knicks hätte sie darin niemals zustandegebracht. Ein oder zwei Füßepaare scharrten, als sie wie ein Mann auf die Knie ging, aber niemand sprach. Der Torwächter schritt an Honor vorbei und übergab Mayhew das Staatsschwert.

Der Protector drehte es herum und hielt Honor den Griff hin. Sie legte die Hände darauf. Trotz ihrer Nervosität wunderte sie sich, wie sehr ihre Finger zitterten, und sah zu Mayhew auf. Das ermutigende Lächeln des Protectors linderte ihr Beben.

»Honor Stephanie Harrington«, sagte Mayhew ruhig, »seid Ihr bereit, im Beisein der versammelten Gutsherren von Grayson dem Protector und dem Volk von Grayson unter den Augen Gottes und Seiner Heiligen Kirche den Treueeid zu leisten?«

»Das bin ich, Euer Gnaden, doch kann ich dies nur unter zwei Vorbehalten tun.« Während sie diese Worte sprach, nahm sie die Hände vom Heft des Schwertes, in ihrer Stimme lag jedoch keine Weigerung. Mayhew nickte. Selbstverständlich wußte er bereits, was nun kommen würde. Etliche Diskussionen waren erforderlich gewesen, bis sie einen Kompromiß in der Behandlung dieser Angelegenheiten gefunden hatten.

»Nach alter Sitte und altem Gesetz habt Ihr Anspruch darauf, Vorbehalte anzumelden«, antwortete er. »Jedoch besitzt dieses Konklave wiederum das Recht, Eure Vorbehalte zurückzuweisen und Euch Euren Sitz zu verweigern, sollte es sie als unvereinbar mit Eurer neuen Stellung erachten. Erkennt Ihr dieses Recht an?«

»Ich erkenne es an, Euer Gnaden.«

»Dann nennt Euren ersten Vorbehalt.«

»Wie Euer Gnaden wissen, bin ich Untertanin des Sternenkönigreichs von Manticore, eine Angehörige seines Adels und Offizier in der Navy der Königin. In diesen Eigenschaften unterliege ich Verpflichtungen, die ich nicht mißachten kann. Ebensowenig kann ich die Nation aufgeben, in der ich geboren wurde, oder die Eide gegenüber meiner Königin, auch nicht, um das Hohe Amt einer Gutsherrin anzunehmen. Und ich kann auch nicht Grayson Treue schwören, ohne mir das Recht auszubedingen, meinen Pflichten gegenüber meiner Königin nachkommen zu dürfen.«

Mayhew nickte einmal mehr, dann sah er über Honor hinweg zum Konklave.

»Mylords, dies erscheint mir als gerechtfertigte und ehrenhafte Erklärung, doch die Entscheidung in diesen Fragen liegt bei Euch. Ficht irgend jemand von Euch das Recht dieser Frau an, mit genannter Einschränkung ein Gut auf Grayson zu besitzen?«

Schweigen antwortete ihm, der Protector wandte sich erneut an Honor.

»Und wie lautet Euer zweiter Vorbehalt?«

»Euer Gnaden, ich gehöre nicht der Kirche der Entketteten Menschheit an. Ich respektiere ihre Doktrinen und Lehren« – was zu Honors Erleichterung nicht gelogen war, wenn ein gewisser ihnen innewohnender Sexismus Honor auch nicht behagte –, »aber ich gehöre dem Glauben nicht an.«

»Ich verstehe.« Diesmal klang Mayhews Stimme ernster – mit Grund. Durch schreckliche Ereignisse hatte die Kirche gelernt, sich aus der Politik herauszuhalten, dennoch war Grayson weiterhin im Grunde eine theokratisch orientierte Welt. Das Toleranzgesetz, das andere Glaubensrichtungen legalisierte, reichte kaum ein Jahrhundert zurück, und bislang hatte es keinen Gutsherrn gegeben, der nicht der Kirche anhing.

Der Protector sah auf den weißhaarigen Mann zu seiner Rechten. Reverend Julius Hanks, geistiges Oberhaupt der Kirche der Entketteten Menschheit, wurde allmählich vom Alter gebrechlich, aber seine einfache schwarze Gewandung und der klassische Priesterkragen hoben sich scharf gegen das Glitzerwerk und die Pracht der anderen Kostüme in der Kammer ab.

»Reverend«, sagte Mayhew, »dieser Vorbehalt betrifft die Kirche und fällt daher in Euer Feld. Wie lautet Euer Urteil?«

Hanks legte eine Hand auf Honors Kopf, aber sie spürte in dieser Geste keinerlei Herablassung. Zwar gehörte sie seiner Kirche nicht an, doch sie konnte sich andererseits auch nicht der offensichtlichen Ernsthaftigkeit seines persönlichen Glaubens entziehen. Der Reverend lächelte auf sie hinab.

»Lady Harrington, Ihr gehört unserem Glauben nicht an, aber Gott findet viele Wege.« Jemand zischte, als wäre die Stimme der Häresie erklungen, aber niemand ergriff das Wort. »Glaubst du an Gott, mein Kind?«

»Ja, Reverend«, antwortete Honor leise, aber fest.

»Und dienst du ihm, so gut du nur kannst, wie dein Herz dich Seinen Willen begreifen läßt?«

»So diene ich Ihm.«

»Wirst du als Gutsherrin das Recht deiner Leute beschützen und behüten, Gott so zu verehren, wie ihre eigenen Herzen es ihnen vorgeben?«

»Das werde ich.«

»Wirst du die Heiligkeit unseres Glaubens respektieren und schützen wie deinen eigenen?«

»Das werde ich.«

Hanks nickte zufrieden und wandte sich wieder an Mayhew.

»Euer Gnaden, diese Frau ist nicht unseres Glaubens, doch hat sie dies vor uns zugegeben und nicht den Versuch unternommen, etwas anderes vorzutäuschen. Darüber hinaus kennen wir sie als gute und gottesfürchtige Frau, die ihr Leben riskierte, um nicht nur unsere Kirche, sondern nun unsere Welt zu beschützen, als wir von ihr noch nichts beanspruchen durften. Ich sage Euch, Euer Gnaden, und dem Konklave« – er wandte sich den Gutsherren zu und erhob seine sonore Stimme –, »daß Gott Seine Kinder kennt. Die Kirche nimmt diese Frau, ungeachtet des Glaubens, durch den sie Gottes Willen dient, als ihren Verfechter und Verteidiger an.«

Tieferes Schweigen war die Antwort. Hanks blieb noch einen Augenblick stehen und begegnete allen Blicken, dann trat er zurück neben den Thron, und Mayhew sah zu Honor hinab.

»Eure Vorbehalte sind von den säkularen und geistlichen Herren von Grayson begutachtet und akzeptiert worden, Honor Stephanie Harrington. Schwört Ihr nun vor uns allen, daß dies Eure einzigen Vorbehalte sind, in Herz, Seele und Verstand?«

»Das schwöre ich, Euer Gnaden.«

»So fordere ich Euch auf, vor Euresgleichen Grayson Treue zu schwören«, sagte der Protector, und Honor legte wieder die Hände auf das Schwertheft.

»Schwört Ihr, Honor Stephanie Harrington, Tochter von Alfred Harrington, unter den vorhergenannten Vorbehalten dem Protector und dem Volk von Grayson die Treue?«

»Ich schwöre.«

»Werdet Ihr dem Protector und dem Volk von Grayson aufrecht dienen?«

»Das werde ich.«

»Schwört Ihr vor Gott und diesem Konklave, daß Ihr die Verfassung von Grayson achten, erhalten und beschützen und Eure Leute schützen und leiten werdet, als wären sie Eure eigenen Kinder? Schwört Ihr, sie in Zeiten des Friedens zu nähren, in Zeiten des Krieges zu führen und sie stets mit von Güte gemilderter Gerechtigkeit zu regieren, so wie Euch Gott die Weisheit dazu eingibt?«

»All das schwöre ich«, antwortete Honor leise, und Mayhew nickte befriedigt.

»Ich nehme Euren Eid an, Honor Stephanie Harrington. Und ich als Protector von Grayson erwidere Treue mit Treue, Schutz mit Schutz, Gerechtigkeit mit Gerechtigkeit, und Eidbruch mit Vergeltung, so wahr mir Gott helfe.«

Der Protector schob die rechte Hand vor, um ihre beiden zu umfassen, und drückte einen Augenblick lang fest zu. Dann gab er das Schwert dem Wächter zurück, und Reverend Hanks reichte ihm zwei Handvoll golden strahlender Pracht. Der Protector schüttelte sie ehrfürchtig aus, und Honor senkte den Kopf, damit er ihr die massive Kette um den Hals hängen konnte. Der Schlüssel des Patriarchen, das Symbol der Gutsherren, glänzte nun unter dem Stern von Grayson an ihrer Brust, und der Protector stand auf und ergriff ihre Hand.

»Erhebt Euch nun, Lady Harrington, Gutsherrin von Harrington!« rief er laut, und sie gehorchte ihm; im letzten Moment fiel ihr ein, darauf zu achten, nicht auf den Saum ihres Gewandes zu treten. Dann wandte sie sich auf Mayhews Geste hin zum Konklave um, und laut toste der Beifall gegen die Wände der Kammer.

Die Wangen gerötet und den Kopf erhoben, schaute Honor in das Meer der Stimmen und wußte, daß hinter einigen dieser Jubelrufe noch immer eigene Vorbehalte standen. Aber genau wußte sie, daß diese Männer, indem sie eine Frau in ihre Mitte aufnahmen, sich über eine tausendjährige Tradition hinweggesetzt und tiefverwurzelte Vorurteile überwunden hatten. Natürlich war dies nur unter dem Druck der Ereignisse und dem unnachgiebigen Drängen ihres Oberhaupts geschehen, und viele mußten sie ablehnen, nicht nur, weil sie eine Frau war, sondern weil sie die Fremdweltlerin war, die den furchterregenden Wandel personifizierte. Dennoch hatten sie den Schritt getan. Und trotz ihrer eigenen Befürchtungen meinte Honor jedes einzelne Wort ihrer förmlichen Eide ernst. Auf seinem Kissen erhob Nimitz sich zu voller Körpergröße und rieb sich an ihrem Schenkel. Sie sah zu ihm hinunter und beugte sich vor, dann hob sie ihn auf. Spontan begrüßte noch lauterer Applaus die Geste. Der ‘Kater hob den Kopf und sonnte sich im Beifall. Die Anspannung entlud sich in Gelächter und weiterem Applaus, als Honor ihn mit breitem Grinsen im Gesicht über den eigenen Kopf hob.

Der Torwächter trat herbei und berührte Honor am Ellbogen. Sie drehte sich zu ihm um. Der Mann bot ihr das Staatsschwert auf offenen Handflächen und verbeugte sich. Mit dem Baumkater im Arm fiel es Honor nicht ganz leicht, die Waffe halbwegs graziös an sich zu nehmen, aber Nimitz überraschte sie durch seine Mithilfe. Auf samtigen Echtpfoten und Handpfoten kletterte er auf ihre Schultern, ohne die Krallen zu benutzen, die er dazu normalerweise ausgefahren hätte. Mit außerordentlicher Vorsicht ließ er sich nieder und legte ihr eine Echthand auf den Scheitel, während sie das Schwert vom Torwächter entgegennahm.

Auch dafür gab es keinen Präzedenzfall. Das Gut von Harrington war das neueste Gut Graysons; daher hätte Honor eigentlich auf der obersten Reihe am Ende des Hufeisens Platz nehmen müssen, nachdem sie den Eid geleistet hatte, wie es dem geringen Rangalter ihres Gutes entsprach. Doch sie trug den Stern von Grayson, und das machte sie, auch wenn sie davon nicht gewußt hatte, als sie den Orden entgegennahm, zum Champion des Protectors.

Sorgfältig hielt sie das Schwert in Händen und ging vorsichtig zu dem Pult aus geschnitztem Holz neben dem Thron des Protectors, inständig hoffend, daß Nimitz Halt bewahren könnte, ohne die Krallen zu benutzen. Der Schreibtisch trug ihr graysonitisches Wappen und die gekreuzten Schwerter, Zeichen für den Champion des Protectors. Honor atmete auf, als Nimitz leichtfüßig auf das Pult sprang. Er erhob sich wieder zu voller Größe und hockte auf den Hintergliedern. Den beweglichen Schwanz schwang er mit Grazie um die Handpfoten und Echthände, während Honor das Staatsschwert in die gepolsterten Halteklammern am Pult ablegte.

Der Mann mit dem zerfurchten Gesicht, der hinter dem Pult auf dem Sitz des Gutsherren saß, stand auf, verbeugte sich und bot Honor einen schlanken Stab mit silbernem Knauf dar.

»Da Ihr nun Euren rechtmäßigen Platz einnehmt, Lady, übergebe ich Euch mein Amtsabzeichen und unterwerfe mein Handeln Eurem Urteil«, sagte Howard Clinkscales.

Honor nahm den Stab der Regentschaft und hielt ihn in beiden Händen. Ihr Lächeln war wärmer als vom Protokoll vorgeschrieben. Benjamin hatte eine äußerst inspirierte Entscheidung getroffen, als er Clinkscales zu ihrem Regenten ernannte. Das alte Schlachtroß war einer der ehrenwertesten Männer auf ganz Grayson; und vielleicht noch wichtiger, er war auch einer der konservativsten, der tiefe Vorbehalte gegen all die Änderungen hatte, die der Protector verlangte, und jeder wußte das. Daher hatte seine Bereitschaft, ihr als Regent zu dienen, wahrscheinlich mehr zur Konsolidierung ihrer Position beigetragen als alles andere vermocht hätte.

»Euer Dienst erfordert kein Urteil.« Sie reichte ihm den Stab zurück, und als er ihn entgegennahm, trafen sich ihre Blicke. »Außerdem könnte weder ich noch sonstwer Euch so sehr danken, daß es Eurem Handeln angemessen wäre«, fügte sie hinzu. Der alte Mann riß die Augen auf, denn der letzte Satz überschritt die Grenzen der förmlichen Erfordernisse.

»Ich danke Euch, Mylady«, murmelte er und verbeugte sich tiefer als zuvor, dann nahm er den Amtsstab wieder entgegen. Honor stellte sich an ihren Platz vor dem Stuhl des Gutsherren, von dem Clinkscales aufgestanden war, und er trat nach rechts vor einen zweiten Stuhl. Dann wandten sie sich gemeinsam wieder dem Konklave zu. Julius Hanks trat neben den Thron des Protectors.

»Und nun, Mylords – und Mylady …« – der Reverend wandte sich zu Honor, um sie mit einem strahlenden Lächeln zu bedenken – »laßt uns beten, daß Gott unsere heutige Beratung segne.«