Honors Gravstiefeletten schlurften über das Deck, und mit einem breiten Grinsen drehte sie sich auf der Stelle, in Händen das Ankerende von Nimitz’ Sicherheitsleine. Der Baumkater hatte die Schwerelosigkeit von je gemocht; als er nun mit zischenden Anzugdüsen seine Person umkreiste, drang sein entzücktes Keckeln über das Helmcom. Sie hörte es über den Ohrhörer, aber sie hätte dessen gar nicht bedurft. Der Überschwang, der über die telempathische Verbindung zu ihr drang, sprach Bände.
Nimitz’ überstürzt wirkender Ausbruch endete abrupt, als er seinen langen Leib geschmeidig herumwarf und in einen perfekten Looping stieg. Pauls ›Onkel Henri‹ muß ein Genie sein, dachte sie, als sie den Applaus der Zuschauer hörte. Der Mann hatte die Schubdüsen so konfiguriert, daß jede Bewegung, die einer ‘Katz möglich war, eine entsprechende Einstellung fand; sie hatte nichts weiter zu tun gehabt, als Nimitz zu beobachten und herauszufinden, wie seine normale Null-Ge-Akrobatik am besten mit den Möglichkeiten des Anzugs koordiniert wurde.
Nimitz beschrieb eine langsame Rolle und änderte die Richtung. Honor duckte sich, als er über ihren Kopf hinwegsauste. Sie spürte die Flammen seiner Düsen und sandte ein zutiefst mißbilligendes Signal über den Link. Er hatte die Notwendigkeit, eine Düsen-Sicherheitszone zu beachten, noch nicht ganz verinnerlicht, aber Honor konnte spüren, daß es ihm leid tat, und mäßigte die Intensität ihres Scheltens. Wenigstens, erinnerte sie sich, hatten die Düsen durch ihre geringe Größe einen erheblich kleineren Gefährdungsbereich als die eines Raumanzugs für Menschen.
Nun vollführte Nimitz einen weiteren Looping, dann schoß er direkt auf sie zu, und als seine vier Hinterglieder nach ihrer Schulter griffen, erloschen die Schubdüsen. Honor taumelte unter dem Aufprall einige Schritte zurück – selbst im freien Fall behielt Nimitz Impuls und seine Masse von etwas über neun Kilogramm, und dazu kam noch die Masse des Anzugs –, und dennoch war Honor erstaunt, wie sanft er zu landen vermochte. Nimitz war eben ein Naturtalent, was eigentlich keine Überraschung sein sollte – nicht, wenn man bedachte, daß die Baumkatzen auf Sphinx in den Baumwipfeln lebten. Trotzdem beabsichtigte sie nicht, ihm in absehbarer Zeit zu gestatten, ohne Leine die Sicherheit des Schiffes zu verlassen.
Mit der Fembedienung in ihrer Hand sicherte sie die Schubdüsen, mit der anderen griff sie nach oben, um ihm den Helm zu öffnen, aber er stellte sich so weit auf, daß er aus der Reichweite ihrer Hand entkam und blickte sie tadelnd an. Mit den behandschuhten Echthänden tastete er nach der Druckfreigabe, und Honor hörte das leise Zischen, das das Öffnen der Dichtung begleitete. Er klappte die Armoplastkuppel zurück, so daß sie auf seinem Rückgrat ruhte, und putzte sich mit peinlicher Pingeligkeit die Schnurrhaare.
»Gute Arbeit, Stinker.« Honor zog einen Selleriestengel aus ihrer Gürteltasche, und Nimitz stellte das Putzen ein und grapschte gierig danach; nun war er glücklicher als selbst seine Kunstflugvorführung ihn gemacht hatte. Das Ganze hatte nichts mit Training durch Belohnen für Gehorsam zu tun – so etwas hatte Nimitz nicht nötig –, den Leckerbissen hatte er sich einfach verdient.
Plötzlich kehrte die Schwerkraft zurück. Nicht die 1,35 g der Heimatweit, sondern die erheblich geringere Schwerkraft Graysons. Honor blickte über ihre freie Schulter. Captain Brentworth stand neben der Kontrolltafel für die Turnhalle und grinste sie an.
»Behender kleiner Teufel, was?« stellte der Kommandant der Jason Alvarez fest.
»Das ist er«, pflichtete Honor ihm bei; Sie griff hoch und fuhr mit der Fingerspitze über ein aufgerichtetes Ohr. Nimitz hielt – kurz – beim Kauen inne, um ihre Berührung zu erwidern. Dann wandte er sich mit einem saftigen Schmatzer wieder den wichtigeren Dingen zu.
Honor lachte und hob ihn in die Arme. Moderne Raumanzüge waren zwar leichter als altmodisches Vakuumschutzgerät, aber interne Lagervakuolen machten sie wesentlich schwerer, als sie aussahen. Nimitz’ plus Anzug war selbst unter graysonitischer Gravitation zu schwer, um noch eine angenehme Schulterlast zu sein. Dem ‘Kater war es egal, wie er getragen wurde, wenn er nur getragen wurde; er rollte sich behaglich in ihrer Umarmung zusammen und hielt den Selleriestengel fest. Honors Lächeln schlug in ein Grinsen um. Nimitz gefiel der Anzug mittlerweile ganz gut, aber er hatte indigniert das Fell gesträubt, als sie ihn mit den ›Kanalisations‹-Verbindern vertraut machte, vor denen Paul sie gewarnt hatte.
Sie wollte sich vorbeugen, um sich die Gravstiefeletten auszuziehen, aber schon war einer von Brentworth’ Leuten zur Stelle. Der kaum erwachsene Elektroniktechniker senkte sich auf ein Knie, bot das andere Honor als Stütze, und mit einem Lächeln hob sie den Fuß darauf. Der Techniker öffnete die Stiefelette und legte sie beiseite, dann wiederholte er den Vorgang an ihrem anderen Fuß.
»Vielen Dank«, sagte Honor, und der junge Mann – älter als zwanzig T-Jahre konnte er nicht sein – errötete.
»Es war mir ein Vergnügen, Mylady«, brachte er hervor, und ihr gelang es, bei seinem fast ehrfürchtigen Tonfall nicht laut herauszulachen. Als sie allerdings zuerst mit der Verehrung konfrontiert wurde, die Brentworth’ Crew ihr anfangs entgegenbrachte, war sie darüber nicht besonders amüsiert gewesen. Mit einer Ehrerbietung, die sie normalerweise nur dem Protector selbst erwiesen hätten, beobachteten sie beinahe anbetend jeden ihrer Schritte. Das war ihr gewaltig auf die Nerven gegangen – nicht zuletzt, weil sie überhaupt nicht wußte, wie sie darauf reagieren sollte. Andererseits fand sich im Verhalten der Alvarezs überhaupt nichts Kriecherisches, deshalb begnügte sie sich damit, einfach sie selbst zu sein, ganz gleich, wie sehr sie versuchten, sie zu verwöhnen, und das schien genau die richtige Reaktion zu sein. Die Ehrfurcht hatte sich in etwas wie Respekt verwandelt, und die Alvarezs wirkten nicht mehr, als wollten sie vor ihr das Knie beugen, wenn sie ihr auf einem Korridor begegneten.
Und trotzdem glaubte sie, daß alles noch wesentlich einfacher hätte sein können, wenn sie nicht die einzige Frau in der achthundertköpfigen Schiffsbesatzung der Alvarez gewesen wäre. In solch einer Lage hatte sie sich noch nie zuvor befunden, aber bis vor drei T-Jahren war den graysonitischen Frauen der Wehrdienst per Gesetz verboten gewesen – außerdem durften Frauen auf diesem Planeten kein Land besitzen, nicht Geschworene sein oder ihr Geld selbst verwalten. Wahrscheinlich würde es noch eine Weile dauern, bis sie an Bord von Kriegsschiffen Dienst taten.
Sie nickte dem jungen Mann, der ihr die Stiefeletten ausgezogen hatte, noch einmal zu, dann verteilte sie Nimitz’ Gewicht ein wenig besser und ging zur Luke. Brentworth schritt neben ihr her.
Der graysonitische Kommandant musterte schweigend ihr Profil, als sie dem Korridor folgten. Sie sah besser aus, als er je zu hoffen gewagt hätte, doch nachdem sie sich nun ein paar Tage an Bord befand, wußte er, daß die Wiederherstellung längst nicht so vollständig war, wie er zuerst geglaubt hatte. Die linke Mundhälfte bewegte sich stets mit einer winzigen, aber merklichen Verzögerung. Ihr Lächeln bekam dadurch eine gewisse Schiefe, was mehr am Timing als an allem anderen lag, und so sehr sie sich auch bemühte, es zu überwinden, gewisse Konsonanten sprach sie noch immer etwas undeutlich aus. Die Medizin Graysons wäre in der Zeit vor der Allianz niemals auch nur annähernd zu der Leistung fähig gewesen, die die manticoranischen Ärzte an Honor Harrington vollbracht hatten, und trotzdem konnte er ein leises Bedauern nicht unterdrücken.
Sie wandte sich ihm zu und sah seinen Gesichtsausdruck. Er errötete, als ihr schelmisches Lächeln ihm sagte, daß sie seine Gedanken erraten hatte. Dann schüttelte sie nur den Kopf, und er gab das Lächeln zurück.
Diese Frau unterschied sich sehr von der, die damals Jelzins Stern verteidigt hatte. Damals war sie getrieben und grimmig gewesen – unbeirrbar höflich und doch mit kaltem, blankem Stahl im verbliebenen Auge, während tief in ihr Schmerz und Verlust zuckten und sich wanden. Seiner Meinung nach war sie die gefährlichste Person, der er je begegnet war, als sie ihre beiden beschädigten Schiffe zwischen den Schlachtkreuzer Saladin und einen Planeten voller Menschen stellte, die nicht einmal mit ihrer Königin verbündet waren. Menschen, die ihr Bestes getan hatten, sie zu demütigen und zu verunglimpfen, weil sie wagte, ihre Vorurteile zu verletzen, indem sie die Uniform eines Offiziers trug. Um diesen Planeten zu retten, hatte sie sich einem Kriegsschiff in den Weg gestellt, das mehr masste als ihre beiden beschädigten Schiffe zusammen, und dabei mehr als neunhundert ihrer eigenen Leute verloren.
Die Erinnerung daran beschämte ihn noch immer … und erklärte die Verehrung, mit der seine Crew ihr begegnete. Er selbst verspürte Ehrfurcht, denn er war während der Schlacht als Verbindungsoffizier auf der Brücke von HMS Fearless gewesen, und plötzlich prustete er vor Lachen.
»Was gibt’s?« fragte sie, und er grinste sie an.
»Ich habe nur an etwas gedacht, Mylady.«
»An was?« hakte sie nach.
»Ach, nur daran, wie Sie sich amüsiert hätten, als Ihr Steward an Bord kam.«
»Mac?« Lady Harrington hob eine Augenbraue. »Was war denn mit ihm?«
»Nun, er ist ein Mann, Mylady.« Die zweite Augenbraue hob sich in plötzlichem Verstehen, und Honor Harrington begann verschmitzt zu kichern. »Ganz genau«, gab Brentworth ihr recht. »Das war für einige unserer Leute ein … Schock. Ich fürchte, wir sind noch längst nicht so befreit, wie wir von uns gern annehmen.«
»Gütiger Himmel, das kann ich mir vorstellen!« Das Kichern wurde zu einem leisen Lachen. »Und vor allem kann ich mir vorstellen, wie Mac darauf reagiert hat!«
»O nein, Mylady! Er nahm es ganz gleichmütig hin – sah sie nur an wie ein Sonntagsschullehrer, der einen Haufen Pubertierender erwischt, die sich im Waschraum schmutzige Witze erzählen.«
»Genau das meinte ich. Er wartet bei mir mit dem gleichen Blick auf, wenn ich zu spät zum Abendessen erscheine.«
»Ach, wirklich?« Brentworth lachte, dann nickte er langsam. »Ja, ich kann ihn mir dabei gut vorstellen. Er hängt sehr an Ihnen, Mylady.«
»Ja, ich weiß.« Honor lächelte glücklich und schüttelte den Kopf. »Oh, Mark, da ist noch etwas, was ich Ihnen sagen wollte. Sie sind nun ja selbst ein Senior Captain, und es gibt überhaupt keinen Grund, mich die ganze Zeit ›Mylady‹ zu nennen. Ich heiße Honor.«
Brentworth wäre vor Entsetzen fast aus dem Tritt gefallen. Grayson entwickelte die Modalitäten einer Gesellschaft mit Gleichberechtigung der Geschlechter gerade erst; Brentworth glaubte bei sich, daß die Veränderungen, die Protector Benjamin angeordnet hatte, die meisten zu sehr verwirrten, als daß sie erkennen konnten, wie revolutionär sie wirklich waren. Die Benutzung des Vornamens einer unverheirateten Frau, mit der man nicht verwandt war, hätte nach den alten Sitten eine unverzeihliche Beleidigung bedeutet, selbst wenn die Frau, um die es ging, keine Gutsherrin gewesen sein könnte. Und schon gar nicht diese Gutsherrin!
»Ich … Mylady … ich weiß nicht, ob …«
»Bitte«, unterbrach sie ihn. »Mir zuliebe. Sie müssen mich ja nicht in der Öffentlichkeit so nennen, wenn Sie nicht wollen, aber bei all diesen ›Myladys‹ und ›Gutsherrinnen‹ bleibt mir die Atemluft weg. Begreifen Sie nicht, daß an Bord dieses Schiffes nicht ein Mensch ist, der auch nur im Traum daran denken würde, mich mit dem Vornamen anzusprechen?«
»Aber Sie sind eine Gutsherrin!«
»Das bin ich nicht mein ganzes Leben lang gewesen«, erwiderte sie ein wenig gereizt.
»Nun, ja, das weiß ich, aber …«
Brentworth verstummte, um Klarheit über seine Emotionen zu erhalten. Zum Teil fühlte er sich außerordentlich geschmeichelt, aber trotzdem war es nicht so einfach, wie Honor Harrington zu glauben schien. Wie er bereits betont hatte, war sie eine Gutsherrin – und nicht nur das, sondern auch die erste und einzige Frau, die in Graysons jahrtausendlanger Geschichte dieses hohe Amt innehatte. Darüber hinaus war sie einziger lebender Träger des Sterns von Grayson und im übrigen die Retterin seines Heimatplaneten. Und wie er vor sich zugeben mußte, kam dazu noch ihre scharfkantige, faszinierende Schönheit.
Nicht ein bißchen sah sie aus wie eine graysonitische Frau, und sie war zehn T-Jahre älter als er. Nur hatte sein Körper bereits die volle Reife erreicht und das Höchstalter überschritten, um die Prolong-Therapie noch anwenden zu können, wenn Manticore sie seinem Volk zugänglich machte. Und deswegen sah Harrington zehn T-Jahre jünger aus als er … und seine Hormone waren sich ihrer scheinbaren Jugend durchaus und in respektloser Weise bewußt.
Ihr markantes, dreieckiges Gesicht mit seinen exotisch leicht schrägen Augen schuldete dem klassischen Schönheitsideal überhaupt nichts, doch das spielte keine Rolle. Ebensowenig wie die Tatsache, daß sie fünfzehn Zentimeter höher aufragte als die meisten graysonitischen Männer. Weitere, tiefergehende Veränderungen ließen ihre Attraktivität noch stärker ins Auge fallen. Sie wirkte nun – glücklicher, entspannter als Brentworth es jemals für möglich gehalten hätte, und offenbar war sie sich ihrer Weiblichkeit viel deutlicher bewußt. Damals im Jelzin-System hatte sie niemals auch nur eine Spur von Make-up getragen, auch nicht, bevor sie verwundet wurde; nun betonten sparsam und geschickt angewandte Kosmetika die graziöse Kraft ihres Gesichts, und das Haar, das zuvor nicht mehr als kurzgeschnittener Flaum gewesen war, fiel ihr nun fast bis auf die Schultern.
Brentworth wurde bewußt, daß er, während er über ihre Bitte nachdachte, wie angewurzelt im Gang gestanden hatte, und hob den Blick zu ihren Augen. Sie wartete ruhig. Das linke, kybernetische Auge sieht genauso aus wie das echte, dachte er unzusammenhängend. Dann blickte er tiefer und erkannte die Einsamkeit in beiden. Eine Einsamkeit, an die sie gewöhnt war und die zu ertragen er selbst noch lernte. Jeder Sternenschiffkommandant kannte diese Einsamkeit, doch das zu wissen half nur wenig und minderte sie nicht im geringsten. Als Brentworth all das begriff, konnte er plötzlich die Entscheidung fällen.
»Also gut … Honor.« Er streckte die Hand vor und berührte sie am Arm, noch etwas, was kein wohlerzogener männlicher Grayson jemals getan hätte, und lächelte. »Aber nur unter uns. Hochadmiral Matthews reißt mir den Kopf ab, wenn er spitzkriegt, daß ich mir Ihnen gegenüber Majestätsbeleidigungen herausnehme.«
GNS Jason Alvarez tauchte in die Umlaufbahn von Grayson ein, und Honor lehnte sich in den Kommandosessel des Admirals auf der Flaggbrücke des Schweren Kreuzers zurück. Ihr erschien es ein wenig anmaßend, ihr Hinterteil auf solch erlesenem Ruhepolster niederzulassen, aber Mark hatte darauf bestanden, und sie mußte immerhin zugeben, daß sie sich nicht allzu vehement dagegen gewehrt hatte.
Auf der Flaggbrücke tat nur die Stammbesatzung Dienst, während Mark die abschließenden Manöver von seinem eigenen Kommandodeck leitete, aber die Displays waren eingeschaltet, und Honor staunte mit Anerkennung und einem Gefühl der Ehrfurcht über den Fortschritt, den Grayson seit ihrem letzten Besuch erreicht hatte.
Der Planet war so wunderschön wie zuvor – und ebenso tödlich. Die Kirche der Entketteten Menschheit war hierher gekommen, indem sie vor dem floh, was sie als die seelenkorrumpierende Technologie von Alterde ansah, nur um auf einem Planeten zu stranden, der höhere Konzentrationen an Schwermetallen aufwies als die meisten Giftmülldeponien. Hätte Honor damals die Entscheidung zu fällen gehabt, so hätte sie die Planetenoberfläche zugunsten von Habitaten in der Umlaufbahn völlig aufgegeben, aber die starrsinnigen Vorfahren der heutigen Graysons hatten diese Möglichkeit von sich gewiesen. Kaum besaßen sie wieder den Raumflug, hatten sie von ihrer Nahrungsmittelproduktion so viel wie möglich in den Orbit verschoben, aber sie selbst hängten sich an die Scholle der Welt, um sie mit titanischer Kraftanstrengung zu ihrer eigenen zu machen. Die gewaltigen Konstruktionen, die mit der Alvarez in der Umlaufbahn hingen, waren noch zahlreicher als vor Graysons Eintritt in die Allianz und holten langsam zu modernen Industriestandards auf, aber noch immer waren es Acker- und Weidesatelliten, keine bewohnbaren Zufluchten.
Und das verwunderte Honor nicht im geringsten. Sie glaubte nicht, daß die Graysons überhaupt wußten, wie man sich zurückzog. Sie waren nicht mit den religiösen Fanatikern zu verwechseln, die den brudermörderischen Schwesterplaneten Masada im Endicott-System bewohnten, aber sie waren im Innersten so starrsinnig, wie es nur ein Sphinxianer wirklich zu schätzen wußte. Und für Leute, die von technikfeindlichen, fundamentalistisch-religiösen Hundertfünfzigprozentigen abstammten, hatten sie unglaubliche Flexibilität und technisches Geschick unter Beweis gestellt.
Ein erstaunlich hoher Prozentsatz der Orbitalanlagen waren Festungen, die zwar klein, aber nun, da moderne Technik zur Verfügung stand, grundlegend nachgerüstet worden waren. Und im Bau befanden sich neuere, größere Forts, um jene zu verstärken, die noch aus dem langen kalten Krieg zwischen Grayson und Masada übrig waren. Honor hatte bislang noch keine Rißzeichnungen oder Blaupausen gesehen, und doch wäre sie bereit gewesen zu wetten, daß auch die Entwürfe in beeindruckender Weise innovativ seien. Die Graysons hatten nicht etwa manticoranische Lösungen ›von der Stange‹ gekauft; zwar bedurften sie weiterhin der Beratung und technischen Unterstützung, aber sie kannten die Bedürfnisse ihrer Systemverteidigung genau und hatten mit entschlossenem Selbstvertrauen ihre eigenen Entscheidungen getroffen, wie es sich auch an der Jason Alvarez zeigte. Der Schwere Kreuzer trug nur etwa halb so viele Energiewaffen als ein vergleichbarer manticoranischer Kreuzer, aber die Energiewaffen, über die er verfügte, waren wesentlich schwerer und mit denen eines manticoranischen Schlachtkreuzers vergleichbar. Die Alvarez konnte nicht allzu viele Ziele gleichzeitig angreifen, aber diejenigen, die sie traf, würden sich daran erinnern. Der Entwurf stellte eine radikale Abweichung von den klassischen Prinzipien des Kriegsschiffbaus dar, doch angesichts der hohen Leistung moderner Energiewaffen ergab er auf kompromißlose Weise sogar Sinn. Nun, da Honor dies aufgefallen war, fragte sie sich im stillen, wie viele Aspekte der manticoranischen Bauweise denn noch von einer unbewußten Akzeptanz überkommener Konventionen bestimmt seien.
Darüber hinaus erstaunte allein der Maßstab der graysonitischen Bemühungen noch mehr als ihre innovatorische Ader. Die Gesamtbevölkerung des Planeten erreichte kaum die Zwei-Milliarden-Marke, und nur ein Viertel davon war männlich. Honor bezweifelte, daß auch nur ein Bruchteil der weiblichen Population mittlerweile in den Arbeitsprozeß eingegliedert worden war, und trotzdem hatten die Graysons – sicherlich auch mit manticoranischer Hilfe – nicht nur eine, nicht zwei, sondern ganze drei moderne Orbitalwerften errichtet. Die kleinste davon durchmaß mindestens acht Kilometer und wuchs ständig … und das alles hatten die Graysons erreicht, obwohl sie zusätzlich noch eine moderne Navy vom Kiel an aufbauen mußten.
Honor schüttelte noch verwundert den Kopf, als auf dem Display vier in der Umlaufbahn liegende Schlachtkreuzer in Sicht kamen, Schiffe der neuen Courvosier-Klasse. Tränen kitzelten Honor in den Augenwinkeln. Die Navy von Grayson bekundete auf diese Weise die Schuld gegenüber Admiral Courvosier und den anderen Manticoranern, die während der Verteidigung ihrer Heimatwelt gefallen waren. Wahrscheinlich, dachte sie, hätte der Admiral diesen Tribut sogar passend gefunden … sobald er mit dem Lachen fertig gewesen wäre. Aber …
Das Zischen, mit dem sich die Luke der Flaggbrücke öffnete, unterbrach ihren Gedanken. Sie wandte den Kopf, erblickte Mark Brentworth und lächelte ihm begrüßend zu.
»Alles sauber in der Umlaufbahn, Captain?« fragte sie, sich der neugierigen Ohren der Brückencrew bewußt, und Brentworth nickte.
»Jawohl, Mylady«, antwortete er mit gleicher Förmlichkeit. Er kam zu ihr, stellte sich neben ihren Sessel und sah auf ihr visuelles Display, dann tippte er mit dem Finger auf einen der Schlachtkreuzer. »Das ist die Courvosier selbst. Sie können sie daran erkennen, daß der Graserschacht mittschiffs fehlt. Den hat man weggelassen, um Masse für die Flaggunterkünfte und eine flottentaugliche Operationszentrale zu sparen. Die anderen sind die Yountz, Yanakov und Madrigal; zusammen bilden sie die Erste und Zwote Division.«
»Großartige Schiffe«, sagte Honor ehrlich. Die Schlachtkreuzer waren so groß wie ihre eigene Nike, möglicherweise sogar noch ein wenig größer, und ihr Entwurf spiegelte die Konzentration auf wenige, aber schwerere Energiewaffen wider, die ihr schon an der Jason Alvarez aufgefallen war.
»Das finden wir auch«, gestand Brentworth. Er griff an ihr vorbei und verstellte die Regler. Die Sicht im Display verschob sich zu einem weiter entfernten Objekt. »Und dies, Mylady, ist, was Ihr Königreich der Navy von Grayson geschenkt hat«, erläuterte er mit Gelassenheit.
Honor sog bei dem Anblick scharf die Luft ein. Sie hatte selbstverständlich davon gehört, aber nun sah sie es zum ersten Mal mit eigenen Augen. Als Admiral White Haven die mächtige havenitische Flotte im Jelzin-System in den Hinterhalt lockte, waren elf ihrer Superdreadnoughts gezwungen gewesen, noch intakt zu kapitulieren. Zwar waren sie nicht in unbeschädigtem, aber in reparablem Zustand gewesen, und White Haven und Admiral D’Orville, sein direkter manticoranischer Untergebener, hatten sie unverzüglich Grayson übereignet.
In mehr als nur einer Hinsicht handelte es sich dabei um eine großzügige Geste. Auf der persönlichen Ebene verschenkten White Haven und D’Orvüle ein schier unvorstellbares Prisengeld, und auf anderer Ebene führten etliche manticoranische Offiziere ins Feld, daß die Schiffe besser benutzt worden wären, um Manticores verzweifelten Bedarf an Großkampfschiffen zu lindern. Doch ohne einen Augenblick zu zögern, hatte Königin Elisabeth die Entscheidung White Havens gebilligt, denn trotz aller Tapferkeit und Tragkraft mußte Grayson das erste eigene Wallschiff erst noch auf Kiel legen. Dadurch war Grayson bei dem Titanenkampf, der sich im eigenen Sonnensystem abspielte, wenig mehr als ein Zuschauer gewesen, und trotzdem verdiente der Planet die erbeuteten Schiffe – und selbst eine politische Analphabetin wie ich, dachte Honor, begreift den enormen diplomatischen Bonus, den wir bekommen haben, als die GSN die Schiffe erhielt. Die Schenkung zeigte den Graysons an, wie hoch Manticore das Bündnis mit ihnen schätzte – und genau das gleiche erfuhren dadurch auch alle anderen Alliierten des Sternenkönigreichs.
Doch obwohl Honor von den Superdreadnoughts gewußt hatte, war sie emotional nicht vorbereitet gewesen, die verletzten Leviathane still unter den Geschützen der graysonitischen Orbitalforts liegen zu sehen. Diese Forts wirkten daneben wie von Lilliput stammend, aber allein die Tatsache, daß die havenitischen Großkampfschiffe hier lagen, bewies, daß die Flotte, die sie erbaut hatte, nicht unbesiegbar war. Tender umschwärmten sie; mit wütender Eile wurde repariert, umgebaut und neu ausgestattet. Es sah ganz so aus, als könnte einer der Superdreadnoughts schon bald unter graysonitischer Flagge wieder in Dienst gestellt werden.
»Wir benennen sie in Manticore’s Gift um – in ›Manticores Geschenk‹«, erklärte Brentworth ruhig und zuckte mit den Schultern, als Honor ihn daraufhin ansah. »Das erschien uns mehr als angemessen, Mylady. Ich weiß nicht, wie die anderen getauft werden sollen, und wenn wir mit ihnen fertig sind, werden sie keine echten Schwesterschiffe mehr sein. Wir bringen die Elektronik in den Superdreadnoughts auf mantikoranischen Standard und bauen in alle die neuen Trägheitskompensatoren ein, aber andererseits behalten wir die Bewaffnung, die das Gefecht überstanden hat. Ich könnte mir gut vorstellen, daß wir sie später alle auf den gleichen Standard bringen, wenn wir dazu Zeit haben; aber für den Moment konzentrieren wir uns darauf, sie so schnell wie möglich wieder kampftüchtig zu bekommen.«
»Wenn die Manticore’s Gift schon so bald wiederhergestellt ist, wie es mir vorkommt, dann stellen Ihre Leute einen neuen Rekord auf«, sagte Honor, und Brentworth lächelte, weil er merkte, daß sie es ernst meinte.
»Wir geben uns Mühe, Mylady. Unser größtes Problem besteht übrigens darin, die Schiffe zu bemannen. Sind Sie sich darüber im klaren, daß die Gesamttonnage unserer Navy nun etwa einhundertundfünfzigmal so groß ist als vor unserem Beitritt zur Allianz? Zwar steht der erste Schwung unserer Offiziere, die auf Saganami Island einen Schnellkurs absolvieren, kurz vor dem Abschluß, und das Ausmaß unserer Orbitalanlagen bedingt, daß uns erheblich mehr ausgebildete Raumfahrer zur Verfügung stehen, als man bei unserer Bevölkerungszahl vermuten möchte, aber im Augenblick rekrutieren wir sehr viele Leute aus der Handelsflotte Manticores.
Übrigens«, fügte er grinsend hinzu, »erheben sich in Ihrer Admiralität mittlerweile Stimmen mit dem Vorwurf, wir würden in ihrem Revier wildern. Selbstverständlich haben wir versprochen, die Leute so schnell wie möglich wieder zurückzugeben.«
»Ich bin sicher, das hilft«, antwortete Honor, ebenfalls grinsend. »Aber verraten Sie mir eins: Rekrutieren Sie mittlerweile gemischte Crews?«
»Jawohl, Mylady, das tun wir.« Er zuckte erneut die Achseln. »Zwar gab es einige Opposition dagegen, aber diese SDs reißen einfach ein zu großes Loch in unseren Personalbestand. Wir haben es gerade irgendwie geschafft, immer genug Leute für unsere Neubauten zu haben, aber wirklich nur gerade, und einige unserer Konservativen wollten, daß es bei den SDs genauso läuft – dann sahen sie die Zahlen. Ich fürchte jedoch, im Moment bleibt unser weibliches Personal jedoch auf die Großkampfschiffe beschränkt.«
»Wirklich? Wieso das?«
»Weil«, antwortete Brentworth und errötete leicht, »das Amt für Schiffsbau darauf bestand, daß separate Unterkünfte, Waschräume und so weiter eingerichtet werden, und nur die Wallschiffe besitzen dafür genügend Masse.« Honor blinzelte ihn erstaunt an, und seine Röte vertiefte sich. »Ich weiß ja selber, wie albern das klingt, Mylady, und Hochadmiral Matthews hat sich deswegen schon die Lippen fusselig geredet, aber das ganze Konzept gemischter Crews ist wohl noch zu neu für uns. Ich fürchte, ein wenig wird es noch dauern, bis wir uns die Torheiten abgewöhnen.«
Honor dachte eine Weile nach, dann sagte sie: »Nur nichts überstürzen, Mark. Niemand sagt Ihnen, daß Grayson alle manticoranischen Gepflogenheiten eins zu eins übernehmen muß. Und wenn Sie eins vermeiden sollten, dann eine Destabilisierung durch zu rasche Wechsel.«
Brentworth legte nachdenklich den Kopf ein wenig schräg, als wäre er überrascht zu hören, wie von allen Menschen ausgerechnet sie dieses Argument anführte, und sie lachte leise.
»Oh, ich habe schon darüber gekocht, wie unser weibliches Personal hier anfangs behandelt wurde. Trotzdem hat Ihr Volk einen unglaublichen Fortschritt geleistet, und ich weiß, daß es nicht leichtgefallen ist. Ich versichere Ihnen, Mark, daß niemand im Sternenkönigreich – vielleicht abgesehen von ein paar Idioten in der Freiheitspartei – so eine Art Strichliste oder Punktekonto führt. Und ich tu’ das mit Sicherheit nicht! Ihre Navy und ich, wir kennen uns ein wenig zu gut, um solch einen Unsinn anzufangen!«
Brentworth setzte zu einer Antwort an, doch dann schloß er den Mund und nickte ihr lächelnd zu, dann trat er von ihrem Sessel zurück und machte eine Geste in Richtung auf die Luke.
»Lady Harrington, darf ich Sie in diesem Fall einladen, mich zu begleiten? In fünfzehn Minuten werden gewisse Angehörige eben dieser Nase, darunter Hochadmiral Matthews, Admiral Garret und mein Vater, in Beiboothangar Zwo eintreffen, um Sie willkommen zu heißen.«