Kapitel 11

 

 

»Warum«, knurrte Yuri, während er an die Decke seiner Kajüte blickte, »fühle ich mich wie der arme Kerl, der auf St. Helena Napoleon bewachen musste?«

Sharon senkte ihr Buch und hob den Kopf von dem Kopikissen neben ihm. »Wer ist Napoleon? Und von einem Planeten namens St. Helena habe ich auch noch nie gehört.«

Yuri seufzte. Trotz all ihrer wunderbaren Eigenschaften – die er während des vergangenen Monats enorm genossen hatte – teilte Sharon seine Leidenschaft für Geschichte und klassische Literatur nicht.

Cachat eigenartigerweise schon – zumindest einige Aspekte der historischen Kulturen faszinierten ihn –, und auch das hatte Yuri in sein geistiges schwarzes Buch eingetragen. Dem Buch mit dem Titel: Weshalb ich Victor Cachat hasse.

Ihm war das Kindische an seinem Verhalten klar, doch in den Wochen, seit er Cachat verhaftet hatte, war sein Zorn auf den Mann immer größer geworden. Dass dieser Zorn – hier war Yuri sich selbst gegenüber ehrlich – eher von Cachats Tugenden herrührte als von dessen Lastern, schien nur noch weiter Öl in die Flammen zu gießen.

Das grundlegende Problem war, dass Cachat keine Laster hatte – außer eben Victor Cachat zu sein. In Gefangenschaft wie im Besitz der Befehlsgewalt stellte der junge Fanatiker sich allem resolut, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne die geringste Spur irgendwelcher Selbstzweifel oder Ängste, wie sie Yuri sein ganzes Leben lang geplagt hatten. Cachat erhob niemals die Stimme im Zorn; niemals wich er ängstlich zurück; er jammerte nicht, beklagte sich nicht, bat nicht.

Hin und wieder malte sich Yuri aus, wie Victor Cachat vor ihm kniete und ihn um Gnade anflehte. Selbst für Yuri waren diese Fantasiebilder ausgewaschen und farblos – und sie verschwanden in Sekundenschnelle. Eine Unmöglichkeit, sich vorzustellen, dass Cachat um irgendetwas bettelte. Da konnte man sich gleich einen Tyrannosaurus vorstellen, der heulend auf den Knien lag.

Es war einfach nicht fair, verdammt noch mal. Dass sich Cachat in den Wochen seiner Gefangenschaft als begeisterter Anhänger der vergessenen alten Kunstform, die man Film nannte, entpuppt hatte, war Yuri als schlimmste Verfehlung von allen vorgekommen. Wilde Fleischfresser aus dem Mesozoikum hatten gefälligst nicht zu höheren Empfindungen fähig zu sein.

Und ganz bestimmt sollte es ihnen verboten sein, mit menschlichen Wesen über Kunst zu diskutieren! Was Cachat, unnötig zu sagen, getan hatte. Und ebenso überflüssig anzumerken ist, dass er die Gelegenheit genutzt hatte, Yuri wegen Nachlässigkeit zu schelten.

 

 

 

 

Das war in der ersten Woche geschehen.

»Unsinn«, fuhr Cachat ihn an. »Jean Renoir ist der am meisten überschätzte Regisseur, der mir einfällt. Die Spielregel – angebliche eine brillante Analyse der Mentalität der Elite? Lächerlich. Wenn Renoir versucht, die Gefühllosigkeit der Oberschicht darzustellen, fällt ihm nichts Besseres ein als eine alberne Hasenjagd?«

Yuri funkelte ihn an, und Major Bürger tat es ihm gleich, die dritte in der kleinen Gruppe an Bord der Hector, die sich als Filmkenner entpuppt hatte und zu dem Kreis gehörte, der in Cachats Zelle formlose Gespräche zum Thema führte.

 

 

 

 

Nun, formaljuristisch galt sie als ›Zelle‹, obwohl sie eigentlich die frühere Kammer eines Lieutenants au Bord des Superdreadnoughts war. Ebenso formaljuristisch war sie ›verschlossen‹, und vor der Luke stand immer ein ›Posten‹ Wache.

›Formaljuristisch‹ war genau das treffende Wort dafür. Yuri bezweifelte nicht, dass Cachat das simple Schloss innerhalb von zehn Sekunden hätte knacken können. Ebenso machte er sich keine Illusionen, was die Posten betraf: neun von zehn der Menschen, die an der Luke Wache standen, hätten den früheren Sonderermittler eher gefragt, wie sie ihm helfen könnten, anstatt ihn aufzufordern, in seine Zelle zurückzukehren.

Bitter erinnerte sich Yuri an die Verhaftungsszene.

›Verhaftung‹. Pah! Es war mehr eine zeremonielle Prozession gewesen. Cachat schwang sich aus der Andockröhre, gefolgt von einer Eskorte aus Leuten des Kampfverbands – während Major Lafittes Marines und Major Bürgers SyS-Leute sich aufgereiht hatten, um ihn zu empfangen.

Theoretisch hatten sie Cachat in Gewahrsam nehmen sollen. Kaum jedoch hatte sich Cachat über die Linie auf dem Deck geschwungen, welche die legale Grenze des Superdreadnoughts darstellte, als die Marines Haltung annahmen und die Gewehre präsentierten. Major Bürgers SyS-Leute auf der anderen Seite hatten sich nach einer Sekunde ihrem Beispiel angeschlossen.

Yuri war erstaunt gewesen, weil er dieses Zeremoniell ganz gewiss nicht angeordnet hatte. Er gab allerdings auch keinen Gegenbefehl – nicht, nachdem er die harten Mienen der Marines und SyS-Leute betrachtet hatte.

Er hatte nie begriffen, wie Cachat es anstellte, aber irgendwie …

So, stellte er sich vor, hatte die Alte Garde stets in Gegenwart Napoleons reagiert. Wirklichkeit, Logik, Gerechtigkeit – zum Teufel damit. In Sieg oder Niederlage, der Kaiser blieb der Kaiser.

»Wenn Sie eine wahrhaft herausragende Darstellung der Brutalität der Macht sehen wollen«, fuhr Cachat fort, »dann sehen Sie sich Mizoguchis Sansho Dayu – Ein Leben ohne Freiheit an.«

Dianas Funkeln ließ nach. »Nun … okay, Victor, da muss ich Ihnen zustimmen. Ich bin selber ein großer Fan von Mizoguchi, aber ich schätze Ugetsu – Erzählungen unter dem Regenmond noch höher. Dennoch finde ich, dass Sie Renoir Unrecht tun. Was ist mit …«

»Einen Augenblick, bitte. Da wir schon über das Thema reden – wenn auch auf Umwegen –, möchte ich die Gelegenheit ergreifen und Volkskommissar Radamacher fragen, wie lange er noch die Zügel schleifen lassen will, bevor er die Säuberung abschließt.«

»Wovon reden Sie da?«, fuhr Yuri ihn an, doch sank ihm dabei das Herz in die Magengrube. Er wusste nämlich genau, wovon Cachat sprach. Er hatte es einfach …

Hinausgezögert.

»Das wissen Sie doch genau!«, versetzte Cachat. »Faul sind Sie, aber nicht dumm. Überhaupt nicht dumm. Sie haben sich in der Volksflotte einen Befehlsstab geschaffen, das ist wunderbar. Schön ist auch, dass Sie aus Marines und ausgewählten SyS-Leuten eine solide Sicherungsabteilung gebildet haben, die Ihre Befehlsgewalt durchsetzt. Aber an Bord dieses Superdreadnoughts – auf der Tilden steht es nicht viel besser und stellenweise ist es sogar noch schlimmer – wimmelt es noch immer von unzuverlässigen Elementen. Ganz zu schweigen von einer kleinen Gruppe brutaler Rowdys. Ich warne Sie, Volkskommissar Radamacher: Sie verlieren die Kontrolle, wenn Sie das noch länger dulden.«

Yuri schluckte. Cachat sprach die Wahrheit, das wusste er genau. Beide Superdreadnoughts hatten gewaltige Besatzungen, die bis auf eine Hand voll Marineinfanteristen komplett der Systemsicherheit angehörten. Einigen dieser SyS-Leute – herausragende Beispiele waren Major Bürger und Sergeant Rolla – hätte Yuri sein Leben anvertraut; was er im Grunde sogar tat.

Die Übrigen … die meisten davon waren einfach Menschen. Menschen, die sich aus den gleichen Gründen freiwillig auf ein Großkampfschiff der SyS gemeldet hatten, aus denen Menschen aus den niedrigen Schichten der Gesellschaft sich freiwillig zum Militärdienst melden: als Ausweg aus den Wohntürmen der Dolisten, als Quelle eines passablen, regelmäßigen Einkommens; Sicherheit; Ausbildung; Aufstiegschancen. Finstere Hintergründe gab es nicht.

Diese Menschen hatten die Wachablösung willig hingenommen, besonders, nachdem klar geworden war, dass Yuri ein Waffenstillstandsabkommen geschlossen hatte, bei dem sie keine unmittelbaren Repressalien befürchten mussten, so lange sie Frieden hielten.

Dennoch gab es an Bord der Superdreadnoughts mehr als genug Unteroffiziere und Mannschaften – und sehr viele Offiziere –, die mit den neuen Verhältnissen alles andere als zufrieden waren. Sie hatten ihren Dienst bei der Systemsicherheit genossen und hätten eine Rückkehr des Regimes der eisernen Hand begrüßt – vor allem, da sie jeden Grund zu der Aussicht hatten, ihr sorgloses Dasein als die Finger jener eisernen Hand dann wiederaufnehmen zu können.

»Verdammt«, beschwerte sich Yuri – und verabscheute seine Stimme, die selbst in seinen eigenen Ohren weinerlich klang –, »ich habe niemals eingewilligt, eine Nacht der Langen Messer durchzuführen.«

Cachat runzelte die Stirn. »Wer hat je von Messern gesprochen? Und sie brauchten auch nicht lang zu sein. Um einem Mann die Kehle durchzuschneiden, genügt eine sieben Zentimeter lange Klinge. Tatsächlich – haben Sie eigentlich alles vergessen? – waren in den Attentäterkursen der Akademie sieben Zentimeter die Klingenlänge der Wahl.«

»Schon gut«, seufzte Yuri. »Es sollte eine historische Anspielung sein. Es gab einmal einen Tyrannen namens Adolf Hitler, der sich nach seiner Machtübernahme gegen seine fanatischsten Anhänger wandte, die ihm erst zur Macht verholfen hatten. Die Rechtgläubigen waren plötzlich zu einer Gefahr für ihn geworden. Er ließ sie während einer einzigen Nacht alle liquidieren.«

Cachat grunzte. »Ich verstehe immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen. Schließlich schlage ich nicht vor, dass Sie Diana liquidieren sollen. Oder Major Lafitte, Admiral Chin, Commodore Ogilve oder einen der ausgezeichneten Unteroffiziere – aus den Reihen der Marines und der SyS –, die Sie an die Macht gebracht haben. Ich weise nur auf etwas hin, das eigentlich offensichtlich sein müsste: An Bord dieser Schiffe gibt es eine Reihe brutaler Schläger, die Sie schon längst hätten verhaften lassen müssen. Leute, die in ein echtes Gefängnis gehören – auf dem Planeten, wo sie nicht entkommen können –, aber nicht in dieses alberne Ding, in das Sie mich gesteckt haben.«

Diana Bürger sah besorgt drein. »Ah, Yuri, ich sage es nicht gern, aber ich stimme dem Sonderermitt … Captain Cachat zu. Offen gesagt ist mir die politische Verlässlichkeit egal, aber wir bekommen allmählich Probleme mit der Aufrechterhaltung der alltäglichen Disziplin. Eine Menge Probleme sogar.«

Yuri zögerte. Cachats Gesicht schien ganz kurz weich zu werden.

»Sie sind ein großartiger Schild, Yuri Radamacher«, sagte er ruhig. »Trotzdem braucht die Republik von Zeit zu Zeit auch ein Schwert. Warum also lassen Sie sich – nur diese eine Mal – nicht von einem Schwert beraten?«

Mit einer Kopfbewegung wies der junge SyS-Captain auf den Schreibtischcomputer. Das Ding hatte hier natürlich nichts zu suchen. Niemand, der ganz bei Verstand war, hätte einem Gefangenen wie Cachat einen Computer überlassen. Gewiss, Yuri hatte ihn mit einem Passwort geschützt. Ha. Er fragte sich, ob Cachat auch nur zwei Stunden gebraucht hatte, um es zu knacken.

Aber …

Einem Mann wie Cachat einen Computer zur Verfügung zu stellen war schlichtweg eine Frage der Menschenwürde. Ihn entfernt zu haben wäre das Gleiche gewesen, als hätte man auf St. Helena von Napoleon verlangt, dass er auf dem Boden schlief oder sich in ein Bettlaken kleidete.

Cachat schien seine Gedanken lesen zu können. »Ich habe nicht versucht, ihn zu benutzen, Yuri«, sagte er leise. »Aber wenn Sie sich einloggen, werden Sie ohne Mühe meine Aufzeichnungen finden. Das Schlüsselwort lautet ›Ginny‹, das Passwort ›Zunge‹.«

Aus irgendeinem Grunde schien Cachat leicht zu erröten. »Ist egal. Ein persönlicher Bezug, an den ich mich … leicht erinnere. Sie kommen damit an eine Liste von Personen, die ich zusammengestellt habe, als ich noch auf diesem Kriegsschiff agierte. Die Liste enthält natürlich nur Besatzungsmitglieder der Hector Van Dragen. Sie werden das Gegenstück dazu an Bord der Tilden auf dem Computer finden, den ich während des Einsatzes dort benutzt habe, nur dass sie natürlich ausführlicher ist, weil ich auf dem Schiff mehr Zeit hatte.«

Das Erröten schien sich zu vertiefen. »Schlüsselwort und Passwort lauten dort Sari und Wackelpopo

Diana platzte fast vor Lachen. »Ginny – Zunge – Sari – Wackelpopo ausgerechnet. Victor, Sie Filou! Wer hätte gedacht, dass Sie ein Ladykiller sind? Ihre Freundin würde ich wirklich mal gern kennen lernen, ganz gleich, wer sie ist.«

Der junge Mann, der plötzlich gar nicht nach einem Fanatiker aussah, schien kurz vor dem Ersticken zu stehen. »Sie ist nicht … ach, verflixt. Sie ist nicht meine Freundin. Tatsächlich ist sie verheiratet … ach, es ist egal. Nur eine Frau, die ich mal gekannt habe und sehr bewunderte.« Er klang sehr defensiv als er sagte: »›Wackelpopo‹ bezieht sich nur auf ihre Legende von damals, und ›Zunge‹ habe ich genommen, weil … denken Sie einfach nicht mehr daran. Man muss das nun wirklich nicht ausführen.«

Diesmal neigte Yuri tatsächlich dazu, Cachat vom Haken zu lassen, anstatt ihn zu piesacken. Cachat den Fanatiker verabscheute er. Cachat den jungen Mann … vermochte man nicht einmal nicht leiden zu können.

»Also gut, Victor, wir denken einfach nicht daran«, sagte er. »Aber was steht nun auf der Liste?«

Der Fanatiker kehrte augenblicklich zurück. »Jeder, den ich entweder verhaften oder zuallermindest aus dem Dienst der Systemsicherheit entlassen wollte. Natürlich hatte ich nie gehofft, es alles auf einmal tun zu können. Wahrscheinlich hätte ich auch nur anfangen können, denn ich wusste ja nicht, wie lange Saint-Just mich hierher abkommandiert lassen würde. Sie hingegen können mit dem Haufen auf einmal aufräumen.«

Radamacher beäugte den Computer. Dann erhob er sich seufzend und setzte sich vor den Bildschirm.

»Nun, wir können uns Ihre Liste ja wenigstens ansehen.«

 

 

 

 

Der erste Eintrag auf der Liste lautete: Alouette, Henri. GravSen Tech l/c.

»Verdammt«, murmelte Yuri. »Den hatte ich völlig vergessen, nachdem hier die Hektik ausbrach.«

Zu Alouette hatte sich Cachat notiert:

Boshafter Schlägertyp. Inkompetent und pflichtvergessen. Vermute, dass er seine Abteilung terrorisiert, was der Gesamtleistung der Gruppe schadet. Verhaftung bei der ersten Gelegenheit. Höchststrafe verhängen, nach Möglichkeit hinrichten, wenn Beweise ausreichend. Beweise lassen sich erlangen, sobald er verhaftet ist und seine Kameraden keine Vergeltung mehr befürchten müssen.

»Verdammt«, murmelte Yuri noch einmal. »Ich habe wirklich die Zügel schleifen lassen.«

 

 

 

 

Die Säuberung wurde drei Nächte später durchgeführt – auf beiden Superdreadnoughts gleichzeitig.

Major Bürger führte die Operation an Bord der Tilden durch, da man auf diesem Schiff noch nicht daran gewöhnt war wie auf der Hector, Marines als Sicherheitskräfte eingesetzt zu sehen. Captain Vesey, der mittlerweile dankbar war, dass die Disziplin von außen wiederhergestellt werden sollte, erhob keinen Einwand. Zwei seiner Brückenoffiziere, darunter der I.O. protestierten, doch damit hatte Bürger gerechnet. Die beiden Offiziere wurden in Handschellen abgeführt. Beide hatten sie weit oben auf Cachats Liste gestanden.

An Bord der Hector wurde die Säuberung größtenteils von Marineinfanteristen unter Major Lafitte in die Tat umgesetzt. Offiziell kommandierte allerdings Jaime Rolla den Zugriff; Yuri hatte ihn am Tag zuvor zum diensttuenden Lieutenant befördert.

Erneut hatte er die Zügel schliefen lassen. Yuri fand Rollas Namen auf einer anderen Computerliste Cachats: diesmal unter dem Schlüsselwort Hotelbett und dem Passwort Gin-Rommé.

Die Liste trug den Titel: Beförderungsvorschläge, und Rolla stand an oberster Stelle. Cachat hatte über ihn geschrieben:

Ausgezeichneter SyS-Mann. Intelligent, diszipliniert, beherrscht. Strahlt Zuversicht aus, weckt Loyalität bei seinen Untergebenen. Absurd, dass er noch immer Unteroffizier ist. Eine weitere Hinterlassenschaft von Jamkas Irrsinn. Augenblicklich zum Titular-Lieutenant befördern. Weiterleitung des Namens zur Kriegsschule verzögern. Vielleicht brauchen wir ihn hier.

Yuri hatte sich über die letzten beiden Sätze gewundert und überlegt, ob er Cachat fragen sollte, warum er Rolla nicht der Offiziersschule auf Haven als Kandidaten melden wolle.

Dann, als er begriff, wie sehr er Rollas stabilisierenden Einfluss vermissen würde, glaubte er zu verstehen. Obwohl … was sollte es Cachat scheren? Er hatte doch schließlich nicht das Problem, eine Revolution durchführen zu müssen.

Dennoch ließ er die Frage ungestellt. Er ärgerte sich ohnedies schon genug über Cachat, denn jedes Mal, wenn er in den Listen las, kam er sich vor wie ein Idiot.

Und genauso, da war er sich völlig sicher in seiner Düsterkeit, musste sich Napoleons Gefängniswärter gefühlt haben, wann immer der Kaiser ihn auf St. Helena beim Schach schlug. Wieder.

 

 

 

 

Alouette wurde nie verhaftet. Er floh vor der Ergreifung, wurde in die Ecke gedrängt und versuchte zu entkommen, indem er in seinen Skinsuit stieg, sich einen SUT-Tornister umschnallte und sich auf die Außenhaut der Hector ausschleuste. Offenbar – es war hinterher nicht möglich festzustellen – hoffte er, den Abstand zu der nächsten Handelsraumstation zu überbrücken, die La Martine auf der gleichen Umlaufbahn wie der Superdreadnought umkreiste.

Diese Flucht hätte allerdings epische Dimensionen besessen. Selbst für einen hochqualifizierten und in EVAs sehr erfahrenen Raumfahrer hätte es ein Meisterstück bedeutet, die Entfernung nur mit SUT-Tornister in einem Skinsuit zurückzulegen, dem die Navigationssysteme eines Hardsuits fehlten.

Alouette war weder hochqualifiziert noch erfahren. Er hatte das Kriegsschiff vorher noch nie verlassen. Offensichtlich aus Panik hatte er den Schubhebel auf volle Kraft vorgeschoben und war gegen eine nahe Gravitationsantenne geprallt. Dort blieb er minutenlang, wurde von den unter Volllast laufenden Schubdüsen gegen die Antenne gepresst; er regelte den Schub nicht herunter, entweder weil er sich nicht erinnerte, wie es ging, oder – falls das Schicksal mit ihm fühlte – weil er beim Aufprall das Bewusstsein verloren hatte.

Die Frage war auch rein akademisch. Man konnte Alouette erst bergen, nachdem der SUT-Tornister allen Kraftstoff verbrannt hatte, und zu diesem Zeitpunkt hatte der Schub den Skinsuit mit gewaltiger Ironie ausgerechnet an der Antenne zerschlissen, die der Gravitationstechniker während seiner gesamten Dienstzeit an Bord der Hector nicht gewartet hatte. Die Dekompression hatte ihm den Rest gegeben. Die Leiche, die man in die Hector zurückschaffte, war nur noch eine zermalmte, weiche Masse.

Gnade erlangte Alouette dadurch nicht. Erneut beschloss Yuri, einen Rat Cachats zu befolgen:

»Wenn Sie mit dem Schwert zustoßen, Volkskommissar, dann stoßen Sie es bis zum Griff hinein. Lassen Sie die Leiche exekutieren. Vor versammelter Mannschaft.«

Und so geschah es. Ned Pierce wurde sein Wunsch doch noch erfüllt: Er leerte ein ganzes Magazin in Alouettes Leiche, nach man sie an ein Schott gebunden hatte.

Später bestand der Marinessergeant – lautstark – darauf, bei dieser Tat keinerlei Genugtuung empfunden zu haben. Yuri war indes der Ansicht, dass das kalte Grinsen auf seinem Gesicht, während er dieses Dementi äußerte, seine Behauptung Lügen strafte. Und nicht anders ging es anscheinend den etwa hundert Unteroffizieren und Mannschaften, die man in der Abteilung als Zeugen des Geschehens versammelt hatte.

Gewiss, das Dutzend Leute, die mit Alouette in einer Gruppe gewesen waren, hatten gejubelt. Doch auch sie sahen dabei recht blass aus. Yuri hatte keinen Zweifel, dass keiner von ihnen auch nur die geringste Neigung mehr verspürte, später an Alouettes Stelle zu treten. Oder etwas anderes zu tun, womit er den Zorn des neuen Regimes auf sich herabbeschwor.

Yuri empfand darüber keinerlei Genugtuung, auch wenn er die Ironie zu schätzen wusste. Er kannte den alten Ausspruch, dass Satan, sollte er je den Himmel erobern, keine andere Wahl bliebe, als die Eigenschaften Gottes anzunehmen. Nun hatte Yuri begriffen, dass auch die Umkehrung galt: Wenn Gott je die Leitung der Hölle übernahm, gäbe der Herr einen verdammt guten Teufel ab.

 

 

 

 

Und so verstrichen in dem fernen Provinzsektor La Martine die Wochen. Kein Wort von Haven. Nichts als wilde Gerüchte, gelegentlich von Handelsschiffen überbracht. Fest stand nur, dass das Zentralsystem der Volksrepublik sich nach wie vor in der Hand der Volksflotte befand und eine Anzahl Provinzsektoren, geführt von Einheiten der Systemsicherheit, gegen das neue Regime rebellierte.

Der La-Martine-Sektor jedoch blieb ruhig. Binnen eines Monats waren die Zivilbehörden so selbstsicher geworden, dass sie forderten, Radamacher – den nun jeder den Kommissar für La Martine nannte – möge die Piratenabwehrpatrouillen wiederaufnehmen lassen. Gewiss, es hatte keine Zwischenfälle gegeben. Vom Standpunkt des Handels aus gesehen gab es jedoch keinen Grund, nachlässig zu werden.

Als Yuri zögerte, verlangte die zivile Delegation, Cachat sprechen zu dürfen.

»Wieso?«, wollte Yuri wissen. »Er steht unter Arrest. Er hat hier keinerlei Weisungsbefugnis. Er trägt nicht einmal mehr einen Titel außer seinem Dienstgrad als Captain.«

Egal. Die Gesichter der Delegierten blieben starr. Yuri seufzte und ließ Cachat in sein Büro bringen.

Cachat hörte sich die Delegation an. Dann – man braucht es nicht eigens zu erwähnen – begann er ohne Zögern zu sprechen.

»Selbstverständlich sollten Sie die Patrouillen wiederaufnehmen. Wieso nicht, Kommissar Radamacher? Sie haben doch alles gut in der Hand.«

Yuri knirschte fast mit den Zähnen, als er die zufriedenen Mienen der Zivilisten sah. Genauso – jawohl! – mussten die Fischer von St. Helena sich den Wächtern gegenüber auf den Kaiser bezogen haben, wenn sie sich mit ihnen über die richtige Methode zur Reparatur von Netzen stritten.

 

 

 

 

Dennoch ordnete er die Wiederaufnahme der Patrouillen an.

Eine andere Wahl blieb ihm eigentlich nicht. Yuri begriff allmählich, dass Cachat auch in Bezug auf seine eigene Verhaftung Recht gehabt hatte. Auf irgendeine undefinierbare Weise hing Yuris Legitimität plötzlich davon ab, dass er den Mann in Gewahrsam hatte, welcher der letzte Repräsentant des Saint-Just-Regimes im La-Martine-Sektor gewesen war.

Hätte der Mann, den er in Haft hielt, je protestiert oder sich beschwert, hätte sich die Situation ganz anders entwickeln können. Yuri ertappte sich oft dabei, wie er sich wünschte, die Nachrichtenreporter, die regelmäßig an Bord der Hector auftauchten, um wieder eine neue Aufnahme von Cachat in Gefangenschaft zu machen, endlich einmal ein passendes Bild schießen würden: das des finsteren, zusammengekauerten, störrischen, endlich gestellten Tyrannen.

Aber nein. In den Zeitungsdateien erschienen immer wieder die gleichen Bilder. Ein junger Mann, steif und würdevoll, der mehr wie ein Prinz aussah als an einen inhaftierten Fanatiker erinnerte.

Als Yuri mit Sharon darüber sprach, lachte sie nur und sagte ihm, er solle mit dem Schmollen aufhören.

 

 

 

 

Dann endlich kam eine offizielle Nachricht. Ein Kurier traf von Haven kommend ein und brachte eine amtliche Verlautbarung der neuen Regierung.

Kaum hatte das Kurierboot seine Alpha-Transition gemacht, als Yuri den typischen Hyperabdruck eines schnellen Depeschenschiffes erkannte. Kein anderes hyperraumtüchtiges Raumfahrzeug war ähnlich klein, deshalb konnte es sich um keinen Frachter handeln – und schon gar nicht um ein Kriegsschiff. Augenblicklich rief Yuri alle Befehlshaber des Kampfverbands auf die Brücke der Hector. Als das Kurierboot in Reichweite war und beginnen konnte, Signale zu übertragen, waren sie alle anwesend. Admiral Chin, Commodore Ogilve, Kommissar Wilkins, Captain Vesey, Major Bürger, Major Lafitte. Captain Wright, jüngst befördert, um Gallanti als Kommandant der Hector abzulösen. Und natürlich Sharon.

Als Yuri die ersten Nachrichten las, seufzte er vor Erleichterung auf. Die Depesche begann mit der Feststellung, dass Admiral Theisman zugunsten einer Übergangsregierung abgedankt hätte. Einer zivilen Regierung. Haven wurde also doch keine Militärdiktatur. Abgesehen von einer Wiederherstellung des alten Regimes war Yuris größte Sorge gewesen, Theisman könnte die Macht nicht wieder aus den Händen geben wollen.

Die Nachricht ging mit einer Namenliste weiter – die Vertreter der Übergangsregierung. Beim ersten dieser Name wäre Yuri fast das Herz stehen geblieben.

Eloise Pritchard, Provisorische Präsidentin.

Der König ist tot, es lebe die Königin. Saint-Justs Liebling. Einmal Ringelreihen, und wir sind wieder am Anfang.

Wir sind alle tot.

Doch dann las er den Rest der Liste und begriff die Wahrheit, bevor er Sharons erschrockenes Flüstern hörte.

»Allmächtiger. Sie muss die ganze Zeit zur Opposition gehört haben. Sieh dir nur an, wer da steht.«

Die anderen drängten sich näher und versuchten Yuri über die Schultern zu blicken.

»Ja, du hast Recht«, stimmte er ihr zu. »Ich kenne viele von ihnen von früher. Die Hälfte der Liste besteht aus Aprilisten. Die besten von ihnen, vorausgesetzt, sie haben die letzten zehn Jahre überlebt. Hier – sieh dir das an! Sie haben sogar Kevin Usher. Ich wusste nicht, dass er noch lebt. Das Letzte, was ich über ihn gehört habe, war, dass man ihn in Ungnade zur Marineinfanterie abgeschoben hätte. Ich dachte, mittlerweile hätte man ihn längst verschwinden lassen.«

»Wer ist dieser Usher?«, fragte Ogilve.

»Ein verdammt guter Marine, soviel weiß ich«, knurrte Lafitte. »Ich kenne ihn nicht persönlich, aber ich habe zwo Offiziere gekannt, die auf Terra unter ihm gedient haben.« Lafitte lachte leise. »Sie sagten, er säuft wie ein Loch und ist kaum das Rollenmodell für einen Colonel. Manchmal ließ er sich sogar in Kneipenschlägereien verwickeln. Seine Leute aber schworen auf den Mann, und diese beiden Offiziere sagten – und es waren gute Leute –, sie hätten ihn gern mal im Gefecht erlebt. Und das« – sein Knurren verstärkte sich – »ist das Einzige, was zählt.«

»Ich kenne ich persönlich«, sagte Yuri leise. »Sogar ganz gut, früher. Es ist lange her, aber …«

Seine Augen hafteten mit Befriedigung an Ushers Namen, mit noch größerer Zufriedenheit allerdings auf seinem Titel. Direktor der Federal Investigative Agency.

»Was meinen Sie, ist diese ›Federal Investigative Agency‹?«, fragte Genevieve Chin.

»Ich bin mir nicht sicher«, antwortete Yuri, »aber ich vermute, dass Theisman – oder Pritchart – beschlossen haben, die SyS aufzulösen und ihre Polizeifunktionen von den Geheimdienstaufgaben zu trennen. Gott sei Dank. Und Kevin Usher ist Chef der Bundespolizei geworden. Ha!«

Er tanzte fast vor Freude. »Das ist ja, als würde man einem Hahn den Befehl über alle Füchse geben! Ausgerechnet Kevin Usher als Polizist! Aber er ist ein sehr, sehr zäher Gockel.« Er grinste Major Lafitte an. »Die armen Füchse tun mir Leid. Ich kann mir niemanden denken, der so verrückt wäre, mit ihm in einer Bar Streit anzufangen.«

Während er sich in der Freude gesonnt hatte, Kevins Namen zu lesen, hatte Sharon auf der Liste weitergelesen. Plötzlich brach sie in schallendes Gelächter aus. Sie klang fast hysterisch.

»Was ist denn so komisch?«, fragte Yuri.

Sharon, die nicht allzu sicher auf den Beinen stand, nahm Yuri bei den Schultern und zwang ihn mehr oder weniger, auf einem der Sessel Platz zu nehmen. »Wenn du den Rest liest, solltest du sitzen«, kicherte sie. »Besonders wenn du zu den Namen der provisorischen Sektorgouverneure kommst.«

Ihr Finger zuckte auf eine bestimmte Zeile. »Da, sieh's dir an. Hier steht La Martine.«

Yuri las den Namen des neuen provisorischen Sektorgouverneurs.

»Prinz im Exil, allerdings!«, johlte Sharon.

Radamacher fauchte einen Befehl.

»Holt Cachat. Holt ihn her. Sofort

 

 

 

 

Als Cachat auf die Brücke kam, trat Yuri ihm entgegen und knallte die Liste auf eine Konsole.

»Sehen Sie sich das an!«, befahl er in anklagendem Ton. »Lesen Sie es selbst!«

Verblüfft folgten Cachats Augen der Liste. Beim ersten Mal überflog er sie nur schnell. Dann, als er sie zum zweiten Mal las, erkannte Yuri die Wahrheit. Er wusste mit Gewissheit, dass es wahr war.

Der harte junge Fanatiker war am Ende verschwunden. Vor dem Kommissar stand nur noch ein Vierundzwanzigjähriger, der jünger aussah. Er war ein wenig verwirrt und sehr unsicher.

Seine dunklen Augen – seine braunen Augen – waren tränenfeucht.

»Du Mistkerl«, zischte Yuri. »Du verräterischer Hund. Du hast mich angelogen. Du hast uns alle angelogen. Du bist der verdammt beste Lügner, dem ich je begegnet bin. Du hast uns alle zum Narren gehalten.«

Anklagend wies er mit dem Finger auf die Liste.

»Gib es zu!«, brüllte er. »Das war alles nur gespielt

Honor Harrington 15. Die Spione von Sphinx
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