Kein Betreff
Guten Morgen Leo, ich habe nicht geschlafen. Soll ich heute Abend wirklich zu Ihnen kommen?
Fünf Minuten später
AW:
Guten Morgen, Emmi. Schön, dass wir die schlaflose Nacht geteilt haben. Ja, kommen Sie zu mir. Ist Ihnen 19 Uhr recht? Dann können wir noch eine Weile auf der Terrasse sitzen.
Zwei Stunden später
RE:
Leo, Leo, Leo, angenommen, der Abend ist schöner, als Sie erwarten. Angenommen, Sie verlieben sich in die Frau, die Sie sehen, in die Mimik, die ihre Ironie begleitet, in den Ton ihrer Worte, in die Bewegungen ihrer Hände, in die Augen, in die Haare (Busen klammere ich aus), in ihr rechtes Ohrläppchen, in ihr linkes Schienbein, ganz egal. Angenommen, Sie spüren, dass uns beide doch viel mehr verbindet als der Internet-Server, dass es kein Zufall gewesen sein konnte, dass wir aneinandergeraten sind. – Leo, kann es nicht sein, dass Sie mich wieder sehen wollen? Kann es nicht sein, dass Sie mir weiterhin schreiben wollen, auch aus Boston? Kann es nicht sein, dass Sie mit mir zusammensein wollen? Kann es nicht sein, dass Sie mit mir zusammen bleiben wollen? Kann es nicht sein, dass Sie mit mir leben wollen?
Zehn Minuten später
AW:
EMMI, SIE SIND NICHT FREI FÜR EIN LEBEN MIT MIR.
35 Minuten später
RE:
Angenommen, ich wäre frei für ein Leben mit Ihnen.
45 Minuten später
RE:
Leeeeeo, fällt Ihnen keine Antwort ein?
Drei Minuten später
AW:
Liebe Emmi, angenommen, das ist mir exakt eine Annahme zu viel. Angenommen, ich kann einfach nicht annehmen, dass Sie frei sind, aus dem einfachen Grund, weil Sie es nämlich weder sind noch sein werden. Wenn Sie sich an diesem Abend von Ihrer Familie »freinehmen«, frei für mich, dann ist das schön und gut für mich (und hoffentlich auch für Sie). Aber es heißt noch lange nicht, dass Sie frei für mich sind. Ich bin im Annehmen von Annahmen sonst gar nicht so schlecht. Aber diese Annahme, so faszinierend sie klingt, kann ich beim besten Willen nicht annehmen.
Darf ich Ihnen bei dieser Gelegenheit auch einmal eine Frage stellen? – Ich weiß, Sie mögen solche Fragen nicht. Aber ich halte diese hier für relativ relevant. Also: Was erzählen Sie eigentlich Ihrem Mann, wo Sie heute Abend hingehen?
Neun Minuten später
RE:
Leo, Sie können nicht aufhören damit!!! Ich werde ihm sagen: Ich treffe einen Freund. Er wird fragen: Kenne ich ihn? Ich werde antworten: Ich glaube nicht, ich habe kaum von ihm erzählt. Dann werde ich noch sagen: Wir haben viel zu plaudern, es kann spät werden. Er wird sagen: Amüsiere dich gut.
20 Minuten später
AW:
Und wenn Sie erst in der Früh nach Hause kommen? Was sagt er dann?
Drei Minuten später
RE:
Sie halten es für möglich, dass ich erst in der Früh nach Hause komme? Ich erkenne völlig neue Züge an Ihnen.
Acht Minuten später
AW:
Wie sagt Emmi Rothner? – »Im Nachhinein erlebt man oft Möglichkeiten, die von vornherein niemals welche gewesen wären.« Kurzum: Alles ist eine Möglichkeit. Langsam glaube ich auch schon daran.
Vier Minuten später
RE:
Wow, spannend. Ich mag das, wenn Sie so reden. (Vielleicht, weil es meine Worte sind.) Übrigens: Nur noch vier Stunden.
Soll ich Ihnen verraten, welcher der drei Emmis aus dem Kaffeehaus Sie die Tür öffnen werden?
Drei Minuten später
AW:
Emmi, nein, nicht verraten! Im Gegenteil. Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie dürfen mich nicht auslachen, ich meine es ernst. Ich würde gerne die Türe angelehnt lassen. Sie kommen herein. Sie treten vom Vorraum in das erste Zimmer links. Es ist verdunkelt. – Ich umarme Sie, ohne Sie zu sehen. Ich küsse Sie blind. Ein Kuss. Nur ein einziger Kuss!!
50 Sekunden später
RE:
Und dann soll ich wieder gehen?
Drei Minuten später
AW:
Aber nein! Ein Kuss – und dann ziehen wir die Jalousien hoch, dann sehen wir, wen wir geküsst haben. Dann drücke ich Ihnen ein Glas Wein in die Hand und dann stoßen wir auf uns an. Und dann werden wir weitersehen.
Eine Minute später
RE:
Für mich ein Glas Whiskey! Ansonsten bin ich mit Ihrem rituellen Begrüßungsprogramm einverstanden. Es ist im Grunde nichts anderes als die Augenbinden-Nummer, nur ohne Augenbinde, also etwas romantischer. Klar, das machen wir! Äh, machen wir es wirklich? Das ist doch Wahnsinn, oder?
40 Sekunden später
AW:
Klar, das machen wir wirklich!
RE:
Aber Leo, riskant ist es schon. Ich hab ja keine Ahnung, ob ich mag, wie Sie küssen. Wie küssen Sie? Eher fest oder eher weich, eher trocken oder eher flüssig? Wie präsentieren sich Ihre Zähne, scharf oder stumpf? Wie offensiv und gelenkig ist Ihre Zunge? Fühlt sie sich eher wie Hartplastik oder wie Schaumgummi an? Haben Sie die Augen beim Küssen offen oder geschlossen? (Okay, das ist im Falle der Blindverkostung egal.) Was machen Sie mit Ihren Händen? Greifen Sie mich an? Wo? Wie fest? Sind Sie ganz still oder atmen Sie laut oder machen Sie Geräusche mit dem Mund? Also, Leo, sagen Sie: Wie küssen Sie?
Drei Minuten später
AW:
Ich küsse so ähnlich, wie ich schreibe.
50 Sekunden später
RE:
Das war jetzt zwar mächtig angeberisch, aber es klingt nicht schlecht, Leo. Aber, übrigens: Sie schreiben äußerst unterschiedlich!
45 Sekunden später
AW:
Ich küsse auch äußerst unterschiedlich.
Vier Minuten später
RE:
Wenn Sie mir versprechen, dass Sie so küssen, wie Sie mir gestern und heute geschrieben haben, dann riskiere ich es!
AW:
Dann riskieren Sie es!
Zwölf Minuten später
RE:
Und wenn wir nach dem Kuss mehr wollen?
40 Sekunden später
AW:
Dann wollen wir mehr.
50 Sekunden später
RE:
Tun wir dann auch mehr?
35 Sekunden später
AW:
Ich glaube, das werden wir in der Situation ganz genau wissen.
Zwei Minuten später
RE:
Hoffentlich weiß es nicht nur einer von uns.
Vier Minuten später
AW:
Wenn es einer weiß, weiß es der andere auch. Übrigens Emmi, nur noch knapp zwei Stunden. Wir sollten dann langsam zu schreiben aufhören und uns auf den Dimensionssprung vorbereiten. Ich gebe zu: Ich bin wahnsinnig aufgeregt.
Acht Minuten später
RE:
Was soll ich anziehen?
AW:
Das überlasse ich Ihrem Geschmack, Emmi.
55 Sekunden später
RE:
Ich würde es aber gerne Ihrer Fantasie überlassen, Leo.
Zwei Minuten später
AW:
Meiner Fantasie sollten Sie im Augenblick lieber nichts überlassen. Sie geht gerade ein bisschen durch mit mir. Und irgendetwas sollten Sie ja schon anziehen, denke ich.
Dreieinhalb Minuten später
RE:
Soll ich etwas anziehen, das die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass wir nach dem Begrüßungskuss die Jalousien nicht gleich wieder hochziehen, weil keiner von uns beiden eine Hand freihat?
40 Sekunden später
AW:
Wenn Ihnen die Antwort nicht zu knapp ist: JA!
Eineinhalb Minuten später
RE:
Ein »JA!« auf eine Frage, die nach einem »JA!« verlangt, kann mir nie zu knapp sein. Dann werde ich mich jetzt »herrichten«, wie man so schön sagt. Falls mein Herz den Brustkorb nicht durchschlägt, sehen wir uns in eineinhalb Stunden bei Ihnen, Leo.
AW:
Sie läuten an der Fernsprechanlage bei »Top 15«. Im Lift geben Sie 142 ein, dann hinauf ins Dachgeschoss. Dort gibt es ohnehin nur eine Tür. Sie ist angelehnt. Dann links ins Zimmer, einfach der Musik nach. Ich freue mich wahnsinnig auf Sie!
50 Sekunden später
RE:
Ich mich auch auf Sie, Leo. Ich mich auch auf DICH, Leo. Ich bin die Emmi. Und ich küsse niemand Fremden im Finsteren, mit dem ich nicht per Du bin. Du darfst hiermit ebenfalls DU zu mir sagen, Leo. Ich bin übrigens 34, zwei Jahre jünger als du, wenn’s gestattet ist.
Zwei Minuten später
AW:
Emmi, ich glaube, ich muss mit dir noch einmal ausführlich über »Boston« reden. Du hast ein völlig falsches Bild von Boston, beziehungsweise von mir und Boston. Mit Boston ist es ganz anders, als du glaubst. Ich muss dir das erklären. Es gibt so viel zu erklären! Es gibt so viel zu verstehen! Verstehst du?
Eineinhalb Minuten später
RE:
Langsam, langsam, Leo. Eines nach dem anderen. Boston hat Zeit. Erklären hat Zeit. Verstehen hat Zeit. Jetzt küssen wir uns erst einmal. Bis gleich, mein Lieber!
45 Sekunden später
AW:
Bis gleich, meine Liebe!