12

Es ist erstaunlich, was man mit einer Kreditkarte und krimineller Energie alles anstellen kann. Dank Ernestos Fingerfertigkeit war es ein Leichtes, sich Eintritt in Blanches Suite zu verschaffen. Zunächst bat Nella Enzos Männer, im Wagen auf sie zu warten. Nachdem sie jedoch einen Blick auf Blanche geworfen hatte, schickte sie die beiden mit einer Nachricht an Enzo zurück zum Champs, denn ihr war klar, das hier würde länger dauern.

Blanche befand sich in einem verheerenden Zustand. Sie war dehydriert und wirkte ausgezehrt – laut Enzo hatte sie sich seit zwei Tagen nicht bewegt. Der Schlafzimmerboden sah wie ein Minenfeld aus. Munition, Handgranaten, verschiedene Waffen, jede Menge Wurfsterne und Messer zogen eine Brotkrumenspur vom Badezimmer bis zum Bett. Nella bahnte sich einen Weg zum Balkon und öffnete beide Flügeltüren. Anschließend griff sie zum Telefon auf dem Nachttisch, wählte die Nummer für den Service und bestellte zwei große Flaschen Evian, Orangensaft sowie Hühnerbrühe und etwas Brot. Als Nächstes ging sie ins Bad. Nachdem sie sich vom Anblick der luxuriösen Marmorhalle erholt hatte, befeuchtete sie ein Gästehandtuch mit aufgesticktem Hotelwappen und kehrte zum Bett zurück. Dort machte sie sich daran, Blanche Hose und T-Shirt auszuziehen und wusch ihr Gesicht und Hände mit dem feuchten Frotteetuch. Als der Zimmerservice klopfte, hatte Blanche zumindest einen schwachen Versuch gestartet, Nella von sich zu schieben. Doch selbst diese Bewegung ging über ihre Kräfte, darum gab sie schließlich auf und ließ die unerwünschte Pflege stillschweigend über sich ergehen.

Bis Nella ihr die salzige Brühe sowie einen Liter Wasser eingelöffelt hatte, waren anderthalb Stunden vergangen und es dämmerte bereits.

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Eine Stunde später hatte Blanche einen zweiten Liter intus sowie den Saft, und saß in der gigantischen Wanne des Badezimmers. Nella hockte mit einer Pobacke am Beckenrand und wusch ihr das Haar mit dem hoteleigenen Shampoo. Dabei plapperte sie in einem fort vor sich hin, als bemühte sie sich um eine entspannte Atmosphäre. Schließlich gab Blanche einen frustrierten Laut von sich.

„Kannst du nicht mal eine Minute die Klappe halten?“

Nella zog eine Schnute.

„Wie hast du mich überhaupt gefunden?“

„Über das Handy.“

„Da war kein Peilsender drin, das hätte ich bemerkt.“

„Den braucht es auch nicht. Das Teil verfügt über einen integrierten GPS Empfänger. Sobald es eingeschaltet ist, finden sie dich.“

„Na toll! Wann genau bist du noch mal in die Ortungs-Branche gewechselt?“

Nella zuckte mit den Schultern. „Enzo hat mir das gleiche Handy gegeben und mir erklärt, warum ich es nicht ausschalten soll.“

„Und seit Neuestem sind Enzo und du dicke Freunde oder was?“

Als Nella schwieg, wandte sich Blanche um und – erstarrte. Nella gab ein Bild des Jammers ab. Sie kämpfte gegen Tränen, während sie sich auf die Lippen biss. Blanche hatte sie noch nie so verletzlich gesehen. Sie seufzte und setzte sich auf.

„Hör zu, ich kann mich im Moment selbst nicht ausstehen. Am besten, du verschwindest, sonst werde ich es nur noch schlimmer machen.“

Als emotionaler Krüppel war das der beste Ratschlag, den sie geben konnte. Hau ab, so weit und so schnell du kannst. Doch Nella bewegte sich nicht. Sie schniefte und schüttelte den Kopf.

„Schon gut, ich weiß, was du durchgemacht hast und dass du es nicht so meinst.“

Sagt wer? Sie meinte jedes verdammte Wort genau so, wie sie es sagte. Interpretationen wurden oft überbewertet. Aber sie wusste auch, dass Nella ihre Abfuhr nicht verdient hatte. Hätte Blanche Erfahrungen mit Freundinnen, könnten sie jetzt dieses Verschworenending durchziehen. Sich ihre Geheimnisse anvertrauen, während sie sich die Zehennägel mit pinkfarbenem Lack bepinselten. Na schön, das war ein abgenutztes Klischee, aber es zeigte auch, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wie sie sich in Nellas Gegenwart verhalten sollte. Sie kannte die kleine Italienerin nur als Straßenspitzel, die sich ihre Infos gut bezahlen ließ. Diese Art von Geschäftsbeziehung war alles, was sie verband, und wenn sie ehrlich war, reichte ihr das völlig. Im Moment wollte sie allein sein, und wenn sie dazu rüde werden musste, dann war das eben so.

Als Edith Piaf plötzlich losträllerte, zuckte sie zusammen, doch es war nur Nellas Mobiltelefon, das sie umständlich aus der Handtasche kramte.

„Ja?“, fragte sie atemlos, nachdem sie das singende Ding endlich erwischt hatte. „Wirklich? Das ist ja super!“ Als sie sich freudestrahlend zu Blanche umwandte und ihren Gesichtsausdruck sah, fiel ihr Lächeln in sich zusammen. Sie räusperte sich und sagte leise: „Ich kann nichts versprechen, aber ich werde es versuchen. Okay, ich werd’s ausrichten.“ Damit legte sie auf und versuchte, ein Lächeln vor Blanche zu verstecken.

„Wie heißt er?“, fragte Blanche und sah das als Beitrag zur Wiedergutmachung an. Ein bisschen Girliegequatsche, dann würde Nella ihr das Herz ausschütten und verzog sich anschließend hoffentlich. Klang nach einem guten Plan.

„Wer?“, fragte Nella verwirrt.

„Na, komm schon. Eben noch schwimmst du in Tränen und im nächsten Moment strahlst du wie ein Honigkuchenpferd. So etwas schafft nur ein Mann.“

Ein Lächeln stahl sich in Nellas Züge, doch sie schüttelte den Kopf. „Das war Leo.“

„Echt?“ Seit sie Renée in diesem Kellerloch gesehen hatte, versuchte sie, nicht an ihn zu denken.

Nella nickte. „Er will dich sprechen und hat mich gebeten, dich zu ihm zu bringen.“

„Ich weiß selbst, wo ich Leo fi…“ Blanche hielt inne und seufzte. Scheiße, das wusste sie nicht. Sein Laden war ja platt und er selbst untergetaucht. Tja, anscheinend nicht besonders tief, sonst hätte er Nella nicht angerufen. Was hatten die beiden überhaupt miteinander zu schaffen? Und warum rief er Nella an, um sich mit ihr zu verabreden?

„Sieh mich nicht so misstrauisch an“, blaffte Nella und stemmte ihre Hände in die Hüften. „Ich war eine Informantin, keine Verräterin, ich hoffe, du kennst den Unterschied.“

War? Was sollte das denn wieder heißen? „Jetzt komm mir nicht blöd“, motzte Blanche. „Wir haben uns Jahre nicht gesehen und es ist ja nicht so, als ob wir vorher beste Freundinnen gewesen wären.“

Nella verschränkte die Arme vor der Brust und musterte sie. „Komm aus dem Wasser“, gab sie schließlich zurück. „Er wartet auf dich. Möchtest du vorher etwas essen?“

Blanche erhob sich und murmelte „Nur keine Umstände.“

„Ich lasse uns trotzdem etwas kommen – ich sterbe nämlich vor Hunger.“

Eine Stunde später stiegen sie aus Enzos Limousine und betraten eines seiner Wettlokale in der Nähe des Montmartre, das als Videothek getarnt war. Nur, dass es im Hinterzimmer keine Schmuddel-DVDs zu leihen gab, sondern Waffen jeder Bauart. Der Laden samt Mitarbeitern sah absichtlich so schmierig aus, um den Kundenkreis klein zu halten und die Laufkundschaft nachhaltig abzuschrecken.

Nella hatte während des Essens kaum ein Wort mit ihr gewechselt, was Blanche recht war. Nachdem sie eine zweite Hühnerbrühe und einen weiteren Liter Wasser intus hatte, legte sie ein wahres Waffenarsenal an, als würde sie in den Krieg ziehen. Selbst da schwieg Nella noch. Doch als Blanche schwer bewaffnet im Fond des Wagens Platz nahm, stieß Ernesto einen italienischen Fluch aus, der nicht klang, als würde er sich freuen, sie zu sehen.

In der Horizon Videothek fiel der Empfang ähnlich herzlich aus. Ein grimmig dreinschauender Türsteher forderte sie auf, sämtliche Waffen abzulegen, und machte Anstalten, sie zu durchsuchen. Doch bevor Enzos Gorilla Hand an sie legen konnte, steckte eine Neun-Millimeter in seinem Mund.

„Wenn du mich anfasst, verteile ich dein Spatzenhirn auf die Louis de Funès Sammlung hinter dir“, hauchte sie in sein Ohr. „Jetzt bring mich zu Leo und quatsch mich nicht blöd an. Ich hatte einen beschissenen Tag.“

Die Tür der Erwachsenenabteilung öffnete sich und ein zweiter Posten mit wasserstoffblonden Haaren erschien im Durchgang. Er betrachtete sie mit zusammengezogenen Brauen, machte jedoch keine Anstalten, seinem Kollegen zu helfen. Wie es aussah, hatte Leo sie angekündigt.

„Draufbeißen“, befahl sie dem Typen am Ende ihrer Waffe, der sie angriffslustig anfunkelte. Blanche drückte die Mündung der SIG tiefer in seinen Rachen. „Beiß auf den verdammten Lauf und geh voraus.“

Endlich schien er zu begreifen und brennender Zorn entflammte sein Gesicht. Dennoch tat er, wie ihm geheißen und betrat im Rückwärtsgang den geschlossenen Bereich. Der stickige Raum war klaustrophobisch klein und wirkte genauso abstoßend wie der vordere Teil des Ladens. Für einen Augenblick raubte es ihr den Atem, als ihr die abgestandene Luft entgegenschlug, die nach Nikotin und irgendeinem Fusel stank. Fenster gab es keine, dafür blanke Neonröhren wie in einem Verhörraum der DCRI, der Direction Centrale du Renseignement Intérieur – die französische Antwort auf das CIA.

Auf der gegenüberliegenden Seite des Eingangs schwang ein Regal mit DVDs zurück, deren Covers schmollmündige Lolitas in roten Schottenminiröcken zeigten, die die erigierten Schwänze von Gewichthebern in heruntergelassenen Bauarbeiterklamotten bearbeiteten. Sie nahm alle Details des Raums auf, bemerkte sogar, dass die verschiedenen Einbände immer die gleiche Szene darstellten, nur in anderen Positionen, mit anderen Mädchen in Rock und weißen Kniestrümpfen. Das muss eine Serie sein, dachte sie und ließ Kotzbrocken Nummer eins, den sein Kumpel Antoine nannte, wie einen Krebs mit dem Rücken voran den dahinter liegenden Raum betreten. Blondie, der zweite Wachposten, warf ihr einen bitterbösen Blick zu und trat zwei Schritte zurück. Als Antoine die scharfe Handgranate in ihrer freien Hand bemerkte, stieß er ein Quieken aus und lenkte damit die Aufmerksamkeit erst auf sich, dann auf Blanches Granate. Sie hielt den Schalthebel gedrückt, doch der Sicherungsstift fehlte, was im Klartext bedeutete: Falls sie jemand angriff, wären sie alle tot. Blondie mahlte mit den Zähnen, behielt jedoch einen kühlen Kopf und zeigte ihr seine leeren Hände.

Kluges Kerlchen. Rasch sah sie sich in dem neuen Raum hinter dem Lolitaregal um. Hier gab es keine DVDs, dafür jede Menge Holzkisten mit Waffen, Munition und Sprengstoff. Statt verkleideter Bauarbeiter standen vier von Enzos Männern in feinem Zwirn neben einem Schreibtisch. Dahinter saß Leo, der, wenn das überhaupt möglich war, noch beschissener aussah als beim letzten Mal. Offensichtlich war es ihm nicht gut ergangen, dennoch lächelte er, als sie eintrat.

„Ich mag deinen Stil“, sagte er und grinste von einem Ohr zum anderen. Sie entspannte sich ein wenig. Leo eingeschlossen befanden sich fünf Männer im Raum, plus den Typen am Ende ihrer Mündung. Blanker Hass quoll aus seinen Augen, weil sie ihn vor seinen Freunden vorführte, aber das war ihr egal. Sie hatte Besseres zu tun, als Rücksicht auf die Gefühle gekränkter Totschläger zu nehmen.

Leo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sagte etwas auf Italienisch zu den Männern, das sie nicht verstand. Sie zögerten einen Augenblick, dann verließen sie einer nach dem anderen den Raum, jedoch nicht, ohne ihr im Vorbeigehen einen vernichtenden Blick zuzuwerfen.

Ihr mich auch, dachte sie und wies Antoine an, den Mund zu öffnen und zu verschwinden. Als sich die Tür hinter ihm schloss, sicherte Blanche die Granate, hielt die Waffe jedoch auf Leo gerichtet, der sich nicht rührte. Sie bat ihn, aufzustehen und durchsuchte ihn mit der freien Hand. Er war sauber, was sie nicht wunderte, denn Leo verschob zwar Waffen, doch er trug nie eine bei sich. Das musste er auch nicht, denn in Paris kannte man ihn als Enzos Mann. Wer ihn angriff, griff Enzo an, also blieb er unbehelligt. Na ja, zumindest, bis Zoey aufgekreuzt war.

Nachdem sie eine Entschuldigung gemurmelt hatte, erlaubte sie Leo, sich wieder zu setzen.

„Schon gut, Mädchen“, sagte er und stützte seine Unterarme auf den Schreibtisch.

Sie sah sich nach einem Stuhl um und begriff plötzlich, dass sie sich in einem gekachelten Herrenwaschraum befand. Die Toilettenkabinen waren entfernt worden, doch die Pissoirs hingen nach wie vor an der Wand, wo sie teilweise von gestapelten Kisten verdeckt wurden.

„Nettes Büro“, bemerkte sie und nahm am Rand einer Truhe Platz, deren Deckel nur lose auflag, sodass Holzwolle daraus hervorquoll. Da sie nun allein waren, steckte sie ihre Waffe zurück ins Halfter und richtete den Blick auf Leo.

„Ist nur vorübergehend. Wir ziehen weiter hoch, in die Nummer 108.“

„Ins alte Theater?“

Leo nickte. „Nach der Renovierung ist es ein Fitnesscenter.“ Er schmunzelte. „Mit einem netten Munitionslager im Keller.“

Mann, einmal im Leben Bauunternehmer für die Mafia sein, dann musste man über Geld nie wieder nachdenken. Sie räusperte sich. „Du weißt, dass Renée tot ist, oder?“

Leos Gesichtszüge froren ein. „Hast du sie gesehen?“

Blanche nickte, konnte ihn jedoch nicht ansehen.

„So schlimm also“, bemerkte er mit rauer Stimme.

„Es tut mir leid.“ Sie räusperte sich wieder und hielt den Blick auf ihre Hände gerichtet. „Es war zu spät für sie, aber wenigstens habe ich ein Dutzend von diesen Wichsern erledigt.“

„Das hätte ihr gefallen.“

Bei seiner Bemerkung sah sie überrascht auf und begriff, dass es ein Scherz sein sollte, doch seine Augen lächelten nicht.

„Was wirst du jetzt tun?“

„Enzo hat mir die Wetten angeboten und ein Stück vom Waffengeschäft. Aus dem Drogenhandel habe ich mich schon vor Jahren zurückgezogen, dafür ist Pierre noch zuständig.“

So wie er das noch betonte, sah es nicht gut für Pierre aus. „Was ist mit der Prostitution?“

„Darum kümmert sich Giacomo.“

„Und was macht Louis?“

„Schutzgeld.“

„Gibt es überhaupt noch einen Bereich, um den sich Enzo direkt kümmert?“

Leo schürzte die Lippen. „Er will in die Politik, darum intensiviert er seine Kontakte um Bertrand Delanoë.“

Der Bürgermeister von Paris? Fast hätte sie gelacht. Es war bekannt, dass Delanoë Ambitionen auf das Präsidentenamt hatte und über ausgezeichnete Beziehungen verfügte. Dass Enzo den gebürtigen Tunesier bereits in seinem Netz verwob, zeigte ihr, dass man einen unverzeihlichen Fehler beging, wenn man den Boss der Pariser Mafia unterschätzte. „Was will Enzo wegen der Russen unternehmen? Zoey ist entkommen, das weißt du, oder?“

Leos Gesicht wurde verschlossen. Offensichtlich wusste er, dass sich Renées Mörder auf freiem Fuß befand.

„Enzo hat sich mit Sergej getroffen.“

Das wunderte sie nicht. Der Spruch ‚Der Feind meines Feindes ist mein Freund‘, traf auf Zoey nicht zu, denn der Russe bedrohte die Sankt-Petersburger wie die Italiener gleichermaßen. Zoey war ein Idiot, es sich gleich mit beiden Organisationen zu verderben. Hätte er sich zum Schein mit Sergej verbündet, um Enzo mit vereinten Kräften aus der Stadt zu jagen, ständen seine Chancen erheblich besser. Aber wie ein Rambo durch Paris zu rennen, hatte beide Syndikate gegen ihn aufgebracht. Immerhin war das ihre Stadt und ihr Job bestand darin, in der Unterwelt für Ordnung zu sorgen. Dass Russen wie Italiener nun bei den örtlichen Behörden schlecht dastanden, hatten sie diesem Moskauer Großmaul zu verdanken, der den Paten eins bis drei anscheinend zu oft gesehen hatte. Mittlerweile waren nicht nur seine Landsleute und Enzo hinter ihm her, sondern auch die Gendarmerie. Bei dem Radau, den Zoey bisher verursacht hatte, musste die Polizei bald Erfolge vorweisen. In ihrem Bestreben, die Bevölkerung zu beruhigen, machten sie dabei keine kulturellen Unterschiede mehr. Ab jetzt galt: Mafia ist Mafia.

Leos leise Stimme riss Blanche aus ihren Gedanken.

„Bis Zoey erledigt ist, haben sie sich verbündet.“

Sie, nicht wir. Interessant.

„Enzo und Sergej wollen an ihm ein Exempel statuieren“, fuhr er fort.

Das mussten sie wohl auch, immerhin hatte Zoey sie vor aller Welt vorgeführt.

„Danach möchten sie sich an einen Tisch setzen, und über eine Neuverteilung von Paris verhandeln, aber ich bezweifle, dass sie sich jemals einigen. Enzo hat den Handel mit Kinderpornos in seinen Bezirken verboten, Sergej nicht.“

Ah ja, der heilige Enzo. Wie rührend. An einem ausdruckslosen Gesichtsausdruck arbeitend, verkniff sie sich jeden Kommentar.

„Der Russe will ein größeres Stück vom Waffenhandel und Zutritt zu Enzos politischen Kontakten, doch das wird der Boss niemals zulassen.“

Da kamen sie der Sache schon näher. Niemand teilt gern, was er einmal in Händen hält und die großen Syndikate gaben niemals etwas her, das sie im Krieg erobert hatten. Sobald der gemeinsame Feind erledigt wäre, würden sie wieder mit ungebremster Kraft aufeinander losgehen. Apropos.

„Es wird schwer werden, Zoey kaltzumachen.“

„Niemand behauptet das Gegenteil.“

„Das meine ich nicht. Ich habe ihn vom Nabel bis zum Brustbein aufgeschnitten, aber er hat nicht mal gezuckt. Was immer er in sein Trinkwasser mischt – es wirkt.“

Leos Schultern sackten hinab, sein ganzer Ausdruck veränderte sich, als hätte sie ihm eins übergebraten. Eine Weile blieb es still, dann sagte er leise: „Ja. Es wirkt.“

Er zog eine Schublade seines Schreibtischs auf, entnahm etwas und erhob sich umständlich, als hätte er Schwierigkeiten, sich zu bewegen. Nachdem er sich auf eine Kiste neben Blanche gesetzt hatte, erkannte sie, dass er ein gewaltiges Geldbündel umklammert hielt, das aus Fünfhunderteurobanknoten bestand. Er warf es in ihren Schoß, doch aus irgendeinem Grund konnte er sie dabei nicht ansehen.

„Das ist eine kleine Anzahlung auf Waynes Vermögen.“

„Wie viel ist das?“, fragte sie überrascht.

„Hunderttausend Euro.“

„Und was soll ich damit?“

„Das hat Wayne dir als Startgeld zurückgelegt, bis du es zu seinem Nummernkonto schaffst.“

Er besaß ein Konto in der Schweiz? Na toll, warum wunderte sie sich überhaupt darüber. Um ihren Ärger zurückzudrängen, atmete sie tief durch.

„Wayne war ein reicher Mann. In den letzten zwanzig Jahren hat er fast jeden Tag gearbeitet und so gut wie nichts für sich behalten. Die Waffen habe ich ihm besorgt und ich habe sie von Enzo.“

„Wie viel?“, fragte sie tonlos.

„Rund zwölf Millionen“, sagte Leo ungerührt.

„Euro?“

„Nein“, brummte er. „Wayne hat sich seinen Anteil in Lakritzschnecken auszahlen lassen.“ Als er ihren verwirrten Ausdruck sah, verdrehte er die Augen, was bei ihm ziemlich komisch aussah. „Natürlich Euro, was denkst du denn!“ Er nickte zu dem Geldbündel. „Auf der Banderole steht die Kontonummer der Banque Cantonale Vaudoise mit Sitz in Lausanne. Es läuft auf deinen Decknamen, das Passwort kennst nur du. Wayne sagte, es sei dein Taufname.“

Ein Konto in der Schweiz mit ihrem richtigen Vornamen als Passwort? Das erklärte dann wohl, warum er sie ausgerechnet in Lausanne ins Internat gesteckt hatte. So konnte er zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Seinen Pflichtbesuch absolvieren und danach sein eidgenössisches Sparschwein füttern.

Was hatte er sonst noch alles hinter ihrem Rücken ausgeheckt? Ein ätzendes Brennen fraß sich durch ihre Magenwände. Lieber hätte sie auf diese Information samt den Moneten verzichtet, denn mittlerweile kam sie sich wie ein Zahnrad in Waynes Getriebe vor. Wie viele Neuigkeiten über ihn würde sie noch verkraften können?

Neben ihr räusperte sich Leo unbehaglich, dann stopfte er das Geld in die Außentasche ihrer schwarzen Wachsjacke. Wahrscheinlich hatte er Angst, dass sie ihm das Bündel ins Gesicht schleudern würde.

„Hör mal, Mädchen, deswegen habe ich dich nicht hergebeten.“ Er rieb sich das Kinn und seufzte resigniert. „Enzo will dich in seinem Team haben.“

Sie schnaubte. Das glaubte sie gerne.

„Er hält sehr viel von dir und weiß, dass er dir etwas schuldet. Man kann von ihm halten, was man will, aber er bezahlt seine Außenstände.“

Sie sah auf und blickte ihn mit eisigen Augen an. „Ah ja? Und wie hat er dir Renées Verlust bezahlt? Mit einem miesen Job in einem seiner runtergekommenen Wettlokale mit Pissoirs an den Wänden? Und dann darfst du für ihn auch noch den Aufreißer spielen, der mich anwerben soll. Glaubst du, dass Renée sich das für dich gewünscht hätte?“ Mit ihrer Stimme hätte man Glas schneiden können, doch als sie seinen Ausdruck sah, senkte sie den Blick und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. „Es tut mir leid“, flüsterte sie. Ihre Augen brannten, doch sie erlaubte sich keine Schwäche. Nicht hier. Nicht jetzt. „Ich kann nicht für Enzo arbeiten, dafür verachte ich ihn zu sehr.“

„Das verstehe ich, Mädchen, aber überleg es dir zumindest. Enzo will Zoey hinrichten, und zwar so, dass sein Inneres nach außen gestülpt wird, während er noch lebt und dabei zusehen kann.“

Ihre Blicke trafen sich. So etwas in der Art hatte ihr für Zoey ebenfalls vorgeschwebt, doch sie schwieg.

„Klingt nach einem Job für dich, Mädchen.“

Was wusste er schon. Sie war kein Schlächter. Wenn sie tötete, dann schnell und sauber. Außerdem war sie davon überzeugt, dass sich unter Enzos Männern genügend Arschlöcher befanden, die Zoey das Wasser reichen konnten. Man musste nur genau hinsehen und einen Blick in ihre gierigen Augen werfen. Vielleicht waren sie nicht so durchgeknallt wie der Todesengel – na gut, ganz sicher waren sie das nicht. Aber Zoey bildete keine Ausnahme. Er war ein ambitionierter Gauner, dem man Macht gegeben hatte, die er nun – Überraschung! – nach Herzenslust missbrauchte. Typen wie er und Enzo waren Narzissten. Selbstverliebte Machos, die alles und jeden kontrollieren wollten. Andere Menschen interessierten sie nur, wenn sie ihnen einen Nutzen brachten. Hätte sich Zoey auf Enzos Seite geschlagen, wären die beiden in diesem Augenblick ein Herz und eine Seele, bis sich Enzos Interessen änderten und Zoey ihm im Weg stehen würde. Das alles war ihr so zuwider, dass sie nicht genug essen konnte, wie sie kotzen wollte. Dennoch nickte sie und heuchelte Zustimmung. Es wäre nicht klug, Leo ihre Weisheiten um die Ohren zu hauen. Jetzt, da Renée tot war, wusste sie nicht, wo er stand und wem seine Loyalität galt. Und er hatte erst kürzlich jemanden verraten – seinen besten Freund.

„Ich werde es mir überlegen“, log sie und machte Anstalten, sich zu erheben. Leos große Hand legte sich behutsam auf ihre Schulter.

„Warte noch einen Augenblick, Blanche“, bat er mit leiser Stimme.

Verdutzt blickte sie zu ihm auf. Das war das erste Mal, dass er ihren Namen benutzte.

„Es ist in Ordnung, wenn du nicht für Enzo arbeiten willst, so oder so werde ich ihm sagen, dass du es dir durch den Kopf gehen lässt.“ Er zog seine Hand von ihrer Schulter und sah zu Boden. „Mir ist es egal, ob du Zoey auf eigene Rechnung erledigst, meinen Segen hast du.“ Er knetete seine Schaufelbaggerhände, während er nach den richtigen Worten suchte. „Ich möchte, dass du etwas weißt, aber mir ist klar, dass du mich danach hassen wirst. Mehr als jetzt, meine ich.“

Was denn noch? Sie wappnete sich innerlich für eine neue Hiobsbotschaft.

„Die Dinge“, begann er stockend „die ich dir in der Kirche erzählt habe – die Sache über Beliar und den Teufelspakt.“ Unruhig fuhr er mit der Hand über die gefurchte Stirn. „Das alles habe ich nicht von Wayne erfahren.“

Was sollte das jetzt wieder?

Doch Leo war bereits zu tief in die Vergangenheit abgetaucht, um ihr Unbehagen zu bemerken. Nach einem letzten Zögern fuhr er mit brüchiger Stimme fort. „Vor knapp dreißig Jahren habe ich mich mit einem von Saetans Dämonen eingelassen und einen Pakt geschlossen. Damals lebte ich wie du auf der Straße und kämpfte im siebzehnten Arrondissement ums Überleben. Dann verkaufte die Stadtverwaltung die leer stehenden Gebäude, die uns bis dahin als Unterkunft gedient hatten, an eine ausländische Investorengruppe. Diese plante eine Kernsanierung und als Erstes flog das Ungeziefer raus – die illegalen Bewohner. Sie verscheuchten uns nachts, bevor eine politische Sache daraus werden konnte. Es war Ende Dezember und wir starben wie die Fliegen, denn niemand von uns wollte zurück in eine der staatlichen Einrichtungen, bei denen Übergriffe an der Tagesordnung waren. Mit Schlägen hätten wir noch leben können, aber das andere …“

Er brach ab und schüttelte den Kopf. Was konnte einen Jungen dazu treiben, lieber auf der Straße an Kälte und Hunger zu sterben, als in einem Heim eine raue aber zumindest warme Zuflucht zu finden?

Leo stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Nicht nur Mädchen können Opfer sexueller Gewalt werden“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und mied ihren Blick.

Ihr Hals wurde eng. Oh nein, bitte nicht.

Leo räusperte sich. „Es dauerte nicht lange, bis ich vor Kälte zusammenbrach. Ich brauchte Essen und einen Unterschlupf. Aber vor allem brauchte ich einen Grund, weiterzuleben. Als ich eines Tages nicht mehr wusste, wie ich die kommende Nacht überleben soll, schickte Saetan mir seinen Dämon, Tchort – den Schwarzen Gott. Er versprach mir eine glänzende Zukunft, wenn ich für den Teufel auf Seelenfang gehen würde.“ Er sah kurz auf und lächelte traurig. „Ich besitze ein Gespür für Menschen, musst du wissen. Das hat mir oft geholfen, Ärger aus dem Weg zu gehen. Mein Pakt mit Tchort sah vor, Menschen für Saetan aufzuspüren, die sich wie ich in einer Notsituation befanden und bereit waren, ihm ihre Dienste anzubieten – oder ihre Seele.“

Langsam dämmerte es ihr. Wer ging schon in eine Pfandleihe, um sein letztes Hemd zu versetzen? Verzweifelte Menschen, die dringend Geld brauchten. Die zu Hause oft deswegen stritten …

Sie wollte nicht hören, was er als Nächstes sagen würde, dennoch brachte sie es nicht über sich, aufzustehen und zu gehen. Es war die Faszination des Grauens, die sie stocksteif auf ihrem Platz gefangen hielt. Als würde man einen TGW dabei beobachten, wie er auf einen entgegenkommenden ICE zurast. Man weiß, dass man die Kollision nicht verhindern kann – aber wegsehen geht auch nicht.

„Nachdem Wayne Frau und Kind verloren hatte, wollte er sich das Leben nehmen. Er hatte seine Tochter über alles geliebt, und auch wenn er und Anaïs sich nicht mehr wie am Anfang ihrer Beziehung verstanden, so hatte er sie doch geliebt. Er wusste, dass die Armut sie bitter und hart gemacht hatte, und gab sich die Schuld daran.“

„Und in dieser Situation hast du ihn Saetan in die Arme getrieben“, flüsterte sie entsetzt.

Leo nickte. „Damals habe ich mir eingeredet, ich würde sein Leben retten, aber mit den Beschönigungen bin ich fertig. Zugegeben, ich habe den Vertrag so aufgesetzt, dass Wayne seine Seele behält. Das Abkommen war ein Austausch von Leistungen, begrenzt auf zwanzig Jahre. Doch das ändert nichts daran, dass ich seine Schwäche ausgenutzt und ihn in den Teufelspakt gedrängt habe. Am Ende hat er seine Seele obendrauf gelegt, weil er aufgrund des jahrelangen Mordens davon ausging, verdammt zu sein. Er glaubte, dass er außer dir nichts zu verlieren hätte und ich habe nicht einmal versucht, ihm das auszureden.“ Leo erhob sich umständlich und ging vor ihr auf und ab.

„Nachdem ich erfuhr, dass er Tchort entkommen ließ, habe ich zum ersten Mal seit dreißig Jahren wieder Hoffnung geschöpft, denn meinen Pakt hatte ich mit dem Schwarzen Gott geschlossen.“

„Das verstehe ich nicht. Wie lange war denn deine Laufzeit?“ Ihre Stimme klang heiser.

„Als mein Vertrag geschlossen wurde, war ich fünfzehn. In meiner Unerfahrenheit habe ich kein zeitliches Limit einsetzen lassen, was aus mir einen lebenslangen Sklaven gemacht hat, ohne Aussicht, mich jemals befreien zu können. Den Trick mit dem Zeitlimit und der Ausstiegsklausel habe ich erst viel später gelernt.“ Er machte eine wegwischende Handbewegung, als wollte er eine unliebsame Erinnerung vertreiben. „Tchorts Verschwinden war meine erste reale Chance, mich aus Saetans Krallen zu befreien. Nachdem der Dämon abgetaucht war, weigerte ich mich, weiterhin den Rattenfänger zu geben, denn den Pakt habe ich mit Tchort abgeschlossen, sein Blut speiste das Siegel.“

Abermals ließ er die Schultern hängen. Er sah mitgenommen aus, und diesmal lag es nicht an seinem zerschlagenen Gesicht. Das Haar war zerzaust, der Blick glasig. Es kam ihr vor, als wäre er vor ihren Augen geschrumpft. Mit müden Schritten schlurfte er zurück zu seinem Schreibtisch und ließ sich schwer in den Sessel fallen. Nachdem er eine Weile seine Hände betrachtet hatte, fuhr er mit belegter Stimme fort.

„Und dann taucht wie aus dem Nichts Victors Sohn auf. Es war wie damals, als Wayne urplötzlich auf der Bildfläche erschienen war und in Paris aufräumte. Ich habe es nicht verstanden. Habe nicht gesehen, was vor sich ging.“ Seine Stimme wurde dünn. „Er kam in Saetans Auftrag, um mich zu bestrafen, mir mein Geschäft zu nehmen, meine Zukunft, Renée …“ Leos Stimme brach und eine Pause entstand, in der er den Kopf schüttelte, wie vor ein paar Tagen in der Kirche. War das wirklich erst eine Woche her? „Die ganze Zeit habe ich es nicht begriffen …“

„Was?“

Leo hielt mit dem Kopfschütteln inne und sah sie an. „Ich habe Saetan nie gebraucht. Alles, was ich geschafft habe, hätte ich auch ohne ihn erreicht.“

„Ich dachte, er hätte dich von der Straße geholt?“

„Wochen, bevor es mir so dreckig ging, fand mich einer von Vincenzos Männern an der Metrostation. Hat mich gefragt, ob ich Italiener sei.“

Vincenzo war Enzos Onkel und damals der Kopf der italienischen Mafia in Paris. Da er keine Söhne hatte, übertrug er nach und nach Enzo die Verantwortung für die Arrondissements, bis er sich mit zweiundsiebzig Jahren nach Sizilien zurückzog, und die Geschäfte vollständig in die Hände seines Neffen legte.

„Ich hätte auch ohne Saetan eine Möglichkeit zum Überleben gefunden. Doch statt an meiner Zukunft zu arbeiten, habe ich sie mir auf einem Silbertablett servieren lassen.“ Wieder schüttelte er den Kopf. „In Wahrheit habe ich oft Hilfe angeboten bekommen. Aber entweder war ich zu stolz oder zu wütend, um sie anzunehmen. Es gab immer einen Grund, an meinem Elend festzuhalten, denn in Wahrheit dachte ich, ich hätte es verdient. Dachte, es wäre richtig. Ich musste erst ganz unten ankommen, um zu entscheiden, wie es weitergehen soll. Leben oder sterben.“ Er hielt einen Moment inne und sah sie an. „Sterben ist gar nicht so schwer, weißt du. Wenn man erstmal losgelassen hat, ist es sogar ziemlich einfach. Es braucht viel mehr Mut, sich seinen Fehlern zu stellen, aus ihnen zu lernen und weiterzumachen. Am Anfang musst du dich Tag für Tag zusammenreißen. Dich abmühen und an den Haaren aus dem Dreck ziehen. Das Schwierigste ist, deine Ängste anzunehmen und sie zu überwinden. Aber wenn du das einmal getan hast, Blanche, wird es beim nächsten Mal leichter. Die Hürden kommen dir nicht mehr unüberwindlich vor und irgendwann fühlst du dich besser.“ Leo beugte sich vor und stützte seine Unterarme auf den Tisch. Sein Blick wurde eindringlich. „Für mich ist es zu spät, Mädchen. Aber nicht für dich. Schmeiß dein Leben nicht weg, du hast noch alles vor dir!“

Blanche erhob sich mit weichen Knien. Diesmal war sie es, die den Kopf schüttelte. „Für mich ist es auch zu spät, ich kann nicht mehr zurück.“

Er war aufgestanden und umrundete den Tisch. Vor ihr blieb er stehen und ergriff ihre Schultern, als wollte er sie schütteln. „Verlass noch heute die Stadt. Fahr in die Schweiz und nimm das Geld. Du bist noch so jung!“

„Ich muss dieses Dreckschwein erledigen, sonst drehe ich durch.“ Ihre Stimme klang schrill.

„Das verstehe ich, Mädchen. Aber bedenke, wer er ist. Er ist jetzt ein Bündnis mit dem Teufel eingegangen, das ihn für Menschen nahezu unverwundbar macht. Saetan verliert nicht gern eine Seele, darum passt er gut auf Zoey auf. Momentan ist der Teufel in besonders schlechter Stimmung, denn seine Vertragspartner haben ihm die Gefolgschaft gekündigt. Tchorts Familiares fühlen sich nicht mehr an die mit ihm besiegelten Pakte gebunden und tauchen unter oder wechseln die Seite. Aktuell kämpft Saetan an zahllosen Fronten, aber vor allem muss er seine verschollenen Dämonen wiederfinden, ansonsten könnte er Tausende von Seelen verlieren.“

Dämonen – Mehrzahl? Hatte es einen Massenausbruch aus der Hölle gegeben? „Es ist mir egal, ob er schwer zu töten ist. Wenn es sein muss, füttere ich ihn mit Granaten oder schieße ihm den Kopf ab. Das ist in jedem Fall tödlich – so oder so.“

„Dann wird Saetan hinter dir her sein.“

„Das ist mir scheißegal!“

Leo trat einen Schritt zurück und seufzte. „Also gut, Mädchen. Tu, was du tun musst, aber danach mach deinen Frieden. Ich lass dir Material in dein Hotel schicken, sag mir einfach, was du brauchst.“

Sie zögerte nicht, denn was Waffen anging, war Leo der Beste. „Ich will zwei SIG P226 mit auswechselbaren Leichtmetall-Griffstücken. Beide mit integrierter Picatinny-Schiene und Lasermodul. Außerdem brauche ich C4 Plastiksprengstoff und du – ähm – kommst nicht zufällig an eine Bazooka?“

Leo runzelte die Stirn. „Wenn es sein muss, kann ich dir ein Päckchen Plutonium besorgen, aber was in aller Welt willst du mit dem Ding? So etwas setzen wir nur dann ein, wenn wir eine Riesenschweinerei veranstalten wollen.“

Blanche verzog die Mundwinkel zu einem humorlosen Lächeln und schwieg.

Leo brummte etwas Unverständliches und murmelte schließlich: „Also gut, Mädchen, ich schick dir das Zeug nächste Woche ins Georg.“

Na toll, anscheinend wusste jetzt jeder, wo sie wohnte. Es wurde Zeit, umzuziehen. Sie nickte und wandte sich zur Tür. Als ihre Hand auf dem Knauf lag, hielt seine Stimme sie zurück.

„Blanche“, sagte er heiser. Sie verharrte reglos an der Tür. „Es tut mir leid.“

Mir auch, dachte sie und verließ das Gebäude, ohne sich noch einmal umzudrehen.

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Als ich mich fand in einem dunklen Walde.“

Feuer. Überall.

Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege.“

Er brannte. Lichterloh.

Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald, der wildverwachsen war und voller Grauen.“

Doch dies waren keine gewöhnlichen Flammen. Er verglühte von innen heraus, versengt von seinen eigenen Gedanken.

Und in Erinnerung schon die Furcht erneut: So schwer, dass Tod zu leiden wenig schlimmer.“

Nein, nicht seinen Gedanken. Die Erinnerungen gehörten jemand anderem. Vielen anderen.

Als ich zuerst den wahren Weg verlassen. Das mir das Herz mit solcher Furcht befangen.“

Schmerz, abgrundtiefer Schmerz durchbohrte ihn. Genau wie diese Stimmen. Nein, keine Stimmen. Gesang, vermischt mit Wehklagen, das wie ein Eispickel in sein Bewusstsein stach.

So wandte sich mein Geist, noch immer fliehend, zurück, um zu beschaun die dunkle Talschlucht.“

Doch da war mehr, so viel mehr.

Die keinen, der drin weilt, lebendig ließ.“

Angst und Schrecken. Wut und Trauer, von einer Intensität, die er nicht in Worte fassen konnte. Was hatte er angerichtet? Wie viele Kinder hatte er genommen? Familien zerstört, Freunde getrennt, Liebende entzweit. Leben vernichtet. Beliar schloss voller Abscheu die Augen, um die Bilder zurückliegenden Grauens aus seinem Gedächtnis zu verbannen. Doch er war gefangen in seinem persönlichen Inferno, eingesperrt in einer Hölle, die er sich durch seine Taten erschaffen hatte. Jede Entscheidung, die er einmal getroffen hatte, wurde nun auf ihn zurückgeworfen und es gab nichts, nichts, nichts, das ihn daraus befreien konnte. Der ungefilterte Schmerz seiner Opfer verschlang ihn bei lebendigem Leib, fraß sich durch seine Eingeweide und verbrannte ihn von innen nach außen. Und so, wie es für seine Beute kein Entkommen gegeben hatte, war auch er auf sich allein gestellt. Eingesperrt mit Leid und Qualen, die er in einer Ära der Grausamkeit verursacht hatte, seit er in Saetans Diensten stand. Der einzige Anker, der ihn hielt, war ein blasses Gesicht inmitten der Finsternis. Blauviolette Augen, eingerahmt von schwarzem Haar und ein trotziger Mund, der ihm ein zaghaftes Lächeln schenkte. Das Antlitz einer Frau, die ihn verfolgte, seit er ihr das erste Mal begegnet war. Die er nicht mehr vergessen konnte. Für die er buchstäblich durch die Hölle ging, ohne zu wissen, was ihn am Ende des Weges erwartete. Ob er einen Platz in dieser Welt finden oder zurück in die Hölle gespuckt würde.

Blanche, war sein letzter bewusster Gedanke, bevor der Schmerz von Tausenden Seelen auf ihn einschlug und ihn in eine Million Fragmente zerschmetterte. Er öffnete den Mund zu einem Schrei, doch es kam kein Ton heraus. An diesem Ort besaß er keine Stimme. Hier kamen seine Opfer zu Wort.