Kapitel 7:
Eine schlechte Idee, die funktioniert, ist keine schlechte Idee
John blickte auf die dunklen Holzwände des Aufzugs und schüttelte den Kopf. »Wohin genau fahren wir eigentlich?«
Von dem zurückgelassenen Wagen aus waren sie nur ein kurzes Stück gegangen, was im Allgemeinen keine gute Idee war: Sie hatten das Parkhaus im Keller verlassen und ein paar Tunnel durchquert, dann waren sie in einem anderen Keller, der mit den Industriewaschmaschinen voll gestellt war, wie man sie aus Hotels kannte, in den Aufzug gestiegen. Wenn sie allerdings in einem Hotel waren, dann in einem hochwertigeren Etablissement als jedem, das Mullins auf Praha bisher gesehen hatte.
»Früher war es die VIP-Unterkunft für Legislaturisten auf der Durchreise«, erklärte Rachel. »Die SyS hat es übernommen, und es dient ihr mehr oder minder zum gleichen Zweck.«
»Sie meinen, wir sind in einem SyS-Gebäude?«, fuhr Gonzalvez auf. »Sind Sie verrückt geworden, Lady?«
»Nein«, entgegnete sie, »ich habe hier ein Apartment.«
Mullins spannte sich einen Augenblick lang an, dann beschloss er, sie am Leben zu lassen. »Wie das?«
»Was meinst du denn wohl, Johnny?«, entgegnete sie, als die Türen sich öffneten. »Sagen wir einfach, ein hiesiger SyS-Offizier hält mich darin aus.«
»Und wenn er zufällig vorbeikommt?«, fragte Mládek, während sie in die Liftkabine stiegen. »Sollen wir uns dann im Kleiderschrank verstecken, oder was?«
»Er wird nicht zufällig vorbeikommen«, erwiderte Rachel. »Im Moment ist er gar nicht auf Praha. Und es weiß zwar jeder, wieso er das Apartment unterhält, aber nicht, für wen, und er ist der stellvertretende SyS-Kommandeur von Praha. Folglich wird niemand seine Mätresse behelligen. Niemand, der nicht auf Hades landen will. Und wenn ihr eine bessere Idee habt, wo ich euch verstecken soll – nun gut, ich stehe anderen Vorschlägen aufgeschlossen gegenüber.«
Als die Türen sich auf den Korridor öffneten, war keine Zeit mehr für Diskussionen. Rachel streckte den Kopf heraus und winkte den anderen, die Luft sei rein. Nach wenigen Metern standen sie vor einer Tür, die Rachel mit ihrem Kodeschlüssel öffnete.
Das Apartment war groß und luftig und erstreckte sich über zwei Etagen; aus der Galerie im oberen Stockwerk blickte man in den Eingangsflur. Ein Wandgemälde zeigte eine ländliche Szene am Fluss Praha, und die Möbel sahen nach altirdischen Antiquitäten aus. Ein kurzer Rundgang, bei dem Charles sorgfältig nach Spitzelgerät suchte, enthüllte allerorten ähnlichen Luxus: darunter einen Whirlpool, eine Dusche, die groß genug war für einen Zug betrunkener Marineinfanteristen, eine versenkte Badewanne, eine Sammlung von ›Erwachsenenspielzeug‹, die eine Auswahl wie ein Kaufhaus bot, und eine Massagedusche.
»Warum eine Massagedusche?«, fragte er, als er in die erlesen ausgestattete Küche kam.
»Für mich muss ja auch was da sein«, entgegnete Rachel. Sie machte ein Sandwich, das aus zwei Scheiben Toastbrot bestand, einem Haufen Luzernesprossen und einer halben Flasche scharfer Sauce, die mit Totenkopf und gekreuzten Knochen gekennzeichnet war. Als sie fertig war, stopfte sie es sich auf einmal in den Mund.
»M g’ung sh’er«, murmelte sie, dann hatte sie genügend Platz freigeräumt, um wieder reden zu können. »Normalerweise dürfte niemand an die Tür kommen. Wenn doch, ist es aus. Falls es auch nur klopft, alarmieren Sie alle und gehen aus dem Fenster.«
»Ich bringe ein paar Sensoren an der Tür an«, sagte Charles. Er wies auf ihren offenen Mund. »Wenn Sie nicht mehr wissen als ich, tasten die Havies normalerweise nicht auf den hohen Mikrowellenfrequenzen ab.«
»Nein, das geht in Ordnung«, sagte sie. »Lassen Sie sich nur nicht erwischen.«
»Sie bewegen sich von allein«, sagte Gonzalvez.
»Ich nehme als Nächster die Dusche«, sagte Mullins und nahm mit dem Finger einen Saucenklecks auf. »Was für Schwächlinge«, sagte er, nachdem er ihn abgeleckt hatte.
Rachel lachte und wies um sich. »Tobt euch aus. Ich plane nicht, noch einmal hierher zu kommen, und mein Schwein von Freund hätte erheblich Schlimmeres verdient.« Damit verließ sie die Küche und ging zur Treppe.
»Wenn morgen alles hier ist, haben wir’s geschafft«, sagte Charles. »Aber natürlich wird irgendetwas schief gehen. Ich habe jedoch nicht vor, mir vor morgen darüber Gedanken zu machen.«
»Ich nehme nicht an …?«, fragte Mládek und hob eine Weinflasche.
»Nur zu«, sagte Mullins. »Betrinken Sie sich nur nicht so sehr, dass Sie sich nicht mehr bewegen können.«
»Na, man kann über ihren Freund sagen, was man will«, rief Gonzalvez aus den Tiefen des Kühlschranks, »aber sein Geschmack ist ausgezeichnet.« Er beugte sich heraus und hielt Mullins ein Glas hin. »Arellianischer Kaviar, Nagasaki-Shrimps in Weinsauce und Kompott von New Provence.«
»Für eine Abschiedsparty wohl angemessen«, sagte Mládek mit traurigem Lächeln.
»Schlagen Sie nur nicht über die Stränge«, entgegnete Mullins.
»Der Verurteilte nahm ein herzhaftes Mahl zu sich«, sagte Charles. »Ich bin überrascht, dass du solchen Appetit hast, das muss ich schon sagen.«
»Was machst du dir darum Gedanken?«, entgegnete Mullins, der sich ein Sandwich schmierte. »Ihr verschwindet, ich halte mich bedeckt, und irgendwann nehmen wir wieder Kontakt auf.«
»Klar, ganz einfach«, erwiderte Gonzalvez.
»Ich habe nicht vor, morgen früh noch hier zu sein«, sagte Mullins und biss von seinem Sandwich ab.
»Sie verabschieden sich vorzeitig?«, fragte Mládek. »Lassen Sie sich nicht festnehmen, sonst verraten Sie noch unser Versteck.«
»Keine Bange, ich nehme wahrscheinlich den Fensterausstieg. Ich wollte nur, dass Sie Bescheid wissen.«
»Na, ich hätte schon davon erfahren«, entgegnete Charles. »Ich habe das Fenster genauso gespickt wie die Tür.«
»Auch gut«, sagte Mullins und schob sich den letzten Bissen Sandwich in den Mund. »Ich werde noch ein Bier trinken und vielleicht ein paar von diesen Fischeiern auf Toast essen.«
»Das heißt Kaviar, du gryphonischer Barbar«, entgegnete Gonzalvez.
»Sicher, sicher«, sagte Johnny, nahm das Glas und holte ein wenig mit dem Finger heraus. »Schmeckt wirklich nicht schlecht. Haben wir Kartoffelchips?«
John öffnete die Tür zum Kleiderschrank, um zu sehen, ob darin vielleicht etwas hing, das ihm passte. Er war durchaus bereit, wieder die verschwitzte Proleskleidung anzuziehen, in der er hergekommen war, aber er wäre nicht undankbar gewesen für Sachen, die ein wenig sauberer waren. Er hatte Rachel nicht danach fragen können, weil sie nur gerufen hatte, die Dusche sei frei, und dann in einem der Schlafzimmer verschwunden war.
Wie sich erwies, besaß Rachels geheimnisvoller Freund sehr viel Kleidung. Er schien ein wenig fülliger zu sein als Mullins, doch schließlich fand er einen Anzug, der ihm vielleicht passte.
Er blickte den Anzug kurz böse an, dann ließ er das Handtuch fallen und probierte das Hemd an. Es passte. Auch die Hose und der Kummerbund.
Er blickte in den Spiegel und seufzte.
»Okay, irgendwo muss hier doch auch ein Paar Manschettenknöpfe herumliegen.«
Als er aus der Dusche kam, gefiel ihm sein Äußeres schon besser; Rachel hatte sich ein stahlblaues beowulfianisches Pantalonskostüm angezogen. Das Material war halbdurchsichtig und zeigte auf einfallendes Licht eine eigenartige Reaktion: Wenn das Licht direkt auf das Material schien, war dieses blickdicht, doch in einer dunklen Ecke oder im Streulicht konnte es völlig durchsichtig werden. Wenn Rachel sich bewegte, enthüllte und verdeckte es anscheinend zufällig, doch es bedeckte stets mehr als es entblößte. So sehr er es auch versuchte, Mullins konnte nicht sagen, ob sie darunter noch einen hautengen Overall trug oder nur Haut.
Ihr Kostüm wirkte offen gestanden hypnotisch und passte bemerkenswert gut zu dem altmodischen Smoking, dem einzigen Kleidungsstück, das Mullins gepasst hatte.
»Na, ist das nicht ein hübsches Paar?«, fragte Gonzalvez lachend.
»Ich dachte mir schon, dass du damit zurechtkommst«, sagte Rachel und prostete Mullins mit einem Glas Sekt zu. »Ich habe ihn Bonz gekauft, weil ich hoffte, er könnte damit seine fette Körpermitte einschnüren. Falsch gehofft.«
»Na ja, er passt«, räumte Mullins ein. Er zupfte die Manschetten heraus und rollte unbehaglich mit den Schultern. »Trotzdem wäre mir ein Prolesanzug lieber; wenn wir fliehen müssen, sieht mich damit ja ein Blinder.«
»Nun, dann sorgen wir eben dafür, dass wir nicht fliehen müssen«, entgegnete Rachel und reichte ihm ein Glas Sekt. »Auf ungetrübtes Entkommen«, sagte sie und hob das Glas.
»Auf ungetrübtes Entkommen«, sagte Mullins, stieß mit ihr an und trank einen Schluck. »Gar nicht schlecht.«
»Ein ausgezeichneter Jahrgang«, sagte Mládek und griff nach einem Glas. Er hatte sich wieder seine Proleskleidung angezogen; sein Haar trocknete noch. Er trank einen Schluck und seufzte. »Die New Rocheller Weinsorten werde ich vermissen.«
»Sie sollten die Schaumweine von Copper Ridge probieren«, entgegnete Charles, der den Sekt im Mund bewegte. »Der hier kommt mir etwas unbalanciert vor.«
»Unbalanciert? Der New Rochelle gehört zu den absoluten Spitzenweinen!«
»Ich glaube, wir können sie allein lassen«, sagte Rachel. »Ich meine mich zu erinnern, dass du tanzen kannst.«
»Nun, meine Mutter hat niemals zugegeben, dass ich darin irgendwelches Talent besäße«, entgegnete Mullins und stellte das Glas ab. »Aber sie hatte zwo linke Füße.«
»Darling, als Tänzer hast du nur das Manko, dass du zu groß bist und dich von mir nicht führen lassen willst«, sagte Rachel, während sie die Hüften von einer Seite auf die andere warf.
»Du nimmst mir die Worte aus dem Mund«, entgegnete Mullins und beendete eine komplizierte Drehung, die damit endete, dass er die Fußknöchel hinter ihre Fersen hakte und seine Hüften ihren Bewegungen folgten. »Wo hast du Suvala gelernt?«
Seit über zwei Stunden tanzten sie nun nach mehr als einem Dutzend verschiedener Stile. Beim Spiegeltanz bis zum Menuett, beim Suvala bis zum Hyperpumatrott hatten sie versucht, sich gegenseitig zu schlagen. Rachel war die bei weitem begabtere Tänzerin, doch Mullins kannte mehr Stile und war in jedem präziser.
»Ich kenne ein Mädchen von New Brazil«, antwortete sie, die Lippen nur wenige Zentimeter von seiner Wange entfernt.
»Wusstest du, dass dieser Tanz auf Grayson verboten ist?«, fragte er wispernd, zu ihrem Ohr vorgebeugt, während seine Hüften sich an ihren rieben.
»So dumme Menschen«, hauchte sie zurück, dann löste sie sich von ihm. »Gharles? Bürger Admiral? Wir gehen zu Bett.«
»Ach wirklich?«, fragte Charles. »So früh? Der Bürger Admiral und ich waren schon fast zu einer Einigung gekommen, was die Überlegenheit des Tancre-Stamms beim Gärungsprozess anbetrifft.«
»Ich fürchte nein, alter Junge«, widersprach Mládek. »Dautit ist noch immer das überlegene Bakterium.«
»Aber nur, wenn man auf einen höheren Zuckeranteil abzielt! Mann Gottes, es …«
»Nein, wir meinen, wir gehen zu Bett; Sie beide können aufbleiben, so lange Sie wollen.«
»Ach so.«
»Wo du dich morgen schon für mich opferst, ist das wohl das Mindeste, was ich tun kann«, sagte sie und nahm John beim Arm.
»Da sollte ich eigentlich eingeschnappt sein«, entgegnete Mullins, »aber was soll’s: Nimm, was du kriegen kannst, bevor es zu spät ist, das ist mein Motto.«
»Schau, ob du mit solch einem Motto überhaupt etwas bekommst«, erwiderte sie lachend.
Doch nach angemessener Überzeugungsarbeit ließ sie sich erweichen.
Mullins rollte sich herum und klopfte das Bett neben sich ab, dann öffnete er die Augen in ein blasses Morgenlicht.
Rachel war fort.
»Charley?«, rief er, rollte sich auf die Füße und hielt sich den Kopf. »Ooooo.«
»Ich sehe, du bist wieder auf«, sagte Gonzalvez, der schwankend in der Tür stand. »Ich glaube, deine Freundin hat uns was in den Drink getan. Nach meinen Sensorlogs ist sie gegen drei Uhr morgens aus dem Fenster geschlüpft. Zu der Zeit schlief ich natürlich wie ein Toter.«
»Verdammt«, knurrte Mullins. »Wahrscheinlich der verdammte Sekt.«
»Ich fand ihn ja gleich ein bisschen bitter«, meinte Charles.
»Es ist alles für sie eingerichtet. Ich kann den Planeten immer noch nicht verlassen!«
»Oh, da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Mládek und kam mit einem großen Paket in den Raum. »Das lag auf meinen Sachen.«
Mullins rieb sich den Kopf, während der Bürger Admiral das Paket öffnete und den Inhalt vor ihnen ausbreitete.
»Zwo Sätze Männerkleidung, ein Satz Frauenkleider«, sagte Charles und nahm die Papiere an sich. »Ich muss sie noch durch meinen Scanner laufen lassen, aber sie sehen gut aus. Und du bist die Frau, Johnny, mein lieber Junge.« Mit einem Glucksen warf er die entsprechende Kennkarte dem Bürger Admiral zu.
»Oho!«, machte Mládek und schnaubte. »Igitt. Sie geben eine verdammt hässliche Frau ab, Major Mullins.«
»Vielen Dank auch«, sagte Johnny und riss dem Bürger Admiral das Dokument aus der Hand. »Aber Sie haben Recht«, fuhr er fort, nachdem er es sich angesehen hatte.
»Mir passt es gar nicht, dermaßen abgeledert zu werden, John«, sagte Charles.
»Mir auch nicht. Trotzdem hilft sie uns bislang. Ich meine, wenn sie uns der SyS übergeben wollte, hätte sie es letzte Nacht bequem tun können.«
»Also folgen wir dem geänderten Plan?«, fragte Gonzalvez. »Mir kommt es einfach nicht richtig vor, Johnny.«
»Wenn du einen besseren Vorschlag hast, dann raus damit«, fuhr Mullins ihn an. »Ich habe eine großartige Nacht hinter mir, an die ich mich kaum noch erinnern kann, und ich habe höllische Kopfschmerzen.«
»Und Sie müssen sich als sehr hässliche Frau verkleiden«, warf der Bürger Admiral ein, nicht ohne eine gewisse Grausamkeit, fand Mullins.
»Danke, das habe ich gebraucht. Wir haben nicht viel Zeit. Wir müssen in unsere Rollen schlüpfen und von hier verschwinden. Sofort.«
»Okay«, lenkte Gonzalvez ein. »Solange ich nur nicht die hässliche Frau sein muss.«