|85|Am nächsten Morgen öffnete Doris vorsichtig die Glastür, die sich gleich am Eingang des Wellnessbereiches befand. Wenn sie den Hotelplan richtig im Kopf hätte, müsste hier der Fitnessraum sein. Bereits gestern, nach dem ersten Blick auf Katjas flachen Bauch und ihre schlanken Oberschenkel, hatte sie sich vorgenommen, sofort wieder mit einem Training zu beginnen. Das hatte sie in den letzten Jahren schon oft beschlossen, bezahlte sogar seit einigen Monaten einen völlig überteuerten Mitgliedsbeitrag in einem sehr edlen Fitnessclub, aber bislang war sie zu nicht mehr als zur ersten Probestunde gegangen. Und hatte deshalb auch nicht ein Gramm Fett verloren, geschweige denn Muskeln dazubekommen. Sie war einfach genauso schlaff und schlapp wie immer. Nur ihr schlechtes Gewissen wurde größer. Und ihre Unzufriedenheit. Aber jetzt hatte Katja die letzte Hemmschwelle weggeschossen. Und hier gab es einen Fitnessraum, in dem sie hoffentlich um 7 Uhr morgens noch niemanden treffen würde.

Doris schloss leise die Tür hinter sich und sah sich tief einatmend um. Die verschiedenen Geräte standen auf dem glänzenden Holzboden vor der großen Fensterfront. Ihre Oberschenkel taten ihr bereits bei diesem Anblick weh, aber sie würde einen schönen Ausblick auf die Ostsee haben. Sie stellte sich auf eine Maschine, die sie aus ihrer Probestunde wiedererkannte. Dieser Stepper formte angeblich Hintern |86|und Beine. Doris suchte nach dem Knopf, sofort fingen die Scheiben unter ihren Füssen an sich zu bewegen und zwangen sie zu einem leichten Trab. Im letzten Moment hatte sie die Handgriffe erwischt, sonst wäre sie vermutlich wie ein Mehlsack heruntergekippt. Gut, dass niemand hier war, man würde sie sofort als absolute Dilettantin erkennen.

Die erste Atemnot kam nach vier Minuten. Doris zwang sich, es zu ignorieren.

›Los jetzt‹, feuerte sie sich im Stillen an, ›Schluss mit dem welken Fleisch, denk an Katjas Beine!‹

Seit wann verglich sie sich eigentlich ständig mit anderen? Früher hatte sie das nie getan, da war es ihr völlig egal gewesen, ob eine Frau dünner, dicker, schöner, besser angezogen, älter oder jünger war als sie. Aber in der letzten Zeit passierte es immer häufiger. Bei jedem Besuch in Torstens Büro musterte sie die Mitarbeiterinnen, von denen sie viele gar nicht mehr als Kolleginnen kannte. Sie hatte vor zehn Jahren aufgehört, in der Firma mitzuarbeiten, damals waren sie von Hamburg nach Lüneburg gezogen. Doris hatte ihre ganze Zeit und ihren ganzen Ehrgeiz in die Einrichtung des Hauses gesteckt, und als endlich alles vollbracht war, hatte sie keine Lust mehr gehabt, jeden Tag nach Hamburg ins Büro zu fahren. Aus drei halbherzigen Tagen waren dann zwei Vormittage geworden, schließlich fuhr sie nur noch freitags hin, inzwischen ließ sie auch das. Nötig war es sowieso nicht, mittlerweile hatte Torsten vier sehr charmante junge Frauen, die zusammen eine Wohnung nach der anderen verkauften, und das natürlich schneller und vehementer als Doris früher allein. Wenn sie heute mal zu einem Verkaufsgespräch dazukam, wurde sie vermutlich insgeheim belächelt. Dabei wusste sie genau, dass sie es immer noch könnte. Aber niemand |87|fragte sie. Stattdessen saßen da makellose Frauen um die dreißig, mit glatter Haut, schmalen Hosenanzügen und dem Selbstvertrauen der Jugend, die sich Notizen ins iPhone schrieben und mit in Trendfarbe lackierten Fingernägeln ungeduldig auf den Tisch trommelten, wenn die Gattin des Chefs zu lange blieb.

›Ihr werdet auch alt‹, dachte Doris wütend und trat kräftiger. ›Seid sicher.‹

Kurz bevor sie von ihrem inneren Schweinehund vom Gerät geschubst wurde, ging die Tür hinter ihr auf und ein Hotelgast betrat den Raum. Wenn Doris sich umdrehen würde, wäre ihre Körperbeherrschung vorbei, also trat sie verbissen weiter, immer im Takt dieser Höllenmaschine, den starren Blick auf die Ostsee gerichtet.

»Morgen. Sehr diszipliniert.«

Katja stand schon neben ihr, warf ihr Handtuch über den danebenstehenden Stepper und stellte sich darauf. »Wie lange trittst du schon?«

»Gefühlte fünf Stunden.« Doris musste sich anstrengen, um mit normaler Stimme antworten zu können. »Ich habe keine Kondition mehr. Machst du das öfter?«

Scheinbar mühelos hatte Katja ihren Rhythmus gefunden und lief mit gleichmäßigen Bewegungen los. »Ich laufe jeden Tag. Entweder draußen oder so. Ich hatte nur keine Lust, auf der Promenade am Wasser zu joggen. Ich muss mir erst mal eine Strecke suchen. Und du?«

»Nie.« Doris stellte das Gerät aus und ließ sich schwer ausatmend auf dem Boden in die Hocke sinken. »Ich bin fertig. Das ist nicht meine Art von Sport.«

Katja trat leichtfüßig weiter und sah sie belustigt an. »Gehörst du zur Yoga- und Pilates-Front? Wie Anke? Das wäre |88|mir zu langweilig. Ich mache das ab und zu gegen meine Rückenschmerzen, aber eigentlich ist es öde.«

»Ist es auch.« Doris zog ihre Beine an. »Ist Anke zum Yoga an den Strand gegangen? Vielleicht hätte ich doch mitgehen sollen, dann wäre ich nicht an dieser Maschine gescheitert. Das ist so frustrierend.«

»Warum machst du es dann?«

Doris streckte ihre Beine von sich und griff mit den Händen in das Fleisch ihrer Oberschenkel. »Weil alles wabbelig wird und aus der Form läuft. Ich hasse es.«

»Ach, Doris.« Katja stellte eine Stufe schneller. »Du machst dir aber auch dein Leben schwer. Nimm dir doch einen Personal-Trainer. Die sind meistens ganz süß, meine Freundin Elena hat mit ihrem acht Kilo abgenommen und auch gleich eine flotte Affäre mit ihm angefangen. Und so teuer ist das auch nicht.«

»Ich will keine Affäre.«

»Dann nimmst du eben nur acht Kilo ab. Wobei du das nicht brauchst. Aber das glaubst du mir vermutlich sowieso nicht.«

»Ich will nur fit werden. Und wieder in Größe 38 passen.« Plötzlich fiel Doris der gestrige Abend wieder ein. »Was hältst du denn von Ankes Geschichte? Das war doch furchtbar. Wir müssen noch mal mit ihr darüber reden. Vielleicht braucht sie Hilfe.«

Katja lief immer schneller, ihrer Atmung merkte man nichts an. Sie hatte noch nicht einmal ein gerötetes Gesicht. In genau diesem Moment fühlte Doris eine Hitzewelle anrollen. Der Schweißfilm, den Katja eigentlich haben müsste, legte sich über ihren Nacken und verteilte sich von da aus über den gesamten Oberkörper.

|89|»Schwitzt du nach?« Katja hatte die Lage mit einem kurzen Blick erfasst. »Oder ist das Hormonterror?«

»Letzteres.« Mit dem Handtuch wischte sich Doris über Gesicht und Hals und wich Katjas Blick aus. »Ich geh mal duschen. Wir sehen uns gleich beim Frühstück.«

»Jetzt werd doch nicht albern.« Katja schaltete das Gerät aus und hielt Doris am Arm fest. »Das muss dir doch nicht peinlich sein. Weißt du noch, als ich meine Tage in der Schule bekam und eine weiße Jeans anhatte? Ich bin fast gestorben und du hast deine Strickjacke um meine Hüfte geknotet und gesagt, dass ich mich nicht so anstellen solle. Niemand hätte das mitbekommen. Da warst du noch lässig. Das gehört doch alles dazu.«

»Es ist was anderes. Jeder merkt, dass wir alt werden. Wechseljahre. Wie sich das schon anhört. Ich hasse es. Ich will das alles nicht, das Schwitzen, die Gelenke, die wehtun, die Falten, die grauen Haare, die Stimmungen, keiner sieht mich mehr richtig an, ich werde einfach unsichtbar.«

Katja verschränkte ihre Arme vor der Brust und sah Doris spöttisch an. »Ja, meine Liebe, das sind natürlich echte, existenzielle Probleme. Dagegen ist Anke mit ihrem Kinderkram natürlich nichts.«

Die Welle, die jetzt in Doris aufstieg, hatte nichts mit Hormonen zu tun. Sie schluckte die Scham herunter, ehe sie sagte: »Du hast recht. Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Ich kann mich selbst nicht leiden. Also, was machen wir mit Anke?«

Katja stieg wieder auf das Gerät, drückte auf den Knopf und lief los. »Gar nichts. Wir machen ihr einfach ein schönes Wochenende. Vielleicht redet sie mit uns, vielleicht auch nicht. Aber wir sprechen nicht mehr über Probleme, sondern |90|feiern deinen Geburtstag und die alten Zeiten. Jetzt geh duschen und komm gut gelaunt zum Frühstück. Und wenn das mit deinen blöden Hormonen nicht aufhört, gehen wir beide nächste Woche zu meiner Frauenärztin. Bis gleich.«

Mit schmerzenden Oberschenkeln und schlechtem Gewissen ging Doris zur Tür. Ab jetzt würde sie sich zusammenreißen. Und mit Hilfe der beiden anderen ihrem Leben eine neue Richtung vorschlagen.

 

Unterdessen lag Anke auf einer Yogamatte im Pavillon am Strand und versuchte, sich zu entspannen. Aber statt der ersehnten Bilder von kühlen Seen oder Strandlandschaften sah sie nur Gesichter: Kai, Torsten, ihre Mutter, Doris und Torsten, Monika und Peter, die Polizistin im Treppenhaus, die Beerdigung. Sie kniff die Augen noch fester zusammen und unterdrückte ein Stöhnen. Manchmal hatte sie gedacht, all diese Erinnerungen schon hinter sich gelassen zu haben, aber jetzt prasselten sie alle zusammen auf sie ein. Und das nur, weil diese blöde Monika ein Seminar für Turnschuhverkäufer machen musste. Das war ungerecht. Warum ließ man sie nicht einfach ein paar schöne Tage in einem tollen Hotel verbringen, das sie sich in absehbarer Zeit nicht würde leisten können? Was konnte sie dafür, dass sie nie richtig Glück im Leben gehabt hatte? Dass sie immer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war? Selbstmitleid stieg in ihr auf. Sie zwinkerte eine Träne weg.

Eine böse Stimme flüsterte ihr zu, dass sie freiwillig an diese falschen Orte gegangen war. Wie war das denn auf der Abifahrt gewesen? Hatte sie sich nicht insgeheim gefreut, dass Doris nicht mitfahren konnte nach Amrum? Weil sie selbst in Wirklichkeit schon in Torsten verliebt gewesen |91|war? Und hatte sie auf der Strandparty nicht alles darangesetzt, die ganze Zeit neben Torsten zu bleiben? Sie hatte zufrieden zugeschaut, wie er und alle anderen immer mehr Wein getrunken hatten, sie selbst hatte nur noch Wasser im Glas gehabt. Immer näher war sie an ihn herangerückt, die Berührungen hatten anfangs zufällig gewirkt, dann war sie immer mutiger geworden. Torsten hatte es sich gefallen lassen, vielleicht hatte er es aber auch gar nicht mehr richtig gemerkt. Trotzdem hätte er auch Nein sagen können, das hatte er aber nicht gemacht. Eine böse Stimme erinnerte sie daran, dass Torsten einfach neben ihr im Sand eingeschlafen war, weinselig, beseelt von der Stimmung und dem Sommer. Die anderen waren nach und nach in die Jugendherberge zurückgegangen. Anke war geblieben, hatte gesagt, dass sie sich um Torsten kümmern würde, und das auch getan. Vermutlich hatte er, schläfrig und betrunken, wie er war, gar nicht gemerkt, mit wem er im Sand schlief. Trotzdem hatte Anke es genossen. Auch, als er danach »Doris, ich will nach Hause« seufzte und weiterschlief.

In den Wochen danach hatte sie tausendmal darüber nachgedacht, ihn anzurufen, hatte sich aber nie getraut. Als sie sich zwei Monate später zufällig trafen, wurde ihr endgültig klar, dass er keine Ahnung hatte, was in dieser Nacht am Strand passiert war. Und sie war zu stolz, um es ihm zu sagen. Vier Wochen später wusste sie, dass sie schwanger war.

Und dann hatte ihre Mutter bestimmt, was getan werden musste. Anke war wie in Trance, sie befolgte alle Anordnungen. Nach ihren Gefühlen und nach dem Vater des Kindes wurde nie gefragt. Seitdem hasste sie ihre Mutter.

 

|92|Mit einem Gongschlag beendete die Yogalehrerin die Meditation. Langsam öffnete Anke die Augen und sah sich um. Die anderen vier Teilnehmer des morgendlichen Kurses streckten sich. Sie stand so schnell auf, dass ihre sitzende Nachbarin sie irritiert ansah. Anke lächelte.

»Hunger«, erklärte sie flüsternd. »Ich habe nach dem Yoga immer fürchterlichen Hunger.«

Sie hatte den Pavillon schon verlassen, bevor die anderen sich erhoben.

 

Doris cremte sich vor dem Spiegel die Beine ein und hatte das Gefühl, alles wäre schon viel fester. Zufrieden spannte sie den Oberschenkel an und beschloss, ab sofort neben ihrer Rückenschule auch in ihr Fitnesscenter zu gehen. Wenn Katja die Energie aufbrachte, sollte sie das wohl auch schaffen. Und den Kostümrock könnte sie noch eine Zeit lang aufheben, vielleicht würde er doch wieder passen.

In Unterwäsche durchquerte sie ihr Zimmer, nahm die Jeans und einen leichten Pullover aus dem Schrank und zog sich an. Nach dem Frühstück würden sie sich in die weißen Hotelbademäntel hüllen und den Rest des Tages in der Therme verbringen. Nur noch Sauna, leichte Gespräche, Pediküre, Peeling. Während sie sich die Haare bürstete und sie locker zusammenband, überlegte sie sich, wie und wann sie noch mal mit Anke sprechen sollte. Sie wollte sie nicht mit Erinnerungen quälen, auf der anderen Seite wusste sie, dass sie selbst ohne Hilfe eine solche Situation keinesfalls überstehen würde. Allein der Gedanke, dass Torsten etwas zustoßen könnte, nahm ihr die Luft. Vielleicht gab es ja doch irgendetwas, was sie für Anke tun könnte. Auch wenn die Ereignisse schon eine ganze Zeit zurücklagen.

|93|Doris suchte in ihrer Handtasche nach einem Lippenstift, ihre Finger ertasteten das ausgestellte Handy. Vielleicht sollte sie das Gerät kurz anstellen, um zu sehen, ob ihr Anrufe entgangen waren. Dass Torsten versucht hatte, sie zu erreichen, glaubte sie eigentlich nicht, sie hatte den Zettel hinterlassen und meistens akzeptierte er, worum sie ihn bat. Er war immer noch gelassen und vertraute ihr.

Nur ein paar Sekunden nachdem sie ihre PIN eingegeben hatte, meldete ihre Mailbox elf Anrufe in Abwesenheit. »Empfangen gestern, 20.32: ›Ja, Doris, ich bin’s. Ich habe deinen Zettel gerade gefunden und bin doch ziemlich überrascht. Ruf bitte mal an.‹«

»Empfangen gestern, 21.15: Es wurde keine Nachricht hinterlassen.«

Das war die Nummer von Margret Goldstein. Doris’ Mutter hatte viermal nacheinander angerufen, ohne etwas auf die Mailbox zu sprechen. Beim fünften Mal hatte sie die Geduld verloren.

»Doris? Herrgott, wieso gehst du nicht an dein Handy?«

»Empfangen gestern, 22.13: ›Doris! Hier ist deine Mutter. Es ist wichtig!‹«

»Empfangen gestern, 22.52: ›Ich fasse es nicht.‹«

»Empfangen gestern, 23.15: ›Sag mal, wo steckst du denn? Torsten geht auch nicht ans Telefon. Wir könnten hier tot im Flur liegen und ihr lest es dann in der Zeitung. Das ist doch nicht wahr!‹«

»Empfangen heute, 7.05: ›Immer noch aus. Werner, was macht man denn da?‹«

»Empfangen heute, 7.30: ›So, wenn du nicht innerhalb der nächsten Stunde anrufst, alarmiere ich die Polizei und schick sie zu euch nach Hause. Torsten ist auch nicht zu erreichen.‹«

|94|Mit einem Blick auf die Uhr stellte Doris fest, dass sie noch eine halbe Stunde Zeit hatte, bevor die Polizeieskorte sich auf den Weg nach Lüneburg machen würde. Torsten müsste jetzt im Auto sitzen. Sie drückte die Kurzwahltaste für seine Handynummer. Nach nur einem Freizeichen meldete er sich: »Sag mal, wo steckst du?«

Doris bekam sofort ein schlechtes Gewissen, als sie hörte, wie seine Stimme klang. »Guten Morgen. Ist etwas passiert?«

»Ich habe mir Sorgen gemacht. Du legst einfach einen Zettel hin, und ich habe keine Ahnung, wo du bist und mit wem und wann du wiederkommst. Das ist doch keine Art.«

Doris atmete tief durch und zwang sich, ruhig zu bleiben. »Ich habe dir geschrieben, dass ich Sonntagmittag wieder zu Hause bin. Spätestens Sonntagabend. Ich bin in einem schönen Hotel, gehe gleich in die Sauna und zur Kosmetik und gewöhne mich langsam an den Gedanken, fünfzig zu werden. Das ist alles. Meine Mutter hat versucht, uns zu erreichen. Weißt du, was da los ist?«

»Margret hat ungefähr zwanzigmal hier angerufen. Zum Glück sieht man ja die Telefonnummer, ich bin nicht mehr drangegangen. Ich nehme an, sie wollte wissen, wo du bist, aber da hätte ich ihr sowieso nicht helfen können. Geht es dir denn gut?«

Doris wusste selbst nicht genau, warum sie ihm nicht sagte, dass sie mit Katja und Anke hier war. Aber irgendetwas hielt sie davon ab. Es war ihr Geburtstag. Sie allein entschied, wie sie damit umgehen wollte.

»Ja. Es geht mir gut.« Sie hörte in sich hinein, es stimmte tatsächlich. »Wir sehen uns morgen. Also, bis dann.«

»Doris?«

»Ja?«

|95|»Wirklich keine Feier?«

»Auf keinen Fall. Vielleicht später, im Sommer oder so. Aber nicht jetzt. Also, mach es gut. Tschüss.«

Sie drückte auf die rote Taste, behielt das Telefon in der Hand und stellte sich damit ans Fenster. Vor ihr lag die Ostsee, das Wasser glitzerte, am Horizont war eine Fähre zu sehen, die Wellen schlugen sanft an die Promenade. Der Anblick des endlosen Wassers stimmte Doris ruhig und leicht. In dieser Stimmung würde sie doch wohl mit ihrer Mutter fertig werden.

»Goldstein.«

»Hallo, hier ist Doris.«

»Ich weiß. Das sehe ich schließlich an der Nummer.«

Doris starrte aufs Meer. Es ging ihr gut. Besser als in all den letzten Wochen. Es war nur ein Telefonat.

»Du hast versucht, mich zu erreichen. Was wolltest du denn?«

Margret schnappte hörbar nach Luft. »Wo bist du? Seit gestern Abend wähle ich mir die Finger wund. Aber niemand ist zu erreichen. Uns könnte etwas passiert sein. Werner und ich sind ja nicht mehr die Jüngsten. Und du …«

»Man tippt sich heute die Finger wund«, unterbrach Doris die sich ankündigende Tirade. »Kein Mensch wählt mehr. Ist euch denn was passiert?«

»Wenn wir uns noch länger gesorgt hätten … Aber das interessiert dich ja nicht. Ich wollte wissen, was du morgen anziehst. Ist das eher leger oder elegant? Torsten sagt ja nichts. Soll Werner einen Anzug anziehen oder reicht Jackett? Ich hasse es, wenn man falsch gekleidet ist. Ich habe mir einen neuen Hosenanzug gekauft, der ist sehr edel. Den ziehe ich aber nicht an, wenn wir in irgendein rustikales |96|Lokal fahren. Dann kann der danach sofort in die Reinigung. Also, was ziehst du an?«

Doris verstand kein Wort, bekam aber ein mulmiges Gefühl. »Was ich anziehe? Wozu? Was ist denn morgen?«

»Doris, bitte.« Margret atmete theatralisch aus. »Dein Geburtstag. Wir haben die Einladung von Torsten bekommen, du hast ja immer so getan, als würde nichts stattfinden, es ist nur gut, dass dein Mann sich durchgesetzt hat. Auch wenn er so tut, als wäre es eine Überraschungsparty für dich, aber ich habe mir schon gedacht, dass er das natürlich nicht allein organisiert, das können Männer doch gar nicht. Also hättest du uns auch Bescheid sagen können, es sei denn, du wolltest deine Mutter nicht dabeihaben. Stimmt das?«

Doris versuchte zu begreifen, was sie gerade gehört hatte. Das konnte doch nicht wahr sein. Sie hatte ausdrücklich darum gebeten, nicht zu feiern, und Torsten war es egal. Überraschungsparty, du lieber Gott. Warum war es eigentlich so unwichtig, was sie selbst wollte?

»Doris? Bist du noch dran? Kannst du mir vielleicht mal antworten?«

»Nein, Mama.«

Doris drehte sich entschlossen um. »Ich habe keine Ahnung, was du anziehen sollst. Ich höre diesen Schwachsinn mit der Überraschungsparty nämlich gerade zum ersten Mal. Ich will nicht feiern, ihr könnt das ja von mir aus tun, aber ohne mich. Ich habe überhaupt keine Lust auf eine Familienfeier mit gemischtem Braten und Nachtisch, egal wo. Aber ihr braucht mich doch auch nicht dabei. Du hast dann freie Fahrt und kannst der ganzen Familie sagen, wo’s lang geht. Viel Spaß dabei und grüß alle von mir. Falls sich jemand an mich erinnert, ich bin die, die nicht feiern wollte.«

|97|»Du wirst wirklich immer komischer. Und es ist keine Familienfeier, Torsten hat auch irgendwelche Freundinnen von dir eingeladen, von früher. Die haben auch schon zugesagt, auch die eine, die ich nie mochte, diese Kerner, die war immer so schnippisch. Ach, und die Kathrin oder Katja, du weißt doch, die vom Fernsehen, die kommt auch. Und ich hoffe, dass auch Sascha da ist. Jetzt muss es doch mal gut sein mit diesem Streit. Der Junge wird ja wohl auftauchen, wenn seine Mutter fünfzig wird. Das ist doch ein Grund, diesen Familienzwist zu begraben. Ich hoffe, dass Torsten dafür gesorgt hat. Das wird eine große Feier. Ich rufe ihn in der Firma an, du bist mir auch keine Hilfe. Bis morgen.«

Doris ließ das Telefon langsam sinken, schluckte und biss sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzudrängen. Dann holte sie plötzlich mit aller Kraft aus und feuerte das Handy an die Wand. Unbewegt sah sie, wie es in seine Einzelteile zerbröselte. Der Abend gestern war so schön gewesen! Aber wahrscheinlich hatte sie sich doch wieder etwas vorgemacht. Kein Mensch nahm sie ernst. Und nun war ihr Handy auch noch kaputt. Ab jetzt war sie nicht mal mehr erreichbar.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenfahren. Dann hörte sie Ankes Stimme: »Doris? Bist du fertig? Wir wollen frühstücken.«

Mit wenigen Schritten war sie an der Tür und riss sie auf. Anke fiel ihr fast entgegen. »Du bist ja … Oh. Ist was passiert?«

»Findet ihr das komisch?« Doris’ Stimme klang gepresst. »Habt ihr Spaß mit Torsten gehabt, als ihr dieses blöde Überraschungsfest organisiert habt? Wie oft habt ihr denn schon telefoniert?«

|98|Anke wurde blass. »Wie? Spaß mit Torsten? Was meinst du denn?«

Doris drehte sich auf dem Absatz um und ging zurück ins Zimmer. Mit einem Ruck riss sie die Tasche aus dem Schrank und warf sie aufs Bett.

»Das ist so hinterhältig von euch. Ich komme mir vor wie eine Idiotin.«

Wütend begann sie, einzelne Kleidungsstücke in die Tasche zu stopfen. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Anke stand immer noch stumm an der Tür.

»Ich habe mich auf euch gefreut. Ich fand den Abend gestern besonders schön, und dann bekomme ich zufällig mit, dass alles nur Theater ist. Dann kann ich ja auch wieder fahren. Ich will dieses Fest nicht, diese scheiß fünfzig, ich …« Mit einem T-Shirt in der Hand ließ sie sich aufs Bett sinken und fing an, laut zu weinen.

Plötzlich tauchte Katja hinter Anke auf. Mit einem kurzen Blick erfasste sie die Situation, schob Anke ins Zimmer und schloss die Tür hinter sich.

»Ich habe ja keine Ahnung, was hier los ist«, sagte sie, nahm die Tasche vom Bett und setzte sich neben Doris. »Aber können wir das bitte mitteleuropäisch klären und nicht so laut schreien, dass gleich der ganze Flur mitreden kann?«

Doris war es egal, wer sie hören könnte. Sie schrie einfach weiter. »Ich habe es satt, dass alle immer zu wissen meinen, was richtig ist für mich. Und jetzt auch noch ihr.«

Erschrocken sah Katja sie an. »Ich schiebe das mal auf deine Hormone, Goldstein, sonst müsste ich dich jetzt für geisteskrank halten. Kannst du uns bitte mal erklären, was genau dein Problem ist?«

|99|»Diese blöde Feier.« Mühsam versuchte Doris, durch ihre verstopfte Nase Luft zu bekommen. »Es zählt überhaupt nicht, was ich will. Ich habe eine ganz klare Ansage gemacht, aber Torsten organisiert trotzdem etwas. Und ihr macht auch noch dabei mit. Ohne es mir zu sagen.«

»Meine Güte.« Mit ausgebreiteten Armen ließ Katja sich rücklings aufs Bett fallen und sandte einen verzweifelten Blick Richtung Decke. »Du machst so einen Aufstand wegen einer kleinen Geburtstagsfeier? Das ist doch nicht dein Ernst. Die Einladung ist schon vor Wochen gekommen, lange vor unserer Verabredung. Ich verstehe nicht, warum du das so hoch hängst und was daran so schlimm ist. Torsten hat es doch nur nett gemeint.«

»Nett«, schnaubte Doris. »Sehr nett, ja. Ich will das aber nicht. Das habe ich hundertmal gesagt. Ich muss immer nur funktionieren, niemanden interessiert, wie es mir wirklich geht. Ich habe ein Problem mit diesem Geburtstag, ist das denn so schwer zu verstehen?«

»Jetzt mach mal halblang.« Anke wurde langsam sauer. »Dann gehst du eben nicht hin. Du benimmst dich wie ein schwer pubertierendes Kind. Katja hat recht, wenn das die Auswirkungen von Hormonmangel sind, dann würde ich mir an deiner Stelle intravenös welche spritzen. Himmel, wir sind extra angereist, und du machst jetzt so ein Theater. Um dich dreht sich doch nicht die Welt. Merkst du eigentlich, was für einen Unsinn du manchmal redest?«

Ihre Stimme war immer lauter geworden, was die Wirkung ihrer Worte noch verstärkte. Anke Kerner war noch nie laut geworden, Wut machte sie leise und eiskalt. Sie hasste Szenen. Und nun brüllte sie Doris an. Die hockte immer noch mit eingezogenem Kopf auf dem Bett und fummelte an ihrem |100|T-Shirt herum. »Ich …«, begann sie leise, wusste aber nicht weiter. Für eine Minute herrschte Schweigen.

Bis sich Katja schwungvoll wieder aufsetzte, ihren Blick zwischen Doris und Anke hin- und herwandern ließ und schließlich anfing zu lachen.

»Ihr müsstet euch mal sehen«, sagte sie. »Goldstein sitzt verrotzt und elend auf dem Bett und Kerner sieht aus, als würde sie gleich Amok laufen. Und das wegen so eines Schwachsinns. Mädels, es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder wir packen sofort unsere Klamotten und reisen ab, dann kannst du Geburtstag feiern oder auch nicht, aber wir sind weg. Oder du gehst jetzt kalt duschen, schüttelst dich, wirst wieder normal und machst dir in den nächsten Tagen Gedanken darüber, was bei dir eigentlich schiefläuft. Dann können wir auch darüber reden. Also, was ist? Anke?«

»Ich habe Hunger. Und keine Lust auf so ein Theater.«

»Doris?« Katjas Stimme war sehr ruhig.

»Tut mir leid.« Sie atmete tief durch und setzte sich gerade hin. »Ich … ich möchte nicht, dass ihr abreist.«

»Okay.« Katja stand auf und ging zur Tür. »Dann restaurier dein Gesicht. In fünfzehn Minuten sind wir unten beim Frühstück. Komm, Kerner. Entspann dich.«