Kein Betreff
Liebe Emmi, hier ist der Leo, der wünscht Ihnen eine traumhafte Mitternacht, ganz zu zweit, nur für uns beide. Darf ich Sie umarmen, Emmi? – Darf ich Sie küssen? Ich küsse Sie. So, und jetzt trinken wir. Was trinken Sie? Ich trinke Sauvignon Visintini, Colli Orientali del Friuli, 2003. Und was trinken Sie? Schreiben Sie mir gleich, Emmi, ganz gleich, ja? Was trinkt die Emmi? Ich trinke Weißwein.
Eine Minute später
RE:
Das ist aber nicht Ihr erstes Glas, Leo!!!
Acht Minuten später
AW:
Ah, da schreibt wieder die Emmi. Emmi. Emmi. Emmi. Ich bin ein bisschen betrunken, aber nur ein bisschen. Ich habe den ganzen Abend getrunken und gewartet, bis es Mitternacht wird, bis mich Emmi besuchen kommt. Ja, es stimmt. Das ist nicht meine erste Flasche. Ich habe Sehnsucht nach meiner Emmi. Wollen Sie zu mir kommen? Wir machen ganz einfach das Licht aus. Wir müssen uns nicht sehen. Ich will Sie nur spüren, Emmi. Ich mach die Augen zu. Mit Marlene, das hat alles keinen Sinn. Wir bluten uns aus. Wir lieben uns nicht. Sie glaubt es, aber wir lieben uns nicht, das ist nicht Liebe, das ist nur Hörigkeit, das ist nur Besitz. Marlene will mich nicht loslassen, und ich, ich kann sie nicht festhalten. Ich bin ein bisschen betrunken. Gar nicht viel. Kommen Sie zu mir, Emmi? Küssen wir uns? Meine Schwester sagt, dass Sie wunderschön sind, Emmi, wer auch immer Sie sind. Haben Sie schon einmal einen Fremden geküsst? Ich trinke jetzt noch einen Schluck Weißwein aus der Friaul. Ich trinke auf uns. Ich bin schon ein bisschen betrunken. Aber nicht viel. Und jetzt kommen wieder Sie an die Reihe, Schreiben Sie mir, Emmi. Schreiben ist wie küssen, nur ohne Lippen. Schreiben ist küssen mit dem Kopf. Emmi, Emmi, Emmi.
Vier Minuten später
RE:
Na ja, unser erstes echtes Mitternachts-Rendezvous hab ich mir etwas anders vorgestellt. Leo, sternhagelvoll! Hat aber auch seinen gewissen Reiz. Wissen Sie was, Leo? Ich halte mich kurz, vermutlich können Sie die Buchstaben ohnehin nicht mehr auseinander halten. Aber wenn Ihnen danach ist, und wenn Sie es noch schaffen, dann erzählen Sie mir ruhig mehr von »daheim« bei Ihnen. Schreiben Sie aber nichts, was Sie heute Früh oder Vormittag nach dem Aufwachen aus dem Delirium schon bereuen könnten. Dann trinke ich also ein Glas französischen Rotwein aus dem Rhonetal, 1997. Ich trinke auf Sie! Ihnen würde ich allerdings empfehlen, auf Mineralwasser umzusteigen. Oder machen Sie sich einen starken Kaffee!
50 Minuten später
AW:
Sie sind so streng, Emmi. Seien Sie nicht so streng. Ich will keinen Kaffee. Ich will Emmi. Kommen Sie zu mir. Trinken wir noch ein kleines Glas Wein. Wir können Augenbinden tragen, wie im Film. Ich weiß nicht, wie der Film heißt, ich muss nachdenken. Ich würde Sie so gerne küssen. Mir ist egal, wie Sie aussehen. Ich habe mich in Ihre Worte verliebt. Sie können schreiben, was Sie wollen. Sie können ruhig streng schreiben. Ich liebe alles. Sie sind nämlich gar nicht streng. Sie zwingen sich dazu, Sie wollen einfach nur stärker wirken, als sie sind. Marlene trinkt keinen Tropfen Alkohol. Marlene ist eine sehr nüchterne Frau, aber faszinierend, das sagt jeder, der sie kennt. Sie war mit einem Piloten zusammen, aus Spanien. Aber es ist schon wieder vorbei. Sie sagt, für sie gibt es nur einen, und der bin ich. Wissen Sie, das ist eine Lüge. Mich gibt es nicht mehr für sie. Es tut so weh, wenn man sich trennt. Ich will mich nicht mehr trennen von Marlene. Mama hat sie gemocht. Meine Mutter ist tot, sie war unglücklich. Es ist ganz anders, als ich dachte. Etwas von mir ist mitgestorben. Ich spüre es erst, seit es tot ist. Meine Mutter hat sich nicht viel um mich gekümmert, nur um meine kleine Schwester. Und mein Vater ist nach Kanada ausgewandert, er hat meinen älteren Bruder mitgenommen. Ich bin irgendwo in der Mitte durchgerutscht. Ich bin übersehen worden. Ich war ein stilles Kind. Ich kann Ihnen Fotos zeigen. Wollen Sie Fotos sehen? Im Fasching war ich immer Buster Keaton. Ich mag stumme traurige lustige Helden, die Grimassen machen können. Kommen Sie, trinken wir noch ein Glas auf uns und schauen wir uns Faschingsfotos an. Schade, dass Sie verheiratet sind. Nein, gut so, dass Sie verheiratet sind. Betrügen Sie Ihren Mann, Emmi? Tun Sie es nicht. Es tut so weh, wenn man betrogen wird. Ich bin schon ein bisschen betrunken, aber ich habe noch einen klaren Kopf. Marlene hat mich einmal betrogen. Das heißt, von einem Mal weiß ich es. Marlene sieht man und man weiß, dass sie einen betrügt. Emmi, ich schicke das jetzt weg. Ich küsse Sie. Und noch ein Kuss. Und noch ein Kuss. Und noch ein Kuss. Ganz egal, wer Sie sind. Ich habe Sehnsucht nach Nähe. Ich will nicht an meine Mutter denken. Ich will nicht an Marlene denken. Ich will Emmi küssen. Ich bin ein bisschen betrunken, verzeihen Sie. Ich schick das jetzt weg. Dann gehe ich schlafen. Gutenachtkuss. Schade, dass Sie verheiratet sind. Ich glaube, wir würden gut zusammen passen. Emmi. Emmi. Emmi. Ich schreibe gerne Emmi. Einmal linker Mittelfinger, zweimal rechter Zeigefinger, und zwei Reihen darüber rechter Mittelfinger. EMMI. Ich könnte tausendmal Emmi schreiben. Emmi schreiben ist Emmi küssen. Gehen wir schlafen, Emmi.
Betreff: Hallo
Hallo Leo, wieder unter den Irdischen? Alles Liebe von Ihrer Emmi.
Zweieinhalb Stunden später
RE:
Sind Sie noch beim Nachdenken, wie Sie sich und vor allem wie Sie MIR Ihre nächtlichen E-Mails erklären? – Müssen Sie nicht, Leo. Ich habe das schön gefunden, was Sie mir da unabsichtlich geschrieben haben, sehr schön sogar. Sie sollten öfter volltrunken sein, da werden Sie ja zu einem richtigen Gefühlsmenschen, sehr offen und unverblümt, sehr zärtlich, ansatzweise sogar stürmisch und leidenschaftlich. Steht Ihnen gut, das Unkontrollierte! Und ich fühle mich geehrt, dass Sie mich so oft küssen wollten! Also schreiben Sie mir schon!! Ich bin echt neugierig, wie Sie dazu stehen. Nüchtern bemühen Sie sich ja immer krampfhaft, nur nicht jener Leo zu sein, der sich im betrunkenen Zustand wie von selbst ergibt. Hoffentlich hat er sich nicht übergeben.
Drei Stunden später
RE:
Leo???? Nicht melden ist unfair! Und es ist abtörnend. Das riecht nach einem Mann, der in der Früh schon nicht mehr zu dem steht, was er einer Frau in der Nacht davor liebestrunken ins Ohr geflüstert hat. Es riecht also nach einem ziemlich typischen, ziemlich durchschnittlichen, ziemlich öden Mann. Es riecht jedenfalls nicht nach Leo. Also schreiben Sie endlich!!!
Fünf Stunden später
AW:
Liebe Emmi, es ist jetzt 22 Uhr. Wollen Sie zu mir kommen? Ich zahle Ihnen das Taxi. (Ich wohne am Stadtrand.) Leo.
RE:
Na hoppala! Lieber Leo, es ist jetzt 23 Uhr 43. Träumen Sie noch oder schlafen Sie schon? Wenn nicht, dann frage ich Sie: Wollten Sie wirklich, dass ich zu Ihnen komme?
Wollen Sie noch immer, dass ich zu Ihnen komme?
Sind Sie vielleicht wieder »ein bisschen betrunken«?
Wenn ich zu Ihnen komme, was hätten Sie sich da so vorgestellt, dass wir beide machen?
Fünf Minuten später
AW:
Liebe Emmi,
1.) Ja. 2.) Ja. 3.) Nein. 4.) Was sich ergibt.
Drei Minuten später
RE:
Lieber Leo,
1.) Aha. 2.) Aha. 3.) Gut. 4.) Was sich ergibt? Es ergibt sich immer das, was man will, dass sich ergibt. Also was wollen Sie, dass sich ergibt?
50 Sekunden später
AW:
Ich weiß es wirklich nicht, Emmi. Aber ich glaube, wir wissen es sofort, wenn wir uns sehen.
Zwei Minuten später
RE:
Und wenn sich gar nichts ergibt? Dann stehen wir beide blöd herum, zucken mit den Schultern und einer sagt zum anderen: »Tut mir Leid, irgendwie ergibt sich nichts.« Und was machen wir dann?
AW:
Dieses Risiko müssen wir in Kauf nehmen. Also kommen Sie, Emmi! Trauen Sie sich! Trauen wir uns! Vertrauen wir auf uns!
25 Minuten später
RE:
Lieber Leo, Ihre ungewohnte Dringlichkeit, die sonst nicht gerade Ihrem Wesen entspricht, irritiert mich. Ich habe da so einen Verdacht. Ich glaube, dass Sie ganz genau wissen, was sich gefälligst zu ergeben hat. Sie sind vermutlich noch ein bisschen rauschig von der Vornacht, also unheimlich »in Stimmung«. Sie suchen Nähe. Sie wollen Marlene vergessen beziehungsweise vergessen machen. Und Sie haben genügend Bücher dieser Art gelesen und einschlägige Filmszenen gesehen, letzte Tangos mit Marlon Brandos und so. Leo, diese Szenen kenne ich auch: ER sieht SIE zum ersten Mal, möglichst im Halbdunkel, damit auch das schön ist, was vielleicht nicht so schön ist. Und dann fällt kein einziges Wort mehr, nur noch Gewand. Wie knapp vorm Verhungern fallen sie übereinander her, sparen nichts aus, wälzen sich stundenlang über die Wohnlandschaften. Kameraschnitt. Das nächste Bild: Er liegt auf dem Rücken, über seine Lippen huscht ein frivoles Lächeln, die Augen ruhen im lasziven Blick auf die Zimmerdecke, als wollte er auch diese noch vernaschen. Sie liegt mit dem Kopf auf seiner Brust. Befriedigt wie eine Hirschkuh nach dem Durchzug eines Rudels brunftiger Böcke. Vielleicht bläst noch einer der beiden Zigarettenrauch durch die Nasenlöcher. Und dann wird dezent ausgeblendet. Und was ist danach? Das würde mich am allermeisten interessieren: Was ist danach???
Leo, so geht’s nicht. Da ist mit Ihnen ausnahmsweise der Klischee-Mann durchgegangen. Ja natürlich, das wäre alles noch steigerbar. Die von Ihnen gestern im Rausch frei gewordene »Augenbinde«. – Wir müssten uns also nicht einmal sehen. Sie öffnen mir blind die Tür. Wir fallen uns blind in die Arme. Wir haben blinden Sex. Wir verabschieden uns blind. Und morgen schreiben Sie mir wieder bigotte E-Mails übers Nichtbetrügensollen und ich schreibe Ihnen rotzig zurück wie immer. Und wenn’s in der Nacht gut war, dann machen wir es wieder, völlig herausgelöst aus unserem sonstigen Leben, völlig unabhängig von unserem Dialog. Sex in seiner höchsten Stufe absoluter Unverbindlichkeit. Es gibt nichts zu verlieren, nichts wird aufs Spiel gesetzt. Sie haben Ihre »Nähe«, ich habe mein außereheliches Abenteuer. – Zugegeben, ein aufregender Gedanke. Aber schon auch ein bisschen eine Männerfantasie, muss ich Ihnen sagen, lieber Leo. Jedenfalls sollten wir die Finger davon lassen. Oder, um es noch etwas klarer zu formulieren: Nicht mit mir! (Ich habe das ganz zart gesagt, ehrlich!)
15 Minuten später
AW:
Und wenn ich Ihnen einfach nur gerne ein paar Kinderfotos von mir gezeigt hätte? Und wenn ich mit Ihnen nur gerne ein Glas Whiskey oder Wodka sauer getrunken hätte – auf unser Wohl und auf unsere Pionierleistung, uns endlich zu sehen? Und wenn ich einfach nur gerne Ihre Stimme gehört hätte? Und wenn ich nur gerne vielleicht einen Hauch vom Geruch Ihrer Haare und Ihrer Haut inhaliert hätte?
Neun Minuten später
RE:
Leo, Leo, Leo, manchmal klingt es so, als wären Sie die Frau von uns beiden und ich der Mann. Aber ich könnte schwören, das ist nur ein Spiel zwischen uns, auf höchstem Niveau. Ich denke männlich, um Sie zu verstehen, ich versuche mich in die Männerwelt hineinzuversetzen, lade mir aus meinen Erfahrungen die komplette maskuline Gedankenwelt plus zugehörigem Vokabular herunter – mit dem Erfolg, mir dann von Ihnen nachsagen lassen zu müssen, ICH sei sexfixiert. Leo, ich lege eure klassischen Motive für dringliche mitternächtliche Einladungen frei – und Sie drehen den Spieß einfach um und behaupten, es seien meine. Leo, Sie Unschuldsengel, Sie schüchterner Romantiker! Geben Sie doch zu, dass Ihr virtuelles Sturmläuten bei mir um zehn Uhr abends nicht den Zweck haben sollte, mit mir Kinderfotos anzuschauen. (Haben Sie vielleicht auch nette Briefmarken? – Dann wäre ich natürlich sofort gekommen ...)
Drei Minuten später
AW:
Liebe Emmi, sagen Sie bitte nie wieder »eure«, wenn Sie von MIR sprechen wollen. Ich bin mir zu individuell, um mir den pauschalierenden und zumeist auch gehässig vorgetragenen Männer-Plural überstülpen zu lassen. Schließen Sie nicht von anderen Männern auf mich. Das kränkt mich, und zwar wirklich!
18 Minuten später
RE:
Okay, okay, Entschuldigung! Womit Sie sich wieder geschickt um »Ihr« Motiv herumgeschummelt haben, warum Sie mich plötzlich so dringlich sehen wollten, mitten in der Nacht. Leo, es ist ja keine Schande, im Gegenteil, es schmeichelt mir sehr, und Sie sinken in meiner Achtung um keinen Millimeter, wenn Sie im postalkoholischen Sexdrang und Liebestaumel mit der zwar unbekannten, aber angeblich nicht so unhübschen Emmi die Augenbinde-Nummer durchziehen wollen. Ach ja, übrigens: Es ist halb zwei Uhr früh, ich sollte dann langsam ins Bett gehen. Danke noch einmal für Ihr spannendes Angebot. Das war mutig. Ich mag es, wenn Sie spontan sind. Und ich mag es auch, wenn Sie mich betrunken mit Küssen zuschütten. Gute Nacht, Leo. Auch ein Kuss von mir.
Fünf Minuten später
AW:
Ich will niemals und mit niemandem eine Nummer durchziehen. Gute Nacht.
RE:
Ach, zwei Dinge noch, Leo. Ich kann heute ohnehin nicht mehr schlafen: Wenn ich also wirklich zu Ihnen gekommen wäre, dann glauben Sie doch nicht im Ernst, dass ich mir von Ihnen das Taxi hätte zahlen lassen?
Zweitens: Wenn ich also wirklich zu Ihnen gekommen wäre, welche der drei Emmis aus dem Repertoire Ihrer Schwester hätte dann zu Ihnen kommen sollen? Die quirlige Ur-Emmi? Die vollbusige Blond-Emmi? Oder die schüchterne ÜberraschungsEmmi? – Denn eines muss Ihnen schon klar sein: Ihre FantasieEmmi wäre im Augenblick unseres Zusammentreffens für immer gestorben.
Einen Tag später
Betreff: Softwareprobleme? Leo? Sie sind an der Reihe!
Drei Tage später
Betreff: Sendepause
Liebe Emmi, ich schreibe Ihnen nur, damit Sie wissen, dass es nicht so ist, dass ich Ihnen nicht mehr schreibe. Wenn ich wieder so weit bin, zu wissen, WAS ich Ihnen schreiben könnte, dann werde ich es sofort tun. Ich bin gerade beim Aufsammeln meiner schizophrenen Einzelteilchen, in die es mich in den vergangenen Tagen zerlegt hat. Wenn ich die Teilchen erfolgreich zusammengefügt habe, melde ich mich.
Emmi, Sie spuken mir ununterbrochen im Kopf herum. Ich vermisse Sie. Ich habe Sehnsucht nach Ihnen. Ich lese Ihre E-Mails mehrmals täglich. Ihr Leo.
Vier Tage später
Betreff: Verrat
Hallo, Herr Leike, haben Sie mir gegenüber ein schlechtes Gewissen? Müssen Sie mir etwas verraten? (»Verraten« mit »V« wie Verrat?) Weiß ich etwas nicht, was ich wissen sollte? Für diesen Fall: Ich glaube, ich weiß es. Ich habe in meiner Mailbox eine fürchterliche Entdeckung gemacht. Wissen Sie, wovon ich rede? Wenn Sie es wissen, dann erleichtern Sie bitte Ihr Gewissen!!! Grüße, Emmi Rothner.
Dreieinhalb Stunden später
AW:
Emmi, was ist los mit Ihnen? Was soll diese kryptische E-Mail? Brüten Sie gerade eine Verschwörungstheorie aus? Ich habe jedenfalls keine Ahnung, wovon Sie reden. Was für eine fürchterliche Entdeckung haben Sie in Ihrer Mailbox gemacht? Bitte werden Sie deutlicher! Und seien Sie nicht nur auf Verdacht so grausam förmlich! Alles Liebe, Leo.
30 Minuten später
RE:
Werter Herr Sprachpsychologe, sollte sich irgendwann herausstellen, dass mein »Verdacht« begründet war, werde ich Sie mein Leben lang hassen!!!! Besser Sie sagen es gleich.
25 Minuten später
AW:
Was auch immer Sie in diese Stimmung versetzt hat, liebe Emmi, Ihre Sprache macht mir Angst. Ich will nicht Opfer Ihres präventiven blanken Hasses sein, der sich auf krause Gedanken und abstruse Reime in Ihrem von Misstrauen zersetzten Gehirn gründet. Reden Sie Klartext oder haben Sie mich gern! Ich bin jetzt wirklich wütend! Leo.
Am nächsten Tag
Betreff: Verrat II
Ich habe am Sonntag eine Freundin getroffen. Ich habe ihr von Ihnen erzählt, Leo. »Was macht er beruflich?«, hat sie mich gefragt. »Er ist Sprachpsychologe und arbeitet auch an der Uni«, habe ich geantwortet. Sprachpsychologe? Sonja war sehr überrascht. »Was macht er da?«, hat sie nachgefragt. Ich: Genau weiß ich es nicht, wir reden nicht über unsere Arbeit, nur über uns. Und dann fiel mir ein: Am Anfang hat er einmal etwas von einer Studie über die Sprache von E-Mails erzählt, mit der er gerade beschäftigt war. Es ist aber dann nie wieder ein Wort darüber gefallen. Daraufhin hat sich der Blick meiner Freundin Sonja plötzlich ziemlich verdüstert und sie hat wortwörtlich gesagt: »Emmi, pass auf, vielleicht studiert er dich nur!« Das hat mir einen gewaltigen Schock versetzt. Daheim habe ich sofort in unseren alten E-Mails nachgelesen. Und da finde ich am 20. Februar folgende Passage von Ihnen: »Wir arbeiten gerade an einer Studie über den Einfluss der E-Mail auf unser Sprachverhalten und – der noch wesentlich interessantere Teil – über die E-Mail als Transportmittel von Emotionen. Deshalb neige ich ein wenig zum Fachsimpeln, ich werde mich aber künftig zurückhalten, das verspreche ich Ihnen.«
So, lieber Leo, verstehen Sie jetzt, warum ich mich so fühle, wie ich mich fühle? LEO, STUDIEREN SIE MICH NUR? TESTEN SIE MICH ALS TRANSPORTERIN VON EMOTIONEN? BIN ICH FÜR SIE NICHTS ALS DER INHALT EINER KALTEN DOKTORARBEIT ODER SONST EINER GRAUSAMEN SPRACHSTUDIE?
40 Minuten später
AW:
Am besten, Sie holen dazu die Meinung von Ihrem Bernhard ein. Ich habe jedenfalls genug von Ihnen. Unter der Last Ihrer Emotionen würde ohnehin jedes Transportmittel einbrechen. Leo.
Fünf Minuten später
RE:
Nur weil Sie in den Gegenangriff übergehen, heißt das noch lange nicht, dass sich meine Sorge, von Ihnen sprachpsychologisch missbraucht zu werden, in Luft aufgelöst hat. Also bitte ich Sie um eine klare Antwort. Leo. Die sind Sie mir schuldig.
Betreff: Leo!
Lieber Leo, ich habe drei fürchterliche Tage hinter mir. Die Angst – ja, es war ein richtiger Panikanfall –, von Ihnen die ganze Zeit über für Studienzwecke verwendet worden zu sein, die hält sich die Waage mit der gegenteiligen Befürchtung: Vielleicht habe ich Ihnen Unrecht getan. Vielleicht habe ich durch meine vorschnelle Schuldzuweisung etwas zwischen uns zerstört. Ich weiß gar nicht, was schlimmer wäre, von Ihnen »betrogen« worden zu sein oder mit einer Attacke blinden Misstrauens unser behutsam angebautes und sorgsam gepflegtes Pflänzchen Vertrauen aus der Erde gehoben zu haben.
Lieber Leo, bitte versetzen Sie sich in meine Lage. Ich habe, das möchte ich Ihnen gestehen, schon lange mit niemandem so heftig Gefühle ausgetauscht wie mit Ihnen. Ich bin selbst am meisten darüber verwundert, dass das auf diese Weise möglich ist. Ich kann in meinen E-Mails an Sie so sehr die echte Emmi sein wie sonst nie. Im »wirklichen Leben« muss man, wenn es gelingen soll, wenn man den langen Atem haben will, ständig Kompromisse mit seiner eigenen Emotionalität eingehen: DA darf ich nicht überreagieren! DAS muss ich akzeptieren! DA muss ich darüber hinwegsehen! – Ständig passt man seine Gefühle der Umgebung an, schont die, die man liebt, schlüpft in die hundert kleinen Alltagsrollen, balanciert, tariert aus, wiegt ab, um das Gesamtgefüge nicht zu gefährden, weil man selbst ein Teil davon ist.
Bei Ihnen, lieber Leo, scheue ich mich nicht, so spontan zu sein, wie ich im Innersten bin. Ich überlege nicht, was ich Ihnen zumuten kann und was nicht. Ich schreibe einfach munter drauflos. Und das tut mir so wahnsinnig gut!!! – Und, das ist Ihre Leistung, lieber Leo, deshalb sind Sie für mich so unverzichtbar geworden: Sie nehmen mich so, wie ich bin. Manchmal bremsen Sie mich, gewisse Dinge ignorieren Sie, manches kommt Ihnen in die falsche Kehle. Aber Ihre Ausdauer, an mir dran zu bleiben, zeigt mir, dass ich so sein darf, wie ich bin. Und, darf ich wieder einmal ein bisschen Werbung für mich machen? – Ich bin viel, viel zahmer, als es in meinen E-Mails den Anschein hat. Das heißt: Mag da jemand schon die Emmi, die sich gehen lässt, die sich überhaupt nicht bemüht, gut dazustehen, die mit Feuereifer ihre negativen Eigenschaften hervorkehrt – ja, Leo, ich bin eifersüchtig, ich bin misstrauisch, ich bin ein bisschen neurotisch, ich habe keine prinzipiell extrem hohe Meinung vom anderen Geschlecht, vom eigenen übrigens auch nicht – jetzt habe ich den Faden verloren, also: Mag da jemand schon die Emmi, die sich gar nicht bemüht, gut zu sein, die eher ihre sonst unterdrückten Schwächen auslebt, wie mag er dann erst die Emmi, wie sie wirklich lebt, weil sie weiß, dass man sich den anderen nur bedingt so zumuten kann, wie man ist, ein Bündel von Launen, ein Container von Selbstzweifel, eine Komposition der Unstimmigkeiten.
Es geht aber nicht nur um mich. Leo, ich beschäftige mich ständig mit Ihnen. Sie besetzen ein paar Quadratmillimeter meines Großhirns (oder Kleinhirns, oder Hirnanhangdrüse, keine Ahnung, wo im Hirn man an so wen wie Sie denkt). Sie haben dort effektiv Ihre Zelte aufgeschlagen. Ich weiß nicht, ob Sie der sind, als der Sie schreiben. Aber sind Sie nur ein Teil von diesem, so sind Sie schon ein ganz besonderer. Es sind Ihre Zeilen und meine Reime darauf: die ergeben so in etwa einen Mann, wie ich mir plötzlich vorstelle, dass es sein kann, dass es so jemanden wirklich gibt. Sie haben immer von Ihrer »FantasieEmmi« geschrieben. Ich bin vielleicht weniger bereit, mich mit einem »Fantasie-Leo« zufrieden zu geben, mir jemanden, den ich so gern mag, auf Dauer nur einzubilden. Der muss schon aus Fleisch, Blut und Ähnlichem sein. Und er muss einer Begegnung mit mir standhalten können. So weit sind wir noch nicht. Aber ich spüre in mir, dass wir unserer Begegnung mit schreiberischen Mitteln immer näher kommen können. Bis wir uns einmal gegenüberstehen. Oder gegenübersitzen. Oder knien. Ist ja egal.
Leo, nehmen wir die E-Mail, die ich Ihnen gerade schreibe: Die Vorstellung, dass Sie sie Wort für Wort abklopfen, um wissenschaftliche Erkenntnisse daraus zu gewinnen, um Beispiele zu zitieren, wie und womit man Emotionen transportieren kann, oder, noch schlimmer, womit man Emotionen beim anderen wecken kann, wie man schreiben muss, damit der andere emotionell hineinkippt, diese Vorstellung ist so grauenhaft, dass ich schreien könnte vor Schmerz!!! Bitte sagen Sie, dass unser Dialog nichts mit Ihrer Studie zu tun hat. Und bitte verzeihen Sie mir, dass ich das annehmen musste. Ich bin so ein Mensch: Ich muss vom Schlimmsten ausgehen, damit ich Immunkräfte aufbauen kann, mit denen ich es dann ertrage, wenn es sich wirklich als wahr herausstellt.
Leo, das war bisher meine längste E-Mail an Sie. Ignorieren Sie sie nicht. Kommen Sie wieder zurück. Brechen Sie Ihre Zelte nicht ab unter meiner Hirnrinde. Ich brauche Sie! Ich ... schätze Sie! Ihre Emmi.
PS: Ich weiß, es ist schon sauspät. Aber ich bin sicher, dass Sie noch munter sind. Und ich bin überzeugt davon, dass Sie noch in Ihre Mailbox schauen werden. Sie müssen mir jetzt nicht mehr antworten. Aber vielleicht schreiben Sie mir nur ein einziges Wort, damit ich weiß, dass Sie meine Nachricht erhalten haben? Ein Wort, ginge das? Es können auch zwei Worte sein, oder drei, wenn das leichter geht. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte. Bitte.
Zwei Sekunden später
AW:
ABWESENHEITSNOTIZ. DER EMPFÄNGER IST VERREIST UND KANN SEINE E-MAILS ERST WIEDER AM 18. MAI AUFRUFEN. IN DRINGENDEN FÄLLEN WIRD ER VOM PSYCHOLOGISCHEN INSTITUT DER UNIVERSITÄT VERSTÄNDIGT. DIE E-MAIL- ADRESSE LAUTET: psy-uni@gr.vln.com.
Eine Minute später
RE:
Das ist das Letzte!