|240|Mir tun die Rippen weh«, stöhnte Doris eine halbe Stunde später. Sie saß zwischen Anke und Katja auf einer Bank an der Promenade und erholte sich nur langsam von der Erinnerung an den schröderschen Fellhaufen.
»Und mein gesamtes Make-up ist verlaufen.«
»Sieht kein Mensch«, sagte Katja. »Es ist sowieso dunkel. Und in die Bar können wir nicht zurück. Die müssen uns doch für völlig geisteskrank halten.«
Anke kicherte. »Erst faltet Katja die Jungs zusammen, weil sie sich nicht benehmen können, dann entschuldigen die sich mit einer Flasche Rotwein, und anschließend flippen wir aus. Und lassen auch noch den Wein stehen. So was Beknacktes.«
»Aber schön war’s.« Doris streckte ihre Beine aus und seufzte. »Ich habe ewig nicht mehr so gelacht. Morgen werde ich Muskelkater haben. Es war doch wirklich eine super Idee, dieses Wochenende hier zu verbringen, oder?«
»Nur weil du gelacht hast?« Katja sah sie von der Seite an. »Wegen eines Fellbergs? Das hättest du auch billiger haben können.«
Beim Stichwort »Fellberg« rang Doris schon wieder um Fassung, bekam sich dieses Mal aber noch in den Griff.
»Nein. Auch weil wir so viel geredet haben. Und weil ich mich wieder ganz gut leiden kann. Wie spät ist das denn eigentlich? Wie lange habe ich denn noch die Vier vorne?«
|241|»Halbe Stunde.« Katja gähnte plötzlich. »Ich glaube, ich gehe ins Bett.«
Doris drehte sich entsetzt zu ihr um, aber Katja zog lachend den Kopf ein. »War ein Scherz.«
»Dein schlechtester, heute Abend. Ich geh jetzt schnell in mein Zimmer und hol den Schampus aus dem Kühlschrank. Stoßen wir dann hier an? Es ist noch so schöne Luft. Oder ist euch kalt?«
Anke verschränkte ihre Arme. »Mir ist seit einer halben Stunde kalt. Aber das interessiert ja niemanden.«
»Ich bring dir eine Jacke mit.« Doris stand bereits. »Noch was?«
»Nüsse.« Katjas Antwort wurde nicht mehr kommentiert.
Doris ging schnell an der Bar vorbei, nicht weil es ihr peinlich war, sondern weil sie befürchtete, wieder loszuplatzen. Beschwingt machte sie einen Bogen um den Fahrstuhl und lief die Treppe hinauf. Den Champagner hatte sie von zu Hause mitgebracht. Ihr fiel ein, dass sie beim Einpacken plötzlich unsicher geworden war. Mit der Flasche in der Hand hatte sie sich vorgestellt, dass dieses ganze Unternehmen auch in einem riesigen Desaster enden könnte. Was wäre gewesen, wenn sie gemerkt hätten, dass sie sich fremd geworden waren, sich nichts mehr zu sagen hatten und dass sich jede von ihnen nur wünschte, die Zeit möge so schnell wie möglich vorbeigehen? Aber es war anders gekommen. Wunderbar anders.
Sie nahm zwei Stufen mit einem Schritt und spürte sofort den Schmerz im Knie. Auch wenn sie sich noch so jung fühlte, hinkte das Knie hinterher. Wenigstens war ihr im Moment nicht heiß. Sie lächelte über sich selbst, als sie um die Ecke in den Flur zu ihrem Zimmer bog. Und dann hatte |242|sie eine Erscheinung, die sie sofort einen Satz rückwärts machen ließ, Knie hin, Knie her. Mit dem Rücken an der Wand blieb sie stehen und atmete flach.
Zwei, drei Schrecksekunden später beugte sie sich vorsichtig vor und lugte um die Ecke. Sie hatte keine Erscheinung. Sie war bei Verstand. Sie konnte es trotzdem nicht fassen. Vor ihrer Tür, bewaffnet mit einer Pikkoloflasche Sekt und zwei Gläsern stand Margret Goldstein und klopfte.
Doris unterdrückte ihren Seufzer, drehte auf dem Absatz um und lief, so schnell sie konnte, die Treppe nach unten. Hatte sie sich nicht vorhin darüber beschwert, dass das Leben keine Überraschungen mehr bereithielte? So etwas aber hatte sie sich nicht gewünscht. Im Leben nicht.
Sie beeilte sich, zurück zur Promenade zu kommen.
Anke sah hoch und streckte die Hand aus. »Du warst aber schnell. Jacke?«
Katja hob ebenfalls den Arm. »Schampus?«
Doris ließ sich auf die Bank sinken und schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Schlüssel verloren?« Katja gähnte schon wieder. »Oder hast du beschlossen, das teure Zeug doch lieber allein zu trinken. Wenn du fünfzig bist.«
»Meine Mutter.«
»Mit deiner Mutter?« Anke lachte auf, dann stutzte sie und sah Doris an. »Hat sie angerufen? Ich denke, dein Handy ist zerbröselt?«
»Sie ist hier. Im Hotel. Oben auf dem Flur.«
»Du hast Halluzinationen. Das kommt vom Rotwein. Man sollte nie Rotwein zum Zander trinken, das geht auf die Augen.«
»Katja, das ist mein Ernst.« Doris rieb sich heftig die |243|Stirn. »Ich habe sie zum Glück rechtzeitig gesehen. Sie stand mit einem billigen Pikkolo vor meiner Tür und klopfte. Das macht sie wahrscheinlich jetzt die ganze Nacht über.«
»Das glaube ich nicht«, entgegnete Katja. »Das macht sie vielleicht noch eine halbe Stunde und dann lässt sie die Tür aufbrechen. Also erschrick nachher nicht, wenn du ins Bett gehst. Da liegt dann schon jemand.«
»Sie hat sich doch bestimmt ein Zimmer gebucht.« Anke versuchte, Doris zu beruhigen. »Oder meinst du, dass sie einfach so hier aufkreuzt und mit dir im Doppelbett schlafen will? Eigentlich ist das doch ganz süß, dass sie als Erste gratulieren möchte. Meine Mutter würde nicht auf die Idee kommen, mitten in der Nacht irgendwohin zu fahren, nur weil ich um Mitternacht Geburtstag habe.«
»Es geht ihr mit Sicherheit nicht ums Gratulieren«, entgegnete Doris resigniert. »Sie hat Angst, dass ich morgen nicht rechtzeitig oder gar nicht zu der Feier komme. Stellt euch doch vor, wie alle Gäste gespannt darauf warten, dass ich vor Freude über die Überraschung in Tränen ausbreche, und dann komme ich gar nicht. Was glaubt ihr, was die sagen? Das fällt doch alles auf Margret Goldstein zurück. Diese Schmach!«
»Du übertreibst.« Katja knöpfte ihre Jacke zu. »Damit hat sie doch nichts zu tun.«
»Sie hat mit allem etwas zu tun. Um meine Mutter dreht sich die Welt, das war früher schon so und wird mit jedem Jahr schlimmer.«
Fröstelnd schlang Anke ihre Arme um sich. »Und müssen wir die ganze Nacht hier sitzen bleiben? Mir ist jetzt schon kalt. Außerdem brauchen wir etwas zu trinken.«
»Das ist doch echt das Letzte.« Doris fuhr sich wütend |244|durch die Haare. »Muss sie mir so den Abend versauen? Ich traue mich überhaupt nicht mehr ins Hotel, ich laufe ihr garantiert in die Arme. Und dann haben wir sie an der Hacke. Da werde ich fünfzig und sitze mit Mutti in der Bar, das glaube ich nicht. Ihr habt überhaupt keine Vorstellung, wie sie uns gleich volltextet. An jedem Geburtstag erklärt sie vorwurfsvoll, wie schwer meine Geburt war, und dass ich von Anfang an keine Rücksicht auf sie genommen hätte. Ich könnte schreien.«
»Dann weiß sie, wo du bist.« Katja fand die Situation fast komisch. »Das ist mir auch lange nicht passiert, dass ich irgendwo im Kalten sitze und mich nicht nach Hause traue, weil ich Angst davor habe, dass Mutti Theater macht. Doris, fühlst du dich nicht sofort 35 Jahre jünger? Ich glaube, ich rauche auch gleich eine Zigarette. Heimlich und im Dunkeln. Herrlich. Wir müssen nur an den Schampus rankommen. Es ist doch schade um das gute Zeug.«
Doris konnte selbst darüber nicht lachen. »Was soll ich denn jetzt machen? Ich kann doch auf keinen Fall …«
Anke streckte die Hand aus. »Mich erkennt sie bestimmt nicht. Gib mir mal deinen Zimmerschlüssel. Ich sehe nach, ob die Luft rein ist, dann hole ich den Champagner aus dem Kühlschrank. Und den trinken wir in meinem Zimmer. Du kannst auch bei mir schlafen, wenn deine Mutter vor deiner Tür campiert. Ich habe sogar eine Ersatzzahnbürste dabei.«
»Sehr gute Idee, Kerner«, sagte Katja anerkennend. »Doris, du bleibst hier und zählst bis 300, dann kommst du vorsichtig nach und wartest auf Lichtzeichen hinter Ankes Fenster. Wir ziehen dich dann am Bettlaken hoch.«
»Sehr witzig.« Doris stand auf und sah auf die Uhr. »Ich |245|habe gleich Geburtstag. Und ich will jetzt feiern. Und Spaß haben.«
»Auf einmal?« Katja klatschte in die Hände. »Es geht doch.«
»Also, passt auf«, sagte Anke. »Ich gehe ins Hotel. Ihr wartet draußen. Ich frage an der Rezeption, ob Margret etwas hinterlassen hat und in welchem Zimmer sie wohnt, und dann treffen wir uns bei mir. Und, Katja, lass dein Handy eingeschaltet! Wenn die Bahn frei ist, rufe ich an.«
»Und wenn nicht?« Skeptisch musterte Doris die beiden.
»Dann …«, sagte Katja und zog Doris wieder auf die Bank. »Dann legen wir uns ein Stündchen hier hin und machen anschließend die Nummer mit den Bettlaken. Geh los, Anke, mein Mund ist schon ganz pappig.«
Das Foyer war, bis auf einen Hotelmitarbeiter an der Rezeption, leer. Anke ging auf ihn zu. »Guten Abend. Können Sie mir bitte sagen, ob Frau Goldstein schon eingetroffen ist? Margret Goldstein?«
Auch an seiner Jacke prangte ein Namensschild, »Thomas«. Etwas angestrengt blickte er hoch. »Sind Sie die Tochter? Frau Goldstein hat schon mehrere Male nach Ihnen gefragt. Ich habe auch einige Nachrichten.«
Ohne den Irrtum aufzuklären, nahm Anke die Nachrichten in Empfang und fragte mit dankbarem Augenaufschlag: »Wunderbar. Wo ist sie jetzt? In ihrem Zimmer? Welche Zimmernummer hat sie denn?«
»Die 139. Das ist Ihrem Zimmer gegenüber. Aber jetzt sitzt sie in der Bar. Ich soll Ihnen sagen, dass Sie sofort dorthin kommen müssen. Die Betonung soll auf ›sofort‹ liegen.«
»Okay.« Anke verbiss sich ein Lachen. »Ich hole nur |246|schnell etwas aus meinem Zimmer. Falls sie fragt, sagen Sie ihr bitte, ich wäre gleich da.«
»Danke«, antwortete Thomas erleichtert. »Einen schönen Abend noch.«
Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen machte Anke sich auf den Weg nach oben. Doris sollte dem gestressten Thomas etwas mehr Trinkgeld bei der Abreise geben, andererseits gehörte das alles aber auch zu seinem Job, der sicher nicht immer ganz einfach war.
Sie lief diesmal die Treppen, der Aufruhr, falls der Fahrstuhl stecken bliebe, würde jetzt stören. Der Flur lag menschenleer vor ihr, trotzdem schaute sie sich verstohlen nach allen Seiten um, bevor sie die Tür leise öffnete und sofort hinter sich wieder schloss. Sie sah wohl einfach zu viele schlechte Krimis. Ohne Licht zu machen, tastete sie sich zum Kühlschrank, dankbar, dass alle Zimmer denselben Schnitt hatten.
Erst als sie mit dem Champagner sicher in ihrem eigenen Zimmer stand, gestattete sie sich zu kichern. Es war doch wirklich zu albern, sie benahm sich wie James Bond bei der Beschaffung von Geheimakten, bloß weil eine gleich fünfzigjährige Freundin auf der Flucht vor ihrer Mutter war.
Sie schaltete ihr Handy an, wählte Katjas Nummer und sagte: »Codename Freiheit. Zielobjekt sitzt noch in der Bar. Kommt auf dem direkten Weg zum Treffpunkt. Ende.«
Ohne die Antwort abzuwarten, legte sie auf und amüsierte sich wie Bolle.
Wenige Minuten später klopfte es an ihrer Tür. Anke öffnete und sah der nervösen Doris und der feixenden Katja entgegen. »Parole?«
»Lass den Blödsinn.« Ungeduldig schob Doris sie zur |247|Seite. »Mach die Tür zu! Und? Hast du an der Rezeption gefragt?«
»Habe ich.« Anke reichte Katja die Champagnerflasche. »Hier, die kannst du schon mal öffnen, du hast damit mehr Erfahrung als ich.«
»Es ist doch noch gar nicht so weit.« Katja tippte auf ihre Uhr. »Warte noch einen kleinen Moment. Erzähl erst mal von Queen Mum. Schläft sie schon in Doris’ Bett?«
Anke reichte Doris einen Stapel Zettel. »Das sind Muttis gesammelte Nachrichten. Nein, sie hat ein eigenes Zimmer. Übrigens genau gegenüber von Doris. Sie kann dich durch den Spion sehen, wenn du nach Hause kommst. Jetzt im Moment sitzt sie noch in der Bar und wartet auf ihr Kind. Hat mir Thomas von der Rezeption gesagt. Er hat mich für das Kind gehalten. Du musst ihm morgen ordentlich Trinkgeld geben, Doris, deine Mutter hat ihn fertiggemacht. Wie lange dauert es noch?«
»Fünf Minuten.« Doris hatte angefangen, die Mitteilungen zu überfliegen.
»Hallo, Doris! Bin gerade angekommen, richte mich erst mal ein, melde Dich. M.«
»Hallo, habe noch etwas vergessen: Wir fahren morgen Mittag zusammen in ein nettes Lokal. Wegen Deines Geburtstags. Ich hoffe also, Du kommst nicht so spät von Deinem Spaziergang zurück. Bis gleich.«
»Habe gerade gehört, Du seist aushäusig essen. Allein? Ich kann wirklich nicht den ganzen Abend hier warten. Ich gehe also jetzt auch eine Kleinigkeit im Hotelrestaurant |248|essen, Du kannst ja nachher schauen, ob ich noch da bin. Bis gleich.«
Doris hatte übertrieben langsam vorgelesen, jetzt verfiel sie wieder in ihren normalen Ton, während sie die Nachrichten durchblätterte. »Du Schande, der Rest sind Notizen von der Rezeption. Sechs Stück, so oft hat sie angerufen. Im Halbstundentakt. Sie ist auf dem besten Weg, hysterisch zu werden.«
Katja griff zur Champagnerflasche. »Wenn wir gleich einen Heidenlärm hören, dann hat sie die Tür zu deinem Zimmer aufgetreten. Ist doch praktisch, dass sie auf demselben Flur wohnt, so kriegen wir alles hautnah mit. Jetzt aber feiern wir erst mal Geburtstag. Noch eine Minute, meine Liebe.«
Während sie langsam den Draht vom Korken drehte, waren plötzlich laute Klopfgeräusche draußen zu hören. Doris legte sofort den Finger auf die Lippen und sah die beiden anderen warnend an. Auf Zehenspitzen ging sie zur Tür und lauschte mit geneigtem Kopf.
»Doris? Doooris?«
Das Klopfen hörte auf, um nach einigen Sekunden wieder einzusetzen. Doris drehte sich zu Katja und gab ihr Zeichen, die Flasche nicht zu öffnen. Es war zu spät, der Korken hatte sich schon in Bewegung gesetzt. Mit unterdrücktem Kichern presste Katja ein Kopfkissen auf die Flasche. Der Champagner lief in Rinnsalen auf den Teppich.
Anke zischte ein leises: »Gieß ein«, und hielt ihr die Gläser hin. Mit dem tropfnassen Kissen in einer Hand schenkte Katja ein und flüsterte: »Das Klopfen hat aufgehört. Ist sie weg?«
Tatsächlich waren jetzt Schritte zu hören, die sich langsam |249|entfernten. Tief ausatmend lugte Doris durch den Spion in der Tür.
»Ich glaube, ja«, murmelte sie. »Aber sie kommt garantiert gleich wieder. Mit dem Hausmeister. Was …?«
Als sie sich umdrehte, standen Anke und Katja mit je einer roten Rose in der Hand vor ihr. Anke reichte ihr ein Glas und hob das eigene.
»Alles, alles Gute zum Geburtstag. Immer nur das Beste von allem, Gesundheit, Schönheit, Glück und Kreativität. Herzlichen Glückwunsch.«
»Und ab jetzt wieder regelmäßige Treffen mit uns.« Katja trat noch einen Schritt näher und umarmte Doris. »Dafür keine Stimmungen und Launen mehr, sondern genug Hormone für guten Sex.«
»Danke euch.« Doris lächelte, stieß mit ihnen an und trank. »Es fühlt sich nicht so schlimm an, wie ich dachte.«
»Das ist gut.« Katja betrachtete bedauernd die Flasche, die noch auf dem Tisch stand. »Ein Viertel von dem schönen Zeug ist bestimmt ins Kissen gesickert. Ich kann dir nachher die Lippen damit abtupfen. Aber du wolltest doch sowieso weniger trinken.«
»Severin, sie hat Geburtstag, sei doch mal nett.« Anke roch an dem Kopfkissen und legte es angewidert zur Seite. »Bah. Na ja, ich habe ja zwei. Das ist doch wirklich ein Vorteil, wenn man das Bett für sich allein hat. Was machen wir denn jetzt?«
»Na sicher nicht für den Rest des Abends hier stehen bleiben?« Katja ließ ihre Blicke durchs Zimmer wandern. »Zwei Sessel, also muss eine ins Bett. Ich opfere mich.«
Sie stellte ihr Glas ab. »Das haben wir früher auch immer gemacht. Uns auf Betten gelegt. Wisst ihr noch? Den Großteil |250|unserer Redaktionssitzungen haben wir bäuchlings bestritten. Auf Betten, die höchstens einen Meter breit waren. Hatte überhaupt jemand von euch Sessel im Zimmer? Ich hatte nur einen Schreibtischstuhl. Ging auch.«
»Aber du ziehst die Schuhe aus.« Anke baute sich vor Katja auf und deutete auf ihre Stiefel. »Ich schlafe nachher nicht mit Straßendreck.«
»Kerner, was bist du spießig geworden.« Umständlich öffnete Katja die Reißverschlüsse ihrer Stiefel und ließ sich aufs Bett fallen. »Zieh mal, Doris.«
Schließlich saßen sie zu dritt, mit parallel ausgestreckten Beinen, die zusammengeknüllte Decke im Rücken, auf dem Bett, von dem aus sie auf den klaren Sternenhimmel blickten. Katja hatte ganz leise einen alten Popsong gesungen: »Happy Birthday, darling, may all your dreams come true«, bis Anke sie in die Rippen stieß. »Severin, du triffst nicht einen Ton. Und ich fand das Lied schon damals entsetzlich kitschig.«
»Ich finde es schön.« Doris lehnte ihren Kopf an die Wand und sah mit halb geschlossenen Augen aus dem Fenster. »Das passt jetzt auch zu meiner Stimmung. Es müssen ja nicht alle Sachen in Erfüllung gehen, aber vielleicht die wichtigsten.«
»Welche sind das?« Anke sah sie an. »Außer gesund und schön zu bleiben?«
Doris atmete tief durch. »Ach, so dies und das.«
Sie machte eine kleine Pause, in der es so aussah, als würde sie mit einem Gedanken kämpfen. Dann fragte sie: »Habt ihr schon mal etwas getan, was so unüberlegt und egoistisch war, dass ihr euch heute noch dafür schämt?«
»Nö. Schämen habe ich mir schon mit acht abgewöhnt«, antwortete Katja. »Wozu auch?«
»Ich meine es ernst? Gibt es das in euren Leben?«
|251|In der Stille, die plötzlich entstand, betrachtete Doris die Gesichter links und rechts von sich. Beide hielten ihre Blicke auf den Sternenhimmel gerichtet. Beide waren nachdenklich geworden.
»Hat das nicht jeder in seinem Leben?« Katja antwortete ungewohnt ernst. »Aber man kann es sowieso nicht mehr ändern. Leider.«
»Was meinst du?«, fragte Anke. »Hast du die eine oder andere Korrektur in deinem hübschen Gesicht zu früh gemacht? Wärst du jetzt entspannter, wenn du einfach mit Antifaltencreme gearbeitet hättest?«
Aber Katja ging nicht auf ihren leichten Ton ein. »Nein. Das hatte mit dem Anspruch zu tun, den du beim Fernsehen erfüllen musst oder willst. Wenn du alt wirst, bist du weg. Ich habe mich davon wahnsinnig unter Druck setzen lassen und so ziemlich alles unternommen, um dabeizubleiben.«
Doris sah sie an. »Du hast ernsthaft diesen ganzen Stress mit dem Sport, den Diäten, den Schönheitsoperationen nur gemacht, um deinen Job zu behalten? Ich habe immer gedacht, du wärst gar nicht so ehrgeizig.«
»Doch.« Katja winkelte die langen Beine an und starrte an die Decke. »Ich wollte zum Fernsehen. Ich wollte, dass mich viele Menschen sehen und mich toll finden. Und dafür hätte ich alles getan. Habe ich übrigens auch. Und oft auch ohne Rücksicht auf Verluste. Aber der liebe Gott straft alles, vielleicht war das Leben in den letzten Jahren nur so anstrengend, weil ich auch etwas gemacht habe, für das ich mich heute schäme. Und was sich nicht mehr ändern lässt.«
»Du meinst Hermann?« Anke legte ihre Hand auf Katjas Knie. »Also, so schlimm finde ich das nun auch nicht. Tausende |252|Frauen haben Affären mit ihren verheirateten Chefs. Und nicht nur mit ihren Chefs. Das ist doch fast normal.«
»Nein, Anke.« Katja drehte ihr Gesicht so, dass sie Anke ansehen konnte. »Es ist etwas anderes, es hatte sogar mit dir zu tun.«
»Mit mir?« Erstaunt ließ Anke die Hand wieder sinken und stützte sich auf. »Was war das denn?«
»Wir haben doch …«, begann Katja und brach wieder ab. Sie setzte sich in den Schneidersitz, sodass sie Anke und Doris ansehen konnte. Ihre Augen glänzten, Anke fragte sich verwundert, ob das Tränen waren.
»Wir haben was?«, fragte sie erwartungsvoll. »Mach es doch nicht so spannend.«
Katja verschränkte die Hände so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß wurden. Dann sagte sie: »Als wir damals den Preis für die ›Wilden Wörter‹ bekommen haben, gab es doch ein Gespräch mit diesem Dr. Winter, wisst ihr noch? Das war der Vorsitzende der Jury. Er kam in die Schule, um uns selbst mitzuteilen, dass wir gewonnen hätten.«
Doris nickte. »Ich weiß. Er war nett. Wir saßen mit ihm im Lehrerzimmer und der Direx ist fast übergeschnappt vor Stolz. Und dann musste ich weg, weil meine Mutter sich ausgesperrt hatte.«
»Ich war gar nicht dabei«, erinnerte sich Anke. »Ich war damals wegen meiner Weisheitszähne im Krankenhaus. Du hast mich danach besucht, um mir alles zu erzählen, und ich konnte noch nicht mal lachen, weil ich so ein geschwollenes Gesicht hatte.«
Katja nickte ernst. »Der Preis bestand zum einen aus einem Scheck über 1500 Mark und …« Sie stockte und Doris sprang ein: »Und diesem komischen Pokal, den wir nachher |253|für Stifte benutzt haben. Das hässlichste Teil, das jemals in der Schule gestanden hat. Wo ist der eigentlich abgeblieben?«
»Den habe ich.« Anke hob die Schultern. »Als Erinnerung. Ihr habt ihn ja nicht gewollt.«
»Es gab noch etwas.« Katja holte tief Luft und sprach jetzt sehr schnell. »Dr. Winter hatte eine Volontariatsstelle bei den ›Nord-Nachrichten‹ für uns, gleich nach dem Abitur. Es war nur eine und wir sollten uns einigen. Ich wollte unbedingt ins Mediengeschäft und hatte Angst, dass Anke die Stelle auch will. Du warst talentierter als ich, Anke, du hättest die Stelle bekommen. Deshalb habe ich es euch nicht gesagt.«
Langsam hob Anke den Kopf und sah Katja an. Doris schnappte regelrecht nach Luft. »Deshalb hattest du so schnell das Volontariat? Du hast gesagt, der Chefredakteur sei ein Freund deines Vaters gewesen. Hat denn keiner gefragt, warum Anke und ich nicht wollten?«
»Doch.« Katja hielt Ankes Blick stand. »Ich habe gesagt, ihr hättet schon Studienplätze. Das stimmte für Doris ja auch. Dr. Winter hat mir geglaubt, dass es mit euch abgesprochen wäre. Ich bin einfach damit durchgekommen, es war nicht zu fassen.«
»Ich habe dich so beneidet.« Ankes Stimme war rau. »Ich dachte, du hättest einfach mehr Glück als ich. Dass du nur weniger Skrupel hattest, darauf bin ich nicht gekommen.«
Sie schwang ihre Beine vom Bett und stand auf. Doris sah ihr erschrocken zu.
»Wo willst du hin?«
Mit ruhigen Bewegungen durchsuchte Anke ihre Handtasche. »Ich gehe auf den Balkon und rauche eine Zigarette. Allein. Sonst mache ich auch gleich etwas, das mir noch in zwanzig Jahren leidtut.«
|254|Die Balkontür fiel hinter ihr zu. Im Schein des Feuerzeugs war ihr Gesicht kurz zu erkennen, danach wurde es von der dunklen Nacht verschluckt. Nur die helle Glut verriet, dass sie dort stand und rauchte.
»Warum hast du uns das jetzt erzählt?«, fragte Doris sehr leise. »Wolltest du dein Gewissen beruhigen? Nach so langer Zeit?«
»Ich weiß es nicht.« Katjas Stimme klang tränenerstickt und Doris stellte verblüfft fest, dass die coole Severin heulte wegen einer Geschichte, die so alt war, wie ihr derzeitiger Liebhaber. Sie griff nach einem Paket Taschentücher, die auf dem Nachttisch lagen, und warf sie ihr zu.
»Danke.« Umständlich putzte Katja sich die Nase. »Ich habe mir damals gar nicht so viele Gedanken gemacht. Aber in den Tagen hier kam so vieles wieder hoch. Und irgendwie hatte ich plötzlich das Gefühl, dass auch ich Schuld an Ankes Situation habe. Hätte sie das Volontariat gemacht, wäre daraus auch eine Karriere geworden, da bin ich mir fast sicher. Jetzt beschäftigt sie sich für wenig Geld mit Meerschweinchen und Zwerghasen, das ist doch furchtbar. Das kann ich doch nie wiedergutmachen.«
Die Balkontür ging plötzlich wieder auf. Katja biss sich auf die Lippen und putzte sich noch mal die Nase. Sie beobachtete Anke, die eine Zigarettenschachtel in ihrer Handtasche verstaute und sich anschließend auf den alten Platz im Bett setzte.
»Du bist total verschmiert, Severin«, sagte sie mit einem Seitenblick. »Mach mir keine Make-up-Flecken ins Bett. Und du redest völligen Schwachsinn. Die Balkontür war nicht ganz zu. Von wegen Schuld an meiner Situation. Wofür hältst du dich? Für den lieben Gott? Ein Volontariat ist |255|doch keine Garantie für eine Karriere bei einer Zeitung. Es wäre ein Anfang gewesen, okay, und den hast du mich nicht machen lassen. Aber das alles ist drei Jahrzehnte her. Vielleicht hätte ich es gar nicht durchgezogen, vielleicht hätte es mir auch nicht gefallen, vielleicht hätte mein Talent nicht gereicht, aber das ist jetzt auch alles egal. Geh dich mal abschminken, du hast schon ganz rote Augen vom Reiben. Und dabei kannst du dir ja einen anderen Anfang überlegen, etwas, das wir jetzt machen können. Und bring schon mal den kleinen Champagner aus deiner Minibar mit, der geht auf dich.«
Während Katja in ihrem Zimmer damit beschäftigt war, sich die Reste ihres Make-ups aus dem Gesicht zu wischen, blieben Anke und Doris in dieser halb liegenden, halb sitzenden Stellung auf dem Bett.
Anke hatte ihren Blick wieder auf die nächtliche Ostsee gerichtet. Sie bewegte sich nicht, sie wollte keine Energien mehr auf etwas verschwenden, was nicht zu ändern war.
»Ich hätte niemals gedacht, dass Katja so ehrgeizig ist«, sagte Doris plötzlich. »Sie hat alles immer so spielerisch gemacht und nichts richtig ernst genommen. Eigentlich müsstest du richtig sauer auf sie sein.«
Anke zuckte die Achseln. »Das nützt doch nichts. Komisch, ich habe immer gedacht, ich hätte einfach nur Pech gehabt. Eigentlich ist es ganz erleichternd, wenn man plötzlich erfährt, dass nicht das Schicksal, sondern dass Severin das Ding gedreht hat. Wäre ich damals zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort gewesen, hätte ich vielleicht die Stelle bekommen. Alles wegen der blöden Weisheitszähne.«
»Es war aber unfair. Ich hatte ja nie richtiges Interesse daran, |256|zu einer Zeitung zu gehen. Aber du wolltest es, und das wusste Katja auch. Und trotzdem hat sie dich weggekickt.«
Anke spürte Doris’ mitleidige Blicke und fühlte sich dabei unwohl. »Jetzt guck mich nicht so an, als sei ich waidwund. Es ist alles okay. Außerdem … hätte ich sowieso abgebrochen. Wann hat Katja denn da angefangen? Das war doch im Oktober, oder? Da hätte ich gar nicht gekonnt.«
Überrascht sah Doris sie an. »Warum? Du hast deine Ausbildung doch erst im Frühjahr darauf angefangen. Wir haben uns damals zufällig in der Innenstadt getroffen, du warst auf dem Weg zum Verlag und ich bin mit meiner …«
»Ich war schwanger«, unterbrach Anke den Wortschwall. »Ich hatte einen Abbruch, nach dem es mir richtig elend ging. Im Oktober war ich noch in der Klinik.«
»Schwanger?« Doris riss es fast aus den Kissen. »Wann? Du hattest doch damals gar keinen Freund. Wer war denn der Vater? Und wieso Abbruch? Das wusste ich ja gar nicht. Und …«
Abrupt stieß Anke sie an und machte ein Zeichen. Doris war sofort still und schon hörte sie das Telefon im Nebenzimmer, in ihrem Zimmer, läuten. Gleichzeitig begann wieder das Klopfen an der Zimmertür.
»Deine Mutter«, flüsterte Anke. »Und sie redet mit jemandem.«
Sie standen gleichzeitig auf und gingen auf Zehenspitzen zur Tür. Margret Goldstein sprach allerdings jetzt so laut, dass sie es auch vom Bett aus verstanden hätten.
»Nun öffnen Sie schon die Tür. Vielleicht liegt meine Tochter tot im Zimmer, sie geht auch nicht ans Handy, sie kann doch nicht verschwunden sein.«
Die Männerstimme war leiser und nicht genau zu verstehen |257|bis auf Wortfetzen wie »Kein Grund …«, »Ich kann doch nicht …« und »Aushäusig …«.
»Lieber Gott«, flüsterte Doris genervt. »Sie nimmt wirklich das Zimmer auseinander.«
In diesem Moment kam ein anderes Geräusch dazu, eine Tür klappte, dann hörten sie einen Ausruf von Margret. »Katja? Katja Severin? Du bist es. Das ist eine Freundin meiner Tochter. Weißt du, wo Doris steckt? Hast du sie gesehen?«
Doris stöhnte und sah Anke verzweifelt an. »Wieso kommt die denn jetzt raus? Ist die total irre?«
Anke winkte ab und presste ihr Ohr an die Tür.
»Hallo, Frau Goldstein«, hörten sie Katjas verschlafen wirkende Stimme. »Das ist ja eine Überraschung. Was ist denn hier los? Ich war schon im Bett und wurde wach.«
»Doris wohnt doch in diesem Zimmer. Ich bin seit dem frühen Abend schon im Hotel und versuche, sie zu finden, aber vergeblich. Sie geht nicht ans Handy, sie reagiert nicht auf die Nachrichten, die ich ihr hinterlassen habe, und das, obwohl sie die bekommen hat, was ist denn mit ihr los? Ich muss jetzt nachsehen, ob etwas passiert ist, aber der junge Mann hier weigert sich, das Zimmer zu öffnen. Als ob meine Tochter Geheimnisse vor mir hätte, das ist doch wohl das Letzte.«
»Da müssen Sie sich keine Gedanken machen. Ich war mit ihr zum Abendessen, gemeinsam mit Freunden. Vermutlich sitzen die noch in dem Lokal und haben sich verquatscht. Oder sie bekommen kein Taxi. Aber sie war vorhin noch sehr fidel.«
»Es ist fast ein Uhr morgens.« Statt erleichtert reagierte Margret empört. »Mit wem ist sie denn da?«
»Mit einer Christine. Und deren Bruder.«
|258|»Kenne ich nicht.« Die Empörung wurde nicht geringer. »Und jetzt?«
Der Nachtportier verabschiedete sich leise und Katja sagte beruhigend: »Jetzt gehen wir alle ins Bett und morgen beim Frühstück treffen wir uns wieder. Auch mit Doris. Also, gute Nacht.«
»Und dafür bin ich extra gekommen. Hat Doris dir denn gesagt, ob sie morgen pünktlich erscheint? Oder was?«
»Gute Nacht, Frau Goldstein. Bis morgen.«
Die Tür klappte zu, nach einem kurzen Moment waren auch Margrets Schritte zu hören und das Geräusch eines Schlüssels am Ende des Flures.
»Sie ist im Zimmer.« Anke sprach wieder lauter. »Wenn Severin jetzt nichts fallen lässt, müsste es glattgehen.«
Sie zählte bis zehn und öffnete vorsichtig die Tür. Katja trat gerade barfuß aus der Nebentür, tapste lautlos die fünf Schritte und huschte an Anke vorbei ins Zimmer.
»Geschafft«, flüsterte sie. »Und ich hatte sogar zwei Pikkolos Champagner in der Minibar. Habt ihr alles mitbekommen?«
Ungeschminkt hatte Katja kaum etwas von einer mondänen Fernsehfrau. Ungeschminkt und in einer bequemen Jogginghose, einem geringelten T-Shirt und mit bloßen Füßen sah sie aus wie Katja aus Klasse dreizehn nach dem Volleyballtraining. Anke ließ sich von dem Anblick rühren und schob die Gedanken an verpasste Chancen weit von sich.
Katja blieb unsicher mitten im Zimmer stehen. »Ich weiß jetzt nicht richtig, was ich sagen soll …«
»Nichts«, entgegnete Anke und hielt ihr das leere Glas vor die Nase. »Zu dem Thema ist alles gesagt. Wir können jetzt weiter Geburtstag feiern.«
|259|Sie ignorierte den forschenden Blick von Doris, die natürlich etwas anderes von ihr hören wollte, und ließ sich von Katja Champagner einschenken. Und das, obwohl sie langsam Sodbrennen bekam.
Während sich Katja wieder auf das Bett setzte, sagte Doris: »Ich traue mich überhaupt nicht in mein Zimmer. Meine Mutter hat bestimmt einen Draht gespannt, der Lichtsignale bei ihr auslöst, wenn ich meine Tür öffne.«
»Dann bleib doch hier. Katja hat sich auch schon bettfertig gemacht, du kannst meinen Bademantel haben, wenn du willst. Falls deine Hose kneift.«
»Sieht man das?« Erschrocken sah Doris an sich hinab. »Ich habe viel zu viel gegessen, es fühlt sich alles so eng an.«
Kurze Zeit später kuschelten sie sich wieder nebeneinander auf das Bett. Alle abgeschminkt, Doris im weißen Hotelbademantel, Anke in Jogginghose und einem gelben T-Shirt. Ihre nackten Füße, alle mit dem gleichen Nagellack, waren Doris ein Foto wert, anschließend behauptete sie, dass Anke die schönsten Füße hätte.
»Das kommt davon, dass sie immer so vernünftige Schuhe trägt«, murmelte Katja. »Bei mir lassen sich zwanzig Jahre Highheels leider nicht verleugnen.«
»Siehst du.« Anke stopfte sich noch ein Kissen in den Rücken. »Das spricht gegen meine mögliche Karriere in den Medien. Ich konnte noch nie gut mit hohen Absätzen laufen, eure Kleiderordnung hätte mich umgebracht. Dieser Champagner tut es übrigens auch. Ich habe schon Sodbrennen, den Rest könnt ihr allein trinken.«
»Ich möchte auch nichts mehr.« Doris stellte ihr leeres Glas auf den Boden. »Man kann gute Vorsätze auch zum |260|Geburtstag fassen, die von Silvester halte ich nie ein. Anke, hast du noch Cola in der Minibar? Oder Saft?«
»Bestimmt. Geh gucken.«
Katja beobachtete Doris, die barfuß durchs Zimmer lief. »Warum spricht dein ältester Sohn nicht mehr mit dir?«
Doris verharrte kurz, bevor sie an der Minibar in die Knie ging und die Tür öffnete. »Wie kommst du da jetzt drauf?«
»Weil ich glaube, dass du daran gedacht hast, als wir vorhin von Dingen sprachen, für die man sich schämt. Ich habe gebeichtet, jetzt kommst du.«
»Katja.« Anke stieß sie leicht an. »Wir veranstalten doch hier kein Tribunal.«
»Warum nicht?« Ihr abgeschminktes Gesicht glänzte. »Wir hängen hier in unvorteilhaften Klamotten und Bademantel, ohne Schminke, ohne Maske, ohne Rolle auf einem Bett rum. Wenn wir jetzt nicht offen reden, wird es nie mehr was. Und manche Geschichten verlieren ihren Schrecken, wenn man über sie spricht.«
»Vielleicht beruhigt man sich selbst, aber für andere bleibt es grausam.« Doris kam langsam zum Bett zurück, in jeder Hand eine Flasche Saft. Sie drehte die Schraubverschlüsse umständlich auf und ließ sich wieder aufs Bett sinken. »Sascha hat sich kurz vor seinem Abitur in eine Frau verliebt. Sie hieß Carolina, war eine polnische Studentin und hat bei Torsten in der Firma ein Praktikum gemacht. Sie war 26. Das Praktikum dauerte vier Monate.«
»Und weiter?« Katja fragte nur, weil Doris eine sehr lange Pause machte. Erst nach einem Räuspern redete sie weiter. »Sascha war nie der Superschüler. Er hatte ziemlichen Stress vor dem Abitur und dann brachte ihn diese Carolina auch noch total durcheinander. Ich habe gar nicht verstanden, |261|was diese erwachsene Frau mit einem Abiturienten wollte …«
Katja hustete so demonstrativ, dass Doris stockte. »Dein Liebhaber ist erwachsen, wenn auch zu jung, aber Sascha war gerade mal volljährig, ein Kind. Das war etwas ganz anderes. Und sie passte auch gar nicht zu ihm. Außerdem lebte sie in Warschau und wollte nur diese vier Monate bleiben. Und plötzlich war sie dauernd bei uns, saß morgens in der Küche und tat so, als wäre sie mit Sascha seit hundert Jahren zusammen.«
»Und da wurde Mutti eifersüchtig?« Katja hatte wieder den alten Sarkasmus in der Stimme.
»Nein.« Doris schluckte. »Nicht eifersüchtig. Vielleicht könnt ihr das nicht verstehen, weil ihr selbst keine Kinder habt, aber ich werde ganz verrückt, wenn ich merke, dass jemand einem meiner Söhne schaden könnte. Außerdem hatte Carolina sich bei einem Freund Geld geliehen, das sie nicht mehr zurückzahlen konnte. Dadurch fühlte sie sich auch noch bedroht. Sie hatte Umgang mit ganz eigenartigen Typen. Das hat mir Sascha selbst erzählt. Mit so jemandem will man doch nichts zu tun haben. Ich sah Sascha schon völlig abrutschen. Und dann kotzte sie mir eines Morgens das Badezimmer voll, genau zwei Wochen vor Ablauf des Praktikums, und sagte mir heulend, sie wäre schwanger.«
»Lass mich raten.« Katja musterte ihre Zehen und spreizte sie. »Du hast ihr Geld gegeben und sie in die Wüste geschickt.«
Doris umschlang ihre Knie und legte die Stirn darauf. »Nicht in die Wüste, aber zurück nach Warschau.«
»Und dein Sohn?« Anke sah sie mit großen Augen an. »Was hat er dazu gesagt?«
|262|»Er hatte keine Ahnung.« Doris’ Lächeln war bitter. »Carolina hatte sich vorher, wie mit mir abgesprochen, von ihm getrennt und gesagt, dass sie zu ihrem polnischen Freund zurückgehe, es sei für sie nur ein Spaß gewesen.«
»Und was war mit dem Kind?«, fragte Katja.
»Kind?«, stieß Doris verächtlich aus. »Die war gar nicht schwanger, aber anschließend schuldenfrei.«
»Unglaublich«, Anke schüttelte den Kopf, »das klingt wie aus einem schlechten Roman.«
»Aber ohne Happy End. Später hat Sascha aus einer blöden Laune heraus Carolina gesucht. Und leider auch gefunden, verheiratet mit einem reichen Mann, und sie hat ihm alles gesagt. Nämlich, dass ich sie dafür bezahlt habe, ihn zu verlassen. Trotzdem kann er mir nicht verzeihen, dass ich mich in sein Leben eingemischt habe.«
Sie trank den Saft aus der Flasche und starrte wieder in den Sternenhimmel. »Und vermutlich hat er damit recht. Aber ich kann es nicht rückgängig machen. Ich wollte ihm nicht wehtun, ich dachte, es wäre für ihn das Beste.«
»Wenn Menschen meinen zu wissen, was für andere das Beste ist …« Anke lehnte ihren Kopf an die Wand und schloss kurz die Augen. »Geschichten wiederholen sich, Doris. Wir sind vorhin bei einem Thema hängen geblieben, als deine Mutter dazwischenkam.«
Doris sah Anke fragend an, und die berichtete, emotionslos, fast wie ein Reporter:
»Ich war schwanger. Es war der 2. September, als ich den Schwangerschaftstest gemacht habe. Positiv. Ich hatte keine Ahnung, was ich empfinden sollte, aber das brauchte ich auch nicht. Weil meine Mutter den Test gefunden hat. Und genauso schnell und effektiv wie du es erledigt hast, Doris, |263|hatte auch meine Mutter einen Plan für mich. Ratzfatz war die Geschichte erledigt. Bevor ich mich besinnen konnte, war alles wieder auf null. Als ich danach wochenlang Blutungen und Depressionen hatte, erklärte meine Mutter das der Familie mit einem üblichen Frauenleiden. Niemand hat nachgefragt.« Für einen Moment stockte ihre Stimme, dann sagte sie leise: »Versteh mich bitte nicht falsch, Doris, aber ich kann heute meine Mutter noch nicht in den Arm nehmen. Sie hat es für sich gemacht. Um mich ging es dabei nie.«
Eine Träne lief Doris über die Wange, sie wusste selbst nicht, ob vor Mitleid für Anke oder aus Scham über sich.
Katja beugte sich vor, griff nach der einen Pikkoloflasche und sagte: »Bevor ihr euch weiter zerfleischt: Es bringt nichts. Für dich, Anke, ist das alles sicherlich furchtbar gewesen, aber es ist so lange her. Und du Doris: Vielleicht lernst du doch noch, dass man nicht alles im Leben kontrollieren muss. Und vielleicht gibt es doch noch ein Happy End und dein verlorener Sohn kommt morgen zu deinem Geburtstag. Und alles wird wieder gut.«
Elektrisiert fuhr Doris hoch. »Wie kommst du darauf?«
»Keine Ahnung.« Katja hob die Schultern. »Aber so ein runder Geburtstag ist doch immer irgendwie Pflicht.«
Ratlos lehnte Doris sich wieder zurück. »Das glaube ich kaum. Na ja, ist auch egal.« Sie biss sich auf die Unterlippe und dachte nach. Dann sagte sie: »Das ist auch ein Grund, warum mir dieser Geburtstag so bevorstand.«
»Weil du Angst hast, was die Leute sagen, wenn deine Familie nicht komplett ist?« Katja sah Anke vielsagend an. »Hören wir da Margret Goldsteins Stimme?«
»Nein. Weil ich Angst davor habe, wie ich mich fühle, wenn er tatsächlich nicht kommt.«
|264|Doris wandte sich zu Anke.
»Von wem warst du damals eigentlich schwanger?«
»Das ist doch egal. Ein One-Night-Stand. Der Mann hat es noch nicht einmal richtig mitbekommen.«
Doris bekam große Augen. »So etwas hast du gemacht? Ausgerechnet du? Das glaube ich nicht.«
»Warum nicht?« Anke bekam vor lauter gespielter Lässigkeit fast Nackenschmerzen. »Ihr tut immer so, als wäre ich damals die langweiligste Tussi an der ganzen Schule gewesen. ›Tussi‹ sagt heute auch kein Mensch mehr, oder? Daran merkt man, dass man älter wird, man hat eine andere Sprache.«
»Lenk doch nicht ab, jetzt, wo es gerade spannend wird.« Katja rollte sich auf den Bauch und sah Anke an. »Du warst wirklich niemand, der nachts um die Häuser gezogen ist, du hast Discos gehasst, mochtest nie tanzen, wo hast du denn in der Zeit einen Typen aufgerissen?«
»Ach, den kann man auch beim Einkaufen kennenlernen. Oder im Schwimmbad.«
»Natürlich«, nickte Katja. »Du bezahlst an der Kasse Tomatenketchup, Milch und Dosenerbsen und gehst anschließend mit dem Typen hinter dir in die Kiste. Weil er Pommes im Wagen hatte. Das passte so gut. Das glaubst du doch wohl selbst nicht.«
Anke stieg umständlich über Katja und stand auf. »Ich muss mal. Und ich weiß gar nicht, wo er mir genau über den Weg gelaufen ist. Das ist mir einfach passiert. Es ist doch wirklich völlig egal.«
Sie ließ die Tür auf, Katja und Doris sahen sich an. »Man merkt, dass sie alleine lebt«, sagte Doris und etwas lauter: »Anke, mach die Tür zu. Ich hasse diese Pullergeräusche.«
|265|»Wir beide sind früher sogar zusammen aufs Klo gegangen. In eine Kabine und haben nacheinander …« Katja drehte sich wieder auf den Rücken und verschränkte die Arme im Nacken. »Das hat dich doch nie gestört. Jetzt werd mal nicht spießig.«
Sie schloss die Augen. »Mir ist irgendwie schwummerig. Ist noch was in der Flasche?«
»Nein.« Doris hob die leere Pikkoloflasche hoch. »Leer. Ich habe aber nicht so viel davon getrunken.«
»Gut.« Katjas Stimme klang plötzlich schläfrig. »Sehr gut.«
Als Anke wieder zum Bett kam, warf sie nur einen kurzen Blick auf Katja und kletterte vorsichtig über sie hinweg.
»Severin schläft«, sagte sie. »Das konnte sie früher schon. Redet und tanzt die halbe Nacht und dann setzt sie sich in eine Ecke und macht die Augen zu. Weißt du noch? Die Klassenfahrt nach London? Da legte sie sich doch in einem Pub einfach auf die Bank. Wenn sie müde ist, ist sie müde.«
»Beneidenswert.« Doris musterte Katjas tief entspanntes Gesicht. »Und ich wälze mich jede Nacht von einer Seite auf die andere. Falls ich nicht gerade die Bettwäsche wechseln muss, die ich gerade durchgeschwitzt habe.«
»Hast du das hier auch?«
»Nicht so schlimm.« Doris war selbst über die Antwort überrascht. »Jetzt, wo du das sagst, fällt es mir erst auf. Seltsam.«
»Ich habe mal gelesen, dass Asiatinnen so etwas wie Wechseljahre überhaupt nicht kennen. Sie haben noch nicht einmal ein Wort dafür.«
»Ja, und?«
Anke sah sie an. »Sie haben keine Wechseljahressymptome, |266|weil sie das Altwerden schön finden. Die Alten werden dort verehrt, deshalb gibt es keinen Grund, sich vor dem Alter zu fürchten. Vielleicht fürchtest du dich ja auch nicht mehr so sehr.«
Doris erwiderte ihren Blick. Dann lächelte sie. »Vielleicht. Zumindest fühle ich mich nicht mehr so allein beim Älterwerden.« Sie machte eine kleine Pause. »Wer war der Mann?«
Anke wandte sich ab. »Doris, bitte.«
»Wieso ist dir das so peinlich? Weil du denkst, dass ich so etwas verurteile, nur weil ich immer mit Torsten zusammen war? Das stimmt übrigens gar nicht, ich hatte mal eine Auszeit, ich habe mich sogar damals ganz furchtbar in jemand anderen verliebt. So sehr, dass ich nicht mehr wusste, was ich tun sollte. Ich war so durcheinander, dass ich sogar die Abifahrt abgesagt habe.«
»Ich denke, du warst krank?« Mit einem unergründlichen Ausdruck sah Anke sie an. »Du hattest doch eine ganz schwere Sommergrippe.«
»Nein.« Doris schüttelte den Kopf. »Die hatte ich mir ausgedacht, wir waren doch alle schon volljährig und konnten unsere Entschuldigungen selbst schreiben. Aber wenn ich mitgefahren wäre, dann hätte alles auffliegen können, davor hatte ich Angst.«
»Was hätte auffliegen können?«
Doris setzte sich aufrecht hin und atmete tief aus. »Ich habe es noch nie erzählt. Aber seit wir neulich darüber gesprochen haben, dass ich immer nur Torsten hatte, geht es mir nicht mehr aus dem Kopf.«
»Was?«
»Die Geschichte mit Tim Schneider.«
|267|»Schneider. Der Referendar? Bei dem wir Sport hatten?« Anke lächelte. »Der war ja auch süß. Und in den warst du verliebt? Da warst du aber nicht die Einzige.«
»Ich habe mit ihm geschlafen.«
»Du?« Ungläubig setzte sich jetzt auch Anke auf. »Mit einem Lehrer? Das ist nicht wahr.«
»Er war doch nur Referendar. Noch kein Lehrer. Ich habe ihn zufällig in den Osterferien getroffen. Meine Eltern hatten damals in Timmendorf ein Ferienhaus gemietet. Ich bin für ein paar Tage hingefahren, und als ich alleine am Strand spazieren ging, lief er mir über den Weg. Und dann haben wir uns stundenlang unterhalten.«
Doris richtete ihren Blick auf die dunkle Ostsee. Plötzlich waren die Bilder ganz deutlich: Tim, der in Jeans und roter Regenjacke vor ihr lief, die Beine der Hose hochgekrempelt, die dunklen Locken vom Wind zerzaust. Sie selbst mit Herzklopfen, die langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden, in einem weißen Rollkragenpullover und Gummistiefeln. Oder sie beide zusammen in einem Café am Marktplatz, im Radio lief Barclay James Harvest, sie tranken Schokolade mit Sahne und unter dem Tisch berührten sich ihre Knie. Sie hörte mit glänzenden Augen zu, wenn Tim von seinem Studium erzählte, er roch so gut und hatte dieselben Bücher gelesen wie sie. Er war schon erwachsen, er wusste genau, was er wollte, und er fand sie toll.
Sie hatte sich verliebt. Gegen alle Vernunft und mit einer Verwegenheit, zu der sie später nie mehr fähig gewesen war. Abends verabschiedete sie sich von ihren Eltern und fuhr mit ihrem grünen VW-Käfer in Tims Hotel.
|268|»Es ist einfach so passiert. Nach den Osterferien gingen die Abiturklausuren los, es war diese besondere Zeit, alles fing doch erst an. Und ich dachte, ich würde etwas verpassen.«
Katja seufzte im Schlaf, Anke warf einen kurzen Blick auf sie und wandte sich wieder an Doris. »Und wie lange ging das?«
»Nicht lange.« Doris zog die Beine dichter an den Körper. »Wir haben uns zwei- oder dreimal getroffen, aber zu Hause war der Ostseezauber weg, und ich bekam ein schlechtes Gewissen. Er auch. Wenn auch aus anderen Gründen. Und dann war es vorbei. Das letzte Treffen war nach der letzten Klausur.«
»Wusste Torsten das?«
»Nein. Ich habe ihm damals gesagt, ich müsste allein lernen, und habe alles auf meine Prüfungsangst geschoben. Damit kam ich durch. Und nach dem Abitur war die Sache sowieso erledigt. Ich habe Tim nie wiedergesehen.«
»Und weil Tim Schneider als Begleitperson bei der Abschlussfahrt dabei war, bist du nicht mitgefahren?«
Doris nickte. »Ich hatte noch nie ein Pokerface. Jeder hätte mir etwas angesehen. Ich war noch ziemlich durcheinander. So war es besser.«
Beide schwiegen. Dann drehte Katja sich zu Anke und schlang ihr Bein um sie. Vorsichtig versuchte die, sich aus dem Klammergriff zu lösen, ohne Katja zu wecken.
»Severin ist anhänglich«, sagte Doris lächelnd. »Trotz des jungen Liebhabers.«
»Es war nicht besser, dass du nicht mitgefahren bist«, sagte Anke plötzlich ernst. »Für mich nicht. Ganz im Gegenteil. Es wäre alles nicht passiert, wenn du da gewesen wärst.«
|269|»Aber wieso …?« Doris’ Lächeln erstarb, als sie Ankes Gesichtsausdruck begriff. »Du hast … mit …? Torsten? Der Mann … war …?«
Katja rollte sich mit Schwung auf die andere Seite und fiel krachend aus dem Bett.