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Jede Tür und jedes Fenster des kleinen, etwas abseits gelegenen Reihenhauses war verriegelt. Jack Baxter stand schweigend in seinem Schlafzimmer und spähte hinter der Gardine nach draußen, als eine weitere Leiche die Straße in der Mitte entlangstolperte und in die tiefschwarze Dunkelheit der Nacht torkelte. Sie geriet in Sekundenschnelle außer Sicht.
Was um alles in der Welt ging hier vor sich?
Er war früh am Dienstagmorgen auf dem Heimweg von seiner Nachtschicht gewesen, im Freien und schutzlos, als es begonnen hatte. Jack arbeitete in einer Lagerhalle knapp außerhalb der Innenstadt. Die Buslinie, mit der er für gewöhnlich nach Hause fuhr, beschrieb an der Lagerhalle vorbei eine Schleife durchs Zentrum bis ans andere Ende der Stadt und wieder zurück. Der Großteil der Passagiere stieg üblicherweise in der Innenstadt aus, daher war er eine von lediglich acht im Bus verbliebenen Personen gewesen, als es am Dienstagmorgen geschah.
Das erste Indiz dafür, dass etwas nicht stimmte, war ein alter Mann gewesen. Er hatte zwei Reihen vor Jack gesessen und plötzlich zu husten und zu keuchen begonnen. Seine Beschwerden hatten sich innerhalb weniger Sekunden dramatisch gesteigert. Zunächst hockte der Rentner vornüber gebeugt, dann warf er sich jäh und gewaltsam nach hinten in den Sitz und rang dabei panisch nach Atem. Noch ehe Jack begriff, wie ernst der Zustand des Mannes war, begann der Alte, sich unkontrolliert unter Krämpfen zu winden. Jack war gerade aus seinem Sitz aufgesprungen, um dem Mann zu helfen, als eine etwa fünfundzwanzigjährige Mutter dreier Kinder von der Rückseite des Busses in Todesqualen aufschrie. Ihre Kinder kreischten und weinten ebenfalls. Jack rannte ratlos zu ihnen, doch als ihm klar wurde, dass auch der Busfahrer hustete und würgte, drehte er um und lief in die andere Richtung. Er hetzte die Länge des ruckelnden, schlingernden Fahrzeugs hinab und erreichte den Fahrer in dem Augenblick, in dem dieser würgend an dem Blut erstickte, das seine Kehle hinabfloss. Der Mann brach über dem Lenkrad zusammen und verlor die Kontrolle über den Bus, der in einem unbeholfenen Bogen über die Fahrbahn schlingerte, in den entgegenkommenden Verkehr schmetterte und letztlich in die Fassade eines Pubs pflügte. Jack wurde zu Boden geschleudert, prallte mit dem Kopf gegen den Metallrahmen eines der Sitze und verlor das Bewusstsein.
Er hatte keine Ahnung, wie lange er ohnmächtig war. Als er schließlich wieder zu sich kam, war seine Sicht verschwommen, und er hatte kämpfen müssen, um sein Gleichgewicht auf tauben, wackeligen Beinen wiederzuerlangen. Er hatte sich aufgerappelt und zur Stirnseite des beschädigten Busses geschleppt. Der Fahrer war tot. Die übrigen Passagiere ebenfalls. Durch die Notlöseeinrichtung war es ihm gelungen, die Tür aufzudrücken und auf die Straße hinauszustolpern. Der Anblick eines beispiellosen und schlichtweg unerklärlichen Massakers hatte ihn erwartet. So weit er sehen konnte, schien auch jeder andere in derselben Weise, in der die Menschen im Bus gestorben waren, umgekommen zu sein.
Jack stand eine relativ lange Weile benommen da, sein Körper wie eingefroren und unbeweglich, während seine Augen rastlos über die grauenhafte Szenerie zuckten. Er begann die Körper zu zählen – zehn, zwanzig, dreißig und dann mehr und immer mehr ... Die Verwüstung rund um ihn herum schien endlos zu sein. Er hatte ausgeharrt, bis die Stille durch die zu erwartenden, heulenden Polizei-, Feuerwehr- und Krankenwagensirenen durchbrochen werden würde, doch nichts war geschehen. Mit jeder verstreichenden Minute war die unheilvolle Stille immer drückender geworden, bis er es nicht länger hatte ertragen können.
Nach einem atemraubenden zehnminütigen Lauf durch eine plötzlich fremd gewordene Landschaft war Jack zu Hause angekommen. Anblicke, die gewöhnlich, vertraut und alltäglich gewesen waren, als er am vergangenen Abend zur Arbeit gefahren war, erschienen nun entstellt, bizarr und grotesk. Der Supermarkt, in dem er am vergangenen Nachmittag seine Einkäufe erledigt hatte, brannte und er hatte beobachtet, wie die Flammen ungehindert die verglaste Eingangstür, durch die er Tausende Male gegangen war, verschlangen. Am Schulhof der Grundschule am Ende seiner Straße hatte er die zu Boden gestürzten Körper der Eltern, umgeben von den uniformierten Leichnamen ihrer kleinen Kinder, gesehen. In die Vorderseite eines Hauses, nur sieben Türen von seinem eigenen entfernt, war ein Auto geprallt. Zwischen den Trümmern und den staubigen Schutt hindurch hatte er den leblosen, in einem Sessel zusammengesunkenen Körper der Hausbesitzerin gesehen.
Was geschehen war, ergab keinen Sinn. Es existierten dafür keine einleuchtenden Gründe. Niemand war übriggeblieben, der ihm eine Erklärung liefern konnte. Von Jack abgesehen schien niemand sonst am Leben geblieben zu sein. Irgendwie schien er der Einzige zu sein, der in all dieser Verwüstung überlebt hatte.
Jack hatte seine krebskranke Frau Denise vor etwa fünfzehn Monaten verloren. In mancher Hinsicht machte es ihm dieser unermessliche Verlust nun leichter, das Geschehene hinzunehmen und weiterhin zu handeln. Er hatte bereits getrauert. Er war es bereits gewöhnt, in ein kaltes, stilles und leeres Haus heimzukehren. Aus diesem Grund war er froh gewesen, seit ihrem Tod nachts arbeiten zu können. Er hatte es überwiegend vermieden, mit dem Großteil der Bevölkerung in Berührung zu kommen, seit ihm seine Frau genommen worden war. Niemand begriff, was sie durchgemacht hatte, und niemand konnte dabei helfen, es leichter zu ertragen. Selbst jetzt, vierhundertundsiebenunddreißig Tage nach ihrem Dahinscheiden, schmerzte die Erinnerung an die physische und psychische Qual, mit der er Zeuge ihres Leidens geworden war, tausendmal mehr als das, was er an diesem ersten Morgen fühlte, während er zwischen den Leichen umherschritt.
Sobald er zu Hause angekommen war, hatte Jack versuchte, mit dem Rest der Welt Kontakt aufzunehmen. Er hatte jede einzelne der ungefähr dreißig Telefonnummern in seinem Adressbuch ausprobiert und ein paar Anrufe geschafft, bevor der Anschluss endgültig tot war. Niemand hatte geantwortet. Er hatte eine Zeit lang Radio gehört. Das Geräusch, das es machte, war beunruhigend. Er hatte rauschende Störgeräusche erwartet, doch für eine lange Zeit kam gar nichts, nur eine endlose und leere Stille. Ein Sender, auf den er gestoßen war, hatte immer noch Musik gespielt. Er hatte hoffnungsvoll und nervös zugehört, als die letzten paar Töne des Schlussliedes verklangen, bis sie von derselben unbarmherzigen Stille ersetzt wurden, die sich überall ausgebreitet hatte. In seinen Gedanken sah er vor sich, wie Radiomoderatoren, Nachrichtensprecher, Techniker und Redakteure tot in ihren Studios lagen, während eine Zeit lang durch die automatischen Maschinen weiter gesendet worden war.
Er hatte viel seiner Zeit damit verbracht, die Außenwelt vom Obergeschoss aus zu beobachten, zu hoffen und zu beten, dass irgendetwas geschehen würde, das diesen Albtraum erklären oder sogar beenden würde. Aber es tat sich nichts. Als er aus den Hinterzimmern nach draußen geschaut hatte, hatte er den verkrümmten, leblosen Körper seines betagten Nachbarn Stan Chapman gesehen, der mitten auf seinem kalten, nassen Rasen lag. Niemand, so schien es, war verschont worden.
Aufgrund seiner Arbeitszeiten verliefen Jacks Tage entgegengesetzt zu denen der meisten Leute. Trotz allem, was geschehen war, fiel es ihm um die Mittagszeit des ersten Tages schwer, die Augen offen zu halten. Er war im Halbschlaf durch einen langen und desorientierten Nachmittag und Abend gedämmert und hatte dann in der Dunkelheit am Ende seines Bettes gesessen, scheinbar eine quälende Ewigkeit lang, hellwach, einsam und wie versteinert. Und der nächste Tag war sogar noch härter zu überstehen gewesen. Er tat nichts außer dazusitzen, finstere, schreckenerregende Gedanken zu wälzen und sich selbst zahllose Fragen zu stellen, die unmöglich zu beantworten waren. Eine Zeit lang hatte er in Erwägung gezogen, nach draußen zu gehen und nach Hilfe Ausschau zu halten, war dann aber doch zu verängstigt gewesen, um sein Vorhaben weiter als bis zur Hälfte die Treppe hinunter in die Tat umzusetzen, bevor er wieder umkehrte und in die verhältnismäßige Sicherheit der Zimmer im Obergeschoss zurückkehrte. Als das erste Licht des Dienstagmorgens über die verwüstete Landschaft kroch, war das, was von Jacks verheerter Welt übrig geblieben war – wodurch auch immer – abermals auf den Kopf gestellt worden.
Kurz vor sieben Uhr hatte plötzlich ein metallisch krachendes Geräusch die Stille zerrissen. Da alles andere so still und lautlos war, hatte der klappernde Laut scheinbar ewig gebraucht, um ins Nichts zu verhallen. Einige Sekunden lang hatte es Jack, vor nervlicher Anspannung wie gelähmt, nicht gewagt, sich zu rühren. Er hatte ängstlich darauf gewartet, dass etwas passieren würde, und als es nun endlich geschehen war, hatte er sich beinahe zu sehr gefürchtet, um loszugehen und nachzusehen, was es war. Als seine Neugier und die Belastung der Isolation allmählich seine Angst überwogen, machte er sich auf den Weg nach unten vor das Haus, öffnete, nachdem er durch den Briefschlitz gespäht hatte, die Tür und trat vorsichtig nach draußen. Auf der Mitte der Straße rollte ein metallener Mülleimer abwärts. Merkwürdig erleichtert hatte sich Jack ein paar Schritte vom Haus, bis ans Ende der Auffahrt, entfernt und die ausgestorbene Straße auf und ab geschaut. Doch sie war nicht ausgestorben. Im Schatten der Bäume auf der gegenüberliegenden Straßenseite hatte er gerade noch eine einsame weibliche Gestalt ausmachen können, die sich langsam entfernte. Plötzlich zuversichtlicher war er über die Straße gerannt und hatte die Schulter der Frau gepackt. Augenblicklich hörte sie auf, sich zu bewegen und blieb mit dem Rücken zu Jack einfach stehen. Ein banges Gefühl war ihn überkommen und er hatte nicht aufgehört, sich zu fragen, warum sie ihn nicht hörte oder auf andere Weise auf ihn reagierte. Kurzerhand hatte er sie einfach zu sich herumgedreht, während er sich inständig wünschte, jemanden zu sehen und mit jemandem zu sprechen, der wie er überlebt hatte. Doch es war sofort offensichtlich gewesen, dass diese arme Seele dem Albtraum nicht entkommen war, sondern ein weiteres Opfer der Geißel darstellte, die über die Stadt gekommen war. Sie mochte sich zwar bewegen, war jedoch ebenso tot wie der Rest der Leichen, die immer noch die stillen Straßen übersäten.
Jack hatte auf der Suche nach einer Erklärung in ihre schwarzen, kalten und emotionslosen Augen gestarrt. Im schwachen Licht erschien ihre Haut straff gespannt, grau, wächsern und durchscheinend. Ihr Mund stand offen, als ob sie nicht mehr länger die Kraft hätte, ihn zu schließen und ihr Kopf hing schwer auf eine Seite. Er hatte den Körper losgelassen und war unverzüglich in die dem zuvor eingeschlagenen Weg entgegengesetzte Richtung davongestolpert. Jack hatte sich umgedreht, war zu seinem Haus zurückgerast und hatte die Tür hinter sich zugeworfen und verriegelt. In einem versteinerten, tranceartigen Zustand war er durch sein Haus gewandert und hatte eine lange Zeit in der Küche gegen das Spülbecken gelehnt verbracht, während er in den Garten hinaus starrte und versuchte, irgendeinen Sinn in diese groteske neue Entwicklung zu bringen. Seine düsteren und unzusammenhängenden Gedanken waren durch das jähe Erscheinen seines toten Nachbarn am Fenster unterbrochen worden. Der leblose Körper war durch ein Loch in der Hecke, das Jack bereits die letzten drei Sommer reparieren wollte, getrippelt. Der unbeholfene Leichnam des alten Mannes hatte sich beständig durch den Garten geschleppt, stets die Richtung ändernd, wenn er in Berührung mit der Hecke, dem Zaun oder dem Haus gekommen war.
Seit Jack den ersten sich bewegenden Körper an diesem Morgen gesehen hatte, waren mehr als zwölf Stunden vergangen. Er hatte den Rest des Tages im Obergeschoss verbracht, wo er sich panisch wieder in seinem Schlafzimmer versteckt hatte. Er packte eine Tasche mit Kleidung und Nahrungsmitteln zusammen, doch als er zum Abmarsch bereit war, war er zu verängstigt, um fortzugehen. Er wusste, dass er letztendlich nach draußen musste, doch vorerst war die Vertrautheit und verhältnismäßige Sicherheit seines Heims alles, das ihm geblieben war.
Selbst jetzt konnte er gelegentlich den Körper seines unmittelbaren Nachbarn ziellos und unermüdlich im Hintergarten umherpoltern hören.