14

Flüstern. Ein Kuss. Sanfte Hände in ihrem Haar. Wieder ein Kuss.

Das war gut. Endlich war es gut.

Sie seufzte zufrieden und kuschelte sich enger an die Wärme, die sie umgab. Ihr Rücken lehnte gegen eine harte Brust, ihr Kopf war an eine Schulter geschmiegt. Ein Arm hielt sie fest umschlungen, ein anderer drückte und streichelte sie abwechselnd. Weiche Lippen lagen auf ihrem Ohr und flüsterten sanfte Koseworte.

Hmm. Das war schön.

Moment mal.

Versuchsweise wackelte sie mit den Zehen, als der Schmerz wie eine 1000-Volt-Ladung ihren Körper durchzuckte. Oh Mist! Das fühlte sich nach Knochenbrüchen, Quetschungen und jeder Menge Prellungen an. Vom Scheitel bis zum großen Zeh tat ihr alles weh. Aber zumindest wusste sie jetzt, dass sie nicht körperlos war. Und warum zum Teufel roch die Hölle nach Starbucks?

„Wach auf, Blanche.“

Nur einer sprach ihren Namen aus, als wäre er aus Schokolade. Anstatt die Augen zu öffnen, presste sie die Lider fest zusammen. Wenn das ein Traum war, wollte sie nicht aufwachen. Nur noch eine Minute. Sie vergrub die Nase in die nackte Schulter, fuhr mit den Lippen über raues Narbengewebe und sog den Kaffeegeruch ein.

„Blanche.“

Noch nicht aufwachen. Sie kniff die Augen fester zu, als der Körper hinter ihr leicht vibrierte. Lachte er etwa? He, das hier war ihr Traum und er sollte sie verdammt noch mal nicht auslachen.

„Blanche, mein Liebling“, hauchte er an ihr Ohr, küsste es und fuhr mit seinen Lippen über ihre geschlossenen Lider, die Brauen, den Nasenrücken. Er gab ihrer Nasenspitze einen Kuss, was ihr ein Lächeln entlockte.

Nicht aufhören.

„Lass mich nicht länger warten“, bat Beliar mit seiner zartbitteren Samtstimme. „Ich möchte deine Augen sehen.“

Ein letztes Mal atmete sie seinen Duft ein, dann gab sie sich einen Ruck, blinzelte und versank in einem schiefergrauen Nordmeer.

„Du bist tot“, flüsterte sie, während ihr Blick durch sein vernarbtes Patriziergesicht mit den hohen Wangenknochen wanderte und den unerhört weichen Lippen, deren Abdruck sie noch immer auf ihrer Nase spüren konnte.

„Dämonen sind unsterblich.“

Sie streckte die Hand aus, und berührte mit den Fingerspitzen den Rücken seiner römischen Adlernase. „Ich habe gesehen, wie du verschwunden bist, wie die halbe Straße verschluckt wurde. Nichts ist übrig geblieben, genau wie bei Wayne.“

„Ich bin ein Erzdämon. Wayne war ein Jäger. Letztere können sterben, ich dagegen nicht.“

„Aber ich habe es gesehen.“ Sie setzte sich auf und rutschte herum, sodass sie rittlings auf seinem Schoß saß und ihn eingehend betrachtete. Als sie die zärtliche Hingabe in seinem Blick sah, wurde ihr Hals eng. Mit beiden Händen fuhr sie durch sein Rabenhaar, dann rutschte sie so dicht es ging an ihn heran und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals. Sie atmete Zimt und sein allgegenwärtiges Kaffeearoma ein. Und da war noch etwas, ein feiner Duft, den sie vorher nicht wahrgenommen hatte. Er roch nach Sonne. Ihre Hände wanderten seinen Hals entlang, glitten über die skulpturierten Schultern, bis sie auf seiner nackten Brust liegen blieben.

Er war echt. Er lebte. Und er war hier.

Sie umschlang seine Taille mit den Beinen und presste ihren Körper gegen seinen. Ihr Dämon hüllte sie in eine innige Umarmung, während seine Hände beruhigend über ihren Rücken strichen.

„Ich verstehe das nicht. Wie …“ Sie schüttelte den Kopf. „Es ist doch alles verschwunden. Was ist passiert?“

Beliar nahm ihr Gesicht zwischen die Hände und küsste sie. Es war ein scheuer, fast keuscher Kuss. Eine kurze Berührung ihrer Lippen, doch es reichte, um sie zu beruhigen.

„Erinnerst du dich an die Dämonenwaffe?“, fragte er leise.

Als ob sie die vergessen könnte.

„Ich habe mir erlaubt, die beiden verbliebenen Patronen an mich zu nehmen. Wie du dir denken kannst, sind die Glasphiolen keine gewöhnliche Munition. Die Geschosse enthalten einen Partikel dunkler Materie, umgeben von flüssigem Ozon. Zwei dieser Projektile reichen aus, um sehr mächtige Dämonenfürsten zurück zu ihrem Herrn zu schicken.“

„Willst du damit sagen, dass die drei wieder bei Saetan sind?“

Beliar nickte. „Dort sollten sie mittlerweile angekommen sein. Falls nicht, wurden sie am Höllentor aufgehalten.“

„Ich dachte, das wäre der Eingang zu Saetans Spabereich.“

„Saetan herrscht über die Unterwelt. Die Hölle ist der Ort, der sich der Zwischenwelt anschließt. Genau genommen ist sie auch kein Ort, sondern ein Zustand, der weder an einen Raum noch an unsere Zeitvorstellungen gebunden ist. Sie ist ein Erkenntnisstadium, in dem die Seele gereinigt wird. Wir haben schon einmal darüber geredet, erinnerst du dich?“

Vage. Damals hatte er über beschädigte Seelen geredet, die unfähig waren, im Licht der Erkenntnis zu bereuen. Und dass die Phase, in der man den Schmerz seiner Opfer am eigenen Leib erlebte, Hölle genannt wurde. Die reumütigen Seelen kamen zu Erzengel Miceal, die selbstgefälligen zu Saetan.

„Dann warst du dort?“

Beliar nickte. „Ich bin ebenfalls durch meine persönliche Hölle gegangen.“ Bei der Erinnerung verkrampfte sich sein Kiefer.

„Und warum wurdest du danach nicht zu Saetan geschickt?“

Leise stieß er den Atem aus und zog sie näher zu sich. „Weil ich ein freier Geist bin“, murmelte er in ihr Haar. „Ein abtrünniger Dämon ohne Herrn.“

„Ich dachte, das wäre Saetan.“

„Das war er auch, solange ich ihn akzeptiert habe. Indem ich mich seinem Befehl widersetzte, wurde ich zum Geächteten.“

„Welchem Befehl?“, flüsterte sie in seine Halsbeuge, obwohl sie die Antwort bereits kannte.

„Waynes Seele bei ihm abzuliefern.“

Blanche kam sich vor wie in einer Quizsendung, in der sie die Fragen stellte. Und allmählich näherten sie sich der Hunderttausend-Euro-Frage. „Warum hast du es nicht getan?“

Er sah sie lange an, bevor er antwortete. „Hättest du mir dann noch vertraut?“, murmelte er schließlich gegen ihr Ohr.

Wohl kaum.

Er nickte, als hätte er den Gedanken gehört. „Ich konnte es nicht tun.“

„Warum?“

Behutsam strich er ihr eine verirrte Strähne hinters Ohr. „Weil du etwas in mir wachgerufen hast, von dem ich nicht wusste, dass es wahrhaft existiert. Du berührt mich auf einer Ebene, die lange Zeit unangetastet war. Bevor wir uns begegnet sind, wusste ich nicht, wie sich der Schlag meines Herzens anfühlt. Mir war entfallen, dass ich überhaupt eines besitze – und ich hatte keine Ahnung, dass ich zu solchen Empfindungen fähig bin. Ich habe den Geschmack von Glück vergessen und von …“ Er zögerte.

„Von was?“, flüsterte sie.

„Frieden“, sagte er leise. „Du hast ein Fenster in mir geöffnet und zum ersten Mal seit Äonen habe ich ins Licht sehen können, ohne zu verbrennen. Stattdessen hat es mich gewärmt.“ Er küsste ihre Schläfe. „Ich liebe dich, Blanche, mehr als irgendetwas auf dieser Welt. Ich wollte dich nicht verlieren, doch genau das wäre geschehen, wenn ich Waynes Seele an Saetan ausgeliefert hätte.“

Der Gedanke an Wayne ließ die Freude über Beliars Worte wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Für Wayne war es zu spät, denn am Ende hatte sie ihn nicht retten können. Seine Seele war fort, seine Erinnerungen zerstreut, als hätte er nie gelebt.

Beliar schob sie ein Stück von sich, gerade so viel, dass er ihre Augen sehen konnte. „Waynes Seele ist frei, Blanche. Er wurde erlöst.“

Sie starrte ihn an, als hätte er den Verstand verloren.

„Es ist wahr, ich weiß es aus sicherer Quelle. Wayne wurde aus der Zwischenwelt befreit und befindet sich bei seiner Familie.“

Wie konnte seine Seele erlöst sein, sie hatte doch überhaupt nichts getan! Zoey war ihr durch die Lappen gegangen, sie hatte auf ganzer Linie versagt. Und was hatte Wayne überhaupt bei seiner Familie zu suchen? Sollten Auftragskiller nicht im ewigen Höllenfeuer schmoren, statt von der Konkurrenz gepampert zu werden?

Ihr Dämon seufzte leise, zog sie in eine besitzergreifende Umarmung und lehnte sich zurück. „Als ich im Keller der Rue d’Orsei die dunkle Materie aktiviert habe, wurde ich wie die anderen Dämonen ins Zwischenreich gezogen. Doch während die drei Höllenfürsten ins Licht der Wahrheit drifteten, hat mich jemand aufgehalten.“

„Wer?“, fragte sie atemlos.

Beliar zögerte einen Moment. „Miceal.“ Bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, ergriff er ihre Hand und drückte sie leicht. „Unterbrich mich jetzt nicht, ich muss ein wenig ausholen.“ Er fädelte seine Finger durch ihre. „Miceal ist, so könnte man sagen, mein himmlisches Pendant. Er ist das Schwert Gottes, so wie ich Saetans Lanze war. Er führt Seelen zurück ins Licht, sofern sie willens sind, sich der Wahrheit zu stellen und sie zu ertragen. Eine meiner Aufgaben war es, sie in die Unterwelt zu bringen, wenn sie sich für den Abgrund entschieden haben.“

„Wie kann sich eine Seele für etwas entscheiden?“ Sie biss sich auf die Lippe und schlug sich mit der Hand vor den Mund, doch Beliar lächelte, ergriff ihr Handgelenk und gab ihm einen sanften Kuss.

„Es gibt Seelen, die sind wie Steine, die jahrelang auf dem Grund eines Ozeans liegen. Nichts dringt in sie ein. Nichts berührt sie. Sie haben der Welt nichts zu geben, weil sie sich nicht für sie interessieren. Andere Seelen dagegen sind wie Korallen im Riff. Sie leben in einer Gemeinschaft, nehmen auf und geben ab. Sie wachsen, schaffen Lebensräume und bereichern die Welt mit ihrer Existenz. Im Licht der Wahrheit zeigt sich, aus welchem Stoff eine Seele gemacht ist. Wenn sie sich von der Flamme des Lebens berühren lässt und wahrhaft bereut, ist ihr im selben Augenblick vergeben und sie kann weiterziehen. Tut sie das nicht, geht sie den anderen Weg.“

Zu Saetan. Unwillkürlich ballte sie ihre Hände zu Fäusten.

„In der Zwischenwelt hatten Miceal und ich eine lange Unterredung. Der Krieger hat mich über einige Dinge ins Bild gesetzt, die mir neu waren.“ Abwesend strich er über ihr Haar. „Es fing alles mit Tchort an.“

Der Schwarze Gott, Waynes letzter Auftrag. Beliar spürte ihre Anspannung und drückte sie beschwichtigend an sich. „Als Wayne den Dämon damals gestellt hatte, machte Tchort ihm ein Angebot. Er sagte voraus, dass Saetan vorhatte, ihn zu hintergehen. Dass er sich als Nächstes sein Protégé holen und in einen Pakt drängen würde.“

„Mich?“

Beliars Kinn stupste gegen ihre Schläfe, als er nickte. „Wayne sollte schon bald sterben, damit er Saetan nicht länger im Weg stehen würde. Außerdem war seine Seele durch die zahlreichen Auftragsmorde schwer belastet. Der oberste Höllenfürst nährt sich vorzugsweise von Hass und Schuld, musst du wissen, zwei seiner Lieblingslaster, die einander zuarbeiten. Von Waynes Schuldenpolster hätte Saetan ein Jahrhundert zehren können, doch du hast den Hass in ihm gebrochen, das schmeckte Saetan nicht.“ Beliar strich mit der freien Hand durch ihr zerzaustes Haar. „Tchort muss sehr überzeugend gewesen sein. Er hat Wayne klargemacht, dass Saetans Verrat unmittelbar bevorstand und dass er nichts dagegen unternehmen konnte. Dass er dich nicht retten kann.“

„Und das hat er geglaubt?“

Beliar sah aus, als versuchte er zu lächeln, während er gleichzeitig in eine Zitrone biss. „Dämonen können nicht lügen, Blanche.“

Stimmt, das hatte er schon mal erwähnt. Pakte, die auf Unwahrheiten basierten, hatten keinerlei Bindung und blieben somit wirkungslos. Aus diesem Grund hatte Saetan seinen Dienern das Lügen ausgetrieben.

„Als Gegenwert für seine Freiheit hat Tchort Wayne einen Blutschwur angeboten. Falls er ihn laufen ließ, wollte Tchort sich um dich kümmern, wenn Wayne dazu nicht mehr in der Lage wäre.“

Seit wann musste man auf sie aufpassen, als wäre sie ein tollpatschiger Welpe? „Warum hat Tchort nicht das Gleiche wie du gemacht? Ich meine, sich von Saetan abwenden und sein eigenes Ding durchziehen? Dann hätte die Dämonenwaffe nichts gegen ihn ausrichten können, oder?“

„Tchort ist weder ein freier Geist wie ich noch ist er ein Erzdämon – das hat Saetan ihm verwehrt. Doch einen Schwarzen Gott hält man nicht ewig an der kurzen Leine. Saetan hat Tchorts Freiheitsdrang und seinen Machthunger unterschätzt.“ Beliars Daumen strich behutsam über ihre Wange. „Wayne ging darauf ein, doch er verlangte mehr als einen Blutschwur. Er witterte seine Chance und ließ den Dämon einen Eid ablegen, dass er sich bei Erzengel Miceal für ihn verwenden würde. Denn sollte Wayne ohne Fürsprecher sterben, würde er auf direktem Wege in die Unterwelt absteigen. Dazu musst du wissen, dass Menschen mit Pakten keine Wahl haben. Sie passierten das Höllentor, ohne dem Licht der Wahrheit ausgesetzt zu sein und gelangen unverzüglich zu ihrem neuen Herrn. Deswegen bekommt Miceal sie nicht einmal zu sehen. Für Wayne hätte das den endgültigen Bruch mit seiner Familie bedeutet, denn durch den zweiten Pakt hatte er sich jede Chance auf eine Wiedervereinigung verbaut.“

Waynes Familie. Ein eifersüchtiger Stich bohrte sich wie ein vergifteter Pfeil in ihr Herz. Blanche hatte immer geglaubt, dass sie Waynes Familie wäre. Stattdessen hatte sie entdeckt, dass er einst Ehemann und Vater gewesen war. Eine Tochter hatte. Marie, der sie so ähnlich sah. Ihretwegen hatte er sie vor den Verfolgern gerettet. Hätte er sie damals sterben lassen, wenn sie seiner Tochter nicht so ähnlich sehen würde? Wahrscheinlich nicht. Aber er hätte sie niemals bei sich aufgenommen.

„Wenn es Tchort gelänge, Miceal davon zu überzeugen, Wayne Gelegenheit zur Reue zu geben, hätte er zumindest die Aussicht auf ein Wiedersehen mit Frau und Kind.“

„Wozu bereuen?“, flüsterte Blanche in seine Halsbeuge. „Er hatte doch einen Pakt mit Saetan.“

„Bedauern öffnet Türen, Blanche. Es ist die Chance, sich zu bewähren.“

„Aber …“

„Lass mich erst alles erzählen.“ Er strich ihr eine vorwitzige Haarlocke hinters Ohr. „Wayne ging auf Tchorts Angebot ein. Er ließ dem abtrünnigen Dämon die Freiheit, nachdem dieser den Schwur geleistet hatte und wurde kurz darauf von Saetan an Zoey verraten. Im Zwischenreich zeigte sich, dass der Schwarze Gott Wort gehalten hatte, denn Miceal blockierte den Weg von Waynes Seele. Statt unverzüglich in die Unterwelt einzugehen, steckte sie fest. Wayne wurde von Miceal dem Licht ausgesetzt und was immer der Engel darin erkannte, veranlasste ihn dazu, deinem Mentor einen Ausweg anzubieten. Wayne hatte sich zweimal in seinem Leben barmherzig gezeigt: Einmal, indem er dich vor Zoey rettete und bei sich aufnahm und bei Tchort, den er laufen ließ. Wenn sich nun umgekehrt jemand in einem Akt bedingungsloser Liebe seiner erbarmen würde, wäre Waynes Seele frei und er könnte Frau und Kind wiedersehen.“

Blanches Brust wurde eng. Was hätte sie darum gegeben, Wayne ihre Treue beweisen zu können. „Aber ich hatte doch keine Gelegenheit, seine Seele zu befreien“, wiederholte sie mit erstickter Stimme.

„Ich weiß“, bemerkte Beliar mitfühlend. „Aber ich.“

Sie rückte von ihm ab und setzte sich kerzengerade auf. „Was hast du gesagt?“

„Damals wusste ich nicht, was ich tat“, sagte er leise. „Zumindest nicht das ganze Ausmaß. Als ich Wayne in der Gasse verschonte, befreite ich ohne es zu wissen seine Seele. Dass ich ihn laufen ließ, obwohl ich die Gelegenheit hatte, ihn an Saetan auszuliefern, war ein Akt der Liebe, also das, was Miceal gefordert hatte.“

Dennoch passte es nicht. Beliar tat es nicht aus Liebe zu Wayne, sondern ihretwegen. Warum hatte es trotzdem funktioniert?

„Wayne trug genug Bedauern in sich“, sagte Beliar, „dass es Miceal ermöglichte, ihn wieder in seine Reihen aufzunehmen.“

„Durfte er das denn? Ich meine – was ist mit dem Pakt?“

„Saetan konnte sich kaum beklagen, immerhin war er es, der Wayne zuerst verraten hatte. Er ist gierig geworden und hielt es für überflüssig, sich an universelle Gesetze zu halten. Regeln, die er selbst aufgestellt, und um die er jahrhundertelang mit den Seraphen gefeilscht hatte. Damit hat er sich aus dem Spiel geworfen, denn ohne seinen Eidbruch hätte Miceal nichts für Wayne tun können.“

Blanche brachte noch ein bisschen mehr Abstand zwischen sich und Beliar, um besser denken zu können. „Ich fasse dann mal zusammen: Waynes Seele war in dem Augenblick frei, als du sie in der Rue André Gill verschont hast?“ Sie blickte fragend zu ihm auf und er nickte. „Dennoch begreife ich nicht, warum du das getan hast, ich meine, wir kannten uns doch kaum.“ Genau genommen wusste sie noch immer nicht viel über ihn, doch das sprach sie nicht aus.

Beliar beugte sich vor und zog sie wieder an sich. „Ich tat es, um dir Kummer zu ersparen“, sagte er und küsste ihre Schläfe. „Die Erschütterung meiner Loyalität muss bei Saetan wie ein Erdbeben angekommen sein. Das würde auch erklären, warum er mir unverzüglich seine Höllenfürsten hinterhergejagt hat.“ Beliars Blick wurde finster. „Zunächst nahm ich an, dass er mich für meinen Ungehorsam bestrafen wollte, doch sein Zorn ging tiefer. Waynes Seele war für ihn unwiderruflich verloren, darum wollte er dich umso mehr.“

Blanche schüttelte den Kopf „Ich verstehe das nicht. Was will er von mir und warum wirft er Wayne nach all den Jahren wie ein benutztes Taschentuch weg?“

„Saetan muss seinen wachsenden Widerstand gespürt haben. Ahnte, dass er sich mit dir absetzen würde, sobald der erste Pakt erfüllt wäre.“ Beliar ergriff ihre ineinander verschränkten Hände. „Außerdem darfst du deine Energie nicht vergessen.“

Ihre was?

„Du bist ein Temperamentsbündel und strahlst Wut und eine gewaltige Entschlossenheit aus. Zorn ist gebündelte Lebensenergie, Blanche. Auf Dämonen wie Saetan, für den Schuld und Hass besondere Delikatessen sind, wirkst du wie ein rauchender Vulkan. Er sieht die Glut und das Potenzial in deinem Inneren.“

Blanche zog eine Grimasse. Für Saetan waren Menschen nichts weiter als Schokoriegel – Energielieferanten, die er nach Herzenslust aussaugen konnte.

„Also hatte er vor, Wayne wie eine verbrauchte Batterie gegen mich zu ersetzen, damit ich sein neues Duracell-Häschen spiele?“

„So könnte man es ausdrücken.“

„Dann ist Wayne jetzt …“, Blanche brachte es nicht über sich, im Himmel zu sagen. „Bei seiner Familie?“

„Ich habe keinen Grund, an Miceals Wort zu zweifeln.“

Er vielleicht nicht, aber wenn Saetan sein Wort brechen konnte, warum nicht auch der Erzengel?

Eine andere Frage drängte sich in den Vordergrund. „Wo ist der Recaller jetzt?“ Blanche hatte ihn zuletzt in die Klimaanlage im Georg V. versteckt, aber wenn Beliar die Patronen entfernt hatte, war die Waffe vermutlich nicht mehr an ihrem Platz. Apropos Hotel: Irritiert sah sie sich in dem prächtigen Zimmer um und ergänzte „Wo zum Henker sind wir eigentlich?“

Beliar lachte leise und zog sie wieder auf seinen Schoß. „Im zweiten Arrondissement in der Nähe der Place Vendôme.“

„Im Ritz?“

Er nickte schmunzelnd.

„Du hast eine Schwäche für Luxushotels“, tadelte sie ihn.

„Ich bin ein Dämon, und Genusssucht ist nur eins meiner Laster.“

„Ich dachte, du bist kein Dämon mehr, sondern ein Abtrünniger.“

„Ein Geächteter“, korrigierte er leise und sie konnte seine Traurigkeit spüren.

Im Grunde saß er derzeit zwischen den Stühlen, denn er gehörte weder zu Saetan noch zum Engel-Team. Er war ein Outlaw, jemand außerhalb des Systems, der in keine Schublade passte. Aber das, dachte sie, machte ihn umso gefährlicher. Keine Seite konnte sich auf ihn verlassen, denn er arbeitete weder für Miceal noch für den Teufel. Im Grunde war er wie sie. Ein freischaffender Jäger, der jederzeit selbst zum Gejagten werden konnte.

Vorsichtig schmiegte sie sich an seinen nackten Oberkörper. „Kann Miceal nicht auch etwas für dich tun?“

„Möglicherweise“, murmelte er in ihr Haar. „Um deine ursprüngliche Frage zu beantworten“, nahm er den Faden wieder auf. „Waynes Recaller ist der letzte Abberufer, den es gibt. Saetan hat alle bis auf diesen zerstört, denn er hat zu spät erkannt, dass er die Dämonenwaffe für seine Zwecke nutzen kann. Zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch diesen einen, darum ist er auch so wertvoll.“

„Warum macht er sich keinen neuen oder bestellt einen bei dBay, dem Dämonen-Onlineshop?“, brummte sie an seine Schulter.

Beliars Körper bebte von stummem Lachen. „Saetan hat nicht die Macht, einen Recaller zu erschaffen. Er konnte ihn modifizieren, aber das ist auch schon alles. Der Abberufer ist die Waffe von Dämonenjägern, Blanche. Saetan hat sie den Chasseuren, den Jägern, gestohlen und das letzte Exemplar für seine Zwecke missbraucht. Mit Miceals Recaller konnte er abtrünnige Dämonen zur Räson bringen, sie durch einen menschlichen Diener einfangen und bei ihm abliefern lassen, ohne dass er dafür seine kostbaren Erzdämonen woanders abziehen musste.“

Das machte Sinn. Mittlerweile wusste sie, dass es vier Erzdämonen gab, einen für jede Himmelsrichtung, die sich in beiden Welten uneingeschränkt bewegen konnten, also auf der Erde wie in der Unterwelt. Und sie hatten mit Sicherheit Besseres zu tun, als reuigen Hilfskräften hinterherzulaufen und sie bei ihrem Herrn abzuliefern, der ihnen die Leviten las und anschließend ohne Gutenachtgeschichte ins Bett schickte.

Menschen dagegen waren austauschbar, wie man an Waynes Beispiel sehen konnte. Außerdem hatten sie den entscheidenden Vorteil, geweihte Orte betreten zu können, etwas, das selbst Erzdämonen nicht fertigbrachten.

„Und was machen diese Chasseure mit dem Recaller?“

Beliars Augen funkelten belustigt. „Du hast bisher nur von bußfertigen Dämonen gehört, Blanche. Die stellen jedoch eine verschwindend geringe Minderheit dar verglichen mit denen, die außer Kontrolle geraten und auf der Erde Schrecken und Chaos verbreiten. Wenn man den Abberufer mit Lichtenergie füllt statt mit dunkler Materie, erlöst man die gequälte Seele und schwächt Saetan.“

Fragend hob sie die Brauen.

„So, wie der Recaller im Moment konfiguriert ist, kehren die Dämonen immer wieder zu Saetan zurück und stärken ihn mit der Energie, die sie den Menschen abgezapft haben. Wird die Waffe jedoch mit Lichtprojektilen geladen, wie es ursprünglich vorgesehen war, löst sich der dunkle Anteil in ihnen, die Dämonenenergie – auch Saetans Atem genannt – auf, und kehrt nicht zu ihrem Herrn zurück. Auf diese Weise verliert Saetan nach und nach seine Kraftquellen und wird schwächer.“

Kein Wunder, dass er das Teil unbedingt wiederhaben will. Blanche fuhr mit dem Zeigefinger über eine besonders lange Narbe, die sich von seiner Schläfe bis zum energischen Kinn zog. „Hast du die Waffe Miceal zurückgegeben?“

„Noch nicht“, raunte er, die Lippen dicht an ihrem Ohr.

Als sein Mund bedächtig ihren Hals entlangfuhr, erstarrte sie mitten in der Bewegung und schloss genussvoll die Augen. Worauf wartest du?“, hakte sie etwas heiser nach.

„Was du zu dem Angebot sagst, das Miceal für dich hat“, flüsterte er und biss sie sanft in den Nacken.

Angebot? Blanche bog den Kopf zurück, um seine Augen zu sehen. „Was denn für ein Angebot?“

„Das soll er dir selbst sagen.“

Wie war das? Lebte dieser Typ nicht im Zwischenreich? Ehe sie Beliar mit Fragen löchern konnte, war er bereits über ihr und drückte sie mit seinem Körper flach auf das Bett.

„Bevor wir gehen, müssen wir uns allerdings noch um deine Verletzungen kümmern.“

Er sah nicht so aus, als würde er dabei an kalte Kompressen denken – sein Blick hätte Stahl zum Schmelzen bringen können. In jedem Fall brachte er ihr Blut übergangslos von Zimmertemperatur auf den Siedepunkt.

„Äh …“

Doch ihr Dämon versiegelte ihren Protest mit den Lippen, mehr brauchte es auch nicht, um ihren Widerstand zu brechen. Sein leises Knurren sprang auf sie über und vibrierte in ihrem Körper, bis sie sich mit einem Mal ungewöhnlich leicht fühlte. Obwohl er sie mit beiden Flügeln fest an sich drückte, hatte sie das Gefühl vollkommener Schwerelosigkeit. Hitze durchbohrte sie, als seine Hände sie von den Kleidern befreiten und trotz ihrer Nacktheit kam es ihr vor, als würde sie jeden Augenblick in Flammen aufgehen. Diesmal fühlte sie sich nicht verletzlich, denn sie spürte ihre Macht auf Beliar, der bei ihrem Anblick Schwierigkeiten hatte, sich zu bändigen. Der erbarmungslose Krieger in ihm schien mit dem zärtlichen Liebhaber zu kämpfen – seinem Gesichtsausdruck nach sah es aus, als würde Letzterer verlieren. Nachdem sie ein lustvolles Seufzen von sich gab, war es, als hätte sie eine Lunte angesteckt, die sie nicht mehr austreten konnte. Beliar übersprang das Vorspiel kurzerhand und drang mit einer einzigen Bewegung tief in sie ein. Sie hatte das Gefühl, auseinanderzubrechen, ihr ganzes Sein war zu einem pochenden Punkt in ihrem Zentrum zusammengeschrumpft. Sie schrie, als ihr Höhepunkt sie ohne Vorwarnung wie ein Tsunami überrollte, doch das war nicht das Ende, sondern erst der Anfang. Ihr Dämon war hungrig, und sie hatte, nun ja, viele, viele Verletzungen, um die er sich kümmern musste.

Eine Stunde später stand sie frisch geliebt und geduscht vor dem begehbaren Kleiderschrank und zerbrach sich den Kopf darüber, was sie für das Treffen mit dem Erzengel anziehen sollte. Wie wäre es mit einer Cargohose in Tarnfarben anstatt der üblichen schwarzen?

„Dass Miceal dich sehen möchte, ist eine große Ehre. Audienzen bei ihm sind ausgesprochen selten.“

Audienz? Was sollte das werden, hielt er sich für den Papst? Und was bedeutete das überhaupt, sehen? Erwartete er von ihr, dass sie Suizid beging, um ihn in der Zwischenwelt zu treffen? Blanche räusperte sich. „Und, ähm, verrätst du mir auch, wo dieses superwichtige Meeting stattfinden soll?“

„Das“, sagte er mit einem Lächeln in der Stimme, „erfährst du unterwegs.“

Mit diesen Worten trat er einen Schritt zurück und wie aus dem Nichts erschien sein taillierter Ledermantel, der sich wie eine zweite Haut um ihn legte. Gruselig.

Eine Viertelstunde später betraten sie den Vorplatz des Pariser Nordbahnhofs. Beliar hatte ihr nicht erlaubt, eine Waffe anzulegen – als ob sie dafür seine Zustimmung bräuchte. Die schwarzen Dockers waren mit Messern gespickt, in den Taschen ihrer Cargohose steckte ein halbes Dutzend Wurfsterne, und die kleine Firestar befand sich in einem versteckten Halfter in ihrem Rücken. Solange Zoey noch lebte, würde sie nirgendwohin unbewaffnet gehen. Denn eines war klar: Dieses kranke Arschloch würde sich bald aus den Trümmern befreien und erholen. Und dann wäre er hinter ihr her. Er würde jeden Pflasterstein umdrehen, um sie zu finden, denn er brauchte den Recaller, koste es, was es wolle. Ohne ihn wäre er tot – mehr als das. Er würde seine Seele verlieren und wäre dazu verdammt, Saetan bis in alle Ewigkeit die Eier zu kraulen. Anders als Wayne hatte Zoey kein Erbarmen zu erwarten. Es sei denn, einer der Dämonenjäger würde ihn mit ausgerechnet der Waffe befreien, hinter der er so verzweifelt her war. Aber selbst das war keine Erlösungsgarantie, denn er musste bereuen, sonst würde er wieder da landen, wo er angefangen hatte: Bei Saetan.

Gott ist ein Komiker, dachte Blanche und scannte den Bahnhofsvorplatz.

„Gare du Nord?“

„Ich bin der Wächter des Nordens, dies ist mein Portal.“

Als wäre damit alles klar, legte Beliar eine Hand zwischen ihre Schulterblätter und führte sie zum Haupteingang.

„Weiter werde ich dich nicht begleiten, die Audienz ist etwas sehr … Persönliches.“

Blanche blickte stirnrunzelnd zu ihm auf. „Das ist ein Bahnhof, Beliar. Hier wimmelt es von Leuten, wie persönlich kann das sein?“

„Diese Menschen können weder mich noch den Seraphen sehen. Sie wissen nichts von unseren Welten und dem Krieg der Kräfte.“ Der Dämon ließ seinen Blick über die Menge gleiten. „Die meisten von euch sind blind für die Wahrheiten, die euch umgeben. Ihr könntet direkt neben Saetan stehen und würdet das Böse, das ihn umgibt, nicht einmal bemerken, obwohl ihr die Fähigkeit dazu besitzt. Ihr verfügt über die faszinierende Eigenschaft, alles Unerwünschte auszublenden und nur das zu sehen, was ihr sehen wollt. Darum stellt ihr auch keine Gefahr dar, weder für Saetan noch für seine Diener.“

Das war mal wieder typisch. Ein „Üblicherweise könnt ihr uns nicht sehen, darum stört ihr Miceal nicht“, hätte vollauf genügt. Aber nein, der Herr Dämon musste gleich eine Grundsatzerklärung daraus machen und die Menschen zu ignoranten Volltrotteln erklären. Vielen Dank auch.

Blanche schüttelte den Kopf und machte Anstalten, die Bahnhofshalle zu betreten, als sich Beliars Hand auf ihre Schulter legte.

„Hast du nicht etwas vergessen?“, fragte er, wobei seine Lippen ihr Ohr streiften.

Als sie sich mit grimmigem Blick umwandte, zog er sie in die Arme und nahm mit einem Atemzug ihren Ärger in sich auf. Dann küsste er sie tief und gründlich – machomäßig, aber machomäßig gut. Obwohl er diese Chauvi-Nummer abzog, wehrte sie sich nicht. Schlimmer noch, sie genoss seine Zärtlichkeiten in vollen Zügen und schmolz dahin wie Scarlett O’Hara in Rhett Butlers Armen.

Verdammt noch mal, wie machte er das? Wenn das so weiterging, würde sie sich als Nächstes für Schuhe und Lipgloss interessieren, allmählich ging es mit ihr wirklich bergab.

Mit einem letzten Kuss auf die Stirn entließ er sie aus der Umarmung und trat einen Schritt zurück. Dass er dabei wie ein Wolf aussah, der soeben ein Schaf gerissen hatte, machte es nicht besser.

„Wo treffe ich ihn?“, fragte sie, nachdem sie wieder Luft bekam. Insgeheim hoffte sie, dass sie dabei mürrisch aussah oder einfach nur schlecht gelaunt. Hauptsache nicht wie ein verträumter Teenager, der am liebsten gleich noch einmal geküsst werden wollte – was ohnehin nicht auf sie zutraf.

Beliar zuckte gelassen mit den Schultern.

Na toll! „Hast du wenigstens einen Tipp, woran ich diesen Typen erkenne?“

„Du wirst ihn finden, daran habe ich keinen Zweifel.“

Was fragte sie auch. Sie war versucht, die Augen zu verdrehen. Stattdessen nickte sie knapp, dann wandte sie sich um und verschwand im Inneren der imposanten Empfangshalle.