17
Ruhig bleiben, langsam gehen, in Bewegung bleiben, wiederholte Donna schweigend immer und immer wieder für sich, während sie mit Paul auf die riesige Masse dunkler Leichen in ihrer Nähe zuging. Der kurze Marsch von der Pizzeria bis an den Rand der Ringstraße hatte etwa eine Dreiviertelstunde in Anspruch genommen, weit mehr Zeit, als es üblicherweise dauern sollte. Und mit jedem Schritt nach vorne war die Nervosität und Besorgnis, die jeder der Überlebenden fühlte, kontinuierlich gewachsen. Sie gingen in die Höhle des Löwen. In ein paar Minuten würden sie auf allen Seiten von verwesenden Leichen umringt sein, und nur eine einzige unvorhergesehene Bewegung oder ein Geräusch konnte ausreichen, um eine Reaktionskette in der Masse auszulösen, die sie gewiss verschlingen und ihnen keine Fluchtmöglichkeit gewähren würde. Auf sich alleine gestellt waren die Leichen schwach und eher lästig als bedrohlich. In einer Ansammlung von dieser Größe war die Gefahr allerdings unbestreitbar vorhanden und es gab keinen anderen Ausweg, als sich umzudrehen und wieder zurück in die Stadt zu laufen. Donna wusste, dass hier wie dort eine ähnliche Anzahl Leichen auf sie warten würde.
Der Gestank war entsetzlich. Seit sie das Büro verlassen hatten und ins Freie gelangt waren, hatten sie in der Luft einen drückenden, verdorbenen Geruch bemerkt, der stetig zunahm, als sie sich den Massen aus verwesenden Leichen näherten. Es handelte sich dabei um den Gestank nach Tod und Krankheit, der sich wie eine Decke über alles andere legte. Während Donna damit rang, die Nerven zu bewahren, beobachtete sie den Leichnam, der ihr am nächsten war, aus dem Augenwinkel. Er war einmal eine Frau gewesen – möglicherweise von ihrer Größe und in ihrem Alter – doch nun war er kaum noch erkennbar. Es war sogar denkbar, dass sie die erbärmliche Kreatur gekannt hatte, bevor sie von dem, was auch immer es gewesen war, das vor weniger als einer Woche die Welt in Schutt und Asche gelegt hatte, niedergestreckt worden war. Das frühe Morgenlicht war zwar immer noch düster, doch es bot Donna genügend Beleuchtung, um zu erkennen, was von den Gesichtszügen der Frau übrig geblieben war. Ihre ehemals blasse und ebenmäßige Haut war von Krankheit und Verwesung zerfressen und hatte eine unnatürliche blaugrüne Färbung angenommen. Rund um ihren Mund und die Nase hatten sich entzündete, nässende Blasen gebildet. Ihr Kiefer hing schwer nach unten und ein dicker Strom aus blutiger, keimgefüllter Flüssigkeit sickerte ihr auf einer Seite des Gesichtes hinab. Die einst gut sitzenden Kleider raschelten und flatterten in der kalten Morgenbrise um ihr Gerippe. Donna konnte ihre Augen nicht von den Überresten der Frau lösen. Auf seltsame Art und Weise war es einfacher, sich auf nur eine der Leichen zu konzentrieren, statt den Rest der Horde anzusehen. Jedes einzelne Mitglied davon war auf seine Art und Weise widerwärtig und abstoßend. Sie fürchtete sich davor, dass die nächste Leiche, auf die ihr Blick fallen würde, noch grotesker und abstoßender sein würde als die vorherige. Sie fürchtete sich davor, dass sie eine Kreatur sehen könnte, die von der grausamen Krankheit so entsetzlich verfault und beschädigt war, dass sie ihren Ekel nicht im Zaum halten könnte. Sie musste sich selbst daran erinnern, dass ein Ausrutscher, ein einziges unvorhergesehenes Geräusch alles rings um sie herum dazu bringen konnte, sich auf sie zu stürzen.
Paul war schrittweise immer weiter nach vorne gerückt. Er befand sich nun ein paar Meter vor Donna und es waren etliche Leichen zwischen sie gerückt. Die Horde, von der sie ein Teil waren, überraschte und verängstigte durch ihre schiere Größe. Paul wusste, dass es einen Grund für die unerwartete Versammlung geben musste, und da es nirgendwo anderen Anzeichen dafür gab, dass sie Hilfe oder Schutz finden würden, schien es vernünftiger zu sein, sich in die Bewegung der Masse einzuordnen. Die Sonne ging gerade zu ihrer Rechten auf, und als sich die ersten Strahlen des blendend orangen Lichtes lautlos über die Stadt ergossen, blickte Paul nach oben und war sich für einen Augenblick sicher, dass er Bewegung in den Fenstern eines großen, modernen Gebäudes auf der anderen Seite der Ringstraße sah. Am liebsten hätte er sich umgedreht, um Donna von seiner Entdeckung zu berichten, doch es war ihm klar, dass er es nicht riskieren durfte, in irgendeiner Form mit ihr Kontakt aufzunehmen.
Hinter ihm ließ Donna ihren Kopf schwer in derselben Art auf die Schultern herabhängen, wie es die teilnahmslosen Kreaturen rings um sie herum taten. Hätte sie den Kopf gehoben und sich umgesehen, wäre ihnen sofort aufgefallen, dass sie anders war. Den Großteil der Zeit bemühte sie sich, ihre Augen auf den Boden rund um Pauls Füße zu fixieren, um seine Bewegungen zu beobachten und ihn nicht zu verlieren. Die Ansammlung wurde immer dichter und enger zusammengedrängt, sodass ihre strapazierten Nerven, ihre natürliche Körperkraft und Schnelligkeit es ihr immer schwerer machten, sich der langsamen und unbeholfenen Gangart der umherschlurfenden Kadaver anzupassen. Obwohl sie sich alle in die gleiche Richtung bewegten, besaßen die Kreaturen nur geringe Kontrolle über ihre Bewegungen und schlingerten, stolperten oder wankten häufig auf eine Seite oder stießen wahllos mit anderen zusammen.
Paul gestattete es sich wieder, nach oben zu blicken. Das strahlende orangefarbene Licht wurde von den Fenstern auf der ganz rechten Seite reflektiert und schmerzte ihn in den Augen. Vielleicht, dachte er niedergeschlagen, war das alles, was er gesehen hatte. Vielleicht hatte es gar keine Bewegung gegeben, sondern nur die Morgensonne, die von den bronzefarben getönten Scheiben zurückprallte. Aber nein, da war es wieder. Obwohl ihm bewusst war, dass er bereits ein Risiko einging, wenn er den Kopf nach oben gerichtet hielt und hinaufblickte, fuhr er fort, auf das Gebäude vor ihm zu starren. Wieder sah er Bewegung. Himmel, da waren Leute in den Fenstern. Er befand sich immer noch ein paar hundert Meter entfernt, doch er konnte sie bereits deutlich sehen. Er wusste augenblicklich, dass die Menschen in den Fenstern nicht so waren wie die zahllosen siechenden Leichen, die ihn und Donna umgaben.
Diese hier befanden sich in etlichen Räumen und standen zum größten Teil still. Sie besaßen Kontrolle über sich. Sie sprachen miteinander. Sie blickten auf die Überreste der Stadt hinunter, sie dachten, sprachen, gestikulierten, planten und ... und es schien fast nicht möglich. Paul war noch ein paar Sekunden lang nicht in der Lage, das Gesehene in vollem Ausmaß zu akzeptieren, bis er sich so nahe befand, dass es nicht mehr zu leugnen war. Diese Menschen lebten. Diese Menschen waren Überlebende. Er reagierte, ohne zu denken, blieb stehen und wirbelte herum, um nach Donna zu sehen.»Da oben«, brüllte er, als er sie sah und zeigte auf das Gebäude vor ihnen. »Sehen Sie!«
Sie starrte ihn an, mit einem Ausdruck voll entsetzter Ungläubigkeit auf ihrem Gesicht und hörte seinem Schreien gar nicht zu, da sie über seine Dummheit viel zu fassungslos war, mit der er die schützende Stille, die sie so lange aufrecht erhalten hatten, rund um sie zerstörte. Da sie bereits erkannte, dass die Leichen rund um sie herum zu reagieren begannen, senkte sie wieder den Kopf und hoffte, dass Paul den Mund halten und dasselbe tun würde.
Es war zu spät. Die ersten Leichen hinter ihr begannen bereits nach vorne zu drängen und ihre Geschwindigkeit erhöhte sich plötzlich.
»Lauf, beschissener Idiot!«, brüllte sie. Ohne auf seine Antwort zu warten, ließ sie die Schulter sinken und rannte auf das Gebäude vor sich zu. Während sie mit einer Leiche nach der anderen zusammenstieß und die schwachen Gestalten wankend zu Boden fielen, provozierte sie immer mehr von ihnen zu einer Reaktion. Nach Paul versuchten bereits nahezu zahllose der ungeschickten und verfallenen Hände zu packen. Er schlug sie zur Seite und folgte der Bresche, die Donna schlug.
Selbst aus der Entfernung konnten sie erkennen, dass der Haupteingang durch den puren Umfang der Leichen, die dicht gepackt aneinander standen, nicht zu passieren war. Donna, die bereits um Atem rang, sah sich verzweifelt nach einer alternativen Strecke um. Sie war von allen Seiten von den widerlichen Leichnamen umringt, von denen sich nun jeder einzelne zu ihr umdrehte und unbeholfen auf sie zu taumelte. Es blieb keine Zeit, um Entscheidungen zu fällen. Sie blieb einfach in Bewegung und hoffte, dass ihre überlegene Stärke ausreichen würde, um ihr über die Misere hinwegzuhelfen. Sie nahm an, dass Paul dicht hinter ihr war, kümmerte sich aber nicht darum, es zu überprüfen. Er musste sehen, dass er selbst zurechtkam. Verdammter blöder Idiot.
Sie befand sich nun direkt auf der Ringstraße, stolperte den hohen Randstein entlang und begann über den breiten Asphaltstreifen zu laufen, während sie es irgendwie schaffte, die Leichen von sich zu stoßen und den Trümmern der Autowracks sowie den verrottenden Kadavern, die ihren Weg übersäten, auszuweichen. Die Horde wogte unerbittlich und in ihrer kollektiven Bewegung langsam, aber unheilvoll und unaufhaltsam wie eine dicke, breiige Flüssigkeit hinter ihr her. Als sie es über den Mittelstreifen geschafft hatte, wusste sie, dass sie beinahe am Ziel war. Sie konnte ihren hohlköpfigen Begleiter hinter sich hören, wie er vor Anstrengung grunzte und stöhnte, während er sich durch den endlos scheinenden Strom der Toten kämpfte und immer näher kam.
»Nach rechts!«, hörte sie ihn schreien und sie wechselte unverzüglich die Richtung. Das Gebäude vor ihnen war lang und schmal, doch sie waren der rechten Seite beträchtlich näher als der linken. Es erschien zwar logisch, auf die Rückseite zu gelangen, doch wer konnte sagen, ob sich hinter dem Gebäude nicht vielleicht eine zweimal so große Horde befand? Die Alternativen waren trostlos. Sie rannte weiter.
Rund um den Vordereingang standen die Leichen dicht gedrängt. Als Donna um die Ecke lief, sah sie zu ihrer Erleichterung, dass sich auf dieser Seite des Gebäudes beträchtlich weniger befanden. Zweifellos deshalb, befand sie, da die meisten der Leichen gewiss aus Richtung Innenstadt angerückt waren. Nachdem sie um eine Seite einer rotweiß gestreiften Eintrittsbarriere gerutscht war, holte sie tief Luft, stieß zwei weitere Leichen aus dem Weg und rannte wieder vorwärts.
»Raufsteigen!«, hörte sie Paul hinter sich schreien. »Weg vom Boden!«
Donna sah sich hilflos um und wusste nicht, was er von ihr wollte. Er beantwortete ihre Frage, als er plötzlich neben ihr erschien und sich einen Weg durch die Horden zu einem großen Lieferwagen, der an der Längsseite des Gebäudes abgestellt war, bahnte. Indem er nach dem Seitenspiegel auf der Beifahrerseite packte, zog er sich in die Höhe und außer Reichweite der zuschnappenden Hände unter sich. Dann legte er sich flach auf das Dach des LKW und streckte sich zu Donna hinunter.
»Na los«, zischte er.
Erschöpft bahnte sie sich einen Weg zum Lieferwagen und kletterte nach oben. Als sie das Dach des LKW erreicht hatte, war Paul bereits dabei, der Länge nach über das Fahrzeug bis zu dessen hinterem Teil zu balancieren. Donna folgte ihm, blieb dann stehen und fiel, sobald sie in Sicherheit war, auf die Knie.
»Hilfe!«, kreischte sie verzweifelt und betete, dass sie irgendjemand im Inneren des Gebäudes hören würde.
Das Hinterteil des Fahrzeuges, auf dem Paul stand, war weniger als drei Schritte von der Außenmauer des Gebäudes entfernt. Direkt über seinem Kopf, nur ein wenig rechts von ihm, befand sich ein kleiner Balkon. Ohne aufzuhören, über die Risiken nachzudenken, sprang er nach oben und packte nach der metallenen Einfassung, die rund um den Balkon verlief. Mit einer hastigen Bewegung holte er aus und wickelte seinen Arm rund um eine der metallenen Geländerstangen. Sein Gesicht verzog sich zu einer schmerzerfüllten Grimasse, als seine Schulter durch die plötzliche Verlagerung des Körpergewichtes aus dem Gelenk gerissen zu werden schien. Es gelang ihm, sich langsam und mit viel Mühe nach oben zu ziehen. Donna beobachtete vom Dach des Lieferwagens aus, wie er sich nach oben auf den schmalen Absatz zog und mit seinen Fäusten wild gegen ein doppelverglastes Fenster trommelte.
Donna legte sich hin, rollte sich auf den Rücken und blickte in den grauen Morgenhimmel hinauf. Das Geräusch, das Paul erzeugte, verlor sich rasch in der Stille, nachdem sie sich entspannte. Genauso verhielt es sich mit dem anhaltenden Schlurfen der unermüdlichen Leichenmassen, die rund um die Vorderseite des Gebäudes und den LKW herumstreunten. Sie starrte in die Wolken, die sich über ihrem Kopf bewegten, und beobachtete, wie sie von rechts nach links geweht wurden. Wenn ich nach oben sehe und nicht aufhöre, nach oben zu sehen, dachte sie sich, dann wirkt alles normal. Wenn ich nicht nach unten sehe, dann kann ich so tun, als ob nichts von all dem geschieht. Ich kann wenigstens für ein paar Sekunden lang so tun, als würde es nicht geschehen.
Nachdem sie das Fenster gefunden hatten, hinter dem Paul stand, hebelten es die Überlebenden auf und zogen ihn rasch zu sich ins Innere. Zwei Männer benutzten eine Leiter, um die Kluft zwischen dem Gebäude und dem Dach des Lieferwagens zu überbrücken, wagten sich in den kalten und unwirtlichen Morgen und brachten Donna in den Unterschlupf.