6
Während Blanche unter der Dusche stand und sich Blut, Schweiß und Zoeys Gestank abwusch, bestellte Beliar ein schlichtes Nachtmahl. Mittlerweile war es drei Uhr morgens und eigentlich hätte sie todmüde sein müssen. Stattdessen fühlte er eine kraftvolle Energie, die in elektrisierenden Wogen von ihr ausging. Keine Frage, sie war hellwach.
In einen flauschigen Bademantel gehüllt hockte sie sich im Schneidersitz auf das Kingsize Bett, das in die Kategorie Orgiesize fiel, und rubbelte ihr Haar trocken, das sie anschließend in ein Handtuch wickelte.
Sie sah zum Anbeißen aus. Einen schrecklichen Augenblick hatte er das Bedürfnis, ihren Willen zu brechen, um sie gefügig zu machen. Sich zu nehmen, was ihm nach Saetans Gesetz ohnehin gehörte. Der unerträgliche Schmerz, der sich daraufhin in seiner Brust ausbreitete, raubte ihm den Atem und brachte ihn zur Besinnung. Der Moment ging vorüber und seine Selbstkontrolle klinkte ein. Alte Monster, alte Sitten, dachte er, nahm Blanche gegenüber in einem Sessel Platz und schob ihr ein Tablett mit Flammkuchen zu.
„Verrate mir mal eins.“ Sie deutete auf ihren Bauch. „Wieso habe ich nicht die kleinste Schramme am Lack?“
Beliar beugte sich vor und streckte seine Hand aus.
„Finger weg!“, schnappte sie und gab ihm mit der flachen Seite ihres Messers einen Klaps.
Magentafarbene Funken mischten sich in ihr Energiespektrum. Seine Berührung regte sie auf. Oder war sie erregt? Als er die Hand nicht zurückzog, seufzte sie übertrieben und öffnete den Bademantel ein Stück unterhalb des Gürtels.
„Siehst du, alles weg, keine Schnitte mehr. Zufrieden?“ Ohne seine Antwort abzuwarten, zog sie den Frotteemantel wieder zusammen. Danach zerteilte sie den Flammkuchen in vier Stücke und nahm sich eins. „Hast du eine Erklärung dafür?“
Beliar runzelte die Stirn „Als auf mich geschossen wurde – hast du da Blut von mir aufgenommen?“
Sie zog eine Grimasse. „Erinnere mich bloß nicht daran!“
„Hast du?“
„Einen ganzen Mundvoll, aber was hat das mit meinen Verletzungen zu tun?“
„Dämonenblut“, sagte Beliar nachdenklich. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich. Eigentlich hätte sie nicht so stark darauf reagieren dürfen, zumindest nicht beim ersten Mal. Üblicherweise war es ein langwieriger Prozess, den menschlichen Körper an die dämonischen Kräfte zu gewöhnen. Mancher Organismus reagierte nicht allzu gut auf das Blut eines Unsterblichen und lehnte es rundweg ab. Nur jemand mit dämonischen Anlagen zog unmittelbar Kraft daraus. War es möglich, dass Blanche bereits das Blut eines Dämons in sich trug? Sein Blick ruhte auf ihr.
Sie verdrehte die Augen und biss in die Tarte.
„Ein Teil von mir ist nun auch in dir, Blanche“, sagte er leise.
Sie verschluckte sich und setzte sich auf. „Na toll, bin ich jetzt etwa infiziert und werde ein Freak wie du?“
Beliar verzog die Lippen zu einem zynischen Lächeln. „Du hast zu viele Vampirgeschichten gelesen“, bemerkte er, beugte sich vor und griff nach dem zerfledderten Taschenbuch auf dem Nachttisch. „Um zu werden wie ich, musst du fallen. Und niemand außer Saetan kann Dämonen erschaffen.“
„Gib das her!“, fauchte sie und griff nach dem Buch, doch er war schneller.
„Mein Blut ist unbezahlbar“, fuhr er ungerührt fort, während er durch die vergilbten Seiten blätterte. „Es stärkt den Organismus des Menschen, Haut, Muskeln, selbst Knochen werden strapazierfähiger. Die Selbstheilungskräfte vervielfachen sich – du solltest mir dankbar sein.“
„Das gehört mir, gib es sofort zurück.“
Ihre Vehemenz irritierte ihn, also stand er auf und sah sich den Roman genauer an.
„Nicht!“ Blanche machte einen Hechtsprung vom Bett.
Wieder hob er die Lektüre außer Reichweite und las stirnrunzelnd den Titel. „Wie eine Rose im Winter?“ Er betrachtete das Cover, während Blanche mit aller Macht gegen seine Brust boxte.
„Finger weg!“, rief sie. Ihr Gesicht war dunkelrot angelaufen, ausnahmsweise einmal nicht vor Zorn, sondern aus Scham, wie er überrascht feststellte. „Schon mal was von Privatsphäre gehört?“
„Nicht in letzter Zeit“, konterte er. „Du liest Liebesromane?“, erkundigte er sich und reichte ihr das Buch.
„Das geht dich nichts an!“, schnappte sie, riss ihm den Schmöker aus der Hand und drückte ihn schützend gegen ihre Brust.
„Wovon handelt es?“, fragte er und nahm wieder Platz. Blanche funkelte ihn an, während sie ihn im Stillen verwünschte. Wenn sie zornig war, lag ihre elektromagnetische Schwingung im infravioletten Bereich. Ein leichtes Prickeln überzog seine Haut und er nahm ihren Ärger als energetisches Purpur wahr, das hier und da von gelb-goldenen Rissen durchzogen wurde, die in diesem Augenblick wie gezackte Blitze aufleuchteten.
Wieder konnte er sein Herz spüren, das einen Atemzug lang schneller schlug. Ihre Energie war einzigartig, etwas ganz Besonderes. Genau wie sie.
„Um eine Frau, die von ihrer Familie verraten und verkauft wird“, motzte sie und legte die Lektüre in die Nachttischschublade, die sie sorgfältig verschloss.
„Das ist alles?“
„Nein, das ist nicht alles. Kauf dir ein eigenes Exemplar, wenn du mehr wissen willst.“ Damit setzte sie sich zurück auf das Bett und zog das Tablett auf ihren Schoß. „Noch mal zurück zu deinem Blut. Was genau bewirkt es bei mir?“
Er zuckte mit den Schultern. „Das ist bei jedem Menschen anders. Ich nehme an, dass sich deine Instinkte verstärken werden. Du wirst kräftiger als vorher sein, schneller.“ Er nickte zu ihrem Bauch „Dein Körper heilt rascher. Der Rest wird sich zeigen.“
„Und wie lange wird das anhalten?“
Wieder hob er seine Schultern. „Einen Tag, eine Woche, einen Monat. Wer kann das sagen? Es hängt von deiner Konstitution ab, deiner Größe, deinem Gewicht …“
Deinen Genen, setzte er in Gedanken nach. Sollte sie bereits Dämonenanteile in sich tragen, wäre die Veränderung weitreichender. Der Austausch von Blut wäre dann eine Art Initiierung, etwas, das man nicht rückgängig machen konnte. Es war wie bei einer Flasche Champagner: Einmal geöffnet ließ sie sich nicht wieder verschließen, zumindest nicht mit demselben Korken. In Blanches Fall hoffte er, dass es auch wirklich eine Flasche Champagner war und nicht die Büchse der Pandora. Doch für Reue war es zu spät.
Er hatte sich entschieden und seine eigene Büchse geöffnet, etwas, das er ebenfalls nicht rückgängig machen konnte – oder wollte. Überrascht von seinen Gedanken, hielt er inne. Nach dem, was er getan hatte, gab es kein Zurück. Und doch war kein Bedauern in ihm. Vielmehr fühlte er sich befreit.
Zugegeben, Saetan hatte ihn mit Macht ausgestattet, doch die wahre Stärke bezog Beliar aus seinem eisernen Willen, der ihn zu dem gemacht hatte, der er war.
Ein irritierender Stich breitete sich wie ein stummer Protest in seiner Brust aus. Wer bin ich, dachte er und ballte die Hände zu Fäusten, um sie davon abzuhalten, sich auf die schmerzende Stelle zu legen.
Er war ein Gefallener, Saetans Kriegsherr, dessen Seele über die Zeitalter zu einem Häufchen Asche verbrannt war. Verglüht im Angesicht des Höllenfeuers, das in ihm tobte, bis nichts mehr von ihm übrig geblieben war als die vernarbte Hülle, eine abschreckende Warnung für jeden Abtrünnigen.
Über Jahrhunderte hatte er Leid und Elend unter die Menschen gebracht, doch nicht eine Seele konnte ihn berühren. Er hatte unter ihnen gewütet, zornig über sein Schicksal und einen bornierten Gott, der ihn zu einem Dasein in stiller Verzweiflung verurteilt hatte, ohne die geringste Aussicht dem jemals zu entkommen. Also fügte er sich. Um die Zeit totzuschlagen, badete er im Blut Unschuldiger, deren einzige Sünde ihre Schwäche war.
Doch etwas hatte sich verändert.
Blanche, das spürte er tief in seiner gebrochenen Seele, erinnerte ihn an etwas. Er konnte es kaum benennen, denn die seltsamen Gefühle verflüchtigten sich wie ein Parfüm, das eine längst verblasste Erinnerung wachrief, an die Zeit vor seiner Verbannung. Aber der Gedanke war stark und kehrte immer wieder zu ihm zurück, denn dies war etwas, das einmal mit ihm zu tun hatte.
Hoffnung.
Doch das durfte nicht sein. Er war ein Gefallener ohne Aussicht auf Erlösung. Das waren Saetans Worte gewesen und bisher hatte er keinen Anlass gehabt, an ihnen zu zweifeln.
Bis er dieser Sterblichen begegnet war. Einer Frau, die sein Leben über ihres gestellt hatte. Er verstand noch immer nicht, warum sie das getan hatte, sie war nicht gerade der altruistische Typ. Davon abgesehen trieb ihre Sturheit ihn in den Wahnsinn – und zu seiner Überraschung genoss er es in vollen Zügen. Wann war er das letzte Mal auf solch unerschrockenen Widerstand gestoßen? Er konnte sich nicht erinnern. Die Grausamkeiten des Lebens hatten sie erbarmungslos werden lassen, eine Härte, die sie teilten. Das und die Sehnsucht, ihrer ausweglosen Bestimmung zu entkommen. Er wusste, wie es in ihr aussah. Doch im Gegensatz zu ihm hatte sie nicht aufgegeben und ihr Überlebenskampf war inspirierend. So sehr, dass auch er mehr und mehr nach einem Ausweg suchte. Spürte sie am Ende das feine Band, das sie miteinander verknüpfte?
„… und natürlich von der Menge des Blutes, das du zu dir genommen hast. Eine zeitliche Eingrenzung der Wirkung ist daher reine Spekulation“, beendete er seine Ausführung.
„Super, jetzt weiß ich genauso viel wie vorher.“ Blanche warf ihm einen mürrischen Blick zu und stutzte unvermittelt. Seine Haare waren nicht mehr versengt und der Mantel … Sie beugte sich vor und fand nur noch ein einziges, kleines Brandloch.
„Sag mal, was hast du mit den Löchern angestellt?“ Sie streckte die Hand aus und betastete vorsichtig den schwarzen Ledermantel. Er war warm, und noch während sie ihn berührte, schloss sich das letzte Loch wie die Blende einer Fotokamera, wurde immer kleiner, bis es schließlich verschwand. Sie riss die Hand zurück. Großer Gott, das war kein Mantel, das war er. Eine Art zweite Haut oder so etwas.
„K-kannst du den ausziehen?“
„Möchtest du das?“
Ja! Nein! Verdammt! Sie versuchte, nicht auf sein Sixpack zu starren, das sich durch das dunkle Leder abzeichnete – oder woraus das Teil auch immer war.
Nicht fühlen!
Sie räusperte sich, griff nach einem Stück Flammkuchen und wechselte das Thema. Wie es aussah, konnte sie von dem Blutcocktail kein Dämon werden, alles andere würde sich zeigen. „Verrat mir mal, warum dieser Typ in der Gasse dich erschießen konnte, wo du doch angeblich dagegen immun bist. Und warum hast du im Lagerhaus so ausgesehen, als wärst du gerade einem Inferno entkommen, du weißt schon – am ganzen Körper kokelnd.“ Was war zwischen dem Überfall und ihrer Befreiung geschehen?
Beliar lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Man könnte sagen, dass ich gefeuert wurde.“
Wie war das? „Keine Witze jetzt, ich will das wissen.“
„Siehst du mich lachen, Blanche?“
„Was heißt das, gefeuert? Ich dachte, du bist ein Dämon. Die fliegen schließlich nicht aus der Hölle wie meuternde Seeleute von der Bounty.“
Beliars Mundwinkel zuckten. „Ich nehme an, du bist eine Expertin auf diesem Gebiet?“
Sie rollte mit den Augen. „Jetzt lass dir nicht alles aus der Nase ziehen, du versuchst doch nur, Zeit zu schinden.“
Beliar seufzte leise und sah ihr beim Essen zu. „Saetan weiß, dass ich Waynes Seele habe laufen lassen.“
„Na und? Wir hatten einen Deal.“
„Den hast du mit mir abgeschlossen. Saetan und ich hatten eine andere Abmachung.“
„Und wie hat er das so schnell herausbekommen?“
Abermals hob er die Schultern. „Er hat seine Quellen.“
Klar, er war ja auch Saetan. Sie rief sich den Schuss in Erinnerung und wie Beliar getroffen wurde. „Moment mal, soll das etwa heißen, dass er dir deine Kräfte genommen hat?“
„Zumindest hat er es versucht. Ich war auf seinen Schlag nicht vorbereitet, darum hatte er zunächst Erfolg. Aber ich bin ein Erzdämon, die kann man nicht so einfach abberufen.“
Abberufen. Da war es wieder, dieses seltsame Wort. Ihr lag die Frage schon auf der Zunge, doch sie schwieg, um Beliar nicht zu unterbrechen. In Gedanken legte sie den Begriff auf den Stapel zu klärender Vokabeln.
„Nachdem Zoey mit dir verschwunden ist, brauchte ich einen Moment, um wieder zu mir zu kommen. Diese Zeit hat Saetan genutzt, um drei Höllenfürsten in die Gasse zu senden.“
„Was soll das sein, Dämonen wie du?“
Beliar nickte zögernd. „In der Unterwelt herrscht eine strenge Hierarchie. Saetan könnte man als unseren Souverän bezeichnen. Ihm folgen vier Kronprinzen, einer für jede Himmelsrichtung.“
Und er gehörte dazu.
„Dann gibt es noch den Gubernator, die Großfürsten, den Großrat und die Familiares.“
„Und was für Höllenfürsten hat Saetan dir hinterhergeschickt?“
Beliars Züge verdüsterten sich und ihr fiel auf, dass sich sein Zimtgeruch intensivierte. War das Teil ihrer neuen Wahrnehmung?
„Der gute Arziel, sein feuriger Freund Barfael und Marbueel, der Grausame.“
Klang nach einem Trio infernal. „Dann habt ihr in der Gasse eine Prügelei angezettelt oder was?“
„Den Kampf zwischen Unsterblichen aus der Unterwelt würde ich nicht gerade so bezeichnen, aber wenn du darauf bestehst.“
Dachte er dabei etwa an Donner, Blitz und Ascheregen? Das war mal wieder typisch. Während sie sich mit Zoey rumärgern musste, hatte sie die ganze Show verpasst. „Und wie bist du die losgeworden, ich meine, das waren drei gegen einen.“ Nicht gerade fair. Aber für Beschwerden dieser Art hatte Saetan vermutlich kein offenes Ohr.
Beliar lächelte träge. „Das ist keine interessante Frage. Was mich viel mehr interessiert ist, woher Zoey so plötzlich kam.“
Nachdenklich kaute sie auf ihrer Lippe. „Denkst du, dass er mit Saetan unter einer Decke steckt?“
„Jedenfalls glaube ich nicht an Zufälle und dieser war zeitlich zu gut abgestimmt.“
„Na ja, aber wir waren in dem Bezirk, den sich Zoey unter den Nagel reißen will.“
„Enzos Gebiet ist ziemlich groß und diese Gasse ist nicht gerade belebt“, gab er zu bedenken.
Wo er recht hatte … Na schön, vielleicht spielte Zoey für das Teufelsteam, vielleicht auch nicht. Viel mehr interessierte sie, was jetzt mit Beliar geschehen würde. „Um noch mal auf den Ausgangspunkt zu kommen: Was bedeutet das, wenn du sagst, dass Saetan dich gefeuert hat?“
Sein Blick wurde verschlossen. „Er hat mir ein Ultimatum gestellt. Wenn ich es verstreichen lasse, gehöre ich nicht mehr dazu.“
Nicht mehr dazugehören? Was wollte er denn machen, die Schlösser am Höllentor austauschen? „Und was passiert, wenn dieses Ultimatum fruchtlos verstreicht?“
„Dann bin ich ein Abtrünniger und er wird versuchen, mir meine Macht zu nehmen, inklusive meiner Flügel, die er mir für die verlorenen gegeben hat.“
Autsch!
„Aber das kann er nicht, ich bin ein Erzdämon. Alles, was ich bin, habe ich mir verdient.“
Versuchen wird er es dennoch und sei es nur, um zu testen, wie mächtig Beliar wirklich ist … Mitten in diesem Gedankengang hielt sie inne und sah auf. „Für welche verlorenen Flügel?“
„Dämonen sind gefallene Engel, wusstest du das nicht?“
Sie hatte so etwas gehört und als Humbug abgetan. Dummes Zeug, das man unartigen Kindern erzählte, bevor man sie ohne Nachtisch ins Bett schickte. Interessant, wie sich die Zeiten änderten. Beliar hatte also seine flauschigen Engel-Schwingen gegen die Batman-Version eingetauscht. Nun war Saetan stinksauer und drohte seinem Kronprinzen, sie ihm wieder abzunehmen. Und wo er schon mal dabei war, gleich auch seine Kräfte. Tja, man könnte wohl ohne Übertreibung sagen, dass Beliar ziemlich in der Scheiße saß. Da waren sie schon zu zweit.
„Was für ein Ultimatum hat er dir gestellt?“
„Das soll deine Sorge nicht sein. Ruh dich jetzt aus, damit du wieder zu Kräften kommst.“
„Hey, komm mir nicht so! Ich habe einundzwanzig Jahre ohne deine weisen Ratschläge überlebt, also versuch nicht, vom Thema abzulenken. Wenn du es mir nicht sagen willst, ist das in Ordnung.“
„Deine Kraft ist mir durchaus bekannt, Blanche. Du bist stark und im Moment außergewöhnlich belastbar. Dieser Umstand kann dich allerdings dazu verleiten, über deine Grenzen zu gehen und dich auszulaugen. Du hattest einen anstrengenden Tag, vergiss das nicht. Du solltest jetzt wirklich schlafen.“
Seit ihrem achten Lebensjahr hatte ihr niemand mehr gesagt, wann es Zeit war, ins Bett zu gehen, nicht einmal Wayne. Fast hätte sie ihm ins Gesicht gelacht. „Hör zu, ich weiß deine Fürsorge zu schätzen, aber im Moment bin ich viel zu aufgedreht zum Schlafen.“
„Versuch es.“
„Ich bin kein bisschen müde.“ Sie konnte nicht glauben, dass sie sich auf diese Diskussion einließ.
„Wir werden sehen.“
Beliar erhob sich und stellte das silberne Tablett auf den Salontisch. Danach schlug er ihre Decke zurück und wies mit einer Kopfbewegung Richtung Laken. Sie schnaubte. Er schickte sie tatsächlich ins Bett. Als sie den Mund zum Protest öffnete, fielen seine Lider zu und er sog langsam die Luft ein. Eine warme Woge umhüllte sie, und ließ sie blinzeln. Im nächsten Moment wurde ihre überschüssige Energie absorbiert und sie gähnte herzhaft. Ein leichtes Prickeln überzog ihren Körper und als sie sich weiter entspannte, begriff sie, was der Dämon mit ihr anstellte.
„Das ist ja wohl das Allerletzte“, schnauzte sie und schlug mit der flachen Hand auf die Daunendecke. Dann schwappte Müdigkeit über sie hinweg, lullte sie ein und überwältigte sie schließlich. Nur am Rande nahm sie wahr, wie Beliar sie aufhob und auf das Laken legte. Kurz darauf bewegte sich das Bett und sie wurde in eine behagliche Umarmung gezogen. Warme Dunkelheit umgab sie, und sie fühlte sich seltsam geborgen. Einen Augenblick glaubte sie, Beliar hätte seine Flügel um sie gelegt, doch sie hatte nicht mehr die Kraft, die Augen zu öffnen, um es zu überprüfen. Schließlich gab sie nach und ließ sich treiben, folgte dem ruhigen Strom seines Atems, der sie in einen traumlosen Schlaf trug.
„Quindi, piccola tesora mia, mein kleiner Liebling, wir werden deine Freundin Renée finden, Giacomo kümmert sich darum.“ Enzos haselnussbrauner Blick strich über Nellas Gesicht. „Jetzt lass uns über dich reden.“
Über sie? Das war nicht gut. Wenn er über sie und ihn als Paar reden wollte, war das etwas anderes. Aber über sie, Einzahl, das klang nicht gut.
„Ich sehe dich nicht gern auf der Straße, cara.“
Rate mal, wer noch.
„Du bist zu zart für diese harte … Arbeit.“
Etwas anderes kann ich aber nicht, rief sie innerlich, doch alles, was sie zustande brachte, war, ihre Lippen aufeinanderzupressen. Egal was sie für ihn empfand, er war der Boss. Ohne seine Erlaubnis durften sich seine Jungs nicht mal am Sack kratzen, geschweige denn seine Mädchen ihren Zuhälter wechseln. Nella hätte auch nicht das Geld, sich bei Pierre freizukaufen, dafür sorgte dieser Drecksack schließlich, indem er ihr gerade genug zum Leben ließ. Er hielt sie kurz, wie all seine Arbeitsbienen, deren Einnahmen er beim Wetten in Longchamps verlor.
„Hast du dir einmal überlegt, etwas anderes zu tun?“
Na klar, wie wäre es mit einem Job als Flugbegleiterin bei der Air France. Die würden sie mit Kusshand nehmen, wäre da nicht ihre klitzekleine Bildungslücke, denn eine Schule hatte sie seit ihrem dreizehnten Lebensjahr nicht mehr von innen gesehen. Und dass die Personalleitung beim Einstellungstest italienische Kraftausdrücke als Fremdsprachenkenntnisse akzeptieren würde, bezweifelte sie stark. So gesehen wäre ihr Russisch auch nicht zu verachten, wenn die Fluggesellschaft Wert darauf legte, dass sie die Passagiere mit „Liebe Hurenböcke und sehr geehrte Schwanzlutscher“ anredete. Aber vermutlich konnte man überall ein Haar in der Suppe finden.
Nella atmete tief durch und schloss die Augen.
Genug jetzt!
Heilige Maria Muttergottes, betete sie. Ich habe eine Menge Mist in meinem Leben gebaut. An Vielem trage ich die Schuld, an anderen Dingen nicht. Lass mich jetzt keinen Scheiß bauen! Lass mich eher meine Zunge verschlucken, als das hier zu versauen. Enzo mag mich, auch wenn ich nicht weiß, warum. Und er will irgendetwas von mir. Was auch immer es ist, hilf mir, dass ich es ihm geben kann, damit ich endlich aus diesem beschissenen Leben in dieser beschissenen Stadt rauskomme. Hilf mir, Maria, und lass mich jetzt das Richtige sagen, nur dieses eine Mal. Alles, was ich brauche, ist eine Chance!
„Könntest du dir vorstellen, direkt für mich zu arbeiten?“, hakte Enzo nach, der sie aufmerksam beobachtete.
Was hatte dieses direkt zu bedeuten? Ihr fragender Ausdruck sprach anscheinend für sich, denn Enzo, der in einem seidenen Bademantel am Schreibtisch saß, nickte ihr zu und klopfte auf seinen Schenkel. Das hieß wohl, dass sie zu ihm kommen sollte. Nella fühlte sich von seinem Interesse an ihr eigentümlich gehemmt. Normalerweise schämte sie sich ihrer Nacktheit nicht, immerhin besaß sie einen gut proportionierten Körper. Doch hier ging es nicht um ihre Dienstleistung, darum wickelte sie sich in das Laken und tapste zögernd auf ihn zu. Enzo lächelte über ihre plötzliche Befangenheit und zog sie auf seinen Schoß.
„Ich weiß, deine Arbeit bringt dir gutes Geld, aber ich kann dir …“
Ihr Auflachen überraschte ihn. Er runzelte die Stirn und betrachtete ihr Gesicht. „Nicht?“
„Pierre nimmt mir alles weg! Warum glaubst du, bitte ich dich, dass du meine Bezahlung aufbewahrst, statt sie mir zu geben?“
„Ich dachte, du möchtest nicht, dass Pierre seinen Anteil bekommt.“
Wieder lachte sie. „Er nimmt mir alles weg – alles!“
Ihre Vehemenz musste ihn vermuten lassen, dass sie die Wahrheit sagte.
„Dann gehe ich recht in der Annahme, dass du bisher nicht viel Geld zur Seite legen konntest.“
Sie nickte, obwohl er es nicht wie eine Frage formuliert hatte. „Ich habe nur das, was du mir geben wolltest.“
Enzo fluchte leise. „Was ich dir geben werde, preferita mia.“ Er strich ihr eine Haarlocke zurück. „Angenommen, ich würde dir helfen, dich freizukaufen, was würdest du dann tun?“
Sie schluckte einen Kloß hinunter. Genau diese Frage hatte sie sich in den letzten Jahren immer wieder gestellt – vergebens. Sie konnte sich keine Zukunft vorstellen, denn sie hatte immer gewusst, dass sie keine besaß. Dennoch war da ein kleines Stück Hoffnung geblieben, der Wunsch nach einem Leben jenseits des Straßendrecks. Er lag tief in ihr verborgen, wie ein Samen, der es nicht wagte, zu keimen, aus Angst, jemand könnte das erste Grün zertreten, das sich mühsam einen Weg durch Schutt und Asche bahnen musste. Darum besaß ihre Hoffnung keinerlei Konturen, war vage, wie das Flimmern einer Fata Morgana in der Wüstensonne.
„Nun?“ Enzo drückte sie leicht an sich.
„Ich weiß es nicht“, gestand sie resigniert und musste plötzlich gegen Tränen ankämpfen. Das war sicher nicht die Antwort, die er hören wollte, und nun stand sie kurz davor, ihm seinen kostbaren Bademantel vollzuheulen. „Ich habe nichts anderes gelernt“, fügte sie zögernd hinzu, hielt jedoch sogleich wieder inne. Als ob sie eine Ausbildung als Bordsteinschwalbe absolviert hätte. Enzo sah sie weiterhin an, als erwartete er tatsächlich eine Antwort. Nella starrte auf ihre Hände. „Aber vielleicht – ich habe schon mal daran gedacht …“ Das war doch lächerlich!
„Was?“ Enzos Stimme war nun ganz sanft, als er seine Hand auf ihre ineinander verschränkten Finger legte.
„Ich dachte, vielleicht wäre es gut, die Schule zu beenden, aber“, sie schluckte hart, bevor sie ergänzte „aber jetzt bin ich dafür zu alt.“ Die Scham über ihr vermurkstes Leben trieb ihr abermals Tränen in die Augen. Es war eine Sache, zu wissen, dass man sich seine Zukunft versaut hatte. Es laut auszusprechen stand auf einem anderen Blatt.
Als sie den Blick hob, strahlte Enzo sie an, als wäre sie die Gewinnerin eines Preisausschreibens: Bingo, richtige Antwort!, signalisierten seine Augen. Nella starrte ihn perplex an, doch bevor sie etwas sagen konnte, ergriff er das Wort.
„Was hältst du von folgender Abmachung, gattina: Du erledigst ab und zu einen Job für mich, den ich meinen Männern nicht übertragen kann.“
Was für ein Job sollte das sein? Brauchte er einen Drogenkurier, der, wenn etwas schiefging, an Pierres Stelle von den Bullen geschnappt wurde? Na klar, denn im Gegensatz zu ihrem Zuhälter war sie austauschbar. Zudem hatte Enzo nicht ihrem Vater versprochen, sich um sie zu kümmern. Seit sie denken konnte, war sie auf sich allein gestellt. Warum sollte sich das ändern, nur weil der Boss sie bumste? Für ihn war sie nur ein Rad im Getriebe, jemand, der leicht zu ersetzen war. Herrje, er war das Oberhaupt der Pariser Mafia und sie ein Niemand. Nur eine Anfängerin würde sich einbilden, dass mehr zwischen ihnen war. So dumm war sie bestimmt nicht. Sie schluckte hörbar.
„Du wirst gut bezahlt werden und kannst das Geld zur Seite legen“, fuhr er fort, obwohl ihm ihr bedrückter Gesichtsausdruck nicht entgangen sein konnte. Sie öffnete den Mund, doch er verschloss ihn mit einem Finger.
„Ja, zur Seite legen, bezahlen wirst du mich, indem du dich loyal zeigst. Die Aufgabe, die ich für dich im Kopf habe, erfordert das Fingerspitzengefühl einer klugen Frau.“
Enzo hielt sie für klug? Er ergriff ihre Hand und gab ihren Fingerknöcheln einen zarten Kuss.
„Das wäre aber nur der erste Teil unserer Vereinbarung.“
Aha, jetzt kommt’s, dachte Nella. Sie wollte ihm ihre Hand entziehen, wagte es jedoch nicht.
„Wusstest du, dass ich meinen kleinen Enzo zu Hause unterrichten lasse?“
Überrascht sah sie auf. Was hatte das mit ihrer Abmachung zu tun? Jeder kannte Enzos Familienverhältnisse. Seine Frau hatte ihn mit einem Waffenschieber aus Kalabrien betrogen und ihn vor aller Welt bloßgestellt. Nella war sicher, dass Enzo ihr eine Kugel durch den Kopf gejagt hätte, wäre nicht ihr fünfjähriger Sohn gewesen. Dafür hatte Enzo den Waffenschieber umlegen lassen und sein Geschäft übernommen, das heute sein Cousin führte. Von seiner Frau wurde er ganz zivilisiert geschieden, was in seinen Kreisen nicht gerade üblich war. Doch er hatte sie ohne einen Cent aus der Stadt werfen lassen. Ihren Sohn durfte sie nie wieder sehen. Nella hatte keine Ahnung, was aus ihr wurde, und niemand bei Verstand würde Enzo danach fragen.
„Nicht?“, riss er sie aus ihren Gedanken. „Weißt du, eine öffentliche Schule kommt für ihn nicht infrage, das wäre zu riskant. Darum habe ich einen emeritierten Professor der Sorbonne beauftragt, sich um seine Ausbildung zu kümmern. Er unterrichtet nicht nur meinen Enzo, sondern alle Kinder der engeren Famiglia – insgesamt acht.“
Er warf ihr einen vielsagenden Blick zu, den sie nicht deuten konnte. Nervös zupfte sie an ihrem Laken, als sich seine Lippen auf ihren Hals legten, während er leise flüsterte: „Und du, preferita mia, wirst eine von ihnen sein.“
Nellas Mund klappte auf. Sie sollte mit klein Enzo die Schulbank drücken? Enzo warf den Kopf in den Nacken und lachte ausgelassen. So entspannt hatte sie ihn noch nie gesehen.
„Oh pulcina, du solltest dein Gesicht sehen. So schlimm ist das doch nicht.“
„Aber … aber er ist doch erst …“ Wie alt war Enzo Junior noch gleich?
„Dreizehn.“
Oh Gott! Sie sollte mit einem Dreizehnjährigen und dessen Zwergen-Gang Vokabeln lernen und Mathe büffeln? Nella tastete nach dem kleinen goldenen Kreuz ihrer Kette, die sie nie ablegte. Heilige Maria Muttergottes, so war das aber nicht gemeint. Das konnte doch unmöglich sein Ernst sein. Enzo drückte sie wieder an sich und bedeckte ihr Gesicht mit Küssen.
„Du hast es selbst gesagt, für eine öffentliche Schule bist du zu alt. Und Professor Chevalier ist ein ausgezeichneter Lehrer, ich habe selbst einmal in einer von Enzos Stunden gesessen. Ein sehr gebildeter Mann.“
Die Vorstellung, dass er dem Unterricht seines Sohnes beigewohnt hatte, entlockte ihr ein Lächeln. Plötzlich wurde ihr klar, was er ihr anbot. Enzo, der dafür bekannt war, den engsten Kreis seiner Familie abzuschotten wie ein U-Boot, reichte ihr die Hand und nahm sie in die Famiglia auf. Würde sie sogar in die Nähe seines einzigen Sohns lassen. Sie hob den Kopf und ihre Blicke verschmolzen ineinander. Womit hatte sie seine Freundlichkeit verdient? Warum schenkte er ihr sein Vertrauen? Und wen um alles in der Welt sah er in ihr? Er seufzte und küsste ihre Nasenspitze.
„Was sagst du dazu, Antonella?“
Nella nahm ihren ganzen Mut zusammen und holte tief Luft. „Wenn du sagst, dass ich Dinge für dich erledigen soll, die du deinen Männern nicht anvertrauen möchtest – um was für einen Job handelt es sich dabei?“
Sein warmes Lächeln ließ sie in seinen Armen schmelzen. Er tippte mit seinem Zeigefinger gegen ihre Stirn. „So ist es recht, gattina mia. Sage niemals etwas zu, bevor dir nicht alle Fakten bekannt sind. Du bist ein kluges Mädchen, das habe ich von Anfang an gewusst.“