8
Paul stand auf, als die Sonne durch das Fenster im zehnten Stock des Bürogebäudes drang. Sein Bewegungsdrang war nicht gerade freiwillig, denn das provisorische Bett war alles andere als bequem und der Druck auf seine Blase nicht mehr auszuhalten gewesen. Mithilfe einer Ausweiskarte, die Donna bereits am Anfang der Woche einer Leiche abgenommen hatte, schleppte er sich nach draußen auf den Flur und erklomm die einzelne Treppe zur nächstgelegenen Toilette. Im Halbdunkel stolperte er über einen reglosen Körper und prallte geräuschvoll durch die Tür in den kleinen Raum, der sich genauso kalt, dunkel und widerlich präsentierte, wie er ihn sich vorgestellt hatte. Eine weitere Leiche war in einer der Kabinen auf den Boden gestürzt und ein modriger, abgestandener Geruch hing schwer in der Luft.
Da er immer noch schlaftrunken war und sich beeilte, so rasch wie möglich von den Leichen weg und zurück ins Büro zu kommen, stolperte Paul auf seinem Weg aus der Toilette wieder, fiel ungeschickt über die letzten drei Stufen und trat einen Reinigungsbehälter gegen einen Heizkörper. Das Geräusch von Metall, das auf Metall traf, hallte die gesamte Länge des Treppenhauses hinauf und hinunter und ein paar nachhaltige Momente lang schien das gesamte Gebäude mit Lärm gefüllt zu sein.
Als er zum zehnten Stock zurückkehrte, war Donna wach. Sogar mehr als wach, sie war aufgestanden und in Alarmbereitschaft, während sie rasch ihre Kleider wechselte und ihr langes Haar zusammenband.
»Was ist los?«, fragte er, unmittelbar beunruhigt. Sie hatte keinen Anlass dazu, so schnell aufzustehen. Sie hatte gar keinen wirklichen Anlass dazu, überhaupt aufzustehen.
»Ich habe etwas gehört«, gab sie atemlos zurück, als sie ihre Bluse in die Jeans stopfte.
»Was?«
»Keine Ahnung. Kam von oben.«
»Aber Sie haben mir erzählt, dass Sie bereits oben gewesen sind, nicht wahr? Sie sagten, dass dort oben nichts ist.«
»Abgesehen von ein paar Leichen ist das richtig.«
»Also, was haben Sie gehört?«
Sie zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht, was es war. Es klang wie ...«
»Das war ich«, unterbrach er sie nervös. »Da draußen ist es immer noch dunkel. Ich bin über eine Leiche gestolpert, als ich die Treppe nach unten gehen wollte und auf dem Rückweg wäre es beinahe noch einmal passiert. Ich wette es ...«
Er sparte es sich, den Satz zu vollenden. Donna schüttelte immer noch ihren Kopf.
»Ich habe den verdammten Lärm gehört, den Sie gemacht haben«, seufzte sie. »Das Geräusch, das ich gehört habe, war davor.«
Paul rann ein eisiger Schauer den Rücken hinunter. Mit wachsender Beklemmung beobachtete er, wie Donna eine Jacke anlegte und den Reißverschluss nach oben zog. Sie ging in Richtung der Tür, die aus dem Büro führte, und blieb wenige Schritte vor dem Ausgang stehen.
»Sehen Sie,«, sagte sie, »es war möglicherweise gar nichts. Ich gehe nur kurz nach draußen und sehe mich ein wenig um. Ich werde höchstens ein paar Minuten wegbleiben.«
»Sie müssen mich gehört haben«, plapperte Paul weiter. »Wie ich gesagt habe, ich habe einen Eimer gegen einen Heizkörper gestoßen. Es hat ein teuflisch lautes Geräusch gemacht.«
Donna war es müde, seinem Jammern zuzuhören, drehte sich um, griff nach der Türklinke und erstarrte. Durch die schmale Glasscheibe konnte sie ein Gesicht sehen, das sie anstarrte. Obwohl das Licht schwach war, konnte sie mit Sicherheit sagen, dass es sich um ein kaltes, emotionsloses, verwesendes totes Gesicht handelte. Das verdammte Ding stand einfach nur da und starrte sie an.
»Herrgott«, fluchte sie, als sie überrascht zurückzuckte.
»Was ist los?«, zischte Paul.
»Da vorne ist eine Leiche«, wisperte sie und blieb wie angewurzelt stehen.
»Und?«
»Und das verfluchte Ding beobachtet mich!«
»Was reden Sie da?«
Er begann auf sie zuzugehen und stutzte, als er den Leichnam sah. Vollkommen lautlos und ansonsten entnervend reglos kam die einzige sichtbare Bewegung von den trüben Augen, die von einer Seite zur anderen, von Donna zu Paul und wieder zurück, glitten. Er war nicht da gewesen, als Paul noch Minuten zuvor von der Toilette zurückgekommen war. Konnte er ihm gefolgt sein?
»Warum geht er nicht weg?«, fragte Donna. »Er sollte genauso fortgehen wie der Rest von ihnen. Warum bleibt er hier stehen?«
Paul schlich sich unmerklich näher heran, um einen besseren Blick auf den Kadaver am Flur zu erhaschen.
»Ich weiß es nicht«, murmelte er, »vielleicht ist er ...« Er hörte unverzüglich auf zu sprechen, als die Kreatur draußen eine verunstaltete Hand hob und sie gegen die Tür schmettern ließ. Während die beiden Überlebenden dastanden und sie entsetzt und ungläubig beobachteten, pochte sie wieder gegen die Tür. Und wieder. Und wieder. Und wieder. Und dann ließ sie plötzlich mit beiden Händen eine Sturzflut von schwachen, verhältnismäßig unbeholfenen und gänzlich unerwarteten Hieben auf die Türe niederprasseln.
»Ich lasse das Ding herein«, flüsterte Donna mit trockenem Mund und rasendem Puls.
»Was?«, brüllte Paul und war nicht fähig, zu glauben, was er da hörte. »Was, zum Teufel, glauben Sie, was Sie da tun? Sie wissen nicht, was dieses Ding anstellen wird, wenn Sie es hier reinlassen ...«
»Sie wissen genauso wenig, was es tun wird«, schnappte sie zurück. »Um Himmels willen, dieses Ding versucht, zu uns zu kommen. Es braucht Hilfe, es muss so sein. Dieser eine Körper ist anders als alle anderen, die ich bisher gesehen habe ...«
»Aber Sie können nicht einfach annehmen, dass ...«
Pauls Worte waren verschwendet. Donna hörte ihm nicht zu, außerdem hatte sie ihre Entscheidung bereits getroffen. Der Körper vor ihr sah mitleiderregend und ausgemergelt aus. Seine Bewegungen waren langsam und schwerfällig. Aber wichtiger noch schien er einen gewissen Grad der Kontrolle über sich zu besitzen, und dies unterschied ihn von den Hunderten anderen Leichen, die sie gesehen hatte. Die Kreatur klopfte weiterhin gegen die Tür. Donna zog ihren Ausweis über den Sensor zu ihrer Rechten und zog die Türe auf. Der Körper ließ die Arme sinken und stand für eine Sekunde lang still.
»Sehen Sie«, meinte sie erleichtert. »Ich sagte Ihnen doch, er ...«
Die Kreatur machte einen Satz in ihre Richtung, stieß sie aus dem Gleichgewicht und beförderte sie mit einem dumpfen Aufprall gegen die Wand. Mit plötzlicher Energie – zwar unkoordiniert, doch mit eindeutig boshafter Absicht – warfen sich die verwesenden Überreste eines zweiundfünfzig Jahre alten Mannes gegen Donna, seine kraftlosen Glieder schlugen knapp an ihrem Gesicht vorbei wild in die Luft. Instinktiv hob sie die Hände in die Höhe, um sich zu schützen. Paul rannte auf den widerwärtigen Kadaver zu, packte ihn von hinten und zuckte vor Abscheu zusammen, als er seinen Griff verstärkte und fühlte, wie kaltes, hartes, ledriges Fleisch unter dem wachsenden Druck seiner Finger nachgab. Er riss den Leichnam mit erstaunlich geringem Aufwand zurück und schleuderte ihn zu Boden. Trotz seiner unerwarteten Schnelligkeit und Absicht war es immer noch wenig mehr als eine marode und zerstörte Hülle.
»Beschissenes Ding«, fauchte Donna. Sie stieß Paul zu einer Seite des Leichnams, der bereits damit kämpfte, sich wieder aufzurichten, und blieb auf der anderen stehen. Der Körper lehnte sich zur Seite und machte mit klauenartigen, nahezu skelettierten Händen einen weiteren Satz in ihre Richtung.
»Wir müssen es töten«, heulte Paul.
»Wie sollen wir das machen?«, kreischte Donna. »Das beschissene Ding ist seit Dienstag tot.« Erst, nachdem sie gesprochen hatte, wurde ihr bewusst, wie lächerlich ihre Worte klangen.
»Ich weiß es nicht!«, brüllte er ihr zu und blickte sich um. An der Wand direkt neben der Tür war ein Feuerlöscher befestigt. Er nahm ihn herunter und hob ihn über seinen Kopf. Donna, die vor Furcht zitterte, war sich vollends bewusst, was Paul im Sinn hatte und stellte einen ihrer Füße fest auf die knochige Brust der Kreatur. Die Hälfte ihres Körpergewichtes reichte bei Weitem aus, um das Ding am Boden festzunageln. Es hatte nicht die Kraft dazu, ihr etwas entgegenzuhalten.
»Tun Sie es«, drängte sie verzweifelt. »Um Himmels willen, tun Sie es!«
Paul hielt den Feuerlöscher hoch über den Leichnam. Er beobachtete mit entsetzter Faszination, wie sein Kopf hilflos von einer Seite zur anderen zuckte. Aschgraue, beinahe durchscheinende Haut spannte sich fest über das unbewegte Gesicht und sein schwarzer, klaffender Mund öffnete und schloss sich fortwährend, ohne ein Geräusch zu erzeugen.
»Tun Sie es!«, schrie Donna wieder.
Er konnte sich nicht bewegen. Erstarrt. In Panik. Die Leiche versuchte wieder anzugreifen und die rasche Bewegung zwang ihn dazu, zu handeln. Mit fest zusammengekniffenen Augen schmetterte Paul die Unterseite des metallenen Zylinders auf den Kopf des Leichnams am Boden.
Mit einem dumpfen Dröhnen traf er auf der Gesichtsseite auf, gefolgt von einem schwachen Knacken, als der Wangenknochen brach. Ein wenig in seinem Tun bestärkt, doch mit dem Übelkeit erregenden Geschmack von Galle, die in seinem Hals emporkroch, hob er den Feuerlöscher noch einmal und ließ ihn mit voller Wucht, diesmal auf die Rückseite des Schädels, niedersausen. Endlich lag der Körper reglos da.
»Sehen wir zu, dass wir es hier rausbekommen«, sagte er, als er den Feuerlöscher sinken ließ. Donna hielt ihm die Türe auf, als er die Kreatur an ihren Füßen nach draußen schleppte und hinter sich eine breite Spur aus dunklem, beinahe schwarzem Blut auf dem blassvioletten Teppich hinterließ.
Er schleppte sie, angetrieben durch eine Mischung aus Schock, Angst und Adrenalin, durch die Tür in den Flur und ließ sie im Treppenhaus liegen. Auf der Treppe befanden sich noch mehr Leichen. Allmächtiger, er konnte drei weiterer dieser verdammten Dinger sehen – eins davon stolperte vom oberen Stockwerk in seine Richtung, die zwei anderen schleppten sich quälend langsam von der unteren Etage nach oben. Voll Panik und kalter Furcht drehte er sich um und raste zum Büro zurück.
Über eine Stunde lang waren sie beide zu verängstigt, um sich zu bewegen oder auch nur einen Laut von sich zu geben. Donna und Paul saßen dicht aneinandergedrängt im Schulungszimmer und verbargen sich hinter den Tischen. Gelegentlich fasste sich einer der beiden ein Herz und spähte nach draußen in das Hauptbüro. Sie konnten lediglich durch die unschätzbaren Türen, die sie vom Rest der Welt abschirmten, auf den Flur sehen. Draußen konnten sie, obgleich verschwommen und unklar, Bewegung erkennen.
Donna saß aufrecht, sah nach oben aus dem Fenster in den grauen Himmel hinaus und versuchte, irgendeinen Sinn in das Geschehen zu bringen. Paul lag zusammengerollt neben ihr auf dem Teppichboden.
»Warum hat es Sie angegriffen?«, murmelte er, als er endlich dazu in der Lage war, über das, was er gesehen hatte, zu sprechen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob es das getan hat.«
»Was meinen Sie damit? Natürlich hat es Sie angegriffen!«
»Sind Sie wirklich sicher? Woher wollen Sie wissen, dass es nicht versucht hat, uns dazu zu bringen, ihm zu helfen? Woher wollen Sie wissen ...«
»Ich weiß gar nichts«, wimmerte er und vergrub seinen Kopf in den Händen. »Alles, was ich weiß, ist, dass Sie diese verdammte Tür gar nicht erst hätten öffnen sollen.«
Draußen ertönte plötzlich ein Krachen. Es klang, als wäre etwas die Treppe hinuntergefallen – vielleicht der Reinigungsbehälter, gegen den Paul zuvor getreten war? Er entschied, dass eine der Leichen darüber gestolpert sein musste.
»Es wirkt, als würden sie wieder beginnen, zu leben«, murmelte Donna.
»Was?«
»Sie sind letzten Dienstag gestorben. Ich weiß, dass das wahr ist, weil ich beobachtet habe, wie es passiert ist und ich habe genügend meiner Freunde untersucht, um zu wissen, dass sie alle tot waren. Und dann begannen sie, sich zu bewegen. Es ist so, als würden sie wieder damit beginnen, zu funktionieren. Sie gingen am Donnerstag, jetzt ...«
»Jetzt was?«
»Woher wussten sie, dass wir hier sind?«
»Keine Ahnung.«
»Ich denke, Sie haben sie aufgestört, als Sie zur Toilette gegangen sind.«
»Aber wir waren doch beide schon vorher auf dem Stockwerk unterwegs, nicht wahr? Warum haben sie nicht schon vorher auf uns reagiert? Ich bin draußen auf der Straße an Hunderten von diesen Dingern vorbeigegangen und keins von ihnen hat reagiert ...«
»Ich weiß«, unterbrach sie ihn, während ihre Verärgerung angesichts seiner steigenden Hysterie zunehmend wuchs. »Haargenau davon spreche ich. Sie konnten sich zunächst nicht bewegen, jetzt können sie laufen. Anfangs hatten sie wenig Körperbeherrschung und Beweglichkeit, jetzt scheint sich die verbessert zu haben. Sie konnten uns nicht hören, und ich weiß auch nicht, ob sie uns vorher bereits sehen konnten, jetzt scheint es allerdings der Fall zu sein.«
»Aber warum hat es Sie angegriffen?«, wiederholte er seine zuvor gestellte Frage.
»Hat es mich angegriffen? Was hätte es sonst tun sollen, wenn ihre Körperbeherrschung begrenzt ist? Es konnte nicht um Hilfe bitten, nicht wahr? Himmel, Paul, sehen Sie sich doch an, was mit ihnen geschehen ist. Sie sind voller Gebrechen. Ihre Körper fangen an, zu faulen und zu verwesen. Stellen Sie sich die Schmerzen vor, unter denen sie leiden müssen.«
»Aber können sie die spüren?«
»Meine Vermutung ist, dass sie, wenn sie sich bewegen können, auch in der Lage sind, etwas zu fühlen.«
Paul setzte sich auf und zog die Knie dicht zur Brust.
»Was wird dann als Nächstes passieren?«
Donna zuckte mit den Schultern. In ihrem Kopf drehte sich alles. Sie wollte nicht darüber nachdenken, bis sie nicht dazu gezwungen war.
»Keine Ahnung«, murmelte sie.
»Also, was tun wir jetzt?«
»Fürs Erste ziehen wir den Kopf ein und bleiben außer Sichtweite. Wir lassen sie nicht wissen, dass wir hier drin sind.«