35

»Was tun Sie denn hier draußen?«

Donna drehte sich um und sah, dass Nathan Holmes hinter ihr stand. Sie saß auf einer Holzbank in einem kleinen Innenhof, der an den Versammlungssaal grenzte. Hierher zog sie sich öfter zurück, um nachzudenken und alleine zu sein, und nach den langen Gesprächen der letzten Stunden hatte sie sich nach einem Umgebungswechsel gesehnt. Die drei Quadratmeter Beton zwischen den Universitätsgebäuden boten eine Möglichkeit, sich gefahrlos unter freien Himmel zu begeben.

Sie wollte keine Gesellschaft, am wenigsten die von Holmes. Donna kehrte ihm den Rücken zu. Unbeirrt nahm er neben ihr Platz.

»Was wollen Sie?«, fragte sie seufzend.

»Nichts«, antwortete er. »Ich dachte bloß, ich komme raus und rede ein wenig mit Ihnen, das ist alles.«

»Und warum? Es ist drei Uhr morgens, um Himmels willen.«

Er zuckte mit den Schultern und zündete sich eine Zigarette an.

»Keine Ahnung«, erwiderte er, lehnte sich zurück und betrachtete einen Abschnitt des dunklen, bewölkten Himmels, der zwischen den hohen Gebäuden rings um sie erkennbar war.

»Ich jedenfalls habe Ihnen nichts zu sagen«, murmelte sie.

»Vorher hatten Sie jede Menge zu sagen.«

»Da haben Sie es herausgefordert. Und überhaupt sind Sie ein Arschloch.«

Gespielt missbilligend schüttelte Holmes den Kopf.

»Ich weiß nicht, was Sie gegen mich haben«, sagte er grinsend. »Nur weil ich meine Meinung sage und nicht riskieren will, dass –«

»Ihr beschissenes Problem«, zischte Donna, stand auf und entfernte sich von ihm, »ist, dass Sie nur an sich selbst denken. Schlimmer noch, alles, was Sie sagen, und alle Entscheidungen, die Sie treffen, beruhen auf Angst. Sie haben zu viel Schiss, um klar zu denken.«

»Sie haben ja keine Ahnung, wovon Sie reden«, knurrte er. Sein Tonfall hatte sich schlagartig geändert. Er klang wütend, zugleich jedoch eigenartig defensiv. Offenbar hatte Donna einen wunden Punkt getroffen. »Sie haben nicht die leiseste, verfluchte Ahnung, wovon Sie reden.«

»Seien wir doch mal ehrlich«, bohrte sie weiter. »Der einzige Grund, warum Sie sich so vehement dafür aussprechen, hier zu bleiben, ist, dass Sie sich davor fürchten, nach draußen zu gehen.«

»Blödsinn«, herrschte er sie an. »Glauben Sie das wirklich? Der Grund, warum ich bleiben will, ist –«

»Der Grund ist, dass Sie nicht den Mumm haben, sich rauszuwagen.«

»Ich will bloß nicht von unzähligen Scheißleichen angegriffen werden, deshalb will ich nicht weg«, verteidigte er sich. »Wenn Sie auch nur einen Schritt hinaus machen, werden Sie von denen regelrecht verschlungen. Es sind Tausende.«

»Und was tun Sie, wenn die hier reinkommen?«

»Werden sie nicht.«

»Vielleicht doch. Wahrscheinlich sogar, früher oder später.«

»Darüber denke ich nach, wenn es soweit ist. Vorerst bleibe ich dabei, dass ich meinen Hals nicht riskiere, solange ich eine andere Möglichkeit habe.«

»Es gibt aber keine anderen Möglichkeiten mehr.«

»Ich entscheide selbst, wann ich von hier verschwinde.«

»Sie werden es nie tun. Weil sie ein verdammter Feigling sind. Sie werden einfach hier rumsitzen und sterben.«

»Halten Sie die Scheißklappe, oder –«

»Oder was? Na los, Sie Riesenarsch, was genau wollen Sie tun? Sie werden hier hocken bleiben, wenn der Rest von uns verschwindet, und Sie werden hier sterben.«

Plötzlich sprang Holmes von der Bank auf und stürzte auf Donna zu. Sie taumelte rücklings in Richtung der Tür, die in den Versammlungssaal führte und prallte gegen Phil Croft. Seit etwa einer Minute stand er an der Tür.

»Alles in Ordnung?«, fragte er und fing Donna an den Schultern auf. Sie fand das Gleichgewicht wieder, drehte sich um und drängte sich an ihm vorbei.

»Ja«, murmelte sie, als sie in der Dunkelheit verschwand.

Holmes und der Arzt wechselten stumm einen Blick, bevor Croft kehrtmachte und Donna ins Gebäude folgte.

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