Drei Tage später

Betreff: Restfragen

Hallo Leo, von sich aus melden Sie sich also nicht mehr. Antworten Sie mir noch? Wie lange noch? Wann fliegen Sie nach Boston? Freundlichst, Emmi.

 

Neun Stunden später

AW:

Guten Abend, Emmi, bei mir geht es leider drunter und drüber. Ich stecke mitten in den Vorbereitungen für die Übersiedlung nach Amerika. Ich fliege am 16. Juli, also morgen in zwei Wochen. Ich sage es noch einmal: Es wäre schön, wenn wir uns bis dahin sehen könnten. Wenn Sie nicht sicher sind, ob Sie selbst es wollen, dann tun Sie es bitte für mich. Ich wünsche es mir sehr! Sie würden mir eine Riesenfreude bereiten, wenn Sie ja sagen. Ich weiß, dass ich mich nachher besser fühlen werde. Und ich bin sicher, dass es auch Ihnen nach dem Treffen gut gehen wird.

 

Zwölf Minuten später

RE:

Leo, verstehen Sie nicht? Mir kann es nach dem Treffen und in Anbetracht der Umstände, dass es ein »Abschiedstreffen« sein soll, nur gut gehen, wenn sich herausstellt, dass Sie anders sind, als Sie es mir seit einem Jahr schriftlich vermitteln (sieht man von einigen Ihrer letzten grausam sachlichen E-Mails ab). Wenn Sie also »anders« sind, dann wird das Treffen zur großen Enttäuschung und es wird mir nachher nur deshalb gut gehen, weil es ohnehin das letzte Treffen war. Wenn Sie also so sicher sind, dass es mir nach dem Treffen gut gehen wird, dann sagen Sie mir damit indirekt: Das Treffen selbst wird enttäuschend für mich sein. Und da frage ich Sie nun zum zweiten Mal: Warum soll ich mich zu einem enttäuschenden Treffen treffen?

 

Acht Minuten später

AW:

Ich glaube, das Treffen muss für Sie keineswegs enttäuschend sein, damit Sie sich nachher besser fühlen als zum Beispiel – heute.

 

Eine Minute später

RE:

Heute? Wie wollen Sie wissen, wie ich mich heute fühle?

 

50 Sekunden später

AW:

Sie fühlen sich heute nicht gut, Emmi.

 

30 Sekunden später

RE:

Und Sie?

 

35 Sekunden später

AW:

Auch nicht gut.

 

25 Sekunden später

RE:

Warum Sie nicht?

 

45 Sekunden später

AW:

Aus dem gleichen Grund wie Sie.

 

50 Sekunden später

RE:

Aber es ist Ihre Schuld, Leo. Keiner zwingt Sie, aus meinem Leben zu verschwinden.

 

40 Sekunden später

AW:

Doch!

 

40 Sekunden später

RE:

Wer?

 

Acht Minuten später

RE:

Wer?

 

Am nächsten Morgen

Betreff: Ich

Ich!

Ich zwinge mich. Ich und die Vernunft.

 

Eineinhalb Stunden später

RE:

Und wer will sich mit mir davor noch einmal treffen? Auch Sie und die Vernunft? Oder Sie und die Unvernunft? Oder die pure Unvernunft? Oder (die schlimmste Variante): die reine Vernunft?

 

20 Minuten später

AW:

Ich, die Vernunft, die Gefühle, die Hände, die Füße, die Augen, die Nase, die Ohren, der Mund, alles. Alles von mir will sich mit Ihnen treffen, Emmi.

 

Drei Minuten später

RE:

Der Mund?

 

15 Minuten später

AW:

Ja klar, zum Reden.

 

50 Sekunden später

RE:

Ah so.

 

Zwei Tage später

Betreff: Okay

Hallo Leo, von mir aus, riskieren wir es, treffen wir uns, ist auch schon egal. Wann haben Sie diese Woche Zeit?

 

Eine halbe Stunde später

AW:

Da richte ich mich ganz nach Ihnen. Mittwoch, Donnerstag, Freitag?

 

Eine Minute später

RE:

Morgen.

 

Drei Minuten später

AW:

Morgen? Gut, morgen. Vormittags, mittags, nachmittags, abends?

 

Eine Minute später

RE:

Abends. Wo?

 

Zehn Minuten später

AW:

In einem Kaffeehaus Ihrer Wahl. In einem Restaurant Ihrer Wahl. In einem Museum Ihrer Wahl. Zu einem Spaziergang Ihrer Wahl. Auf einer Parkbank Ihrer Wahl. Auf einem Wall Ihrer Wahl. Sonst an irgendeinem Ort Ihrer Wahl.

 

50 Sekunden später

RE:

Bei Ihnen daheim.

 

Acht Minuten später

AW:

Warum?

 

40 Sekunden später

RE:

Warum nicht?

 

Eine Minute später

AW:

Was haben Sie vor?

 

55 Sekunden später

RE:

Was haben SIE vor, Leo? SIE wollten das Abschiedstreffen, wenn ich Sie erinnern darf.

 

35 Minuten später

AW:

Ich habe überhaupt nichts vor. Ich will nur die Frau sehen, die mich monatelang begleitet hat, die mein Leben geprägt hat. Ich will mehr von ihrer angenehmen Stimme hören, mehr als »Whiskey« und »Zehennägel«. Ich möchte ihr auf die Lippen schauen, wenn sie sagt: »Was haben SIE vor, Leo? SIE wollten das Abschiedstreffen, wenn ich Sie erinnern darf.« Wie bewegen sich da ihre Mundwinkel, wie glänzen ihre Augen, wie heben sich ihre Augenbrauen, wenn sie solche Sätze spricht? Welche Mimik begleitet ihre Ironie? Welche Spuren hat der jahrelange nächtliche Nordwind an ihren Wangen hinterlassen? Hunderte solcher Dinge interessieren mich an Emmi.

 

Fünf Minuten später

RE:

Ihr Interesse kommt relativ spät, Leo. Bei Ihren Gesichtsfeldforschungen wird Ihnen die Zeit knapp werden an diesem Abend. Wie viele Stunden haben Sie eingeplant? Wie lange soll ich bleiben?

 

Drei Minuten später

AW:

So lange, wie wir beide wollen.

 

Eine Minute später

RE:

Und wenn wir nicht gleich lang wollen?

 

Vier Minuten später

AW:

Dann wird sich wohl der von uns durchsetzen, der kürzer will.

 

50 Sekunden später

RE:

Sie meinen, SIE werden sich durchsetzen.

 

40 Sekunden später

AW:

Das ist nicht gesagt.

 

20 Minuten später

RE:

Erstaunlich, wie vieles nicht gesagt ist, obwohl wir andauernd reden. Zum Beispiel: Wie begrüßen wir uns? Schütteln wir uns die Hände? Klopfen wir uns auf die Schultern? Soll ich Ihnen ein paar lang gestreckte, eng anliegende Finger zum Handkuss servieren? Soll ich Ihnen eine vom Nordwind ausgebildete Wange entgegenwuchten? Kommen Sie mir mit Ihrem Mund entgegen? Oder starren wir uns einfach einmal eine Weile wie Außerirdische an?

 

Drei Minuten später

AW:

Ich schlage vor, ich werde Ihnen ein Glas Wein in die Hand drücken, und wir werden anstoßen. Auf uns.

 

Zwei Minuten später

RE:

Haben Sie auch Whiskey? Aber nicht so eine vergammelte Flasche mit algenbewachsenem Boden, wo noch drei Millimeter gelbbraune Flüssigkeit dümpelt. In diesem Fall werde ICH mich durchsetzen, und es wird ein kurzes Treffen.

 

Eine Minute später

AW:

Am Whiskey wird unser Treffen nicht kranken.

 

45 Sekunden später

RE:

Woran dann?

 

Zwei Minuten später

AW:

Gar nicht, es wird ein schönes, angenehmes, gesundes, vitales Treffen, Emmi, Sie werden schon sehen.

 

Drei Stunden später

RE:

Haben Sie noch ein bisschen Zeit, Leo? Ich weiß, es ist schon spät. Aber nehmen Sie sich noch ein Glas Rotwein, das tut Ihnen immer gut. Ich hätte da nämlich noch ein paar Fragen, mir geht da einiges durch den Kopf. Zum Beispiel zu meinem Spezialthema: 1.) Halten Sie es für möglich, dass Sie an unserem »Abschiedsabend« Sex mit mir haben wollen? 2.) Halten Sie es für möglich, dass ich Sex mit Ihnen haben will? 3.) Wenn beides zutrifft (und wenn wir es auch tatsächlich tun): Glauben Sie wirklich, dass es uns nachher besser gehen würde? Ich meine, so wie Sie es mir quasi versprochen haben: »Ich bin sicher, dass es auch Ihnen nach dem Treffen gut gehen wird.« 4.) Wie passt das zu Ihrer Prognose, dass ich Sie danach kein zweites Mal treffen will?

 

Zehn Minuten später

AW:

1.) Dass ich Sex wollen könnte, halte ich für möglich, aber ich muss es Ihnen ja nicht zeigen.

2.) Dass Sie Sex wollen könnten, halte ich für möglich, aber nicht für sehr wahrscheinlich.

3.) Dass es uns nachher besser gehen würde? Ja, doch, das glaube ich.

4.) Sie werden mich nicht mehr treffen wollen, weil Sie Familie haben und nach unserem Treffen genau wissen werden, wo Sie hingehören.

 

Sieben Minuten später

RE:

1.) Glauben Sie, das merke ich nicht, wenn Sie Sex wollen?

2.) Ob ich es wollen könnte: Mit »nicht sehr wahrscheinlich« liegen sie gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt. (Nur damit Sie sich keine falschen Hoffnungen machen.) 3.) Dass es uns nachher besser gehen würde: Tut richtig gut, wenn Sie einmal wie ein typischer Mann reden, das macht Sie so irdisch.

4.) Dass ich wissen werde, wo ich hingehöre: Glauben Sie wirklich, Sie können das vorweg besser beurteilen als ich selbst?

Und eine allerletzte Frage vor dem Schlafengehen, Leo: Sind Sie noch ein bisschen verliebt in mich?

 

Eine Minute später

AW:

Ein bisschen?

 

Zwei Minuten später

RE:

Gute Nacht. Ich bin sehr verliebt in Sie. Ich habe Angst vor unserem Treffen. Ich kann und will mir nicht vorstellen, dass ich Sie nachher verliere. In Liebe, Emmi.

 

Drei Minuten später

AW:

Man soll nie ans »Verlieren« denken. Schon beim Denken daran verliert man. Gute Nacht, meine Liebe.

 

Am nächsten Morgen