|123|Doris kniff die Augen zusammen, als ein heißer Wassertropfen von der Decke fiel. Das Dampfbad hatte einen Sternenhimmel, der in regelmäßigen Abständen seine Farbe wechselte. Die hellblauen Sterne wurden gerade rot, als dieser Tropfen fiel.
Sie saßen zu viert auf den umlaufenden Steinbänken, Doris, Katja, Anke und eine junge Frau, die sich auch zum Peeling angemeldet hatte. Eine Viertelstunde wurde die Haut aufgeweicht, bevor geschultes Personal die Damen mit einer Papayapampe, der Meersalz beigemischt war, einrieb. Der Körper sollte so von Verhornungen und abgestorbenen Hautschuppen befreit werden. Das versprach zumindest der Prospekt. Doris schüttelte sich innerlich. Verhornungen, was für ein Wort? Das mit der abgestorbenen Haut war vorstellbarer.
Anke hatte ihren Kopf an die warme Wand gelegt und sah in den inzwischen gelben Sternenhimmel, Katja hielt ihre Augen geschlossen. Die fremde Frau strich sich verträumt über die Schienbeine.
Doris wandte den Blick wieder nach oben. Der Farbwechsel wirkte beruhigend, ebenso das leise Zischen, wenn Wasserdampf aus den Öffnungen quoll, und das Geräusch der Tropfen, die vom Himmel fielen. Die Welt war draußen und weit weg. Nicht einmal aus der Therme war ein Geräusch zu hören. Als wären sie die einzigen Gäste in diesem Spa.
Und das, obwohl da draußen Angelika und Hermann Wolter |124|in der Sauna hockten. Doris warf einen kurzen Blick zu Katja, die ihre Haltung nicht verändert hatte. Jetzt wurden die Sterne grün. Hermann und Katja. Doris hatte es nicht glauben wollen. Zumal diese Affäre in der Zeit begonnen hatte, in der sich die Ehepaare Wolter und Wagner regelmäßig sahen. Wolters wohnten in einer Villa an der Elbe, dorthin hatte Angelika auch ständig eingeladen. Was nutzten schließlich die teure Ausstattung und die ständigen Neuanschaffungen, wenn man niemanden damit beeindrucken konnte?
An Doris war das alles abgeprallt. Sie war nie neidisch gewesen, es war ihr schlichtweg egal, von welchem Fabrikanten der grüne Ledersessel stammte oder welchen Designerpreis der bunte Kronleuchter bekommen hatte. Sie ging Torsten zuliebe mit. Er spielte eben gern mit Hermann Tennis und bekam durch ihn Kontakte, die ihm in seiner Firma nützten. Und wenn sie so einen Abend überstanden hatten, saßen sie anschließend in der Küche, tranken ein Glas Rotwein und lästerten über Angelikas Angeberei und ihren schlechten Geschmack. Über Hermann hatten sie nie geredet.
Eigentlich mochte Doris ihn. Er sprach relativ wenig, konnte aber sehr charmant und durchaus witzig sein. Meistens allerdings dominierte Angelika die Abende. Sie gehörte zu den Frauen, die gerne laut lustige Geschichten über ihre Männer erzählen, Peinlichkeiten, die ihnen passiert, Verwechslungen, die ihnen unterlaufen waren, Dinge, die sie vergessen hatten, lauter Beweise, dass sie ohne ihre Frauen sofort und ohne Umwege in ihre Höhle zurückkehren könnten. Allein waren sie im Leben hoffnungslos überfordert. Aber Angelika kümmerte sich ja um Hermann. Dafür musste er ihr auch dankbar sein.
|125|Und dann hatte er sich in Katja verliebt. Nicht, dass Doris sich darüber wunderte, vor einer Stunde hatte sie die beiden Frauen ja zusammen in der Sauna gesehen. Aber was hatte Katja an Hermann Wolter gefunden? Er war erfolgreich, das war keine Frage, er gehörte zu den Alphatieren beim Fernsehen. Und natürlich macht Erfolg sexy. Gegen ihn hatte Torsten immer unglaublich jugendlich gewirkt. Hermann war so gesetzt, starr, ihm fehlten die Neugier und jeder Hauch von Leidenschaft. Das fand zumindest Doris. Aber vielleicht war er auch ohne seine Frau neben sich ganz anders. Doris hatte ihn nie allein erlebt, sie hatte die beiden immer als symbiotisch empfunden. Wobei Hermann auch manchmal den Eindruck gemacht hatte, dass er lieber ganz woanders wäre.
Die Tür öffnete sich, und Svenja steckte ihren Kopf herein. »So, meine Damen, die Viertelstunde ist um, und Ihre Haut ist schön weich. Jetzt machen wir das Peeling.«
Sie verteilte kleine Schälchen, in denen eine gelbgrüne cremige Masse war. »Das ist Papaya mit Meersalz. Sie massieren diese Paste jetzt auf dem Körper ein, das Gesicht bitte aussparen. Bei Rücken und Schultern kann ich Ihnen helfen, wenn Sie sich nicht gegenseitig einreiben wollen.«
Die junge Frau nahm die Schale, sah die anderen unsicher an und fragte: »Soll ich bei jemandem …?«
»Gern.« Katja stellte sich zu ihr, während sich Doris Anke zuwandte.
»Dreh dich um. Ich fange hinten an.« Mit gleichmäßigen Bewegungen verteilte Doris die Paste auf Ankes Rücken. Anke war immer noch so dünn wie früher, ihre Rippen waren deutlich zu spüren. ›Beneidenswert‹, dachte sie und |126|sagte: »Du bist aber auch dünn. Wie machst du das eigentlich?«
»Keine Ahnung«, antwortete Anke und drehte sich zu ihr um. »Guter Stoffwechsel, ich war doch immer schon so. Bist du fertig? Dann lass mich mal.«
Doris entspannte sich unter Ankes Handbewegungen und versuchte, die Gedanken wegzuschieben. Es war völlig egal, ob man ihre Rippen fühlen konnte oder nicht. Niemand hatte sie je als dünn bezeichnet. Und heute könnte man sich auf »weiblich« einigen.
»Ist ein bisschen speckig, oder?«, versuchte sie einen Witz. Anke massierte weiter. Nach einer kurzen Pause antwortete sie: »Sehr schöne Haut. Und du spinnst.«
Zufrieden schloss Doris die Augen.
In der anderen Ecke fragte sich Katja, ob sie selbst mit Ende zwanzig schon Urlaub in einem Wellnesshotel gemacht hätte. Vermutlich nicht, sie wäre vor Langeweile gestorben. Damals fuhr sie Mountainbike auf Korsika, segelte in Südschweden und ging im Winter Skilaufen am Arlberg. Mehr als eine halbe Stunde herumzusitzen hätte sie verrückt gemacht. Andere Zeiten. Die junge Frau, auf deren Rücken sie gerade die Paste verrieb, stand geduldig und sehr gerade vor ihr. Als Katja fertig war, reichte sie ihr die Schale zurück. »So, bitte. Machen Sie hier eigentlich richtig Entspannungsurlaub?«
»Nein.« Die Frau lachte auf. »Nur einen Tag. Länger hätte ich auch keine Lust. Einen Tag lang Sauna und so ein bisschen Abhängen finde ich ganz schön, aber das reicht auch. Mein Vater ist fünfundsechzig geworden und feiert das heute Abend hier. Also musste ich sowieso kommen, da kann man die Sauna ja mitnehmen. Und Sie?«
|127|Vorsichtig setzte Katja sich zurück auf die Bank und fing an, ihre Beine mit dem Peeling zu bearbeiten. »Wir machen hier ein Mädelswochenende. Meine Freundin Doris wird morgen fünfzig.«
»Mädels?« Sie lachte. »Sagt man das mit fünfzig noch?«
Irritiert hob Doris den Kopf und sah zu ihnen hin. Katja erwiderte ihren Blick mit hochgezogenen Augenbrauen. »Klar. Ich schon.«
Überrascht beugte sich die junge Frau zu ihr. »Sie sind fünfzig? Das hätte ich aber nie gedacht.«
Katja lächelte und fragte sich im selben Moment, ab welchem Alter man sich freute, wenn man jünger geschätzt wurde. In ganz jungen Jahren war man darüber ärgerlich, danach korrigierte man nur sanft die Schätzzahl, und plötzlich empfindet man die falsche Einordnung als Kompliment.
Die Frau trat noch einen Schritt näher. »Ich kenne Sie doch. Sind Sie nicht Katja Severin? Aus dem ›Tagesmagazin‹? In der Sauna sehen alle Leute ganz anders aus.«
»Ungeschminkt auch«, antwortete Katja und begann, das andere Bein zu bearbeiten. »In Ihrem Alter habe ich um diese Tageszeit nie Fernsehen geguckt.«
»Ich schon.« Die junge Frau lachte wieder. »Ich bin mit einem ständig laufenden Fernseher aufgewachsen, daran habe ich mich gewöhnt. Mein Vater arbeitet bei dem Verein. Sie müssen ihn ja kennen, Hermann Wolter. Mein Name ist übrigens Nele Wolter.«
Die schmierige Schüssel rutschte Katja aus der Hand. Doris und Anke verharrten in ihren Bewegungen. Nur Nele Wolter plapperte weiter.
»Das ist ja witzig. So klein ist die Welt. So, ich glaube, ich verzichte auf die restliche Pampe, mir ist zu warm und |128|meine Haut ist völlig okay. Ich gehe duschen. Also, vielleicht sehen wir uns noch, ansonsten viel Spaß. Danke fürs Einschmieren.«
Sie verließ die Dampfsauna, die Tür klappte zu und kurz darauf hörte man die Dusche aus dem Nebenraum.
»Das glaube ich jetzt nicht.« Doris starrte noch immer auf die Tür. »Wie findet ihr denn das?«
Katja angelte nach der Papaya-Schale. »Vielleicht ist hier diese ›Versteckte Kamera‹. Ich habe Hermann seit über einem Jahr nicht gesehen, seine Tochter noch nie und jetzt bekomme ich heute die volle Breitseite. Am liebsten würde ich abreisen.«
»Vergiss es.« Anke warf ihr einen drohenden Blick zu. »Ich verstehe dich auch nicht. Wenn du früher schon die Orte gemieden hättest, an denen du Ex-Lovers treffen könntest, wärst du nach der 11. Klasse von der Schule gegangen und hättest die Stadt verlassen. Das ist doch nicht der erste Typ, mit dem du mal was hattest.«
»Anke, bitte.« Doris guckte missbilligend. »Das hier ist doch was ganz anderes. Ich muss jetzt aber raus, mir wird ganz komisch.«
»Das sind aber nicht die Hormone.« Anke stand auf und verrieb den Rest der Pampe auf ihrem flachen Bauch. »Und im Übrigen fühlt sich Liebeskummer mit fünfzehn genauso an wie mit fünfzig. Es gibt da keinen Unterschied, Doris, auch wenn du weder damals noch heute so was hattest.«
»Du hast doch keine Ahnung.«
»Mädels, bitte kein Gift.« Katja stellte die leere Schale auf die Bank neben der Tür. »Ich gehe duschen. Kommt ihr mit?«
|129|Der Ruheraum hatte eine Fensterfront mit Blick aufs Meer. Die Liegen standen im Halbkreis davor, bunte Wolldecken und viele Kissen waren darauf verteilt. Teelichter in Gläsern flackerten auf den Fensterbänken, dazwischen trieben auf flachen Schalen irgendwelche Blüten. Kein Mensch war in dem Raum.
Doris setzte sich auf eine Liege, zog dicke Socken an und faltete eine Wolldecke auseinander. »Herrlich«, seufzte sie, legte sich hin und wickelte sich ein. »Wir sollten alle Probleme dieser Welt ignorieren und nur noch auf die Ostsee starren.«
»Von mir aus.« Anke klappte ihre Decke mit Schwung um die Füße. »Obwohl das doch eigentlich Severins Arbeitsweise ist.«
»Eben.« Katja lag schon mit geschlossenen Augen da. »Dann starrt doch und schweigt. Wenigstens eine halbe Stunde. Danke.«
Sie hörte Ankes gleichmäßige Atemzüge neben sich, spürte die weiche Decke an den nackten Beinen, roch den Duft von Papaya und Duftkerzen und sah Nele Wolter in Gedanken vor sich. Nele. Hermanns Augenstern und immer wieder einer der Gründe für ihn, seine Familie nicht verlassen zu können. Die Begegnung mit ihr hatte sie bis ins Mark getroffen. Und das hatte nichts mit Liebeskummer oder Sentimentalitäten oder Ähnlichem zu tun. Den Schock hatte die Erkenntnis ausgelöst, dass Nele, die sie all die Jahre immer nur als »das Kind« im Kopf gehabt hatte, ungefähr so alt war wie Alex. Alex, der ihr das Gefühl gab, immer noch jung, sexy und begehrenswert zu sein. Die gleichaltrige Nele machte ihr bewusst, wie alt sie war.
|130|»Sag mal, Katja?« Doris konnte keine halbe Stunde warten. »Geht es dir wirklich gut mit deinem Neuen? Mit Axel?«
»Alex«, korrigierte Katja. »Ja, es geht mir gut mit ihm. Warum?«
»Weil ich irgendwie nicht verstehe, warum du so heftig auf Hermann reagiert hast. Du verlierst doch nie die Fassung, und dann triffst du einen Mann wieder, mit dem du nur eine Affäre hattest, und rennst wie angestochen weg. Dabei hast du schon längst eine neue Beziehung und bist doch mit den alten Geschichten fertig.«
»Doris.« Anke legte die Betonung auf das o. »Du bist manchmal noch genauso naiv wie früher. Was heißt denn ›nur eine Affäre‹?«
Nach einem kurzen Moment antwortete Doris. »Ich meinte das nicht abwertend.«
»Es ist doch so, dass auch alte Geschichten noch schmerzen und …« Anke brach den Satz ab und sah Katja an. Dann fragte sie mit ruhigerer Stimme: »Was machst du denn, wenn du ihn hier noch mal triffst? Das wird sich ja nicht verhindern lassen. Seine Tochter wird ihm bestimmt erzählen, dass sie dich getroffen hat.«
Katja stellte sich sein Gesicht vor, wenn er auf sie zuliefe. Vermutlich würde er aussehen wie ein in die Enge getriebener Hase. Oder sein berühmtes Pokerface aufsetzen. Beide Vorstellungen gefielen ihr nicht. »Was ich machen werde? Keine Ahnung. Ihm sagen, dass er ein Arschloch ist?«
»Wenn er das wäre, hättest du nichts mit ihm angefangen.« Doris hatte sich aufgesetzt. »Du hast dich ja mal in ihn verliebt. Und Hermann ist kein Arschloch. Ein bisschen kenne ich ihn ja auch.«
»Ach ja?« Nachdenklich wickelte Katja eine Haarsträhne |131|um ihren Finger. »Verliebt? Das weiß ich gar nicht. Er hat mich einfach sehr beeindruckt. Er ist ein echtes Alphatier, sehr klug, sehr mächtig, sehr distanziert. Und er hat angefangen, mit mir zu flirten. Zuerst wollte ich nur sehen, wie weit er geht. Er ging weit.«
»Also hast du angefangen? Obwohl du wusstest, dass er verheiratet ist?«
»Ach, Doris, bitte. Jetzt mach nicht so eine Moralnummer daraus. Ich habe damals nicht darüber nachgedacht. Diese jahrelange Affäre hat sich so ergeben. Und ich habe schließlich gedacht, dass er sich trennen würde. Das hat er sogar mal gesagt.«
»Das sagen sie alle.«
Anke schob sich ein Kissen unter den Kopf und sah Doris belustigt an. »Kennst du dich da aus? Erzählst du deinen Liebhabern immer, dass du dich trennst?«
»Ich habe keine Liebhaber. Aber ich habe solche Geschichten bei zwei Freundinnen von mir mitbekommen. Es war genau dasselbe. Angeblich wollte der Typ sich trennen, und dann bekam die Ehefrau noch ein Kind oder es wurde ein Haus gebaut. Aber die meisten Frauen sind so blöd und glauben diesen vagen Versprechungen. Hermann würde sich nie trennen, dazu ist er viel zu sehr darauf bedacht, dass die Welt ihn toll findet. Und er ist wahnsinnig spießig und konservativ, bei aller Angeberei seiner Frau. Das ging sogar mir manchmal auf den Geist, und ich bin ja nun wirklich keine Revolutionärin.« Doris musste über ihren letzten Satz selbst lächeln.
Katjas Blick blieb ernst. »So weit kann es mit seiner Spießigkeit aber nicht her sein. Seine erste Ehefrau hat er nämlich verlassen.«
|132|»Was?« Vor Überraschung fiel Doris fast von der Liege. »Woher weißt du das denn?«
»Na, rate mal.« Anke sandte einen gespielt verzweifelten Blick an die Decke. »Katja, sag’s schon. Doris kriegt sonst wieder einen Schweißausbruch.«
»Von Hermann natürlich. Er hat das erste Mal mit fünfundzwanzig geheiratet. Seine Jugendliebe. Und zehn Jahre später bekam er eine neue Sekretärin, Angelika. Und die wurde nach einjähriger Affäre schwanger. Mit Nele, dem Augenstern. Deswegen also hat er seine erste Frau verlassen. Und später Angelika geheiratet.«
Doris fächelte sich tatsächlich schon wieder Luft zu. »Das gibt’s ja gar nicht. Angelika hat sich mal wahnsinnig darüber aufgeregt, dass ein Tenniskollege von Torsten und Hermann sich wegen einer anderen Frau getrennt hat. Sie regte sich furchtbar über Ehebrecherinnen und Männer auf, die Familien verlassen, damit sie ihr Ego streicheln. Und dabei hat sie sich ihren Mann selbst so gegriffen. Kann man hier ein Fenster öffnen? Ich komme gerade um.«
Anke schwang ihre Beine auf den Boden und stand auf.
»Ich laufe gern für dich, Frau Goldstein.« Sie schob die Glastür auf, sofort hörte man das Meeresrauschen.
Auf dem Weg zurück zu ihrer Liege fragte sie Katja: »Kann es sein, dass dein Problem darin besteht, dass er für diese Angelika seine erste Frau verlassen hat und dass er das für dich nicht machen wollte?«
Sie legte sich wieder hin und stopfte die Decke um ihren Körper. »Sag die Wahrheit.«
Katja richtete sich auf. »Damals nicht. Aber heute, als ich diese Angelika das erste Mal gesehen habe, da habe ich die Wut bekommen. Ich habe sie mir immer Wunder wie toll |133|vorgestellt. Und dann entpuppt sich meine Erzfeindin als ältliche Hausfrau. Und das Kind ist so alt wie mein Liebhaber. Das ist doch nicht zu glauben.«
»Severin, du bist eine echte Egozentrikerin.« Anke sah Katja lange an. »Hätte es dich weniger aufgeregt, wenn die Gattin aussehen würde wie Sharon Stone? Und die Tochter ein kleines, dickes Gör wäre?«
»Ehrlich gesagt: Ja.« Katja setzte sich in den Schneidersitz. »Dann hätte ich das wenigstens verstanden. Aber so …«
»Du spinnst.« Doris hatte die Decke von der Liege gefegt und ihren Bademantelgürtel gelockert. »So etwas ist doch kein Wettkampf. Warum wolltest du denn eigentlich, dass Hermann sich trennt? Damit er mit dir zusammenlebt oder damit ihn Angelika nicht behält?«
»Wird das hier eine Therapiestunde, oder was? Ich weiß es nicht. Ich wollte nie heiraten, aber ich hatte auch keine Lust, die zweite Geige zu spielen.«
Mit gequältem Lächeln sah Katja die beiden anderen an. »Wahrscheinlich fand ich meine Rolle in dem ganzen Spiel blöd, ich habe nur nicht gewusst, wie ich sie ändern könnte. Tja, und dann zerplatzt das Feindbild auch noch. Doris, ich sehe dir an, dass du noch etwas fragen willst. Erstick nicht daran.«
»Was würdest du tun, wenn er sich jetzt noch trennt? Würdest du mit ihm leben wollen?«
»Nein.« Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. »Überleg doch mal, er geht nächstes Jahr in Rente. Ich würde mich sofort auch alt fühlen. Das geht nicht. Schon gar nicht nach Alex. Um Himmels willen.«
»Dann haben wir das ja geklärt.« Anke stand auf und begann, ihre Decke zusammenzufalten. »Einem möglichen |134|Zusammentreffen haben wir das Grauen genommen. Jetzt sind wir also entspannt und ich habe einen mörderischen Durst. Was ist mit euch?«
»Ich auch.« Doris warf einen Blick auf die Uhr, die über der Tür hing. »Katja hat gleich ihren Termin. Schöne Füße, schöne Hände. Danach bin ich dran. Und dann du. Aber wir können vorher ins Sauna-Bistro gehen.«
»Ich bleibe gleich hier.« Katja legte sich wieder hin. »Der Behandlungsraum ist doch nur um die Ecke. Ich komme danach ins Bistro. Bis gleich.«
»Ja, bis gleich«, antwortete Doris und ihr fiel auf, dass sie die ganze Zeit nicht an ihren Geburtstag gedacht hatte. Und auch noch immer nicht wusste, ob sie zu Torstens Überraschungsparty gehen würde oder nicht. Für den Moment hatte sie ihren Ärger vergessen.
Das Bistro lag zwischen den Saunen und dem Außenpool. Doris und Anke setzten sich an einen der Tische, die schon draußen standen und von dem aus sie über den Pool auf die angrenzende Ostsee sehen konnten. Sie bestellten bei einer der jungen Bedienungen Apfelsaftschorlen und hielten ihre Gesichter in die Frühlingssonne.
Als die Getränke kamen, zeichnete Doris die Rechnung sofort ab. Anke überlegte, ob Katja ihr erzählt hatte, dass sie pleite war. Wie sie Doris kannte, würde die dann bald einen Rettungsversuch starten. Anke wusste nicht, ob sie das wirklich wollte.
»Guck mal.« Doris holte Anke aus ihren Gedanken. »An dem Tisch am Eingang sitzt dein Treppenhausretter. Und er ist wirklich in Begleitung. Schade.«
»Dann hat euer Gerede vielleicht jetzt mal ein Ende.« |135|Anke zwang sich, keinen Blick in die Richtung zu werfen, in die Doris immer noch blickte. »Das Thema zwei Frauen und ein Mann hatten wir doch gerade zur Genüge. Auf die Nummer habe ich wirklich überhaupt keine Lust.«
»Das glaube ich.« Doris wandte sich ihr wieder zu. »Sag mal …« Sie verharrte im Satz und griff zögernd zu ihrem Glas.
»Ja?«
»Vielleicht bin ich auch zu indiskret, ich weiß nicht, aber …«
»Doris. Du warst immer indiskret, wenn du dir über irgendetwas Sorgen gemacht hast. Also?«
»Ich habe das gestern nicht so ganz verstanden. Hattest du dich vor dem Unfall nicht schon von Kai getrennt oder wart ihr da noch zusammen?«
»Ich hatte mich ein halbes Jahr vorher von ihm getrennt.«
»Ging es da auch um eine andere Frau? Oder Mann?«
»Nein.« Anke ließ die Eiswürfel in ihrem Glas kreisen. »Keine andere Frau, kein anderer Mann. Aber ansonsten hat er keinen Betrug ausgelassen. Ich habe seitdem einen Haufen Schulden und keine große Lust, mich mit irgendwelchen Typen einzulassen. Weißt du, ich rede einfach nicht gern darüber. Das geht nicht gegen dich, Katja habe ich auch nicht viel mehr erzählt.«
»Kann ich dir …«
»Nein, Doris. Ich brauche keine Hilfe, ich schaffe das alles schon. Mir geht es gut. Ich muss nur eben mal aufs Klo.«
Sie stand schon und drehte sich nach einem Hinweisschild um. Sie fand es und sah den Pfeil, der nach links zeigte. Natürlich musste sie an dem Tisch mit dem Treppenhaustypen vorbei. Seine Begleiterin saß mit dem Rücken zu ihr, |136|Anke wollte den Blick auf ihn vermeiden, es ging aber nicht. Als hätte er ihre Gedanken gespürt, hob er in dem Moment den Kopf, als sie den Tisch erreichte.
»Schon wieder«, sagte er lächelnd, woraufhin sich die Frau sofort zu ihr umdrehte. Obwohl Anke ihn ignorieren wollte, erhaschte sie einen kurzen Blick auf seine Begleitung. Dunkelhaarig, sympathisch, etwa in ihrem Alter und mit Neugier im Blick. Anke sah stur auf die vor ihr liegende Tür und beschleunigte ihre Schritte. Was für ein seltsamer Mann. Anke musste sich eingestehen, dass er sie verunsicherte. Sie wusste nur nicht, warum.
Viel länger konnte sie wohl nicht mehr in diesem »Ladies Room« bleiben. Sonst würde Doris gleich anrücken, vermutlich mit einem Sanitäter im Schlepptau. Also fuhr sie sich noch einmal mit den Fingern durch die Haare, was überhaupt kein Ergebnis brachte – Sauna, kalte Duschen und Papaya-Peeling waren Gift für ansonsten glatt geföhnte Naturwellen. Anke musterte sich resigniert im Spiegel. Ich sehe aus wie ein alter, grauer Staubwedel. Mit Locken. Wütend stieß sie sich vom Waschbecken ab und ging zurück zu Doris. So blöde Gedanken wegen eines Typen, der liiert und auch noch arrogant war. Wie doof bin ich eigentlich?
»Wo bleibst du denn?« Doris blickte ihr aufgeregt entgegen. »Ich dachte schon, ich müsste dir hinterhergehen.«
Auf dem Weg zurück hatte Anke den leeren Tisch registriert. Das Paar war vermutlich in die Sauna gegangen. Und das war gut so.
Sie setzte sich wieder an den Tisch und griff zu ihrem Glas. »Vor mir war besetzt. Ich musste warten.«
|137|Aus einem der Strandkörbe, die am Beckenrand standen, kam plötzlich lautes Gelächter. Zwei junge Frauen saßen nebeneinander unter einer Wolldecke und amüsierten sich ungehemmt, bis die Tränen liefen. Abwechselnd versuchten sie, etwas zu sagen, jeder Satzanfang aber brach im kollektiven Lachkrampf ab. Selbst der Strandkorb bebte.
Doris warf einen Blick auf die beiden und sagte kopfschüttelnd: »Guck dir diese Hühner an. Die werden gleich ohnmächtig.«
»Sag das nicht so herablassend.« Anke musste sich das Lachen verkneifen, dieser alberne Strandkorb hatte etwas Ansteckendes. »Wir waren auch mal so.«
»Das ist aber lange her. Und wir waren keine Hühner. Da kannst du sagen, was du willst.«
»Nein. Wir waren immer schon schwer intellektuell, haben uns für Politik, Gesellschaft, Literatur und klassische Musik interessiert. Wir haben doch nie gelacht.« Anke beobachtete die beiden noch einen Moment, bis sie sich wieder beruhigt hatten. Dann fuhr sie fort: »Du hast in meinem Zimmer bäuchlings auf dem Fußboden gelegen und dich fast übergeben, so einen Lachkrampf hast du bekommen, als ich dir das Kleid gezeigt habe, das ich zum Abiball anziehen sollte.«
»Das Marineteil?« Die Erinnerung war sofort wieder da, Doris grinste. »Du sahst aus wie ein Leichtmatrose mit Hochsteckfrisur. Das war aber auch zum Brüllen. Du hast doch dann ein anderes Kleid bekommen, oder? Ein schwarzes mit dünnen Trägern.«
»Es war dunkelblau. Und hatte Puffärmel. Auch schrecklich. Aber ich hatte keine Lust, noch länger mit meiner Mutter zu diskutieren.«
|138|Doris starrte blicklos auf die Wasserfläche des Pools. »Mütter«, sagte sie leise und so, als wäre ihr etwas eingefallen. »Ich habe übrigens heute Morgen mit meiner telefoniert. Das Gespräch dauerte zehn Minuten, die schlechte Laune bleibt für den ganzen Tag.«
Überrascht sah Anke sie an. »Hast du immer noch schlechte Laune?«
»Ich …«, fing Doris an und brach sofort wieder ab, als sie Angelika auf sich zukommen sah. »Oh, nein, das muss doch jetzt nicht sein.«
Sie sagte es leise genug, damit Angelika, die sich ohne Umschweife auf den freien Stuhl setzte, es nicht hörte. »Ihr macht es euch hübsch? Hallo, Bedienung, ich hätte gern eine … was trinkt ihr da, Apfelschorle? Ach, nein, ich nehme einen grünen Tee, den Teebeutel bitte nicht ins Wasser geben, das mache ich lieber selbst, danke.«
Sie wartete nicht ab, bis das junge Mädchen außer Hörweite war. »Die lassen den immer zu lange ziehen, das kriegen sie einfach nicht hin. Ist das nicht ein herrlicher Tag? Heute ist ja Hermanns Geburtstag und jetzt können wir wenigstens den Sektempfang am Abend auf der Terrasse machen, das hat doch Stil. Ach, Doris, das wollte ich dir vorhin schon in der Sauna sagen: Nicht, dass du sauer bist, weil wir euch nicht eingeladen haben, aber Hermann wollte diesen Geburtstag nur im ganz kleinen Kreis feiern. Ich hätte das ganz anders gemacht, aber er war nicht zu überzeugen. Er hat einfach zu viel Stress im Sender, schon seit Monaten ist er nicht mehr der alte. Nur noch schlechte Laune, dauernd müde, zu nichts hat er Lust. Also, wenn ich nicht wenigstens ab und zu ein kleines Essen oder Reisen organisieren würde, dann hingen wir nur noch zu Hause rum. Man muss |139|ihn wirklich zu allem zwingen. Aber wem erzähle ich das? Torsten ist bestimmt nicht anders.«
»Doch.« Doris nutzte die kleine Pause, um Angelikas Redefluss zu stoppen. »Er ist noch der alte. Und selten müde.«
»Wart mal ab.« Angelika hob bedeutsam die Augenbrauen. »Das kommt bei ihm auch noch. Und ihr habt hier ein schönes Frauenwochenende? Das hätte ich auch mal machen sollen. Meine Tochter zwitschert durch die Gegend und mein Mann hat sich noch mal aufs Ohr gelegt. Und ich kann sehen, wo ich bleibe.«
Sie wandte sich an Anke. »Ich habe Ihren Namen gar nicht verstanden. Sind Sie eine neue Freundin von Doris? Wir haben uns noch nie gesehen.«
Anke blieb ganz entspannt. »Ich habe meinen Namen auch noch gar nicht gesagt. Anke Kerner. Und Doris und ich kennen uns schon seit über dreißig Jahren. Wir haben mal eine Schülerzeitung gemacht, zusammen mit der dritten Freundin, die gerade schöne Füße bekommt. Katja Severin.«
Neugierig wartete Doris auf eine Reaktion von Angelika. Sie hätte doch etwas ahnen müssen. Aber Angelika überlegte nur kurz und antwortete: »Ach, die Severin. Unsere Tochter Nele hat vorhin erzählt, dass sie sich beim Peeling getroffen haben. Sie hatte früher ja großen Erfolg als Moderatorin, aber damit kann nun mal nicht jeder umgehen. Trotzdem schade, aber ich sag immer: Hochmut kommt eben vor dem Fall.«
Doris schnappte kurz nach Luft und sagte scharf: »Sie ist nicht …«
Plötzlich kippte Ankes Glas um und die klebrige Apfelsaftschorle ergoss sich über Angelikas Bademantel. Mit einem |140|Aufschrei rutschte sie ein Stück zur Seite, Anke beugte sich vor und wischte ihr mit einer Serviette auf dem Bein herum. »Oh, Entschuldigung, ich bin manchmal so ungeschickt. Gibt ja keine Rotweinflecken. Soll ich Ihnen einen nassen Lappen holen?«
Abwehrend hob Angelika die Hände. »Nein, danke, lassen Sie ruhig. Der Bademantel gehört dem Hotel. Aber meine Hände kleben, ich muss sie schnell waschen. Bin gleich zurück.«
Die Bedienung kam und wischte mit einem feuchten Tuch den Tisch und Angelikas Stuhl ab. Als sie weg war, sagte Doris: »Kerner, das macht man nicht.«
»Was denn?« Unschuldig blickte Anke hoch und tupfte mit der Serviette ein paar restliche Tropfen vom Tisch.
»Das war doch Absicht.«
»Hat aber geklappt. Du hättest dich sonst verplappert, ich habe es dir angesehen. Ich glaube nicht, dass Katja Interesse daran hat, die Geschichte jetzt noch auffliegen zu lassen. Und wenn, dann ist es ihre Sache, nicht unsere. Egal, was diese Angelika hier für dummes Zeug erzählt, du musst jetzt nicht Katjas Rächerin geben. Und wenn du dich nicht beherrschen kannst, kippe ich ihr auch noch den Tee in den Schoß. Und jetzt guck anders, sie kommt zurück.«
Angelika hatte versucht, die Apfelsaftschorle auszuwaschen, das Ergebnis waren großflächige hellgelbe Flächen auf dem weißen Frottee.
»Ich habe die Frau an der Rezeption gebeten, mir einen neuen Bademantel zu besorgen. Sie holt ihn gerade. Also, wo sind wir stehen geblieben?«
»Dass Doris und ich uns schon so lange kennen«, sagte |141|Anke schnell, bevor Angelika wieder auf das Thema Katja zurückkommen konnte. »Seit der Schulzeit.«
»Das ist ja ein paar Jahrzehnte her.« Angelika rührte Süßstoff in den Tee. »Daran merkt man immer, wie alt man schon ist. Und natürlich an den Kindern, nicht wahr, Doris? Haben Sie auch Kinder?«
»Nein.« Anke lächelte sie mühsam an. »Übrigens auch keinen Mann, falls das Ihre nächste Frage ist. Nur meinen Beruf.«
»Das ist doch in Ordnung.«
Bildete Doris sich das ein oder klang Angelikas Stimme gönnerhaft?
»Manchmal beneide ich die erfolgreichen Singlefrauen. Sie können machen, was Sie wollen, während Doris und ich dauernd Rücksichten nehmen müssen. Es gibt wirklich Zeiten, in denen ich sofort mit Ihnen tauschen würde. Du doch auch, Doris. Oder?«
»Eigentlich nicht.« Doris wurde dieses Gespräch langsam peinlich. Sie sah auf die Uhr und stellte erleichtert fest, dass sie gleich zur Anwendung musste. Angelika ignorierte ihre Antwort einfach und fragte weiter: »Was machen Sie denn beruflich?«
»Ich arbeite in einem Verlag.« Anke antwortete sofort, und ihrer Miene konnte man nicht ansehen, was sie gerade dachte. Pokerface.
Doris dachte sehnsüchtig an die Ruhe, in der gleich ihre Behandlung stattfinden würde.
»Im Verlag? Das ist ja interessant. Ich komme ja gar nicht zum Lesen, ich habe einfach immer zu viel um die Ohren. Aber Doris liest doch auch so viel. Hast du nicht sogar in Lüneburg diesen Literaturkreis?«
Angelika merkte anscheinend nicht einmal, dass Doris immer einsilbiger wurde.
»Als Kind habe ich auch gern gelesen. Aber in den letzten Jahren nicht mehr. So, ich muss jetzt mal aufstehen, ich habe gleich einen Termin bei diesem tollen Friseur im Spa. In unserem Alter muss man was tun, graue Haare kriegen wir später.«
Anke spürte den erschrockenen Blick auf ihre Frisur, bevor sie ihn sah. Doch Angelika versuchte noch, die Kurve zu kriegen. »Wobei Ihnen dieses Grau steht, wirklich, es ist ja so ein gleichmäßiger Ton. Also, ich wünsche noch viel Spaß, wir sehen uns bestimmt noch.«
Sie sahen ihr nach, wie sie in ihrem fleckigen Bademantel mit schnellen Schritten dem Eingang zustrebte.
»Unmöglich«, sagte Doris. »Hör bloß nicht auf diesen Schwachsinn mit der Haarfarbe. Ich weiß gar nicht, was ihr einfällt, zumal sie sowieso älter ist als wir und auch so wirkt.«
»Doris, du brauchst mich nicht zu beschützen, es gibt wirklich keinen Grund. Ich nehme Frauen wie die sowieso nicht ernst.«
»Was meinst du mit ›Frauen wie die‹?«
»Na ja.« Anke bemühte sich, ihre Stimme nicht bitter klingen zu lassen. »Diese selbstzufriedenen Frauen, die irgendwann mal einen Mann geheiratet haben, der inzwischen zu ihrem Besitz geworden ist. Die sich keine Gedanken mehr über ihr Leben machen, keine finanziellen Probleme haben und schöne Urlaube organisieren, damit das Familienleben nach außen funktioniert. Und dabei so tun, als wäre das die allein selig machende Art zu leben für eine Frau.«
Doris war blass geworden. Sie schluckte, strich sich eine |143|Haarsträhne hinters Ohr und sah Anke lange an. »Ich bin doch auch so«, sagte sie leise. »Und ich hasse es. Vieles war gar nicht so geplant, es hat sich einfach so ergeben. Ich beneide dich und Katja um eure Jobs, um eure Selbstbestimmung. Ich bin doch nur noch die Frau von Torsten und die Mutter meiner Söhne. Glaub mir, Anke, ich wollte damals viel mehr. Ich wollte Doris Goldstein sein, Grafikerin oder Illustratorin. Stattdessen bin ich Frau Wagner, dieser Doppelname ist doch Quatsch, in Lüneburg oder in der Firma heiße ich doch nur so wie mein Mann. Ich habe inzwischen das Gefühl, mir nur die Zeit zu vertreiben und darauf zu warten, dass irgendetwas passiert.« Sie zwinkerte die aufsteigenden Tränen weg.
Anke beugte sich vor. »Hey, ich meinte nicht dich. Manchmal geht mein Lebensfrust mit mir durch. Ich glaube, mir fehlen auch schon die Hormone, ich werde sehr schnell so wütend. Tut mir leid.«
Doris versuchte ein Lächeln und wischte sich mit dem Bademantelärmel über die Augen. »Schon gut. Du hast ja …«
»Was ist denn mit euch los?« Katjas tiefe Stimme zerschnitt die bleierne Stimmung. »Ich war doch gar nicht so lange weg. Kerner? Goldstein? Über was, zur Hölle, redet ihr hier? Ihr habt für schwere Themen gar keine Zeit, Doris kriegt jetzt Pediküre und neuen Nagellack. Die Dame heißt Cindy und wartet auf dich.«
Zehn Minuten später saß Doris mit geschlossenen Augen auf einem bequemen Sessel und ließ ihre Füße in einem Sprudelbad aufweichen. Das leise Blubbern, das gedämmte Licht, die beruhigende Hintergrundmusik und die Wärme unter der Decke machten sie schläfrig und ihre Atemzüge wurden |144|langsamer. Was war das nur für ein Gespräch gewesen? Anke hatte doch gar nichts Schlimmes gesagt und sie überhaupt nicht gemeint, sie hatte lediglich über Angelika gesprochen. Aber Doris war in dem Moment klar geworden, warum sie diese Angelika immer unsympathisch gefunden hatte: Die war genau so, wie sie, Doris, nie hatte werden wollen. Und trotzdem sah sie sich auf dem Weg dorthin.
Seit Sascha und Moritz ausgezogen waren, bestanden ihre Aufgaben aus Friseurbesuchen, Einkaufen, Telefonaten, Essenseinladungen und Warten auf Torstens Rückkehr aus der Firma.
Kein Mensch brauchte Doris Goldstein-Wagner wirklich. Und ihr Gehirn dümpelte nur noch vor sich hin. Es wurde ja auch nicht gebraucht.
Cindy, die Kosmetikerin, störte sie in ihren Gedanken.
»So, Frau Goldstein-Wagner, dann wollen wir mal.« Sie breitete ein Handtuch aus und hob Doris’ Füße aus dem Sprudelbad.
Während Cindy erst frottierte und sich danach das Pediküre-Besteck zurechtlegte, fragte sie: »Sie waren doch schon öfter hier, oder? Ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor. Ich finde es ja immer schön, wenn Stammgäste kommen.«
»Ja, ja. Aber, entschuldigen Sie bitte, ich habe im Moment überhaupt keine Lust, mich zu unterhalten.«
Entspannt schloss sie die Augen. Cindys leicht beleidigte Miene bekam sie schon nicht mehr mit.
Eines der guten Dinge beim Älterwerden ist zweifelsohne die Tatsache, dass man nicht mehr von jedem gemocht werden muss. Natürlich war es auch in den vergangenen Jahrzehnten egal gewesen, ob man das Herz einer Kosmetikerin eroberte oder nicht, aber Doris hatte es zumindest immer |145|versucht. Wenn sie schon nichts richtig auf die Reihe brachte, sollte man wenigstens über sie sagen, dass sie eine ungemein nette Person sei, immer freundlich, immer höflich, immer zuvorkommend.
Im Geist hörte sie Ankes Stimme: »Goldstein, ich bitte dich. Es gibt ja wohl Wichtigeres im Leben, als zur Kundin des Monats gekürt zu werden.«
Aber was könnte das für sie sein?
Es war schon seltsam: Seit sie mit Katja und Anke in diesem Hotel war, kamen diese Gedanken. Diese Fragen danach, wie das eigene Leben tatsächlich lief. Ob das nur mit diesem Geburtstag zusammenhing oder damit, dass die beiden alten Freundinnen wussten, wie sie mal gewesen war und was sie mit ihrer Zukunft vorgehabt hatte?
Wie viele Stunden hatten sie zusammengesessen, fürchterlich aromatisierte Tees aus Tonkannen getrunken und von ihren Plänen und Wünschen erzählt? »Black Current« war damals Doris’ Lieblingsteesorte gewesen, Schwarze Johannisbeere. Heute war es Weißer Burgunder. Wann hatte sie angefangen, jeden Tag Alkohol zu trinken? Wann war das abendliche Glas Wein zur Belohnung ein Trostpflaster geworden?
Cindy hatte die Arbeit am rechten Fuß beendet und bat kurz angebunden um den linken. Doris streckte ihn ihr mit einem freundlichen Lächeln, aber schweigend entgegen. Cindy hob kaum den Kopf und fuhr mit ihrer Behandlung fort.
Nach einem kurzen Moment lehnte Doris sich wieder zurück. Wo war sie stehengeblieben? Beim Wein, aber das gehörte nicht hierher. Darüber musste sie sich auch jetzt keine Gedanken machen, sie war schließlich keine Alkoholikerin, |146|heute hatte sie noch gar nichts getrunken und gestern auch nicht besonders viel. Und wie sollte sie auch sonst ihr langweiliges Leben ein bisschen aufpeppen?
Morgens stand sie mittlerweile gar nicht mehr mit Torsten zusammen auf. Nicht, weil sie das Frühstücken mit ihm nicht mochte, sondern weil die Tage sonst noch länger wurden. Torsten fand das völlig in Ordnung. Was hatte er neulich zu ihr gesagt, als sie versucht hatte, sich früh aus dem Bett zu quälen und daran kläglich gescheitert war?
»Bleib doch liegen, Schatz. Du hast doch heute nichts vor. Schlaf dich aus. Bis heute Abend. Ich bin pünktlich.«
Sie hatte immer noch an die Decke gestarrt, als die Tür hinter ihm schon ins Schloss gefallen war. Sie hatte ja nicht nur heute nichts vor, sie hatte fast nie etwas vor. Und genau das war ihr Problem. Das wurde mit Weißwein zwar etwas kleiner, es verschwand aber nicht. Und sie konnte es jetzt auch nicht länger leugnen.
Inzwischen hatte Doris schön geschnittene und gefeilte Fußnägel. Cindy hatte die Foltergeräte weggelegt und massierte eine Creme auf die Füße.
»Sie wollten auch Lack?«
»Ja, bitte. Mit Unterlack.« Doris bemühte sich um einen verbindlichen Ton. Zwischen Herz gewinnen und Unfreundlichkeit gab es ja auch noch etwas Drittes. Cindy lächelte kurz. »Das mache ich immer.«
Doris klickte sich wieder weg und blickte an Cindys Kopf vorbei zum Fenster. Die Jalousien waren so gestellt, dass man immer noch den Blick auf die Ostsee hatte.
An diesem Strand hatten Doris und Torsten die ersten |147|Familienurlaube verbracht. Natürlich nicht in diesem teuren Hotel, sondern in einer Ferienwohnung. Es waren schöne Sommer gewesen, so schön, dass sie einige Jahre immer wieder hier gebucht hatten. Die letzten Ostseeferien aber waren ewig her, damals war Sascha vierzehn oder fünfzehn, mitten in der Pubertät und schwer in ein Mädchen aus Rostock verknallt, das er am Strand kennengelernt hatte. Nach den Ferien hatte er wochenlang Liebeskummer gehabt. Doris hatte es damals beeindruckt, wie ernst ihr Sohn die Liebe nahm, dass er fähig war, Gefühle zu zeigen, und litt mit ihm mit.
Ob er jetzt eine Freundin hatte? Ihr Hals schnürte sich zu wie jedes Mal, wenn sie an Sascha dachte. Er hatte so viel von ihr und so wenig von Torsten. Zu viel Gefühl, zu viel Zweifel, zu wenig Lässigkeit und zu wenig Spontaneität.
Doris hatte irgendwo gelesen, dass man sich am meisten über die Unzulänglichkeiten seiner Kinder ärgert, die man selbst hat. Umgekehrt natürlich auch. Und deshalb hatte es wohl so oft zwischen Doris und ihrem Ältesten den heftigsten Funkenschlag gegeben. Selbst Torsten konnte da mit seiner Ruhe kaum etwas ausrichten, und so war es schließlich zu dem finalen Krach gekommen. Es war zwei Jahre her und noch immer konnte Doris sich nicht eingestehen, diesen Fehler gemacht zu haben, es tat noch zu weh. Und Sascha vermied den Kontakt mit ihr, wo es nur ging. Wenn Doris ganz ehrlich war, hätte sie sich an seiner Stelle genauso verhalten. Sie hatte Schuld an dem Zerwürfnis, das musste sie endlich begreifen.
»Was möchten Sie denn für eine Farbe haben?«
Cindys helle Stimme unterbrach Doris’ Gedanken. Sie zog sich an der Armlehne nach vorn, um das Nagellacksortiment |148|zu betrachten. Cindy musterte erst sie, dann die kleinen Flaschen und sagte: »Sie sind ein Pink-Typ. Was halten Sie von diesem Ton?«
Ein Pink-Typ? Doris glaubte, sich verhört zu haben. Wenn sie irgendetwas hasste, dann waren es diese Mädchenfarben. Sie war doch nicht Angelika, die nur Pastellfarben trug, weil das angeblich jünger und weiblicher macht. Sie doch nicht.
»Was hat meine Freundin denn genommen? Frau Severin?«
Cindys Hand griff zu einem Fläschchen und hielt es hoch. »Diesen. Die Nummer 505. Das ist die neue Trendfarbe. Der geht bei Ihnen natürlich auch. So einen Schlamm-Ton, tragen jetzt viele.«
»Den will ich auch.« Zufrieden lehnte Doris sich wieder zurück. »Der ist gut.«
›Von wegen Pink‹, dachte sie und sah zu, wie der trendige Farbton ihre Füße veränderte. Über die Frage, was für ein Typ sie wirklich war, müsste sie mal nachdenken.