Kapitel 3
Ironischerweise war die Kammer, in die Yuri Radamacher gesperrt wurde, nachdem er Cachats Kabine verlassen und sich bei den Posten gemeldet hatte, größer und weniger karg als sein Quartier an Bord von WS Chartres, dem Flaggschiff des Bürger Commodores. Die Kammer qualifizierte sich nur knapp nicht als Luxuskabine – wahrscheinlich war irgendein namenloser SyS-Lieutenant ausquartiert worden, um Platz für ihn zu schaffen. Das war immer einer der Vorteile gewesen, wenn man an Bord eines Superdreadnoughts diente: Auf diesen Kolossen gab es einfach mehr Platz.
Dennoch war es nur eine Schiffskammer. Nachdem die Posten gegangen waren – überflüssig zu erwähnen, dass man die Luke verschlossen hatte –, benötigte Radamacher keine fünf Minuten, um sie komplett zu durchsuchen. Ohnehin war diese Beschäftigung nichts als reine Ablenkung gewesen: der psychologische Selbstschutz eines Menschen, der sich dagegen wehrt, dass ihn die leisen Schreckensschreie in seinem Hinterkopf überwältigen.
Schon bald jedoch konnte er sich nicht mehr ablenken. Da er überhaupt nicht sagen konnte, was die Zukunft für ihn bereithielt, ließ Radamacher sich auf den einen kleinen Sessel der Kammer sinken und versuchte, seine Aussichten so objektiv zu betrachten wie möglich.
Seine Aussichten waren … nicht gut. Ein SyS-Offizier, der von der SyS unter Arrest gestellt wurde, brauchte sich gewöhnlich keine Hoffnungen mehr zu machen. Man verzichtete dann sogar auf das Feigenblatt eines Prozess vor dem Volksgericht. Die Systemsicherheit brachte ihre schmutzige Wäsche nicht an die Öffentlichkeit. Summarische Untersuchung. Summarisches Verfahren. Oft genug, summarische Hinrichtung.
Positiv fiel ins Gewicht, dass er mit Admiral Chin und Commodore Ogilve zwar im Laufe der letzten Jahre immer enger zusammengearbeitet – eine Beziehung zwischen Raumoffizieren und zu deren politischer Beaufsichtigung abgestelltem Kommissar, wie sie die SyS nicht gerade gern sah –, gleichzeitig aber stets darauf geachtet hatte, nach außen hin die Form zu wahren.
Ein weiterer Aktivposten war, dass sie sich auf nichts eingelassen hatten, als Bürgerin Admiral McQueen vorsichtig bei ihnen vorfühlte. Tatsächlich hatten sie wirklich nie zu McQueens Verschwörung gehört.
Andererseits …
Es konnte kaum Zweifel bestehen, in welche Richtung Bürgerin Admiral Chin, Bürger Commodore Ogilve und Yuri Radamacher tendiert hätten, wäre McQueen mit ihrem Putsch erfolgreich gewesen. Keiner von ihnen hatte McQueen sehr weit getraut, doch wenn Oscar Saint-Just die Alternative war, traf die alte Binsenweisheit, das bekannte Übel sei besser als das unbekannte, einfach nicht mehr zu. Alles wäre besser gewesen als das Regime Saint-Justs.
Yuri versuchte sich mehr auf die positive Seite zu konzentrieren. Immerhin hatten sie auf McQueens Vorstöße niemals mit irgendetwas reagiert, das man, selbst wenn man es dehnte, mit irgendwelcher Berechtigung als Beteiligung an der Verschwörung auslegen konnte.
Das zumindest versuchte Yuri sich einzureden. Nur war er seit Jahren Offizier der Systemsicherheit und wusste daher besser als ihm lieb war, wie … flexibel Saint-Just eine ›berechtigte Auslegung‹ definierte. Fest stand, dass es seit ungefähr Jahresfrist zu einem inoffiziellen Depeschenwechsel zwischen McQueen und Admiral Chin gekommen war, von dem Ogilve und Yuri gewusst hatten. Waren die Depeschen auch überaus vage gehalten gewesen, erfuhr die Systemsicherheit von der Existenz dieser Korrespondenz, wäre ihr das Grund genug, sie alle drei summarisch zu liquidieren.
Falls sie es erfuhr. Yuri versuchte sich mit der sehr großen Wahrscheinlichkeit zu trösten, dass sie es eben nicht herausfinden könnte. Die Depeschen waren natürlich nur verbal und durch einen Kurier McQueens übermittelt worden. Dieser Offizier war stets die gleiche Person gewesen: Jessica Hackett, eine Angehörige von McQueens Stab. Gewiss verstand sich die Systemsicherheit hervorragend darauf, Informationen aus ihren Gefangenen herauszuholen, doch bestand eine Chance von wenigstens fünfzig Prozent, dass Hackett zu den vielen Opfern gehörte, die ums Leben gekommen waren, als Saint-Just McQueens Gefechtsstand mit einer verborgenen Atombombe vernichtet hatte. Radioaktivem Schutt vermochte nicht einmal ein Verhörspezialist der SyS noch Informationen abzupressen.
Einen kleinen Trost gab es zumindest. Yuri konnte sich sehr gut ausmalen, wie die Systemsicherheit nach McQueens Putschversuch wütete. Köpfe fielen links und rechts, und viele. Nur aus einem einzigen Grund hielt sich Saint-Just für seine Verhältnisse noch zurück: Wegen der bedenklichen Lage des Krieges gegen das Sternenkönigreich war er gezwungen, die Auswirkungen auf die Volksflotte weitestgehend zu begrenzen. Andererseits definierte Oscar Saint-Just eine ›weitestgehende Begrenzung‹ so, wie man es von einem Wahnsinnigen eben erwartete.
Yuri seufzte und fragte sich zum millionsten Mal, wie die Revolution so sehr aus dem Ruder laufen konnte. Als langjähriger Dissident des Legislaturistenregimes – weswegen er drei Jahre in einem Gefängnis der Inneren Abwehr gesessen hatte, aus dem er erst nach Rob Pierres Sturz der Regierung befreit worden war – hatte er dem neuen Zeitalter mit Begeisterung entgegengesehen.
Genügend Begeisterung, um sich freiwillig zur Systemsicherheit zu melden. Er lachte trocken auf, als er sich an die Schwierigkeiten erinnerte, die ein unverbesserlicher Dissident Mitte vierzig auf der neu eingerichteten SyS-Akademie bekommen hatte, umgeben von Kadetten, von denen die meisten feurige junge Eiferer waren wie Victor Cachat.
Victor Cachat. Was für ein Mensch. Radamacher versuchte sich zu erklären, wie ein so junger Mann derart selbstsicher sein konnte, derart überzeugt von seiner Rechtschaffenheit.
Derart, dass Cachat keinen Tag gebraucht hatte, um sowohl die Raumoffiziere eines kompletten Kampfverbands als auch die Offiziere zweier SyS-Superdreadnoughts ausnahmslos einzuschüchtern.
War Yuri jemals selbst so gewesen? Er bezweifelte es – selbst in seiner rebellischen Jugend nicht. Daran allerdings konnte er sich nicht mehr erinnern. Die Jahre nach Pierres Staatsstreich, in denen er langsam begriff, welcher Schrecken und welche Brutalität sich hinter der glanzvollen Fassade des neuen Regimes verbargen, hatten seinen Idealismus zum Großteil aufgezehrt. Schon lange versuchte Yuri nur noch zu überleben – und sich, so weit es möglich war, mit den Herausforderungen abzulenken, die seine Abkommandierung in den La-Martine-Sektor mit sich brachte. Andere, ehrgeizigere SyS-Offiziere wären frustriert gewesen, so lange in der, was die Karriere betraf, politischen Provinz stationiert zu werden. Für Yuri indes war La Martine ein Refugium gewesen, vor allem, nachdem er in den beiden Flottenoffizieren, mit denen er am engsten zusammenarbeiten musste, verwandte Seelen entdeckt hatte. Und allmählich hatte La Martine begonnen, andere, gleichgesinnte SyS-Offiziere anzuziehen und zu behalten.
Und sie hatten im La-Martine-Sektor gute Arbeit geleistet, verdammt! Yuri hatte dabei Befriedigung gefunden. Für ihn war es eine Möglichkeit – vielleicht die einzige – gewesen, um zu retten, was von seinem jugendlichen Elan noch übrig war. Ob das Komitee für Öffentliche Sicherheit es zu schätzen wusste oder nicht, Chin, Ogilve und er hatten La Martine zu einem Quell der Stärke für die Volksrepublik gemacht. Trotz seiner Abgelegenheit war La Martine in den letzten Jahren ununterbrochen einer der sechs wirtschaftlich produktivsten Sektoren der Volksrepublik Haven gewesen.
Er wischte sich das Gesicht ab. Na und? Radamacher wusste nur zu gut, dass für Saint-Just und seinesgleichen Tüchtigkeit eine Feder war, aufgewogen gegen den Felsblock der politischen Verlässlichkeit.
Victor Cachat. Die Entscheidung läge nun bei ihm. Die Macht eines SyS-Sonderermittlers war, besonders in einem fernen provinziellen Sektor wie La Martine, so gut wie unbegrenzt. Der Einzige, der Cachat hätte zügeln können, wäre Robert Jamka gewesen, der ranghöchste Volkskommissar im Sektor.
Aber Jamka war tot, und Saint-Just hatte es gewiss nicht eilig, einen Nachfolger zu bestimmen. Für Saint-Just besaß La Martine keine besonders hohe Priorität, denn es lag weit abseits der Hauptkampfgebiete. Solange Saint-Just überzeugt war, dass Cachat die Untersuchung mit ausreichendem Eifer und genügender Härte vorantrieb, ließ er dem jungen Irren freie Hand.
An dem Gedanken, dass ausgerechnet Robert Jamka jemand anderen zügelte, war etwas herrlich Absurdes. Jamka war ein Sadist und sexuell abartig gewesen. Genauso gut hätte man Beelzebub bitten können, er möge doch Belial an die Kandare nehmen.
Und während der Tag voranschritt, versank Yuri Radamacher immer tiefer in Mutlosigkeit. Nachdem er sich endlich ins Bett geschleppt hatte und einzuschlafen versuchte, beschäftigte ihn nur noch die Frage, ob Cachat ihm den ehrenhaften Ausweg des Selbstmords vor der Exekution anbieten würde.
Aber das würde natürlich nicht geschehen. Diese Tradition stammte vom Amt für Innere Abwehr des legislaturistischen Regimes und war ein Teil der ›elitären Privilegien‹, welche die Systemsicherheit und ihre Schergen seit Jahren auszurotten versuchten. Und Männer wie Victor Cachat erst recht. Cachats Aussprache war perfekt, doch Yuri war es nicht schwer gefallen, die Spuren eines Dolistenakzents in seiner Redeweise zu entdecken: ein Mann aus der untersten Schicht der havenitischen Gesellschaft, der nun an die Macht gelangt war, erfüllt von der Bitterkeit und dem Groll der Slums.