13

Draußen wartete Nella in der Limousine auf sie, doch das Gespräch brannte wie Säure in Blanches Adern, sodass sie an dem wartenden Wagen vorüberging, ohne den Blick zu heben.

Noch vor ein paar Tagen war sie ganz wild auf Informationen über Waynes Vergangenheit gewesen. Mittlerweile hatte sie die Nase voll davon. Jede neue Auskunft über ihren väterlichen Freund vergrößerte die Kluft zwischen ihnen. Zurzeit hatte sie das Gefühl, dass sie ein gigantischer Graben trennte. Natürlich war ihr klar, dass Waynes Geheimniskrämerei ihrem Schutz galt. Dennoch erstickte sie fast an ihrem Ärger und sie konnte ihre Enttäuschung, die mittlerweile in Wut umgeschlagen war, nicht verleugnen. War sie so unwürdig, dass er sie derart rigoros aus seinem Leben ausschließen musste? War es wirklich notwendig gewesen, sie vollkommen aus wichtigen Entscheidungen herauszuhalten – und am Ende sogar fortzuschicken?

Der Gedanke, wie allein er sich gefühlt haben musste, brachte sie beinah um den Verstand. Sie hätte ihm helfen und für ihn da sein sollen. Stattdessen steckte sie in einem Internat fest und spielte Jekyll & Hyde. Tagsüber war sie Blanche Dubuffet, die ungeschliffene Tochter eines stinkreichen Industriellen. Wenn es dunkel wurde, arbeitete sie als Erienne für einen Clubbesitzer namens Marcel Wyss. Ihm gehörten die wenigen Nachtclubs von Lausanne und Umgebung. Außerdem kontrollierte er das Rotlichtviertel in der Nähe des Bahnhofs. Blanche wollte während ihres Exils in Form bleiben, also wurde sie Türsteherin in einem seiner Jetset-Schuppen. Den Job zu ergattern war nicht einfach gewesen, Marcel hatte sie zweimal abblitzen lassen. Erst nachdem sie seinen Bodyguards vor seinen Augen mit wenigen Tritten eine Abreibung verpasst hatte, war sie seine erste Wahl für diese Aufgabe: Eine zarte junge Frau in einem eleganten Abendkleid, die die Gäste seines Nobelclubs begrüßte. Hierbei kam ihr endlich einmal das Leben auf der Straße zugute, das sie deutlich älter als ihre sechzehn Jahre aussehen ließ.

Als Gegenleistung durfte sie den Schießstand benutzen und regelmäßig seine Männer vermöbeln – Training nannte er das. Aber seine Jungs waren derart schlecht in Form, dass sie dreimal die Woche den Boden mit ihnen aufwischte. Zum Glück lernten sie schnell, sonst wäre ihr diese Farce bald langweilig geworden. Doch für ausgewachsene Gewichthebertypen, die sich für harte Kerle hielten, war es kein Vergnügen, regelmäßig von einem Mädchen zusammengeschlagen zu werden.

Nachdem sie von dem Schul-Scheiß die Schnauze voll hatte, verließ sie das Internat und folgte Wyss’ Einladung, der ihr anbot, in seiner Villa am Genfer See zu wohnen. Dort hielt sie sich fit und lehrte seine Männer das Fürchten, während sie auf Nachricht von Wayne wartete. Doch ihr Mentor zog es vor, allein gegen Dämonen zu kämpfen und sie im Unklaren zu lassen.

Warum hatte er diesen Tchort laufen lassen? Hatte er etwa geglaubt, dass Saetan schulterzuckend darüber hinwegsehen würde? Er musste doch gewusst haben, dass das einem Todesurteil gleichkam. Was war in ihn gefahren, seinen letzten Job einfach hinzuschmeißen? Den Schlüssel zu seiner Freiheit wegzuwerfen – und das nach zwanzig Jahren Plackerei.

Zugegeben, die Sache mit der Freiheit war relativ und galt nur für den ersten Pakt, der ihm zu seiner Rache verholfen und in eine nahezu unverwundbare Super-Killermaschine verwandelt hatte. Das zweite Abkommen behandelte seine unsterbliche Seele, die er im Tausch gegen ihre Sicherheit verpfändet hatte. Aber zumindest hätte er nach diesem letzten Auftrag nicht mehr auf Dämonenjagd gehen müssen. Wenn sie danach zusammen fortgegangen wären, hätte er den Rest seines Lebens genießen können, so alt war er schließlich noch nicht.

Blanche biss die Zähne zusammen. Ja, dachte sie. Er hätte noch viele gute Jahre vor sich gehabt, doch was dann? Am Ende seiner Wegstrecke stand Saetan. Er war der Beginn und der Abschluss dieses elenden Teufelskreises, aus dem es für Wayne kein Entkommen gab.

Gedankenverloren ging sie die Avenue de Clichy entlang Richtung Metrostation La Fourche. Zahllose Fragen flatterten wie Schmetterlinge in ihrem Kopf, darum bemerkte sie den schwarzen SUV zunächst nicht, der ihr folgte, seit sie die Horizon Videothek verlassen hatte. Als der hauchzarte Pfeil in ihren Nacken eindrang, schaffte sie es gerade noch, die Waffe zu ziehen. Zum Zielen kam sie nicht mehr, denn ein zweiter Betäubungspfeil bohrte sich in den Hals, und ihre Welt löste sich in weißem Nebel auf. Ihre Beine wurden flüssig und ihr Kopf tauchte unter eine Decke dumpfer Benommenheit. Sie spürte, wie jemand ihr behutsam die Glock aus der Hand nahm, sie aufhob und auf etwas Weiches legte, das nach Leder und Eau de Cologne roch. Jemand beugte sich über sie, zog sie auf seinen Schoß. Dann wurde sie in eine würzige Weihrauchwolke gehüllt. Als die Erkenntnis sie traf, stöhnte sie leise auf. Ein weicher Mund legte sich auf ihren Hals und zog eine feuchte Spur bis zu ihren Lippen.

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, Schneewittchen.“

Blanche blinzelte ein paar Mal, bis sich die Watte aus ihrem Kopf verzog. Ein kurzer Bodycheck verriet ihr, dass sie langsam wieder Gefühl in Armen und Beinen bekam. Überrascht stellte sie fest, dass sie weder geknebelt noch gefesselt war. Stattdessen lag sie wie die Prinzessin auf der Erbse in einem antiken Himmelbett mit dunkelrotem Baldachin, der mit einem komplizierten Goldblattmuster bestickt war.

Leises Gemurmel im Hintergrund offenbarte ihr, dass sie nicht allein war, doch als sie die heisere Stimme erkannte, stieg Übelkeit in ihr auf. Eigentlich hätte sie sich freuen sollen, schließlich hatte sie Zoey gesucht. Allerdings würde sie sich erheblich wohler fühlen, wenn sie eine Waffe bei sich hätte und eben das war nicht der Fall. Glock, Heckler und die SIG waren fort, genau wie die Beretta in ihrem Rücken und ihre letzten beiden Handgranaten. Sie machte sich gar nicht erst die Mühe, nach den Messern und Wurfsternen zu suchen. Genauso gut hätte er sie nackt ausziehen können. Stattdessen lag sie komplett angezogen auf dem Bett. Einzig die Wachsjacke war fort, die sie ihr wahrscheinlich abgenommen hatten, um sie besser durchsuchen zu können.

Als eine raue Stimme über ihr Ohr strich, zuckte sie zusammen.

„Es bedurfte zwei meiner Männer, um dein Kriegswerkzeug zu entfernen, kleine Amazone“, raspelte Zoey Flüsterstimme.

Er war viel zu nah – seine Lippen berührten fast ihr Ohr, während sein erdiger Kirchengeruch sie wie eine Wolke umhüllte. Wahrscheinlich wäre es vernünftig, sich defensiv zu geben, um zu erfahren, was er anzubieten hatte. Denn wenn er sie umzubringen wollte, wäre sie längst tot – Gelegenheiten hatte es schließlich genug gegeben. Würde es ihm ums Foltern gehen, hätte er sie wie ein Kunstwerk von Christo und Jeanne-Claude zusammengeschnürt und in einen schalldichten Verhörraum geworfen. In diesem Fall würde sie auch nicht auf einem königlichen Himmelbett liegen, sondern in einem feuchten Kellerloch.

Zoey wollte etwas von ihr und sie wusste, was das war. Den Recaller. Pech für ihn, dass sie nicht gern teilte – das übliche Problem von Einzelkindern. Außerdem hatte dieser Wichser sie kleine Amazone genannt, allein dafür verdiente er einen Tritt in den Arsch. Der springende Punkt war allerdings, dass er ihr gerade auf die Pelle rückte und sie nicht wusste, ob sie noch einmal die Gelegenheit bekommen würde, ihm so nahe zu sein. Möglicherweise dachte er auch, dass das Betäubungsmittel nach wie vor Wirkung zeigte und sie noch zu benommen war, um eine ernsthafte Gefahr für ihn darzustellen. Wie auch immer, sie hatte keine Zeit, einen ausgeklügelten Plan zu entwerfen. Sie war hier, er war hier, und sie hatte eine Mordswut im Bauch und obendrein eine Rechnung mit ihm offen. Heute war Zahltag. Für Renée, für Wayne und für Andrej – das waren drei Gründe für Zoey, zu sterben, darum zögerte sie nicht.

Mit einer schnellen Bewegung hieb sie ihre ausgestreckte Hand wie eine Klinge gegen seinen Hals, sodass der Mittelhandknochen ihres kleinen Fingers mit Karacho in seine Kehle schlug. Zoey röchelte, als hätte er eine Gräte verschluckt, doch sie war bereits vom Bett gesprungen und warf ihn zu Boden. Beide Hände in sein goldblondes Haar gekrallt, knallte sie seinen Hinterkopf gegen den roten Marmorboden. Einmal, zweimal, dreimal, bis das erste Blut floss. Einen Moment lang fragte sie sich, warum er sich nicht wehrte, bis ein Messer auf ihrer Kehle lag und er sie wie einen Pfannkuchen auf den Rücken drehte.

Das war das Problem. Sie konnte noch so gut ausgebildet sein, wenn sie einem Gegner gegenüberstand, der ebenso gut kämpfen konnte wie sie, gewann der Stärkere. Da sie nicht mit Muskelmasse aufwarten konnte, wurde schnell deutlich, dass Zoey ihr an Körperkraft überlegen war. Hätte sie ein Messer, würde das Ganze wieder anders aussehen, aber leider besaß sie keine Waffe. Zoeys eisblaue Augen hielten ihren Blick fest, und – oh Gott, er war erregt wie ein brünstiger Bulle. Ihre Magensäure machte Anstalten, nach frischer Luft zu schnappen.

„Du siehst müde aus, Schneewittchen. Möchtest du dich ein bisschen ausruhen, bevor wir das hier zu Ende bringen?“

Seine Erektion bohrte sich in ihren Unterbauch, sein heißer Atem strich über ihr Gesicht.

„Schlaf schadet meinen Augenringen“, stieß sie hervor. Ob er noch mehr Messer am Körper trug? Bestimmt. Und ob sie eines von denen erreichen konnte? Oder würde er ihre Bewegung bemerken, bevor sie ihm eines seiner Ersatzmesser gemopst hätte? Fragen über Fragen, doch Zoey kürzte die Sache ab. Er lachte leise und zog sein Balisong wie in Zeitraffer zurück, wobei er sie mit der linken Hand auf den Boden gedrückt hielt.

„Was hältst du von folgendem Vorschlag: Wir beide. Jeder ein Messer. Dann werden wir ja sehen, wer von uns der Bessere ist.“

Mit dem Unterschied, dass er auf saetanische Kräfte zurückgreifen konnte, während die Wirkung von Beliars Blut bei ihr bereits verpufft war. Außerdem heilte er in Nullkommanichts und seine Haut war mittlerweile so undurchdringlich wie ein Kettenhemd. Dennoch, ein Messer war besser als nichts und es war ja nicht so, als hätte sie eine Wahl. Er hielt sie auf den Boden gedrückt und tat, als läge die Entscheidung bei ihr. Fakt war, dass er gegen sie kämpfen wollte. Wahrscheinlich plante er, sie aufzuschlitzen und anschließend ihr Blut zu trinken – wie sehr ihn das antörnte, wusste sie ja bereits.

„Wenn du gewinnst, darfst du dieses Mal ungeschoren mein Quartier verlassen.“

Aber klar doch.

„Gewinne ich“, ergänzte er und ließ seinen Unterkörper gegen den dünnen Stoff ihres Rollkragenpullovers kreisen, „wirst du mir sagen, wo du den Abberufer versteckt hast.“ Ein träges Lächeln huschte über seine Züge. „Und glaube mir, früher oder später wirst du es mir verraten.“ Er beugte sich tiefer über sie und flüsterte: „Ich hoffe, dass es später sein wird, so habe ich länger etwas von dir.“

Damit legte er seinen Mund auf ihren und zerbiss ihre Unterlippe. Sie tat ihm den gleichen Gefallen, doch alles, was sie damit erreichte, war, dass er den Kopf in den Nacken warf und aus vollem Hals lachte. Es war ein seltsames Geräusch, zumal sie ihn bisher nur heiser kannte. Doch sein Lachen war tief und voll und er klang wirklich glücklich. Wie merkwürdig.

Als er sie wieder ansah, leckte er sich Blut von der Unterlippe. Ob es ihres oder seines war, konnte sie nicht sagen. Sie machte keine Anstalten, es ihm gleichzutun, denn ihr Blut machte ihn an, und je abgelenkter er war, desto besser für sie.

„Bist du einverstanden, kleine Kriegerin?“

Kleine? Sonst noch was?

„Von mir aus, du Pussy. Aber heul mir nachher nicht die Hucke voll, Weicheier finde ich nämlich zum Kotzen.“

Seine Augen wurden schmal, als sich sein Engelgesicht über sie beugte. „Keine Angst, Spätzchen. Wenn ich mit dir fertig bin, werden meine Eier deine letzte Sorge sein.“

Schon klar.

Zoey leckte ihr mit einem lustvollen Seufzer das Blut von der Lippe. Danach erhob er sich wie von unsichtbaren Fäden gezogen und fischte eines ihrer Uzi Combat Kampfmesser aus der Innenseite seines Sakkos. Die Schneide war zwar nur elf Zentimeter lang, doch dank der Sägezahnung am Klingenrücken konnte sie ihm mit dieser Waffe einen Arm abtrennen. Oder den Kopf, je nach Bedarf. Die unscheinbare Säge glitt durch Knochen wie ein Tortenmesser durch Sahneschnittchen. Langsam erhob sie sich, und obwohl sie Zoey nicht gern aus den Augen ließ, nahm sie ihre Umgebung zum ersten Mal richtig wahr. Sie befanden sich in einer palastartigen Halle, gegen die das George V. geradezu schäbig wirkte. Kunstvoll bestickte Wandteppiche schmückten die gesamte rechte Seite. Der Boden bestand aus rot geädertem Marmor, von dem Malachitsäulen zu einer im da Vinci-Stil bemalten Decke führten – genauer gesagt, einem Kreuzgewölbe, auf dem eine Schlacht abgebildet war. Geflügelte Engel mit Schwertern, von denen ein blaues Licht ausging, bedrohten einen aufrecht stehenden Stier, der Marbueel, dem Dritten verdammt ähnlich sah. Seine funkelnden Augen glühten wie ein Paar Kohlestücke, während der überlange Ochsenschwanz ungeduldig hin- und herpeitschte. Hinter ihm hatten sich riesige schwarze Schattengestalten versammelt, die nur auf einen Angriffsbefehl zu warten schienen. Die Szene wirkte angespannt, als würde ein einziger Funke genügen, einen Krieg zu entfachen.

Ihr Blick wanderte über das Gewölbe und blieb an einer prachtvollen Kuppel hängen, die im Zentrum der Deckenmalerei stand.

Auf der Südseite des Saals befanden sich spitz zulaufende Buntglasfenster, auf denen dunkle Gestalten mit Hörnern und violetten Augen abgebildet waren. Ohne die bizarren Motive hätte die Halle wie ein Kirchenschiff gewirkt, doch die kriegerischen Bilder passten nicht zu einem geweihten Ort.

„Fühl dich wie zu Hause.“

Zoeys trügerisch sanfte Stimme riss ihren Blick von den Bildern zurück in die Gegenwart. Mit einer gönnerhaften Geste reichte er ihr das Messer mit dem Griff voran, während seine Miene keinen Zweifel über seine vermeintliche Überlegenheit ließ.

Arroganter Bastard. Sie hielt seinem Blick stand und nahm die Waffe mit einem grimmigen Lächeln an sich. Oh Mann, dieser Typ war so abartig schön, er passte in seine Umgebung wie eine griechische Skulptur. Statt auszusehen wie der Gott der Engel, müssten Hurensöhne wie er eine Augenklappe tragen und hinken, damit man sie überall als das erkannte, was sie waren. Dreckschweine.

„Wozu brauchst du die Dämonenwaffe?“, fragte sie und umkreiste ihn langsam. Er passte sich ihrer Bewegung an, sodass sie sich wie zwei Planeten um eine imaginäre Achse drehten.

„Um das zu beenden, wozu Wayne nicht fähig war.“

„Und du denkst, du könntest den Schwarzen Gott stellen?“ Auch das war eine rhetorische Frage. Sie wollte Zeit gewinnen und dieser selbstgefällige Hurensohn hörte sich nun mal gern reden.

Tchort war Teil des Paktes zwischen ihm und Arziel, dem Fürsten der Schmerzen. Wenn Zoey versagte, wäre das Geschäft geplatzt und er büßte mehr als seine Kräfte ein. Er würde seine Seele verlieren, ohne Wenn und Aber.

„Dein geliebter Wayne ist am Ende schwach geworden, ich denke, das solltest du wissen.“

Als ob sie darauf reinfallen würde.

„Dieser Tchort ist eine Schlange“, fuhr er fort, während er sie wie ein Raubtier belauerte.

Blanche ließ ihn ebenfalls nicht aus den Augen. Sie beobachtete seine Haltung, das Muskelspiel der Arme, die Stellung der Beine – wie er das linke Knie belastete. Er bewegte sich wie ein Kämpfer, was er vermutlich Saetan zu verdanken hatte. Doch wenn er nur einmal zuckte, wäre sie bereit, denn auch ohne Pakt war sie eine Assassinin, die wusste, was man mit einem Messer anstellen konnte.

„Er hat Wayne weisgemacht, dass Saetan ihn hintergehen würde. Waynes erster Vertrag wäre nach diesem Auftrag erfüllt gewesen, wie du sicher weißt.“

Sie verzog keine Miene, ließ ihn durch nichts wissen, ob sie darüber informiert war oder nicht.

„Tchort hat deinen Mentor so lange bearbeitet, bis dieser ihn laufen ließ. Vorher nahm Wayne ihm noch das Versprechen ab, sich bei Miceal für ihn zu verwenden.“

Den Namen hatte sie schon mal gehört. War das nicht der höchste Engel oder so?

„Warum hätte Wayne so etwas tun sollen?“

Zoey grinste und weiße Zähne blitzten auf. „Natürlich um seinen Verrat vorzubereiten, warum denn sonst?“

Das ergab überhaupt keinen Sinn. Wayne sollte seinen letzten Auftrag für Saetan vermasselt haben, allein auf den Verdacht hin, dass dieser ihn um seine wohlverdiente Freiheit betrügen wollte? Bullshit! Ohne triftigen Grund hätte Wayne niemals einen Vertrag gebrochen. Wahrscheinlich dachte sich Zoey diesen Mist aus, um sie abzulenken. Netter Versuch.

„Tatsache ist, dass Wayne bis zu seiner Auflösung im Zwischenreich untergetaucht ist, wo Saetan ihm nichts anhaben konnte. Und während dein feiger Mentor sich unter Miceals Rockschößen verkrochen hat, ist Tchort entkommen.“

Danke, du dämliches Arschloch, dass du mich daran erinnerst, dass Waynes Seele unwiderruflich zerstört wurde. Der Griff um ihr Messer wurde so fest, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

„Solange Tchort abtrünnig ist, sind all seine Pakte aufgehoben und seine Vertragspartner ihrer Pflichten entbunden.“

Das stimmte mit Leos Ausführungen überein. Wenn das tatsächlich zutraf, mussten derzeit Hunderte Seelenkontrakte vakant sein – wahrscheinlich Tausende. Kein Wunder, dass Saetan so angepisst war. Erst taucht Tchort unter, dann verweigert Wayne den Dienst und nun stellt sich auch noch Beliar gegen seinen Herrn. Der schickt ihm seine Höllenhunde hinterher, doch was machen die? Anstatt den Kronprinzen bei Saetan abzuliefern, lassen sie Beliar mit einem lauten Knall verpuffen. Damit waren seine Pakte ebenfalls hinfällig, was noch einmal ein paar Tausend Seelen befreite.

Beliar.

Ihr Herz krampfte sich zusammen.

Nicht fühlen!

Gehorsam drückte sie den Schmerz fort und konzentrierte sich auf den Feind vor sich, doch ihre Gedanken drifteten wie von selbst zu Zoeys kleinem Vortrag. Das Ganze fühlte sich falsch an – schräg, wie Apfelkuchen mit Senf. Die einzelnen Zutaten passten nicht zusammen, zumal Beliars Ende eindeutig Saetans Schaden war. Wie Zoey bereits bemerkt hatte, wenn Beliar von der Bildfläche verschwand, waren seine Pakte ebenfalls hinfällig und das konnte kaum im Interesse des Teufels sein. Die Idee, dass die Fürsten eigenmächtig gehandelt und Beliar gegen Saetans Willen ausgelöscht hatten, war reizvoll, aber undurchführbar. Dämonen konnten nicht lügen. Wie sollten sie unter diesen Umständen gegen eine strikte Anweisung verstoßen?

Was zur Hölle war hier los?

„Wie du siehst, kann ich auf den Recaller nicht verzichten“, fuhr Zoey mit heiserer Stimme fort.

Darauf war sie auch schon gekommen, darum würde sie ihm das Teil ganz sicher nicht geben, selbst wenn er vorhatte, sie zu tranchieren und scheibchenweise an den pferdefüßigen Marbueel zu verfüttern. Zoey war auf den Abberufer angewiesen – sie nicht. Zu seinem Pakt gehörte, dass er Tchort fand und zurückbrachte, und das konnte er nur mit der Dämonenwaffe bewerkstelligen. Ohne den Recaller würde Zoeys Abkommen platzen und ihn auf direktem Wege zur Hölle fahren lassen. Wenn sie nicht wüsste, dass diesem sadomasochistischen Arschloch die Qualen gefallen würden, wäre diese Aussicht etwas, worauf sie sich freuen könnte.

„Und jetzt …“ Zoey trat einen Schritt auf sie zu. Anscheinend wollte er noch etwas sagen, doch sie hatte genug von seinem Gelaber.

Sie wollte, dass es aufhörte. Ihre innere Zerrissenheit und die brodelnde Wut, die sie vergiftete und alles Lebendige in ihr verbrannte, bis eines Tages nichts als ein rauchendes Häufchen Asche von ihr übrig wäre.

Am Schlimmsten war der Schmerz, der sie wie Stacheldraht einschnürte und gleichzeitig das Einzige zu sein schien, das sie zusammenhielt. Schmerz über den Verlust der Menschen, die sie einmal liebte. Schmerz über das Wissen, dass sie sich vom Leben zurückgezogen hatte, um Kummer und Trauer zu entgehen. Um nicht mehr fühlen zu müssen, was ihr Leid nur noch verstärkt hatte. Denn ohne Gefühle gab es keine Liebe und ohne Liebe besaß sie nichts, für das es sich zu leben lohnte.

Über die Liebe wusste sie nicht viel. Im Heim hatten die Schwestern durch gezielte Strafaktionen verhindert, dass die Mädchen tiefere Sympathien zueinander fassten. Indem sie Denunzierung belohnten und Spitzel bevorzugten, schufen sie eine Atmosphäre des Misstrauens, das die Schlafsäle verpestete und aufkommende Freundschaften lahmlegte. Ungehorsame Kinder nannten sie böses Blut, bis sie irgendwann selbst glaubten, dass mit ihnen etwas nicht stimmte. Dass sie schlecht waren. Nicht liebenswert.

Andrej hatte Blanche geliebt und sie ihn. Aber was hatte ihnen das gebracht? Er war aus Liebe zu ihr gestorben und mit seinem Tod war etwas in ihr unwiderruflich zerbrochen.

Wayne hatte sie trotz aller Geheimnisse ebenfalls geliebt und versucht, sie zu beschützen. Doch am Ende war sie allein zurückgeblieben in einer Welt, in der Liebe Leiden bedeutete. Denn wenn man einem Menschen erstmal sein Herz öffnete, war man eine offene Wunde, sobald dieser Jemand einen wieder verließ. Mit ihm verschwanden Freude und Wärme und zurück blieb nichts als Leere. Ein Vakuum, gepaart mit einer Eiseskälte, die zehnmal Schlimmer war, als es jede Hölle sein konnte. Vielleicht war das ja auch der Grund dafür, dass ihr Saetan keine Angst einjagen konnte. Sie war einfach schon zu oft durch die Hölle und zurück gegangen, als dass ihr diese Vorstellung feuchte Hände bereiten konnte.

Andrej war fort. Wayne ebenfalls. Und nun auch Beliar.

Beliar.

Vor nicht mal einer Woche waren sie sich zum ersten Mal begegnet, doch in dieser kurzen Zeitspanne hatte er ihr Leben beeinflusst wie kaum ein anderer. Und gerade, als sie wieder zu hoffen wagte, als der Dämon ihren Lebensfunken anfachte, hatte der Tod ihr auch diesen Menschen, dieses Wesen, genommen. Wenn Liebe bedeutete, einen Teufelskreis aus Leid und Schmerzen zu betreten, hatte sie endgültig genug davon.

Langsam richtete sie ihren Blick auf Zoeys Mund. Was immer er gerade mit diesem süffisanten Lächeln erzählte, interessierte sie nicht. Es muss heute enden, dachte sie und spannte die Muskeln an. Dieser elende Bastard hatte weiß Gott genug Schaden angerichtet. Und wenn er einmal etwas richtig machen würde, würde er sie mit sich nehmen. Sie hatte keine Kraft mehr für dieses Leben, denn es gab nichts, wofür es sich noch zu leben lohnte.

Ihre Hand zuckte vor, doch das Messer verfehlte Zoeys Halsschlagader um Haaresbreite, seine Reflexe waren exquisit. Mit funkelnden Augen streifte er sein Zweitausend-Euro-Sakko von Zegna ab, das er wie einen Lumpen zu Boden warf. Dann wischte er sich das Blut vom Hals und leckte es vom Finger, während sein Blick auf ihr ruhte.

Bon Appétit!

Immerhin hatte sie ihn erwischt, nur leider war das Überraschungsmoment hinüber. Egal, sie würde einfach immer weiter angreifen, bis sie diesen Drecksack an die Wand genagelt hätte. In jedem Fall hielt er endlich seine Klappe – Jippijey! Ihre Hand stieß abermals zu, wobei ihr klar war, dass er mit ihrem Angriff rechnete, darum ließ sie ihn ins Leere laufen, indem sie sich unter seinem hervorschießenden Arm duckte, bis sie hinter ihm stand und ihm das Messer bis zum Heft in den Rücken rammte und die Klinge um neunzig Grad drehte. Sein Schrei ließ ihr Trommelfell vibrieren, doch sie bekam eine Gänsehaut, als er in ein lustvolles Stöhnen überging. Dieser kaputte Freak!

Sie riss die Klinge gerade rechtzeitig zurück, als er sich mit einer fließenden Bewegung umwandte, ihren Oberarm schnappte und von sich schleuderte. Sie flog sechs Meter durch die Luft und knallte mit dem Rücken gegen die holzvertäfelte Wand neben dem Himmelbett. Mit einem Aufkeuchen leerten sich ihre Lungen, dann landete sie unsanft auf allen vieren auf dem roten Marmorboden und rang nach Atem. Im nächsten Moment war er auch schon über ihr, doch sie trat ihm die Beine weg, sodass er ebenfalls in die Horizontale kam. Ohne zu zögern, schnitt sie ihm das weiße Hemd vom Krawattenknoten bis zum Gürtel auf, doch dieser Mistkerl wollte einfach nicht aufhören, sich zu wehren. Blutüberströmt zog er sie näher zu sich heran – ihr Messer steckte noch in seinem Unterleib – und presste seine Lippen auf ihren Mund. Dann warf er sie mit übermenschlicher Kraft gegen einen Wandbehang, sodass ihr schon wieder die Puste ausging. Verdammt! Noch so ein Wurf und sie würde nicht mehr aufstehen.

Nach Atem japsend starrte sie ihn an – sie konnte praktisch zusehen, wie er heilte. Na toll. Ihr nächster Schlag musste seinen Nerv treffen, sonst hätte er sie.

Herz oder Halsschlagader? Details, Details … im Aufstehen tastete sie die Wand ab, bis sich ihre Hand um eine dicke Kordel schloss, die zu einem Vorhang gehörte. Bingo! Zoey näherte sich ihr mit gezücktem Messer und sah in seiner blutdurchtränkten Kleidung wie ein Löwe auf der Jagd aus. Seine blonde Mähne schimmerte wie flüssiges Gold, während seine Augen triumphierend leuchteten, als würde ihm ein großer Sieg bevorstehen.

Wie eine gespannte Bogensehne schoss sie auf ihn zu, warf die goldene Kordel um seine Waffenhand und verknotete sie mit dem massiven Bettpfosten. Gerade als sie sich über das zusätzliche Messer freute, zog er mit der freien Hand ein zweites Balisong aus der Hosentasche und machte kurzen Prozess mit seiner Fessel.

War ja klar. Doch sie wartete seinen nächsten Angriff nicht ab. Blitzschnell rollte sie über den Boden und schnitt ihm die Bänder seiner Kniekehlen durch, damit er nicht weglaufen konnte. Zoey klappte wie eine Puppe zusammen, deren Fäden jemand durchtrennt hatte. Schon war sie über ihm und trieb das Butterflymesser ins linke Auge.

Na also, das mit der Augenklappe könnte hinhauen – fehlt nur noch das Hinken. Linkes oder rechtes Knie? Zu viele Details. Zuerst musste sie sich um sein Herz kümmern, falls er so etwas überhaupt besaß. Es hätte sie nicht gewundert, wenn ihr Messer an einem Stein in seiner Brust abgerutscht wäre, doch sie kam nicht dazu, den tödlichen Schlag auszuführen.

Zoeys Wutschrei zerriss die Luft. Na so etwas. Sie hatte schon befürchtet, dass dieser kalte Fisch Nullkomma-gar-keine Gefühle hatte. Lieber kämpfte sie mit einem angeschossenen Bären als gegen einen Hai. Vielleicht nahm er sie aber auch zum ersten Mal als ernst zu nehmenden Gegner wahr, denn plötzlich wurde aus dem Spiel bitterer Ernst. Sein linkes Auge schaute gruselig aus, doch mithilfe der dämonischen Kräfte heilte es im Handumdrehen und zurück blieb nur sein blutverschmiertes Gesicht. Mittlerweile sah er wie Stephen Kings Carrie aus, fehlte nur noch das Ballkleid.

Nun war er derjenige, der sie unermüdlich angriff, und er war verdammt schnell. Zwar besaß sie jetzt zwei Messer, doch er hatte ein weiteres Balisong aus den Tiefen seiner Hosentasche hervorgezaubert, was ihren Vorteil wieder ausglich. Und, oh Mann, er war stark. Zoey hieb ein ums andere Mal auf sie ein, während ihr nichts anderes übrig blieb, als seinen Schlägen rückwärts taumelnd auszuweichen. Kalte Wut tobte in seinen Augen und der Weihrauchgeruch intensivierte sich, als würde er ihn mit jeder Pore ausdünsten. Nachdem sie sich abermals unter seiner Klinge weggeduckt hatte, nahm er kurzerhand den zierlichen Schreibtisch aus der Zeit des Sonnenkönigs und schleuderte ihn in ihre Richtung. Wie eine Bowlingkugel schlitterte sie über den Marmorboden und suchte unter dem massiven Himmelbett Schutz, dessen kunstvoll bestickter Baldachin unter der Wucht des Sekretärs einstürzte.

Verdammte Scheiße, hier lag sie wie ein kleines Mädchen unter dem Bett – das durfte doch wohl nicht wahr sein!

„Komm da raus!“, schrie er wie von Furien besessen.

Mehrstimmig! Und da begriff sie es. Zoey war nicht mehr an Bord. Sein Dämon hatte übernommen und lenkte ihn wie eine ferngesteuerte Rakete nach seinem Willen. Zoey war nur noch eine leere Hülle, hilflos seinem neuen Herren ausgeliefert, der ihn sich übergezogen hatte wie einen Handschuh. Der Todesengel war besessen und genauso sah er auch aus. Das zerrissene Hemd war fort. Schwer atmend stand er mit blanker Brust im Raum, die Hände zu Klauen gekrümmt, die Vorderseite blutverschmiert. Seine Augen waren nicht länger blau, sondern zwei schwarze Spiegel, die alles Licht in sich aufzusaugen schienen. Auf grausame Weise war er immer noch schön, obwohl es wehtat, ihn anzusehen.

Das hier war abgrundtief falsch. Und es musste endlich aufhören.

Sie blinzelte, als er von einem Moment zum nächsten verschwand, so schnell, dass ihre Augen nicht mehr mitkamen. Hektisch suchte sie den Boden nach seinen Gucci Slippern ab. Verflucht, wo war er hin? Einen Wimpernschlag später packte eine stählerne Hand ihr rechtes Fußgelenk. Blanche wurde unter dem Bett hervorgezogen wie ein Kaninchen, das ein Zauberer aus einem Zylinder heraufbeschwor. Doch statt sie dem applaudierenden Publikum zu präsentieren, schleuderte er sie mit mörderischer Kraft gegen die Eingangstür. Sie fühlte ihre Knochen brechen, das Blut in den Ohren dröhnte wie ein Vorschlaghammer, der ihren Kopf zu spalten drohte. Einen Moment lang sah sie Sternchen und bekam keine Luft mehr. Sie musste kurz das Bewusstsein verloren haben, nur eine oder zwei Sekunden. Als sie die Augen wieder öffnete, stand er über ihr und durchbohrte sie mit seinem Blick. Soweit sie das zwischen all den Sternen vor ihren Augen erkennen konnte, war sein Gesicht merkwürdig verzerrt, als schien er mit sich zu kämpfen – mit etwas.

Seinem Dämon.

Zoey rang um die Führung, wollte wieder übernehmen, doch wer immer ihn lenkte, ließ sich die Zügel nicht so einfach aus der Hand nehmen. Zoey schrie mit seiner eigenen Stimme wutentbrannt auf, blinzelte und seine Augen waren wieder blau. Einen Augenblick später erschienen abermals zwei Obsidiane anstelle der stahlblauen Iris, und aus dieser Nähe erkannte sie die schwarzen Schlitze anstelle von Pupillen.

Schlitze!

Zoeys Hände schlossen sich um ihren Hals und drückten zu. „Wo. Ist. Der. Recaller?“, fauchte ein mehrstimmiger Chor, der Zoeys Mund benutzte. Wie es aussah, lag nicht nur Zoey etwas an der Dämonenwaffe. „Ant. Worte. Mir“, drängte er oder es und beugte sich tiefer über sie.

Sie öffnete den Mund, doch ohne Luftzufuhr wurde das Sprechen zum Problem. Das schien der Dämon ebenfalls zu begreifen, denn er lockerte den Griff gerade genug, damit sie reden konnte.

„Leck. Mich!“, presste sie halb erstickt hervor.

Zügellose Raserei wütete hinter den schwarzen Augen. Instinktiv spürte sie, dass sie nicht hineinsehen durfte, dennoch konnte sie nicht anders. Sie fühlte das körperlose Böse am anderen Ende der Leitung, das sie mit Haut und Haaren inhalieren wollte. Eine leise Stimme in ihrem Kopf warnte sie, dass ihre Erinnerungen nicht mehr sicher waren, genauso wenig wie die wenigen glücklichen Momente in ihrem Leben. Der Zoey-Dämon versuchte, sie zu unterwerfen, wollte in sie eindringen, um ihr alles zu nehmen, was sie ausmachte. Als Beliars Antlitz vor ihrem inneren Auge erschien, biss sie auf die Innenseite ihrer Wange, bis sie Blut schmeckte.

Den bekommt ihr nicht!

Sie bäumte sich auf und wehrte sich aus Leibeskräften.

Nehmt, was ihr wollt, aber diese Erinnerung gehört mir!

Zoeys Dämon brüllte und das Geräusch fühlte sich auf ihrer Haut wie tausend glühende Nadelstiche an. Der Schmerz half, sich aus seinem Blick zu befreien und den Kopf abzuwenden. Sie sah Zoeys Faust, die sich erhob, um ihren Schädel zu zerschmettern. Sie wollte die Augen nicht schließen, doch sie fielen praktisch von allein zu.

Endlich ist es vorbei, dachte sie und ergab sich dem Tod.

Nur blieb der finale Schlag aus.

Statt dessen drangen gedämpfte Schüsse aus dem Nebenraum zu ihr, die Tür flog auf und eine Frau in der Nähe stieß einen ohrenbetäubenden Schrei aus. Zoeys Gewicht verlagerte sich, dann fluchte er und verschwand.

Verdammt, nicht mal in Ruhe sterben konnte sie!

Vorsichtig drehte sie sich auf die Seite, als ein stechender Schmerz sie durchzuckte. Sie hatte sich mindestens zwei, vermutlich drei Rippen gebrochen, die ihr in die Lunge stachen. Da das Liegen auf der Seite zu schmerzhaft war, hievte sie sich stöhnend auf ein Knie und suchte die Umgebung nach Zoey ab. Der stand in der Mitte des Raums und hielt eine Frau, die ihr vage bekannt vorkam, am Hals in die Höhe.

Nella?

Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, bröckelte Putz von der mit Engeln verzierten Kuppel, die den Mittelpunkt des kunstvoll bemalten Kreuzgewölbes bildete. Immer größere Teile stürzten hinab und zersprangen krachend auf dem Marmorboden. Als eines der Trümmer Zoeys Schläfe traf, ließ er von Nella ab, die nach Luft schnappend auf dem Boden landete. Röchelnd kroch sie auf allen vieren zu Blanche, deren Blick von dem Regen aus Mörtel und Putz gefangen war.

Etwas, das wie der wütende Schrei eines Raubvogels klang, zerschnitt die Luft, dann explodierte die Kuppel in einer gewaltigen Detonation und eine Steinlawine begrub Zoey unter sich. Blanche spürte, wie Nella schutzsuchend hinter sie kroch, doch sie hatte nur Augen für den Vollmond jenseits des gesprengten Gewölbes, der den staubgeschwängerten Saal in ein gespenstisches Licht hüllte.

Und dann sah sie ihn. Einen Schatten, der ein riesiges Paar Flügel ausbreitete und durch das Loch hinabsprang. Sein weiter Ledermantel stand offen und flatterte wie eine schwarze Fahne hinter ihm her.

Wie merkwürdig. Sie dachte, sie hätte den Kampf überlebt. Doch als sich das vertraute Narbengesicht über sie beugte, wusste sie, dass sie gestorben und zur Hölle gefahren war. Ein warmes Glücksgefühl breitete sich wie ein flüssiger Sonnenstrahl in ihr aus.

Blanche lächelte, dann verlor sie das Bewusstsein.