Kein Betreff

Südwind – und ich wälze mich dennoch im Bett herum. Ein einziger Buchstabe von Ihnen, und ich würde sofort einschlafen. Gute Nacht, mein lieber Vonsichselbsterholer.

 

Zwei Tage später

Betreff: Meine letzte Mail

Meine letzte Mail ohne Gegenmail! Leo, das ist echt brutal, was Sie da machen! Bitte hören Sie auf damit, es tut höllisch weh. Alles ist erlaubt, alles außer schweigen.

 

Am nächsten Tag

Betreff: Gegenmail

Liebe Emmi, ich habe nur ein paar Stunden gebraucht, um mich zu einer Entscheidung durchzuringen, die mein Leben verändern wird. Aber ich habe neun Tage gebraucht, um Ihnen die Konsequenzen mitzuteilen. Emmi, ich übersiedle in wenigen Wochen für mindestens zwei Jahre nach Boston. Ich werde dort eine Projektgruppe an der Universität leiten. Der Job ist sowohl aus wissenschaftlicher als auch aus finanzieller Sicht äußerst reizvoll. Meine Lebenssituation erlaubt es mir, so spontan zu sein. Es gibt wenige Dinge, die ich hier aufgeben muss. Offenbar liegt es in unserer Familie, irgendwann einmal den Kontinent zu wechseln. Fehlen werden mir ein paar enge Freunde. Fehlen wird mir meine Schwester Adrienne. Und fehlen wird mir: Emmi. Ja, die wird mir ganz besonders fehlen.

Ich habe noch eine zweite Entscheidung getroffen. Sie klingt so hart, dass mir die Finger zittern, wenn ich sie Ihnen jetzt schriftlich mitteilen muss, gleich nach dem Doppelpunkt: Ich beende unseren E-Mail-Kontakt. Emmi, ich muss Sie aus dem Kopf bekommen. Sie können nicht mein erster und mein letzter Gedanke jedes Tages bis ans Ende meines Lebens sein. Das ist krank. Sie sind »vergeben«, Sie haben Familie, Sie haben Aufgaben, Herausforderungen, Verantwortlichkeiten. Sie hängen sehr daran, es ist die Welt, in der sie glücklich sind, das haben Sie mir deutlich zu verstehen gegeben. (Mit hochprozentigen Sehnsuchts-Whiskey-Mischungen schreibt man sich schon einmal eine Unglücksstimmung herbei, wie in Ihrer letzten langen E-Mail, die ist aber spätestens beim Aufwachen am Tag danach wieder weg.) Ich bin überzeugt davon, dass Ihr Mann Sie liebt, wie man eine Frau nach so vielen Jahren Zusammensein nur lieben kann. Was Ihnen fehlt, dürfte lediglich ein bisschen außereheliches Abenteuer im Kopf sein, etwas Kosmetik für Ihren abgeschminkten Gefühlsalltag. Darauf gründet sich Ihre Zuneigung zu mir. Darauf stützt sich unsere Schreib-Beziehung. Sie stiftet vermutlich mehr Verwirrung, als sie auf Dauer bereichernd für Sie wäre.

Nun zu mir: Emmi, ich bin 36 (so, jetzt wissen Sie’s). Ich habe nicht vor, mit einer Frau durchs Leben zu gehen, die nur in der Mailbox frei für mich ist. Boston gibt mir die Gelegenheit, neu zu beginnen. Ich habe plötzlich wieder Lust, eine Frau auf stinkkonservative Art kennen zu lernen: Zuerst sehe ich sie, dann höre ich ihre Stimme, dann rieche ich sie, dann küsse ich sie vielleicht. Und irgendwann später werde ich ihr wohl auch einmal eine E-Mail schreiben. Der umgekehrte Weg, den wir beschritten haben, war und ist wahnsinnig aufregend, aber er führt nirgendwohin. Ich muss meine Blockade im Kopf lösen.

Monatelang habe ich in jeder schönen Frau, die mir auf der Straße begegnet ist, Emmi gesehen. Aber keine von ihnen konnte sich mit der wirklichen messen, keine konnte mit ihr in Konkurrenz treten, denn die Echte hatte ich fern jeder Öffentlichkeit, gesellschaftlich isoliert, abgeschieden, ganz für mich allein im Computer. Dort holte sie mich von der Arbeit ab. Dort wartete sie vor, nach oder statt dem Frühstück auf mich. Dort wünschte sie mir am Ende eines langen gemeinsamen Abends gute Nacht. Oft genug verweilte sie bis zum Morgengrauen bei mir, im Zimmer, im Bett, steckte mit mir insgeheim unter einer Decke. Doch letztlich blieb sie in jeder Phase unerreichbar, uneinnehmbar für mich. Ihre Bilder waren so zart und zerbrechlich, dass sie meinem realen Blick auf sie nicht standgehalten hätten, ohne sofort Risse und Sprünge zu bekommen. Diese künstlich entstandene Emmi erschien mir so filigran, dass sie in sich zusammengefallen wäre, hätte ich sie auch nur einmal echt berührt. Physisch war sie nicht mehr als die Luft zwischen den Buchstabentasten, mit denen ich sie mir Tag für Tag her-beischrieb. Einmal hineinpusten – und fort wäre sie gewesen. Ja, Emmi, für mich ist es so weit: Ich werde die Mailbox schließen, ich werde in meine Tastatur hineinpusten, ich werde den Bildschirm herunterklappen. Ich werde mich von Ihnen verabschieden. Ihr Leo.

 

Am nächsten Tag

Betreff: So ein Abschied?

Das war Ihre letzte Mail? Das gibt es nicht! Ich verliere hiermit den Glauben an die letzte Mail. Leo, hallo! Ich erwarte mir keine humoristischen Glanzleistungen, wenn Sie sich aus dem Staub machen wollen. Aber was soll denn diese bittertragische Posse? Was ist das für ein Abschied? Wie muss ich mir das Gesicht dazu vorstellen, wenn Sie melodramatisch in die Tasten pusten? Ja, okay, ich hab mich ein bisschen gehen lassen in letzter Zeit. Ich habe auch bereits begonnen, herumzusülzen. Mein Gemüt, an sich ein Fliegengewicht, war manchmal schwer wie ein Betonsack. Ja, ich habe unsere Riesenpackung elektronische Post mit mir herumgetragen. Ich hab mich ein bisschen verliebt in Mister Anonym, das ist schon richtig. Wir beide haben einander nicht mehr so recht aus den Köpfen bekommen, da sind wir uns nichts schuldig geblieben. Aber es besteht kein Grund für uns, nun Tristan und Isolde auf virtuell daraus zu machen.

Reisen Sie nach Boston, so reisen Sie nach Boston. Brechen Sie den E-Mail-Kontakt zu mir ab, dann brechen Sie ihn ab. Aber brechen Sie ihn nicht SO ab!!! Das ist sowohl schreiberisch als auch emotionell unter Ihrem Niveau und unter meiner Würde, lieber Freund. In die Tasten pusten, also Leeeeo! Was für ein Kitsch! Muss ich denken: »So hat der Typ die ganze Zeit zu mir gesprochen?«

Bitte beweisen Sie mir, dass das nicht Ihre letzte Mail an mich war. Ich wünsche mir zum Abschluss etwas Positives, etwas Überraschendes, einen vollmundigen Abgang, eine gute Pointe. Sagen Sie zum Beispiel: »Und abschließend schlage ich Ihnen vor, dass wir uns treffen!« – Das wäre wenigstens ein witziges Ende. (So, und jetzt gehe ich heulen, wenn Sie erlauben.)

Fünf Stunden später

AW:

Liebe Emmi, und abschließend schlage ich Ihnen vor, dass wir uns treffen!

 

Fünf Minuten später

RE:

Aber nicht im Ernst.

 

Eine Minute später

AW:

Doch. Damit würde ich nicht spaßen, Emmi.

 

Zwei Minuten später

RE:

Was soll ich davon halten, Leo? Ist das eine Laune? Hatte ich Ihnen ein gutes Stichwort geliefert? Habe ich Sie mit meinen Worten vom Melodramatiker zum Realsatiriker bekehrt?

 

Drei Minuten später

AW:

Nein, Emmi, das ist keine Laune, das ist gut überlegte Absicht. Sie sind mir einfach nur zuvorgekommen. Also noch einmal: Emmi, ich würde unsere E-Mail-Beziehung gerne mit einem Treffen ausklingen lassen. Es soll eine einmalige Begegnung sein, bevor ich nach Boston übersiedle.

 

50 Sekunden später

RE:

Einmalig treffen? Was versprechen Sie sich davon?

 

Drei Minuten später

AW:

Erkenntnis. Erleichterung. Entspannung. Klarheit. Freundschaft. Auflösung eines herbeigeschriebenen, aber doch unbeschreiblich überdimensionierten Persönlichkeitsrätsels. Beseitigung von Blockaden. Ein gutes Gefühl danach. Das beste Rezept gegen Nordwind. Einen würdigen Abschluss einer aufregenden Lebensphase. Die simple Antwort auf tausend komplizierte, noch offene Fragen. Oder, wie Sie selbst es gesagt haben: »Wenigstens ein witziges Ende.«

 

Fünf Minuten später

RE:

Vielleicht wird es aber gar nicht witzig.

 

45 Sekunden später

AW:

Das hängt von uns beiden ab.

 

Zwei Minuten später

RE:

Von uns beiden? Im Moment sind Sie da sehr alleine, Leo. Ich habe noch keineswegs »Ja« zur Last-Minute-Begegnung gesagt und bin, ehrlich gestanden, derzeit auch ziemlich weit davon entfernt. Ich möchte erst einmal mehr über dieses skurrile »Thefirst-date-must-be-the-last-date«-Treffen wissen. Wo wollen Sie mich treffen?

 

55 Sekunden später

AW:

Wo Sie wollen, Emmi.

 

45 Sekunden später

RE:

Und was machen wir?

 

40 Sekunden später

AW:

Was wir wollen.

 

35 Sekunden später

RE:

Was wollen wir?

 

30 Sekunden später

AW:

Das wird sich zeigen.

 

Drei Minuten später

RE:

Ich glaube, ich will lieber E-Mails aus Boston. Da muss sich nicht erst zeigen, ob wer von uns beiden was will. Da weiß zumindest ich schon, dass ich was will und was ich will: eben E-Mails aus Boston.

 

Eine Minute später

AW:

Emmi, ich schreibe Ihnen keine E-Mails aus Boston. Ich möchte das abschließen, ehrlich. Ich bin überzeugt davon, dass es gut für uns beide sein wird.

 

50 Sekunden später

RE:

Und wie lange gedenken Sie mir noch zu mailen?

 

Zwei Minuten später

AW:

Bis zu unserem Treffen. Außer Sie sagen, Sie wollen sich definitiv nicht mit mir treffen. Dann wäre das quasi so eine Art Schlusssatz.

 

Eine Minute später

RE:

Das ist Erpressung, Meister Leo! Außerdem können Sie ziemlich grob formulieren, lesen Sie einmal Ihre letzte E-Mail. Ich glaube nicht, dass ich den Typ, der so spricht, treffen will. Gute Nacht.

 

Am nächsten Morgen