|199|Doris wollte noch duschen, um den Krankenhausgeruch zu vertreiben, Katja hatte beschlossen, wenigstens eine kleine Runde zu joggen, und Anke überlegte, ob sie in der verbleibenden Zeit vor dem Abendessen spazieren gehen oder schlafen sollte. Sie entschied sich für die frische Luft und nahm noch einmal Kurs auf den Strand.
Diesmal ging sie in die andere Richtung, so hatte sie die Spätnachmittagssonne im Gesicht. Eine Sonnenbrille wäre nicht schlecht, sie besaß aber überhaupt keine, so oft lief sie sonst nicht gegen ein solches Licht. Katja hatte beim gemeinsamen Spaziergang vorhin natürlich eine auf. Ein Designermodell mit großen Gläsern, das ihr perfekt stand, auch wenn es die meiste Zeit nur die Haare im Zaum hielt. Aber immerhin.
Anke musste lächeln. Wenn sie Katja Severin heute kennenlernen würde, wäre ihre schnelle Einschätzung brutal: schöne Hülle, nicht sehr souverän, geltungsbewusst, extrovertiert, oberflächlich. Aber würde sie auch das andere an Katja sehen: Charme, Witz, Gradlinigkeit und den unbedingten Willen, das Leben schön zu finden? Und die Fähigkeit, andere mitzureißen? Wenn Katja sich etwas vornahm, setzte sie es scheinbar einfach durch, das hatte Anke schon früher beeindruckt. Und Katja hatte wohl auch alles geschafft, was sie wollte, zumindest die Dinge, von denen Anke wusste. Bis auf die Geschichte mit Hermann natürlich. |200|Ansonsten hatte sie zielstrebig ihre Karriere beim Fernsehen begonnen und durchgezogen. Katja Severin war eben ein Glückskind, aber eines, das auch was konnte. Nur Talent, wie Anke es hatte, reichte nicht, das hatte sie in den letzten Jahren begriffen. Und das mit dem Glück hatte bei ihr noch nie geklappt.
Sie blieb kurz stehen, um sich die Nase zu putzen und ihr Selbstmitleid niederzuringen. Dem hatte sie sich zuletzt zu häufig hingegeben, das wollte sie nicht mehr. Es machte sie so klein. Katja hingegen traute sich alles zu und deshalb gelang ihr auch das meiste. Sie ließ überhaupt keinen Zweifel daran, dass ihr Leben noch nicht durchgeplant war, dass hier noch tausend Dinge passieren konnten, wenn sie nur wollte. Vielleicht war es tatsächlich so einfach.
Langsam ging Anke weiter. Sie würde nie so werden, so locker und so selbstbewusst. Aber vielleicht könnte sie sich ja wenigstens ein bisschen was abgucken. Sie müsste doch nicht diese Tristesse weiterleben, gerade jetzt mit den blonden Haaren. Das war doch schon ein Anfang. Wenn auch nur ein gefühlter.
Damit war Anke in Gedanken bei jemandem angelangt, den sie eigentlich verdrängen wollte: bei Georg. Das Grau gefalle ihm, hatte er gesagt, und sie hatte nicht besonders freundlich auf dieses Kompliment reagiert. Aber sie konnte mit solchen Dingen auch nicht umgehen. Es war Jahre her, dass sie einen Flirt, geschweige denn eine richtige Verabredung gehabt hatte. Nach dem Chaos mit Kai hatte sie sich vorgenommen, keine neue Beziehung anzufangen, bevor sie nicht die Schulden abbezahlt haben würde. Nach ihrer Berechnung würde das schätzungsweise an ihrem 86. Geburtstag sein. Dann könnte sie ihre männlichen Mitbewohner im |201|Seniorenheim mit ganz neuen Augen betrachten – auf den letzten Metern. Wenn das keine Perspektive war.
Auf der anderen Seite hatte sie aber in den letzten Jahren kaum interessante Männer kennengelernt. Zumindest keine, die nicht verheiratet oder schwul waren.
Und jetzt dieser Georg. Der mit seiner Schwester hier war, was hoffentlich stimmte. Wahrscheinlich aber hatte er irgendeine Macke, sonst würde so ein Mann doch nicht mit seiner Schwester das Wochenende in einem Wellnesshotel verbringen.
Ankes innere Stimme, die plötzlich wie die von Katja klang, pfiff sie zurück. ›Steigere dich nicht schon wieder in etwas hinein. Ihr geht zusammen in das Lokal, warte doch einfach entspannt ab.‹
Entspannt war Anke nicht, abwarten war sie gewöhnt. Mit einem Blick auf die Uhr drehte sie um und machte sich auf den Rückweg.
Doris lackierte sich in ihrem Zimmer gerade die Fingernägel, als das Telefon läutete. Mit einer Hand wedelnd stand sie auf und ging zum Apparat, vielleicht brauchte Anke Beistand bei der Auswahl der Garderobe. Lächelnd nahm sie das Gespräch an: »Na, was gibt’s?«
»Frau Goldstein-Wagner?«
»Ja?«
»Hier spricht Jessica von der Rezeption, ich habe ein Gespräch für Sie. Darf ich durchstellen?«
»Äh, ja, wer ist denn …?«
»Mama?«
Jessica hatte schon durchgestellt. Doris hörte die Stimme und ließ sich aufs Bett sinken.
|202|»Moritz. Was ist los?« Ihre Stimme zitterte sofort. Am anderen Ende beeilte sich ihr Sohn, sie zu beruhigen. »Nichts weiter, also nichts Schlimmes. Ich habe nur aus Versehen Oma gesagt, wo du bist, und jetzt weiß Papa das natürlich auch. Tut mir leid, ich sollte doch den Mund halten.«
Vorsichtig blies Doris auf den Nagellack, weniger um ihn zu trocknen, als um zu verhindern, dass sie Moritz anblaffte.
»Bist du noch dran?«, fragte er leise.
»Ja. Und warum hast du es ihr gesagt?«
»Ach, Oma hat mich dauernd auf dem Handy angerufen und mir die Mailbox vollgetextet. Dass du Papa verlassen hast, dass sie Stiche im Rücken hat und nichts machen kann, nur Blödsinn. Das ging mir auf den Geist. Und als sie dann das zwanzigste Mal anrief, habe ich’s ihr gesagt. Also, dass du nur ein Wochenende weg bist und morgen wieder da und so. Und dabei fiel aus Versehen auch der Name des Hotels.«
»Aus Versehen.« Doris räusperte sich. »Wenn Oma hier auftaucht, dann Gnade dir Gott. Warum kannst du meine Geheimnisse nicht für dich behalten, aber Papas schon. Ich meine diese bescheuerte Überraschungsparty.«
»Wieso? Meinst du diesen Ausflug? Das weiß ich doch auch erst seit vorhin. Papa hat nur gesagt, dass ich morgen um zwölf in Lüneburg vor dem Gasthof ›Hanske‹ sein soll. Ich dachte, da gibt’s Mittagessen. Das mit dem Bus hat Oma mir gesagt. Wusstest du das echt nicht?«
»Nein. Dann würde dieser Quatsch auch nicht stattfinden. Sag mal …« Doris machte eine kurze Pause und fragte dann doch: »Kommst du allein?«
»Nein, mit Wiebke.«
»Die meinte ich nicht. Was ist denn mit …? Hast du was von Sascha gehört?«
|203|»Nö.« Moritz war genauso gleichgültig wie sein Vater. »Keine Ahnung, ich habe nicht mit ihm geredet. Musst du Oma fragen, die ist doch allwissend. Ich muss Schluss machen. Bis morgen dann, tschüss.«
Doris legte den Hörer auf. Sie war so froh gewesen, dass niemand sie über ihr zerlegtes Handy erreichen konnte. Aber Margret Goldstein war durch nichts zurückzuhalten. Doris hoffte nur, dass weder ihre Mutter noch ihr Mann ihr diesen letzten Abend verderben würden. Sie wollte wenigstens noch für ein paar Stunden die alte Goldstein sein.
Katja befestigte die letzte Haarnadel und betrachtete sich abschließend im Spiegel. Sie hatte ihr Haar lose hochgesteckt, nur ein bisschen Puder und Wimperntusche aufgetragen und sich für Jeans und Bluse entschieden. Erstens musste sie ja hier niemandem etwas beweisen, zweitens ging es heute Abend gar nicht um sie und drittens fand sie solche Äußerlichkeiten im Moment nicht mehr so wahnsinnig wichtig.
»Das solltest du dir aber nicht lange leisten, Severin«, sagte sie laut zu ihrem Spiegelbild und nahm trotzdem nur den Labello, statt des dunkelroten Lippenstifts.
Es war schon erstaunlich, wie viel von dem alten Lebensgefühl abrufbar war. Sie wollte zwar auf keinen Fall mehr ein zwanzigjähriges Mädchen sein, fand es aber trotzdem gerade lustig, sich im Beisein von Anke und Doris wieder zu fühlen wie damals, als alles noch am Anfang war. Es war so, als würde man sich nach Jahren wieder den Beginn seines Lieblingsfilms ansehen, den Teil, der so wahnsinnig spannend gewesen war, bei dem man sich fast auf die Fingerknöchel gebissen hatte, nur dass man heute schon das Happy End kannte.