|301|Dein Handy funktioniert immer noch nicht.« Margrets Stimme empfing Doris, noch ehe die ersten Gratulanten sie erreichen konnten. »Den ganzen Morgen habe ich versucht, dich zu erreichen. Du musst es reparieren lassen.«
»Ich habe es an die Wand geschmissen, Mama«, antwortete Doris im Vorbeigehen. »Lauter Einzelteile, das ist hin.«
»Aber warum?« Margrets verblüffte Frage ging in der ersten Begrüßungswelle unter.
Es waren genau fünfzig Gäste, die sich hier versammelt hatten. Torsten hatte ihr die Zahl zugeraunt, er war sehr stolz, dass alles geklappt hatte. Die Gäste standen in kleinen oder größeren Gruppen zusammen und sahen den beiden gut gelaunt entgegen. Doris unterdrückte den Impuls, sich auf dem Absatz umzudrehen und das Lokal zu verlassen.
Sie suchte Katja und Anke und sah die beiden am Tresen stehen, zusammen mit Stefan, Torstens bestem Freund, und dessen Frau. Doch Stefan war nicht der Einzige aus ihrem Abiturjahrgang, plötzlich erkannte Doris noch andere Gesichter und fragte sich, warum sie erst fünfzig werden musste, um alle wiederzusehen. Torsten zog sie weiter. Hilfesuchend schickte sie einen Blick über die Schulter, der von Katja aufgefangen und mit einem beruhigenden Lächeln quittiert wurde.
Egal, ob diese Feier nun überflüssig war oder nicht: Es |302|waren lauter Menschen hier, die sie mochte, die extra gekommen waren und sich vielleicht sogar darauf gefreut hatten. Torsten hatte sich wirklich viel Mühe gemacht. Also hob Doris das Kinn und stürzte sich ins Getümmel.
Während sie geküsst, umarmt und beglückwünscht wurde, hatte sie mit einem kurzen Blick gesehen, dass es offensichtlich eine Tischordnung gab, geordnet nach Familie, Freunden, Firma, Nachbarn. Sie hatte es befürchtet. Dafür gab es keinen gemischten Braten, sondern ein Antipasti-Büffet, ein klares Zeichen dafür, dass Margret sich nicht so sehr in die Vorbereitungen hatte einmischen können. Wenigstens das war weniger schlimm als erwartet. Jemand drückte ihr ein Glas Sekt in die Hand, Doris trank es aus, die guten Vorsätze würde sie hier und heute auf jeden Fall in den Wind schießen.
Das zweite Glas drückte ihr jemand in die Hand, als sie am Familientisch angekommen war. Moritz saß zwischen Wiebke und Margrets Lebensgefährten Werner und sprang sofort auf, als er seine Mutter sah.
»Mama, herzlichen Glückwunsch«, rief er, bevor er sie umarmte. An ihr Ohr gepresst flüsterte er dann: »Tut mir leid mit Oma, hat sie viel Theater veranstaltet? Sie hat mich einfach fertiggemacht.«
»Mich auch.« Doris schob ihn ein Stück zur Seite und wischte ihm ein paar Tropfen Sekt vom Ärmel, die sie bei seiner Umarmung versprüht hatte. »Es ist schon in Ordnung.«
Sie sah ihm über die Schulter, in der unsicheren Erwartung, ein ganz bestimmtes Gesicht in der Menge zu entdecken. Vergeblich. Außer Wiebke und Werner, die mittlerweile auch standen, und ihren Schwiegereltern, war nur noch Margret zu sehen, die gerade mit fliegendem Paschminaschal auf sie zu rauschte.
|303|»Sind denn jetzt alle da? Dann kann ich mich vielleicht auch mal setzen. Ich habe alles mit der Küche besprochen, sie machen jetzt noch eine Hochzeitssuppe, ihr könnt doch nicht nur so ein kaltes Zeug anbieten. Ich habe …«
Doris gab Torsten ein Zeichen und floh.
»Wenn ich der Koch hier wäre, würde ich Margret jetzt für fünfzig Leute Hackfleischbällchen rollen lassen.« Doris ließ sich auf den leeren Stuhl neben Katja fallen. »Sie macht das ganze Lokal verrückt.«
»Sie meint es bestimmt nur gut«, sagte Stefan, der ihr gegenübersaß. »In unserem Alter sollte man froh sein, dass man noch eine Mutter hat.«
»Stefan, also bitte …«, begann Katja und stockte. Ihr fiel ein, dass seine Mutter vor zwei Jahren gestorben war. Mit dreiundachtzig, manche Frauen ihrer Generation hatten eben spät Kinder bekommen. »Sorry, stimmt. Ich habe immer nur meine Mutter vor Augen, die ist noch keine siebzig und benimmt sich, als wäre sie zwanzig Jahre jünger. Doris, lass dir nicht von Margret die Stimmung versauen. Ich glaube, Torsten und Moritz haben sie ganz gut im Griff. Und obwohl du keine Lust hattest, musst du zugeben, dass Torsten alles wirklich schön organisiert hat. Er hat sogar den DJ engagiert, der beim Abitreffen Musik gemacht hat. Das wird ein langer Abend, ich sag es dir.« Sie sah sich um, weil jemand hinter ihr stand. »Kerner, da bist du ja wieder. Hast du dir an der Tanke eine Bockwurst gekauft?«
Anke ließ sich neben Doris sinken und presste ihre Hand auf den Magen. »Ich bin kurz davor. Wann gibt es denn jetzt eigentlich was zu essen? Ich könnte jemanden anfallen.«
»Keine Ahnung.« Doris wandte sich um und suchte nach |304|Torsten, der an der Tür stand. »Es steht doch alles schon da. Vielleicht muss ich noch was sagen, ich dachte, dass er das macht. Ich gehe mal fragen, bis später.«
Sie hockte sich noch kurz neben den Stuhl ihrer ältesten Nachbarin, die sie an der Hand festhielt, und wollte sich gerade wieder erheben, als sie zur Tür sah und fast das Gleichgewicht verlor.
Da war er. Sascha. Die blonden Haare verstrubbelt, mit Jeans und einem grünen Kapuzenpullover. Er lächelte seinen Vater an und sagte etwas zu ihm. Neben ihm stand ein groß gewachsener Mann, dunkelhaarig, in Saschas Alter. Er war besser angezogen, trug ein Jackett, und das dunkle Haar war mit Gel in Form gebracht. Ihn als gut aussehend zu beschreiben, war untertrieben. Er war extrem gut aussehend. Und er legte Sascha die Hand auf den Rücken, während er sich mit kritischem Blick im Lokal umsah.
Es war ein völlig unpassender Moment, einen Schweißausbruch zu bekommen, aber darauf hatten Doris’ Hormone ohnehin nie Rücksicht genommen. Ihr Puls pochte in der Halsschlagader, ihre Nackenhaare wurden feucht, ihr Körper glühte, aber sie blies sich nur Luft unter den Pony und ging mit langsamen Schritten auf die Gruppe an der Tür zu.
Ihre Gedanken überschlugen sich. An der Tür ist ihr Sohn, auf dem Rücken ihrer Bluse bilden sich Schwitzflecken, der junge Mann neben Sascha könnte Fotomodell sein, Torsten hat es geschafft, Sascha hierherzulotsen, der Mann neben ihm ist zu schön, um nicht schwul zu sein, ihr Sohn ist mit ihm zusammen hier, wen, außer seinen Partner, bringt man zum fünfzigsten Geburtstag seiner Mutter mit? Vor allen |305|Dingen dann, wenn man seit zwei Jahren den Kontakt fast abgebrochen hat.
Doris sehnte sich nach einem Schnaps, nach Sascha, nach frischer Luft, hoffte, nicht ohnmächtig zu werden, und hatte nur noch die Gedanken: »Sascha ist schwul«, gefolgt von »Sascha ist hier«.
Sie war dankbar, als sich Torstens Arm um ihre Schulter legte und er sie auf Sascha zuschob. »So, mein Schatz, nun sind auch die letzten Gäste da. Dann halte ich gleich mal meine Begrüßungsrede. Du kannst jetzt deine Mutter küssen, Sascha, ich kümmere mich mal um ein Mikro.«
Doris blieb wenige Zentimeter vor ihrem Sohn stehen. Die Hitzewelle ebbte gerade rechtzeitig ab, bevor Sascha die Arme ausbreitete und sie an sich zog. »Alles Gute, Mama. Das ist …«
Doris unterbrach ihn. »Sascha, es tut mir leid, es tut mir wahnsinnig leid. Ich hätte mich nie in dein Leben einmischen dürfen, ich habe einen Fehler gemacht. Es wird nie wieder passieren. Ich hoffe, wir kriegen das wieder hin. Du hast mir so gefehlt und …«
Sie stoppte sich selbst, bevor sie rührselig wurde, und schluckte weitere Erklärungen runter. »Schön, dass du da bist.«
Alles andere würde sie hoffentlich später mit ihm besprechen können. Sascha beugte sich zu ihr, um sie auf die Wangen zu küssen. »Okay. Bleib entspannt. Moritz hat mir gesagt, dass du abgehauen bist? Und dass Papa und Oma nicht wussten, ob du überhaupt kommst? Sehr stark, die Nummer. Und ganz untypisch. Du solltest öfter fünfzig werden. Übrigens, Mama, das ist mein …«
»Alex«, rief Katja von hinten, und noch bevor Doris dazukam, |306|sich nach ihr umzudrehen, war sie schon da und drängte sich neben sie. »Da seid ihr ja.«
Unter den verblüfften Augen von Sascha und seiner Mutter fiel Katja dem schönen jungen Mann um den Hals, presste sich an ihn und küsste ihn mit aller Leidenschaft und geschlossenen Augen. Seine Hand lag dabei auf ihrem Po.
»… mein Geschäftspartner Alex.« Sascha war genauso perplex wie seine Mutter.
»Darf ich einen Moment um Ruhe bitten?« Torstens sonore Mikrofonstimme unterbrach das Stimmengewirr ebenso wie die Schockstarre an der Tür. »Ich rede auch nicht lange.«
Es wurde still, alle Augen wandten sich Torsten zu. Auch Doris drehte sich langsam von Katja und Alex weg und starrte ihren Mann, der in der Mitte des Raumes stand, an, als sähe sie ihn zum ersten Mal.
»Liebe Doris, liebe Familie, liebe Freunde. Ich habe dieses kleine Fest hinter Doris’ Rücken und, ich muss es zugeben, auch gegen ihren ausdrücklichen Wunsch organisiert. In den letzten Tagen hatte ich deshalb auch ein paarmal den Anflug eines schlechten Gewissens. Das ist heute aber komplett verflogen, weil ich mir nun sicher bin, dass dieser Tag meiner Frau Spaß machen wird.«
›Sascha ist nicht schwul‹, dachte Doris. ›Katjas jugendlicher Liebhaber ist tatsächlich der Freund von Sascha.‹
»Der fünfzigste Geburtstag wiegt sicher schwerer als der achtzehnte oder der zwanzigste. Ich kann mich aber erinnern, dass wir den dreißigsten auch schon schockierend fanden.« Einige der Gäste lachten.
|307|Doris dachte: ›Katja hätte ja auch mit Sascha zusammen sein können. Statt mit seinem Freund.‹
»Viele von euch kennen Doris schon seit dieser Zeit und erinnern sich an diesen dreißigsten Geburtstag und ihre Rede, die mit dem legendären Satz endete: ›Lasst uns für den Rest der Zeit wenigstens Spaß haben. Wenn wir schon alle zusammen alt werden müssen.‹ Daran habe ich in den letzten Jahren manchmal gedacht. Ich bin froh, dass wir alle zusammen alt werden, und hoffe, dass wir noch oft zusammen feiern. Und, liebe Doris, an die Sache mit dem Spaß sollten wir noch mal verstärkt rangehen, mit fünfzig kann man sich endlich eine gewisse Leichtigkeit im Leben leisten, dass wir viel können, haben wir doch in den letzten Jahren bewiesen.«
›Wenn meine Mutter Katja und Alex so sieht, fängt sie an zu kreischen.‹ Doris zwang sich, ihren Blick auf Torsten zu richten, der sie gerade liebevoll ansah. ›Lass uns abhauen‹, dachte sie, ›ich habe keine Lust auf diese ganzen Menschen.‹
Ihr wurde klar, dass sie kaum etwas von Torstens Rede mitbekommen hatte. Anke stand plötzlich in ihrer Nähe und blickte fragend. Doris nickte ihr zu und bemühte sich, den letzten Worten von Torsten zu folgen.
»Ich wünsche uns einen unbeschwerten Tag und Abend mit viel guter Laune und meiner Frau eines der besten Jahrzehnte ihres Lebens. Ich liebe dich, Doris Goldstein-Wagner, übrigens mit fünfzig genauso oder mehr wie mit fünfzehn, als wir uns das erste Mal geküsst haben. Und jetzt bitte ans Büffet. Danke für euer Kommen und ganz viel Spaß.«
|308|Doris wollte so schnell wie möglich zu ihm und lief, unter einem herzlichen Applaus und ohne auf ihre Gäste zu achten, quer durch den Saal.
»Danke«, sagte sie und küsste ihn schnell auf den Mund. »Das hast du schön gemacht. Ich gebe mir Mühe, viel Spaß zu haben.«
»Keine Mühe mehr, bitte.« Er hielt sie an ausgestreckten Armen von sich und musterte sie prüfend. »Hast du ein Gespenst gesehen? Oder war die Rede so schlecht?«
Doris deutete hinter sich, wo Katja immer noch von Alex umfangen an der Tür stand. Sascha unterhielt sich mittlerweile mit Anke.
»Wenn Kerner jetzt auch noch was mit Sascha anfängt, muss ich mal über dich nachdenken. Ich glaube es einfach nicht. Severin und dieses Kind.«
»Oh.« Torsten grinste. »Katja lässt doch wirklich nichts aus. Respekt. Aber wenn’s ihr gut tut? Wieso bist du plötzlich so moralisch? Und spießig?«
Doris sah ihn nachdenklich an. Er hatte recht. Sie bekam gerade wieder einen Rückfall. Dabei sollte doch eigentlich vieles ganz anders werden. Langsam hakte sie sich bei ihm unter. Er hatte eine helle Wildlederjacke und Jeans an, seine grauen Haare waren kurz, seine Augen sehr blau, er wirkte ungeheuer lässig und sehr männlich.
»Organisierst du uns zwei Gläser Sekt und gehst mit mir einen Moment vor die Tür?«
Überrascht ließ er sie los. »Jetzt? Vor dem Essen?«
»Seit wann bist du so spießig?«
Doris legte kurz die Hand an sein Gesicht und drehte sich um. »Bis gleich.«
|309|Katja und Alex gingen mit Anke zu ihrem Tisch, Sascha folgte ihnen. Alle Gäste waren jetzt im Lokal, nur Doris war auf der Außenterrasse. Sie setzte sich auf eine Bank, von wo aus man das Meer sehen konnte, und wartete auf ihren Mann.
Nach wenigen Minuten war er da, balancierte zwei Gläser und sah sich suchend um, bis er sie entdeckte.
»Da bist du.« Er reichte ihr ein Glas und stieß mit ihr an. »Nochmals: Ich wünsche dir alles Gute zum Geburtstag. Und ich hoffe, du nimmst mir die Feier nicht mehr übel. Wie war es denn mit den Mädels?«
Doris hielt das Glas in der Hand und dachte einen Moment nach. »Besonders«, sagte sie dann. »Wir haben die ganze Zeit geredet. Über uns, über früher, über Träume und Hoffnungen und übers Älterwerden.«
Sie fing langsam an zu erzählen, sprach von den ›Wilden Wörtern‹, Ankes Schulden, Katjas Vater. Ihr Tempo wurde immer schneller, sie erzählte, als hätte sie Angst, etwas Wichtiges zu vergessen. Torsten hörte nur zu, er unterbrach sie nicht, er fragte nichts, ab und zu lächelte er, dann wurde er wieder ernst. Aber er ließ sie reden.
»Sie haben gesagt, ich würde zu viel trinken. Und es wäre ein Luxusproblem. Ich würde mir über zu viele Dinge zu viele Gedanken machen. Und meine Talente verschleudern. Und ich würde dich aus den Augen verlieren. Sie haben recht gehabt, nicht mit allem, aber mit ganz vielem. Ich will was ändern, Torsten, ich habe das alte Leben satt.«
Mit einem Seufzer lehnte sie sich zurück und wartete auf seine Reaktion. Die war dann ganz anders, als sie erwartet hatte.
»Du solltest das alles aufschreiben«, sagte er. »Damit du |310|dieses Gefühl festhältst. Du hattest in den letzten Jahren schon oft solche Aufbruchstimmungen. Du hast nur nie viel daraus gemacht.«
»Stimmt.« Doris rieb sich über die Stirn. »Ich bin träge geworden. Aber dieses Mal ist es anders. Kerner und Severin sind dabei. Danke fürs Zuhören. Du, ich glaube, wir müssen jetzt wieder da rein. Oder?«
Torsten hob die Schultern. »Wir bezahlen ja das Fest, da müssen wir nicht unbedingt noch mitfeiern. Vielleicht haben die Leute mittlerweile vergessen, warum sie eigentlich hier sind. Und es gibt ein großes Hallo, wenn wir reinkommen. Auf der anderen Seite habe ich jetzt Hunger. Und unsere Gläser sind leer. Und Sascha ist da. Und 49 weitere Gäste, die auch noch mit dir reden wollen. Reingehen wäre schon eine Option.«
»Gut.« Doris stand auf und griff nach den leeren Gläsern. »Also los.«
Kurz bevor sie die Tür erreichten, hielt Torsten sie am Arm fest. »Du hast mir seit Jahren nicht mehr so viel auf einmal erzählt. Danke.«
Doris legte ihm kurz die Hand auf die Brust. »Ich habe auch seit Jahren nicht mehr über so viele Dinge nachgedacht. Wir haben uns von diesem ganzen Trott auffressen lassen. Das ist ärgerlich.«
Er küsste sie auf die Stirn. »Besser jetzt als nie. Dafür haben wir den Trott schon mal erledigt. Jetzt komm.«
»Wann fährt denn der Bus zurück?« Moritz hatte keine klare Aussprache mehr, hielt sich aber tapfer, im Gegensatz zu seiner Freundin Wiebke, die sich zwischen die Mäntel an der Garderobe gelegt hatte.
|311|Es war kurz vor elf, die meisten Gäste brachen schon auf. Der DJ packte gerade seine Anlage ein, während das umtriebige Bedienungspersonal die ersten leeren Tische abräumte.
»Gleich.« Anke kniff die Augen zusammen, als plötzlich das brutale Deckenlicht erstrahlte. »Meine Güte, das ist ja wie ein Rausschmiss. Da wird man ja blind und sofort wieder nüchtern. Dein Vater treibt die Leute schon zusammen.«
Katja hatte ihre Schuhe ausgezogen und die bloßen Füße auf den gegenüberstehenden Stuhl gelegt. »Ich an deiner Stelle würde mir Wiebke über die Schulter werfen und mich mal Richtung Parkplatz bewegen. Sonst fährt der Bus ohne euch. Die meisten sitzen schon drin.«
»Gut.« Moritz strahlte Katja an. »Dann hole ich mal Wiebke. Wo ist denn meine Mutter?«
»Hinter dir.« Doris legte ihrem Sohn die Hände auf die Schulter. »Deine Süße schläft schon im Bus. Papa hat sie reingetragen. Letzte Reihe, dritter Platz von rechts, falls du sie suchst.«
»Okay.« Jetzt bekam er auch noch Schluckauf. »Wo ist denn Sascha?«
»Der ist mit Alex gefahren, die sind schon los.« Katja rieb ihre Füße aneinander. »Mir tun die Füße weh. Die sind das Tanzen überhaupt nicht mehr gewöhnt. Trinken wir jetzt noch einen Absacker, oder müssen wir den Saal räumen?«
»Wo ist denn Oma?« Moritz’ Schluckauf wurde stärker. Doris schüttelte ihn leicht.
»Die ist auch schon im Bus. Jetzt steh mal auf, die warten auf dich.«
Moritz blieb lächelnd und etwas schwankend sitzen. »Ich will aber nicht neben Oma sitzen.«
»Was ist denn jetzt mit dir?« Torsten stand plötzlich am |312|Tisch und beugte sich über seinen Sohn. »Bist du kampfunfähig? Wir wollen abfahren. Komm.«
Während Moritz sich mühsam und umständlich von seinem Platz löste, zog Torsten Doris zur Seite. Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und küsste sie. »Alles gut?«
»Ja.« Sie lehnte sich kurz an ihn. »Du könntest aber auch hier bei mir bleiben, du musst nicht mit zurück. Das wäre eigentlich ganz schön. Vom Bett aus kann man das Meer sehen.«
Er lächelte. »Du kannst gern das nächste Wochenende für uns buchen, aber jetzt muss ich die Leute schon zurückbringen. Außerdem brauche ich vermutlich die ganze Fahrt, um Margret zu beruhigen.«
»Goldstein, komm nicht auf die Idee, nach Hause zu fahren«, rief Katja über den Tisch. »Wir gehen jetzt noch tanzen.«
»Siehst du«, raunte Torsten Doris zu. »Dabei würde ich nur stören. Ich greif mir jetzt deinen betrunkenen Sohn, und wir sehen uns ja dann morgen.«
»Der betrunkene Sohn gehört auch dir.« Doris sah zu Moritz, der sich so überschwänglich von Anke verabschiedete, als hätte sie ihn großgezogen. »Danke, Anke, für alles.« Mit unsicheren Bewegungen, aber äußerst charmant klopfte er ihr auf die Schulter. »So schön, alles, bis irgendwann mal.«
»Moritz, mach hin.« Sein Vater griff energisch nach seinem Jackensaum. »Sag tschüss zusammen und dann komm.«
Er schob seinen leise singenden Sohn zum Bus.
Katja sah den beiden nach, bis die Tür hinter ihnen zufiel. »Das hätten wir geschafft. Goldstein, das war ein tolles Fest, und das, obwohl du vorher so ein Gezicke gemacht hast.«
|313|Doris ließ sich auf einen Stuhl fallen und streckte ihre Beine aus. »Ja. Es war nicht so schlimm, wie ich dachte. War die Frau von Stefan eigentlich immer schon so dick?«
Katja grinste. »Nein. Aber bevor wir jetzt anfangen, jeden einzelnen Gast durchzuhecheln, möchte ich etwas trinken. Entweder hier oder wir gehen noch in die Hotelbar. Kerner, was machst du da eigentlich mit deinem Handy? Schreibst du um diese Zeit noch eine SMS?«
Ohne den Blick von ihrem Display zu heben, tippte Anke in Ruhe weiter und antwortete: »Du hast den ganzen Abend mit einem Kind rumgemacht, dann kann ich ja wohl mal einem erwachsenen Mann schreiben, wie es mir gerade geht. Außerdem geht dich das gar nichts an.«
Sie drückte den Sendebefehl und sah Katja an. »Severin und der Knabe. Doris hat Schweißausbrüche bekommen, als sie euch gesehen hat.«
»Ich weiß gar nicht, was du willst.« Lasziv räkelte sich Katja auf dem Stuhl. »Bloß kein Neid. Doris hat nur geschwitzt, weil sie plötzlich dachte, dass es auch ihr Sohn sein könnte. Stimmt, oder? Du willst mich nicht als Schwiegertochter.«
»Anfangs habe ich gedacht, Alex wäre der Freund von Sascha.« Doris betrachtete Katja und registrierte wieder, wie gut sie aussah. »Also, ich meine, nicht nur so, auch anders. Aber es stimmt doch, wenn Alex an dem Tag nicht da gewesen wäre, dann hätte Sascha dein Tattoo gestochen.«
»Bestimmt.« Katja setzte sich aufrecht hin und sah Doris an. »Aber ich wäre nicht mit ihm in die Kiste gegangen. Du brauchst gar nicht zusammenzuzucken, dein Sohn ist nicht mein Typ.«
»Er hätte dich ja auch erkannt.« Anke hatte ihr Handy |314|weggesteckt und stützte das Kinn auf die Faust. »Und es ist auch nicht besonders erotisch, wenn man zu der Frau, die bei einem im Bett liegt, früher Tante Katja gesagt hat.«
»Das hat er nie«, korrigierte Doris. »Immer nur Katja. Aber hast du ihn denn nie getroffen?«
»Nein.« Katja hob die dritte Wasserflasche an, die auch leer war. »Wirklich nichts mehr drin. Ich wusste bis gestern nicht, dass er mit Alex das Studio hat. Was wäre für dich eigentlich schlimmer? Wenn dein Sohn schwul wäre oder wenn seine Freundin so alt wäre wie ich?«
»Du hast die dritte Möglichkeit vergessen.« Anke grinste. »Wenn du die Freundin wärst. Das wäre der Supergau!«
»Es ist mir egal. Es soll ihm gut gehen«, sagte Doris. »Aber müssen wir denn jetzt bei diesem fiesen Licht ohne ein Getränk hier sitzen bleiben und über solche Themen reden? Ich möchte in die Hotelbar und in Ruhe noch einen Champagner trinken. Und über Stefans dicke Frau lästern.«
»Und einen Toast darauf aussprechen, dass Severin nicht Mutti zu dir sagen muss.« Anke war schon aufgestanden und nahm ihre Tasche vom Tisch. »Katja, zieh deine Schuhe an, ich rufe uns ein Taxi.«