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Die Linie zwei folgte dem Boulevard de Courcelles und schließlich dem Boulevard de Clichy. Nach acht Stationen stieg sie an der Pigalle aus und überquerte den breiten Straßenstreifen. An der Ecke befand sich das Restaurant La Marmite, das in ständigem Clinch mit dem gegenüberliegenden La Fourmi lag. Mittlerweile hatte das Nachtleben Paris fest im Griff. Aufreißer, Prostituierte und Drogendealer säumten die Rue des Martyrs. Blanche hatte ihr Ziel fast erreicht. Sie verlangsamte ihre Schritte, um sich zu beruhigen. Es war Jahre her, seit sie das letzte Mal einen Fuß in diese Gegend gesetzt hatte. Madame Arthurs knallrotes Haus hatte sich kein bisschen verändert, dafür standen die meisten anderen Geschäfte leer, wie Antoine’s Lebensmittelgeschäft oder Isabelle’s Obstladen ein Haus weiter. An der Ecke zu der Sackgasse hatte ein Thailänder aufgemacht. Den hatte es früher noch nicht gegeben.

Und dann lag sie plötzlich vor ihr, die Rue André Gill, die drei lange Jahre Andrejs und ihr Zuhause gewesen war.

Gegen ihren Willen wanderten ihre Gedanken zu der Zeit, als sie mit acht Jahren aus dem Heim der Barmherzigen Schwestern weggelaufen war. Von wegen barmherzig. Die meisten Schwestern waren intrigante Heuchlerinnen, die jedes Aufblitzen von Gegenwehr zum Anlass nahmen, ihren Schutzbefohlenen die Seele aus dem Leib zu prügeln. Dabei hatte Blanche, der die besondere Aufmerksamkeit der Äbtissin zuteilwurde, das große Los gezogen. Deren Zuwendungen hatten über die Jahre ein ansehnliches Muster auf ihrem Rücken hinterlassen. Und obwohl diese Narben nie ganz verblassen würden, stellten ihre inneren Wunden die größere Bürde dar, weil sie es nie gewagt hatte, sich dem Schmerz zu stellen. So blieb er jahrelang konserviert, gepaart mit dem Gefühl der Hilflosigkeit. Ein Mix aus Nitro und Glycerin. Für sich genommen waren diese Komponenten harmlos, doch zusammen ergaben sie eine explosive Mischung, die bei der kleinsten Erschütterung hochgehen konnte.

„Es ist zu deinem Besten.“

Bei der Erinnerung an die geflüsterten Worte zwischen den Stockhieben lief es ihr kalt den Rücken hinunter. Eine Woche zuvor hatte die Schwester Oberin Blanches schwarze Haarpracht abgeschnitten, um sie vor der Sünde des Stolzes zu bewahren. Auch das war zu ihrem Besten gewesen.

Einen Anlass zur Schikane gab es immer. Senkten sie den Kopf nicht schnell genug, hagelte es Ohrfeigen, saß eines der Mädchen mit krummem Rücken da, gab es ebenfalls welche. Zu lautes Beten wurde genauso bestraft wie zu leises. Es war ein Spiel, das sie nicht gewinnen konnten. Eines, das sich die Schwestern ausgedacht hatten und dessen Regeln sie täglich änderten.

So kreativ sie beim Aufstellen neuer Gebote waren, ihre Sprüche klangen immer gleich: „Wir müssen dir den Teufel austreiben, du trägst böses Blut in dir!“

Böses Blut. Wie oft hatte sie sich diesen Quatsch anhören müssen. Vielleicht traf das ja wirklich auf sie zu, denn je mehr sie bestraft wurde, desto öfter reizte sie die Schwestern. Sie schuf ihr eigenes Spiel, in dem ihre innere Stimme der Schiedsrichter war. Gab sie während einer Strafaktion einen Laut von sich, stand es eins zu null für die Hexen. Bekamen die sie nicht klein, hatte sie das Spiel gewonnen. Kam sie mit einem Diebstahl durch, ohne erwischt zu werden, stand es zwei zu null für Blanche. Das war allerdings nicht oft der Fall und so musste sie sich meistens mit einem eins zu eins zufriedengeben.

Ihre Weigerung, während einer Bestrafung ihren Schmerz mit den Schwestern zu teilen, bestärkte deren Ehrgeiz, dem widerspenstigen Kind den Stolz auszutreiben, den sie nur vom Teufel haben konnte.

Einige Wochen vor ihrer Flucht hatte sie den Schlüsselbund der Schwester Oberin gestohlen, die sie zu drei Wochen Fasten verdonnert hatte. Blanche war hungrig und die Speisekammer war der ideale Ort, das zu ändern. Da sie nicht die Einzige war, die unter Hunger litt, schloss sich ihr schon bald eine ganze Kinderschar an. Und obschon sich die Mädchen Mühe gaben, leise zu sein, wurden sie erwischt. Die Gruppe handelte sich eine zusätzliche Strafe ein und wurde zu weiteren drei Wochen Hunger verurteilt. Blanche, die sogleich als Anstifterin identifiziert wurde, kam in den Genuss einer Sonderbehandlung der Äbtissin, die diesmal gar nicht erst versuchte, ihren Hass auf das Teufelskind hinter frommen Sprüchen zu verstecken. Sie zog ihr den Stock wieder und wieder über den entblößten Rücken und war erst zufrieden, als Blanche blutend zusammenbrach. Zwei Tage später erwachte sie in der Krankenstation, bandagiert wie eine Mumie. Es dauerte Wochen, bis sie die Verbände ablegen konnte, gegen die Schmerzen bekam sie nichts. Glücklicherweise verfügte sie über gutes Heilfleisch und konnte nach vierzehn Tagen erstmals das Bett verlassen. Nachdem Camille, ihre Freundin aus Schlafsaal sieben, Blanches Anziehsachen ins Krankenzimmer geschmuggelt hatte, wartete diese auf einen günstigen Moment zur Flucht. Sie wusste, dass dies vielleicht ihre letzte Chance war, diesem Irrenhaus zu entkommen. Einen weiteren Gewaltausbruch dieser Art würde sie womöglich nicht überleben. Alle Fenster im Heim waren vergittert, das Foyer streng bewacht – als wären sie Kriminelle. Die Küche verfügte über einen Lieferanteneingang, doch der war selbst nachts zu gut gesichert. Die Krankenstation besaß ebenfalls einen separaten Zugang, doch im Gegensatz zu den Küchen wurde dieser eher nachlässig überwacht.

Blanche ergriff die Gelegenheit und präparierte in einer Pause der Schwestern das Seitenblech der Außentür mit einem Heftpflaster, sodass der Schnapper nicht einrasten konnte. Diese Pforte war eine der wenigen, die nicht abgesperrt wurde, weil sie statt einer Klinke nur einen Knauf besaß und man sie mit einem Schlüssel öffnen musste. Ein automatischer Türschließer sorgte zudem dafür, dass sie nicht offen stand, darum machte sich niemand die Mühe, sie extra zu verriegeln.

Und so lief sie in der Nacht davon, mit nichts als den Sachen, die sie am Körper trug. In der Metro hatte Andrej sie aufgelesen. Da sie zunächst nicht sprach, nannte er sie nach der Station, an der sie ausstiegen: Blanche. Der Name stand ihr gut, denn unter ihren blauen Flecken war sie bleich wie ein Gespenst. Zudem schien sie keine Vergangenheit zu haben – zumindest keine, über die sie reden wollte.

Ihr neuer Freund hatte sich nach einem berühmten Karikaturisten und Chansonnier des neunzehnten Jahrhunderts benannt: André Gill. Da er ursprünglich aus der Ukraine stammte, bevorzugte er die russische Variante: Andrej.

Während sich Blanche nun zögernd der Gasse näherte, stürmten die Erinnerungen wie Peitschenhiebe auf sie ein. Vor ihrem inneren Auge sah sie das Kind, das sie einmal war, ein elfjähriges Mädchen, zu klein für ihr Alter, blass, mit zerzaustem, pechschwarzem Haar. Tränen hatten Spuren auf ihrem schmutzigen Gesicht hinterlassen. Zusammengekauert saß sie auf den Stufen ihres Unterschlupfs und wartete auf die Rückkehr ihres Freundes.

Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Damals gab es hier kein Hotel. Die Häuser in dem engen Karree standen leer und dienten ihnen als Nachtquartier: zweite Etage, dritte Tür links.

Die Flashbacks schleuderten ihren Geist wie ein Katapult aus ihrem Körper. Sie beobachtete die kleine Blanche, wie man sich in einem Traum sieht – einem Albtraum in diesem Fall. Damals war sie voller Angst gewesen, weil Andrej nicht zurückgekommen war. Zwei Nächte zuvor hatte eine schwarze Limousine in der Gasse angehalten. Die Türen hatten sich geöffnet und drei Männer waren ausgestiegen. Sie suchten jemanden und redeten mit ihrem Freund und Beschützer, zeigten mit dem Finger auf sie.

Sie zuckt zusammen, läuft aber nicht davon, denn sie weiß, dass sie ihren Freund mit diesen Leuten nicht allein lassen darf. Als Andrej nach einem langen Blick auf sie in den Wagen steigt, spürt sie die namenlose Gefahr, in der er schwebt. Ihr ist klar, dass er sich an ihrer Stelle angeboten hat. Die Angst um ihn schnürt ihre Kehle zu. Sie friert entsetzlich. Es ist so kalt. Und sie ist so allein.

Nicht fühlen!

Blanches Geist stieg noch ein wenig höher, bis er eine erträgliche Distanz zwischen sich und das Kind von damals gebracht hatte. Sie erinnerte sich an das Mädchen, das starr vor Angst und Kälte auf Andrejs Rückkehr wartete. Aber er kam nicht. Nicht in dieser Nacht und nicht am nächsten Tag.

Am darauf folgenden Abend bog die Limousine abermals in die Gasse ein. Das Mädchen war erleichtert, so sehr, dass es die Regel vergaß: Traue niemandem!

Als sich die Tür öffnet, steigt nicht ihr Freund aus, sondern ein blonder Mann mit hellblauen Augen. Er starrt sie an. Das Mädchen versucht, in den Wagen zu sehen, sucht seinen Freund.

„Andrej?“

„Er wartet auf dich“, flüstert der Mann heiser. Er ist wunderschön, doch etwas stimmt nicht mit ihm. Sie spürt die Bedrohung, die in Wellen von ihm ausgeht. Und doch: Er sieht wie ein Engel aus, strahlend schön, das Haar, ein goldblonder Lichtkranz, der sein Gesicht einrahmt. Das Mädchen versucht, zurück ins Haus zu laufen, doch es hat die beiden Männer nicht bemerkt, die sich ihr von hinten genähert haben. Sie packen sie wie ein Katzenjunges im Nacken. Das Mädchen stößt einen schrillen Schrei aus, tritt wild um sich.

Als sie nun mit stockenden Schritten die Gasse betrat, fühlte sich ihre Brust an, als würde sie in einer viel zu engen Rüstung stecken. Ihr Herz hämmerte wild, während kalter Schweiß in dünnen Rinnsalen ihre Wirbelsäule entlanglief. Sie schloss die Augen.

Die kleine Blanche wehrt sich aus Leibeskräften. Sie trommelt mit ihren Fäusten auf den Angreifer ein, kratzt und beißt in die groben Finger, die ihren Mund bedecken. Der Todesengel flucht und schlägt ihr ins Gesicht. Warmes Blut sickert aus ihrer Nase, doch sie hört nicht auf zu schreien, die Augen vor Entsetzen geweitet. Behaarte Hände zerren an ihr und werfen sie auf die Rückbank des wartenden Wagens. Sie gerät in Panik, weiß, dass sie sterben wird, sobald sich die Tür hinter ihr schließt. Sie will nicht sterben. Der Mann beugt sich ins Wageninnere, jetzt sieht er wie ein Racheengel aus – Todesengel – also tritt sie ihm mit aller Macht ins Gesicht. Sie hat seine Nase gebrochen. Sie hört einen bitteren Fluch, aber er stammt nicht vom Todesengel, der seine Schulter umklammert und sich fieberhaft umsieht. Blut sammelt sich auf dem weißen Jackett. Er duckt sich hinter der offenen Wagentür, zieht eine Waffe und sieht sich um.

Heiße Tränen zogen feuchte Bahnen über ihre Wangen, während sie gegen die Bilderflut ankämpfte. Tränen, die sie lange zurückgehalten hatte, weil sie stark sein musste. Warum konnte sie die Flut diesmal nicht aufhalten? Mitten in der Gasse ging sie in die Knie und krümmte sie sich zusammen, als die geballte Wucht des Schmerzes sie traf, Qualen, die sie jahrelang unterdrückt hatte. In diesem Moment bohrten sie sich wie glühende Klingen in ihr Innerstes, als das Mädchen von damals die Gewissheit traf, dass sie Andrej niemals wiedersehen würde.

Als Nächstes kippt der Kopf des Fahrers der Limousine auf das Steuer, der Wagen hüpft nach vorn und macht Bekanntschaft mit der Hauswand. Der Todesengel verschwindet in einer Toreinfahrt und wieder flucht jemand.

Kalte Wut durchflutete Blanche so unvermittelt, dass ihre Tränen schlagartig versiegten. Sie wurde still und lauschte in sich hinein.

Er kam direkt von einem Auftrag, als er die Limousine seines Erzfeindes in die Gasse einbiegen sah. Er beobachtet, wie diese schmierigen Typen ein Kind wie einen Mehlsack in den Wagen werfen. Er weiß, welches Schicksal ihr blüht. Sein Blut gefriert zu Eiswasser, als Maries Gesicht vor seinem inneren Auge erscheint. Seine Tochter. Missbraucht und ermordet, genau wie ihre Mutter. Hinter einem Schuttcontainer findet er Deckung und erledigt den ersten Kerl, den zweiten, dann Zoey, danach den Fahrer …

Wayne flucht. Normalerweise trifft er sein Ziel immer, aber das Mädchen hat die Zielperson aus der Schusslinie getreten. Zoey, diese Kakerlake, flüchtet. Gerade aus seinem Moskauer Exil zurückgekehrt, sorgt er bereits für Ärger. Um den würde er sich später kümmern. Zuerst das Kind.

Blanche hielt den Atem an, ihre Nackenhaare stellten sich auf. Sie konnte Waynes geistige Präsenz körperlich fühlen. Den Schock, der ihn erschütterte, als er ins Wageninnere blickte und in die veilchenblauen Augen des Mädchens sah. Maries Augen. Ihr pechschwarzes Haar, das bleiche Gesicht. Sie sah so klein aus, so zerbrechlich.

Blanche schnappte nach Luft. Und dann, innerhalb eines Wimpernschlags, verstand sie, was Beliar tatsächlich meinte, als er sie aufforderte, nach Wayne zu suchen. Er dachte dabei nicht an eine bestimmte Gegend, sondern an einen inneren Ort.

Ihr Herz.

Als sie die Augen öffnete, war sie nicht mehr allein in der Gasse. Der Dämon kniete vor ihr. Dunkle Macht umgab ihn wie eine schwarze Korona, so konzentriert, dass sie geradezu greifbar war. Er sah sie nicht an, vielmehr strich sein Blick über ihre Konturen – ihre Aura.

Oh mein Gott, das war es! Während sie in Erinnerungen geschwelgt hatte, war Waynes Energie mit ihrer verschmolzen. So konnte Beliar ihn einfangen.

Wilde Panik erfasste sie, als sie begriff, was sie getan hatte. Sie hatte den Dämon zu Wayne geführt, ohne ihre Hilfe hätte er ihn niemals finden können. Und nun würde er Wayne das Einzige nehmen, das er noch besaß. Seine Seele.

Trotz der Kälte badete sie in Schweiß. Übelkeit breitete sich aus, während sie um Fassung rang. Das würde sie nicht zulassen, auf gar keinen Fall. Sie zog die SIG und drückte sie gegen Beliars Stirn.

„Wir hatten einen Deal“, flüsterte sie heiser vor Angst.

Er hob eine Braue, ohne ihre Aureole aus den Augen zu lassen. „Dann wirst du mich also morgen zu ihm führen?“, fragte er mit einer Stimme so dunkel, dass sie sich am liebsten irgendwo verkrochen hätte.

„Bitte“, wisperte sie, ohne auf seine Frage einzugehen. Ihre Schusshand zitterte. Schon das zweite Mal in seiner Gegenwart stellte ihr Unterbewusstsein murrend fest. Eine schlechte Angewohnheit, aber vielleicht nicht ganz unangebracht, wenn man bedachte, dass er kugelsicher war. Sie ließ die Waffe sinken und berührte mit der freien Hand seine Brust, direkt über dem Herzen.

„Ich bitte dich, Beliar, Bitte!“

Langsam wandte er den Kopf und richtete den sturmgrauen Blick auf sie. Es war das erste Mal, dass sie ihn berührte. Und ihn beim Namen nannte.

Dass Namen Macht besaßen, hatte sie schon gehört. Wie groß diese Macht war, konnte sie in diesem Augenblick in seinen Augen lesen.

Kurz darauf spürte sie, wie sich Wayne zurückzog. Es war, als hätte Beliars Blick ihn gefangen gehalten und nun, da der Dämon seine Aufmerksamkeit auf jemand anderen gelenkt hatte, war er frei. Ein trauriges Lächeln umspielte Beliars Lippen, während er mit dem Daumen ihre Tränen fortwischte. Sie schluckte trocken, als er ihn gegen seine Lippen drückte und ihre salzigen Tränen aufnahm.

Hatte er gerade wirklich Waynes Seele laufen lassen? Weil sie ihn darum gebeten hatte? Sie öffnete den Mund, doch bevor sie etwas sagen konnte, zerriss ein Schuss die unnatürliche Stille. Beliars Kopf flog nach vorn, sein heißes Blut verteilte sich über ihr Gesicht, spritzte ihr in den offenen Mund.

Zum ersten Mal ließen sie all ihre antrainierten Reaktionen im Stich.

Sie schrie.

Beliar, der ihre Patronen aufhalten und in der Luft schweben lassen konnte, sackte nach vorn und fiel ihr buchstäblich in den Schoß. Kurz darauf traf sie etwas Hartes auf den Hinterkopf und sie sank in die Gnade einer Ohnmacht.

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„Was heißt, ihr habt ihn liegen gelassen?“

Eine heisere Stimme weckte Blanche und sofort durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Es fühlte sich an, als würde jemand glühende Nägel in ihren Hinterkopf treiben. Aber da war niemand mit einem Hammer, sie spürte lediglich die Nachwirkungen des feigen Schlags. Sie hielt die Augen geschlossen, um sich nicht zu verraten, und verschaffte sich einen Eindruck der Umgebung. Überrascht stellte sie fest, dass sich ihre Sinne wie angespitzte Bleistifte anfühlten. Sie roch den typischen Lagerhausmoder, Staub, Feuchtigkeit und morsches Holz. Darunter nahm sie eine feinere Note wahr, die an Räucherstäbchen erinnerte. Auch ihr Gehörsinn war intensiver als sonst. Der Widerhall der Stimmen verriet, dass der Raum ungefähr sechs mal sechs Meter groß und die Decke mindestens vier Meter hoch war.

Man hatte sie an einen Stuhl gefesselt. Ihre Hände waren mit Klebeband an die Armstützen fixiert, ihre Füße an die Stuhlbeine gezurrt. Der heisere Sprecher befand sich ungefähr zwei Meter vor ihr. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, während er mit jemandem am Ende des Raums redete. Dieser brummte eine kleinlaute Erwiderung, die sie nicht verstand, da er ins Russische übergegangen war. Ein leichter Luftzug deutete auf eine offene Tür in Richtung des zweiten Sprechers hin.

„Dann bring ihn gefälligst her, Idiot! Nimm Jurij und die Jungs mit, unser Gast wird noch ein paar Stunden k. o. sein!“

Ein paar Stunden? Träum weiter, Arschloch! Und wen hatten sie überhaupt liegen gelassen?

Was glaubte sie wohl. Beliar. Die Armlehnen umklammernd schaltete sie auf Überlebensmodus. Wie auf Knopfdruck wurde der schreiende Schmerz ausgeblendet, als sie die gewohnte Kälte willkommen hieß, die ihr Innerstes in Sorbet verwandelte. Schon besser. Sie würde nicht an den Dämon denken, das musste sie auf später verschieben, wie so vieles in ihrem Leben. Jetzt hieß es Zeit gewinnen. Hinhalten. Überleben. Wieder mal.

Verliere nie dein Ziel vor Augen!, hallte Waynes strenge Stimme in ihrem Kopf wider.

Genau das war der Plan. Vorsichtig bewegte sie sich, um zu sehen, wie viel Spielraum die Fesseln ließen. So gut wie keinen. Als sie den Rücken gegen die Lehne drückte, stellte sie erleichtert fest, dass sich die Beretta noch an Ort und Stelle befand. Eine Sorge weniger. Das Hämmern in ihrem Kopf war zu einem dumpfen Pochen zusammengeschrumpft. Blanche fühlte eine unbändige Kraft aufsteigen, die ihr in dieser Situation unnatürlich vorkam. Bevor sie sich darüber wundern konnte, war der Typ mit der Huskystimme über ihr. Wie es aussah, hatten ihre Bewegungen sie verraten.

„Sieh einer an, Schneewittchen ist aufgewacht. Dein Schädel ist dicker als ich dachte.“

Na schön, dann konnte sie auch die Augen öffnen. Sie blinzelte und stellte fest, dass sie sich in einem Warenlager befand. Vermutlich irgendwo zwischen der Rue des Martyrs und der Rue Lepic. Nachdem sie den Raum mit gleichmütigem Blick gescannt hatte, erlaubte sie sich, ihren Kerkermeister anzusehen.

Schlagartig wurde ihr Hals eng. Sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Ihr Herzschlag dröhnte in den Ohren und für einen schrecklichen Augenblick fürchtete sie, sich übergeben zu müssen. Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, eine unbewegte Miene zu wahren, denn vor ihr stand die Inkarnation ihres Albtraums aus Kindertagen. Und er sah noch genauso aus wie vor zehn Jahren. Sein goldblondes Haar war länger und fiel ihm ins Gesicht. Die blauen Augen blickten siegessicher auf sie herab, den Mund hatte er zu einem kalten Grinsen verzogen. Seinen albernen weißen Anzug hatte er gegen Ermenegildo Zegna eingetauscht, die übliche Mafia-Kluft, nur dass er nicht wie ein Mafioso aussah. Eher wie ein Hollywoodstar. Dazu passte das Whiskeyglas in seiner linken Hand, dessen goldener Inhalt verdächtig nach Jack Daniels aussah. Was denn, kein Wodka?

„Du hast keine Ahnung, wie lange ich auf diesen Augenblick gewartet habe“, flüsterte er mit leichtem russischen Akzent und hockte sich vor sie. Sein Zeigefinger fuhr liebkosend über ihre Wange.

„Tsss“, machte er und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. „Das einzige Blut, das ich auf deinem hübschen Gesicht sehen will, ist dein eigenes.“

Du mich auch!, dachte sie und nahm den Raum in sich auf, solange sie noch Gelegenheit hatte. Es gab nur einen Ausgang, den eine kompakte Metalltür blockierte. Die Fenster befanden sich hoch über ihr und waren vergittert. Blieb die Lüftung – nur gab es keine. So viel zu ihrer Glückssträhne. Die Frage war auch, wann seine Kumpel zurückkommen würden. Mit ihm allein konnte sie es aufnehmen, immerhin hatte sie die Beretta im Rücken. Mit seinen Schlägern im Hintergrund sah die Sache schon anders aus, denn die Jetfire verfügte nur über neun Schuss.

Zoey zog ein Taschentuch aus seinem Jackett, tunkte es in den Whiskey und wischte ihr Gesicht ab. Es hätte eine zärtliche Geste sein können, doch seine Augen verrieten ihn. Sie waren so eisig, wie Blanches innere Verfassung. Immer wieder tauchte er das Tuch ins Glas, dessen Inhalt sich allmählich rot färbte, und befreite sie von Beliars Dämonenblut.

„Dein Mentor und mein Vater waren gute Freunde, weißt du“, begann er im Plauderton und stellte den Whiskey, oder was davon noch übrig war, auf den Boden.

Mit einem Mal summte es in ihren Ohren, ihr war, als würde sie statisch aufgeladen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf, während sich ihre Muskeln anspannten. Eine angenehme Wärme hüllte sie ein, überflutete sie regelrecht. Was zur Hölle war mit ihrem Körper los? Zoey bemerkte nichts von alldem, er war zu sehr damit beschäftigt, ihr seine Geschichte zu erzählen, doch sie hörte nur mit halbem Ohr zu. Ihr Körper prickelte vor Energie, als wäre sie an eine gigantische Steckdose angeschlossen. Eine neue Kraft breitete sich aus, die ihr Sehvermögen drastisch verschärfte. In Anbetracht ihres Falkenblicks wäre sie nicht überrascht gewesen, wenn sich ihre Pupillen zu Schlitzen verengt hätten.

„… deswegen glaubte der gute Wayne, eine Rechnung mit meinem Vater offen zu haben“, führte Zoey aus, als sie sich wieder in den Monolog einloggte. „Aber er irrte sich. Viktor hat die Frauen für das georgische Kartell gesammelt, nicht für sich. Denen ist eine Lieferung Frischfleisch aus Albanien, nennen wir es mal, abhandengekommen. Viktor schuldete ihnen noch einen Gefallen, also hat er sich am Pariser Buffet bedient – ein Transport aus Osteuropa hätte zu lange gedauert. Rein zufällig waren Waynes Frau und Kind dabei. Du siehst, es war ein unglückliches Missverständnis, nichts weiter. Es ging ums Geschäft. Aber hatte Wayne dafür Verständnis?“ Zoey schüttelte gespielt vorwurfsvoll den Kopf.

Sie verdrehte die Augen. „Wenn du schon Scheiße laberst, kannst du dich wenigstens beeilen!“

Zorn flackerte in den blauen Augen auf, nur kurz, dann hatte er sich wieder im Griff und verzog den Mund zu einem Lächeln, von dem sie beinah Frostbeulen bekam.

„Glaub mir, Spätzchen, du hast keine Eile. Wir haben die ganze Nacht Zeit, nur du und ich …“

„Tick, tack“, bemerkte sie und deutete mit dem Kopf auf ihre nicht vorhandene Armbanduhr.

Zoey beugte sich über sie und legte die Hände auf ihre fixierten Unterarme. Der Duft seines leichten Eau de Colognes drang in ihre Nase. Darunter roch sie feuchte Erde und … Weihrauch? Wie merkwürdig.

„Es wird mir eine Freude sein, dir deine Sprüche auszutreiben“, flüsterte er und leckte ihr vom Kinn bis zur Nasenwurzel durchs Gesicht.

Na toll. Sie kam sich wie ein angepinkelter Gartenzaun vor, als hätte er sie markiert. Dafür würde sie dieses Arschloch aufschlitzen, ihn zu erschießen wäre ein viel zu schneller Tod. Als wäre das sein Stichwort, erschien ein Balisong in seiner Hand, mit dem er einen Moment vor ihrem Gesicht herumfuchtelte, bevor er es aufklappte. So etwas hatte sie schon länger nicht mehr gesehen. Das exotische Butterflymesser besaß eine dreißig Zentimeter lange Klinge, die er vermutlich nicht als Brieföffner benutzte. Während ihr Verstand nach einer Lösung suchte, setzte sie ihr Pokerface auf. Im Grunde kam das Messer wie gerufen, denn genau das brauchte sie, um das Klebeband zu durchtrennen. Obwohl sie mit ihrer eigenartigen, neuen Energie das Gefühl hatte, die Fesseln einfach sprengen zu können. Zoeys Whiskeyatem streifte ihr Gesicht, dann nahm er das Messer und schlitzte ihren Rollkragenpullover vom Hals bis zum Nabel auf. Darunter trug sie nur einen schwarzen BH, was ihn zu freuen schien, denn seine Augen bekamen einen merkwürdigen Glanz.

„Als Wayne meinen Vater tötete“, begann er heiser, „ließ er das Syndikat schwach aussehen. Niemand kannte ihn, es war, als wäre er vom Himmel gefallen – oder besser: Aus einem Höllenschlund gekrochen. Ein Unbekannter. Kein Mensch hatte je von ihm gehört. Innerhalb kürzester Zeit hatte er zwei unserer stärksten Zellen ausgelöscht. Ich war damals erst dreizehn Jahre alt, aber es bestand kein Zweifel, dass ich einmal in Viktors Fußstapfen treten würde. Er hatte bereits begonnen, mich in seine … Firma einzuführen.“

Behutsam fuhr er mit seinen Fingerspitzen über die Hügel ihrer Brüste, lehnte sich vor und atmete ihren Duft ein. Er stöhnte und sein Weihrauchgeruch verdichtete sich.

„Wayne hat Viktors Geschäft zerstört“, fuhr er mit belegter Stimme fort. „Er hat erst ihn und anschließend seine Pakhans getötet, die Bosse der drei größten Zellen. Damit waren wir führerlos und die Sankt-Petersburger sind eingesprungen.“

Er strich ihr Dekolleté entlang, den Hals hinauf und umrahmte ihr Gesicht mit beiden Händen. Blanker Hass stand in seinen Augen, doch er schien nicht ihr zu gelten, sondern der Erinnerung.

„Für die war ich ein Nichts, noch weniger als das, denn in ihren Augen hatte mein Vater versagt.“ Seine Hände legten sich um ihren Hals. „Dank Wayne wurde ich über Nacht vom Sohn des größten russischen Syndikatsbosses zum Sprössling eines Verlierers. Alles, was meine Familie für mich aufgebaut hatte, war fort …“ Er löste eine Hand und schnippte vor ihren Augen mit den Fingern. „Keine der anderen Familien wollte mich aufnehmen. Sie haben behauptet, dass mein Vater Schande über den Klan gebracht habe. Dass ein einzelner Mann ihn gestürzt und die Sicherheit des Syndikats, unsere Geschäfte, gefährdet habe. Dieser Mann war Wayne.“

Er fuhr mit dem Daumen über ihre Lippen und sie war versucht, hineinzubeißen. Das würde allerdings nicht weiterhelfen, sie brauchte sein Gesicht näher an ihrem. Am besten wäre es, wenn er noch mal versuchen würde, sie abzuschlecken, dann hätte sie ihn da, wo sie ihn haben wollte.

Doch den Gefallen tat er ihr nicht. Er zerriss das letzte Stück des Rollis unterhalb ihres Nabels und fuhr mit der Hand über ihren entblößten Unterbauch. Noch war das Rückenholster verborgen. Wenn er allerdings den Pullover, der nun wie eine Jacke offen stand, über ihre Schultern zog, würde er das Halfter der Beretta entdecken.

Doch er war zu sehr damit beschäftigt, seine dämliche Geschichte zu erzählen, wie er zurück nach Moskau ging, wo er in Schimpf und Schande empfangen wurde und sich vor den herrschenden Familien verstecken musste. Wie er vor zehn Jahren einen Neustart in Paris gewagt und abermals von Wayne gestoppt wurde, der seinen besten Männern das Licht ausgeblasen hatte – Zoeys Leibgarde. Wie er zurück in sein beknacktes Moskau geflohen war, bis ihn vor Kurzem jemand aufgesucht und ihm die Chance seines Lebens geboten hatte: Geld, Waffen, Kontakte bla, bla, bla. Während er ihr diesen ganzen Schwachsinn auftischte, ritzte er ein Z in die weiche Haut ihres Bauchs.

„Also, sagst du mir freiwillig, wo er ist, oder darf ich mich noch ein bisschen mit dir amüsieren?“

Sie musste ihre Verwirrung nicht spielen. Wen zum Teufel suchte er, etwa Leo?

„Der unschuldige Blick steht dir gut, Schneewittchen. Aber vielleicht weißt du es wirklich nicht.“

Dem Z folgte ein O.

„Dann helfe ich dir mal auf die Sprünge, Spätzchen. Unser Freund Wayne hatte etwas, das jetzt mir gehört. Da er in diesem Augenblick in der Hölle schmort, braucht er ihn ohnehin nicht mehr. Und da du keine Ahnung hast, was man mit ihm anstellen kann, weißt du sowieso nichts mit ihm anzufangen. Also sag mir, wo ich ihn finde, und wir sind wieder Freunde.“

Dem O folgte ein E. Was für ein Glück, dass er sich Zoey und nicht Zarathustra nannte.

Nachdem er seinen Namen in Großbuchstaben in ihre Haut geritzt hatte, beugte er sich über sie und leckte das Blut ab.

Okay, jetzt war sie wirklich angepisst. Außerdem konnte sie ihn da unten nicht gebrauchen.

„Hör mal zu, du Hackfresse. Ich hab keine Zeit für diesen Scheiß. Wenn du damit fertig bist, mir deine traurige Geschichte vorzuheulen, wie Klein-Zoey in die Welt hinausgegangen ist und keiner ihn lieb hatte, dann verpiss dich in das Rattenloch, aus dem du gekrochen bist. Dein Müll interessiert mich nicht, das kannst du deinem Psychoklempner erzählen!“

Zoeys Kiefer spannte sich an. Als er zu ihr aufsah, waren seine Augen zu Polarsternen mutiert. Er strahlte eine unmenschliche Kälte aus, die das Kellerloch in eine Tiefkühltruhe verwandelte. Dann holte er aus und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Wie merkwürdig, dass es nicht wehtat. Eigentlich hätte ihr Kiefer gebrochen sein müssen, stattdessen bekam sie lediglich Nasenbluten. Das schien Zoey jedoch zu gefallen, denn er beugte sich vor und betrachtete fasziniert das rote Rinnsal, das über ihre Lippen lief.

„Wo ist er?“, fragte er mit rauer Stimme.

„Wo ist wer?“

„Der Abberufer“, hauchte er.

Der was?

Langsam beugte er sich vor, um ihr genussvoll das Blut aus dem Gesicht zu schlecken. Seine Zunge glitt über ihr Kinn und wanderte nordwärts bis zu ihrer Oberlippe. Zoey stieß ein lustvolles Stöhnen aus, während sein würziger Weihrauchgeruch sie umfing. Was für ein durchgeknallter Freak.

In jedem Fall war er endlich da, wo sie ihn verletzten konnte. Geduldig wartete sie auf den richtigen Augenblick. Noch ein bisschen höher … noch etwas. Gut. Und nun noch ein Stück zurück – perfekt. Sie legte ihren Kopf in den Nacken, was Zoey missverstand. Dieser Idiot glaubte tatsächlich, dass ihr dieser gequirlte Scheiß Vergnügen bereitete – oh Mann, der Typ war echt kaputt. Er stieß einen Seufzer aus und das war ihr Klingelzeichen. Ihr Kopf schnellte vor und traf ihn mit voller Wucht zwischen die Augen. Sie hatte gehofft, dass er davon benommen wurde, tatsächlich jedoch flog er in hohem Bogen durch die Luft und landete rücklings auf dem Estrich. Knock-out.

Das Klebeband stellte sich als echtes Problem heraus, allerdings war der Stuhl nicht mehr der Jüngste, sodass sie die Armstützen kurzerhand abriss. Mit der linken Hand tastete sie nach dem Messer, das Zoey fallen gelassen hatte, und befreite ihre Schusshand von den Fesseln. Gerade rechtzeitig, denn im nächsten Moment öffnete sich die Metalltür und vier Gorillas betraten den Raum. Und glotzten und glotzten. Na toll, Schnelldenker.

Die Jetfire in ihrer Hand fühlte sich gut an. Bevor der erste Mann seine Waffe gezogen hatte, lagen bereits zwei in ihren Blutlachen.

Während sie sich mit einem Ruck vom restlichen Klebeband befreite, warf sie zwei Regale mit Wodkakisten um, hinter denen sie Deckung suchte. Immer mehr Russen strömten in den Lagerraum, und bevor Blanche ahnte, was sie vorhatten, zogen sie Zoey aus der Schusslinie. Verfluchter Mist. Gerade den wollte sie haben, warum hatte sie sich nicht zuerst um ihn gekümmert? Nun, vielleicht, weil er der Einzige im Raum ohne gezückte Waffe war. Schön, dann eben ein andermal. Sie musste hier raus, denn nun eröffneten die Russen das Feuer, während sie nur noch sechs Schuss übrig hatte.

Glas rieselte zu ihrer Linken auf den Boden, was verwunderlich war, denn selbst diese Schnapsnasen würden nicht so weit nach oben zielen. Zu ihrem Unmut musste sie sogar zugeben, dass es ziemlich gute Schützen waren. Gerade deswegen ließ sie sich nur ungern ablenken. Dennoch riskierte sie einen Blick nach oben und nun war sie diejenige, die ein dummes Gesicht machte. Die Gitter des hohen Fensters waren aus der Halterung gerissen, die Scheibe zertrümmert. In dem Kugelhagel war niemandem der Lärm aufgefallen oder der Dämon, der schwer atmend in der Fensteröffnung hockte. Er sah mitgenommen aus. Seine Flügel qualmten, der Mantel war voller Brandlöcher und sein Haar an mehreren Stellen versengt.

Doch das war nichts gegen seinen Gesichtsausdruck: Fleischgewordener Hass trifft rasende Wut. Er thronte wie ein Gott des Massakers und des Blutbads über ihnen und suchte sich sein erstes Opfer aus. Oh-oh, zieht euch warm an, Jungs, der Dämon ist stinksauer!

Beliar sprang vom Fenstersims und kam über die Russen wie eine Nemesis. Den Ersten zerriss er in der Mitte und warf die beiden Hälften auf die entsetzten Männer. Obwohl sie schon viel gesehen hatte, drehte sich ihr bei diesem Anblick der Magen um. Erst nachdem Beliar dem zweiten Mann in den Brustkorb griff und sein Herz herausriss, erwachten die Russen aus ihrer Schockstarre und liefen kreischend davon. Es war ein seltsamer Anblick, bewaffnete Männer schreiend und mit panischem Blick türmen zu sehen, darum sah sie nicht weg. Auch nicht, als Beliar einem der Flüchtenden den Kopf abriss und den anderen hinterherwarf. In Nullkommanichts war der Lagerraum leer und sie stand einem keuchenden Dämon gegenüber. Er war rasend vor Zorn und bebte vor zügelloser Kraft. Er schien Schwierigkeiten zu haben, sich zu kontrollieren, darum legte sie ihm vorsichtig eine Hand auf den Arm und drückte ihn leicht. Es wirkte, denn allmählich beruhigte sich sein Atem und seine Augen fokussierten sich auf sie, als wäre sie ein Anker, der ihn davor bewahrte, in die stürmische See abzudriften.

„Verdammt, Beliar, ich dachte, du seist tot!“, begrüßte sie ihn mit belegter Stimme. Die Erleichterung, die mitschwang, strafte ihre harschen Worte Lügen. Anscheinend erreichte sie ihn, denn sein Blick klärte sich und die Gewitterfront verschwand aus seinen Augen.

„Durch eine Menschenwaffe?“, fragte er und hob belustigt eine Braue.

„Du lagst blutend in meinem Schoß!“

Sein Blick wanderte ihren Körper hinab, um eben diese Stelle zu suchen, doch anstatt das Lächeln zu vertiefen, verengten sich seine Augen, als er den aufgerissenen Pullover bemerkte und das Blut auf ihrem Bauch. Ein Knurren vibrierte in seiner Kehle, als unvermittelt Lärm von der anderen Seite des Gebäudes zu ihnen drang. Es klang wie Axthiebe, die auf eine Tür einschlugen. Es folgten Schüsse, Befehle wurden gebrüllt, schließlich eine Granate gezündet. Der Knall ließ die schwere Metalltür des Lagerraums in den Angeln ächzen, dann wurde es still. Sie wechselte einen Blick mit Beliar.

„Lass uns abhauen“, sagte sie und nickte zum Fenster. „Warum hat das überhaupt so lange gedauert?“, erkundigte sie sich und zog den Pullover vorn zusammen.

„Das erzähle ich dir, sobald wir in unserem Quartier sind.“

Seine Stimme war heiser vor Zorn und die grauen Augen hatten sich wieder zugezogen. In diesem Zustand wollte sie ihm lieber nicht widersprechen. Also ließ sie sich in seine duftige Starbucks-Umarmung hüllen – Gott, er roch gut – und genoss den Flug zurück zum Hotel.

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Leo stand vor dem beschlagenen Badezimmerspiegel seines Unterschlupfs in der Nähe des Montmartre. Er betrachtete sein zerschlagenes Gesicht, das in den vergangenen Tagen um zehn Jahre gealtert war. Wie hatte es so weit kommen können? Dreißig Jahre in Paris war er praktisch mit der steigenden Kriminalität aufgewachsen. Damals hielt Vincenzos Familie die Fäden in der Hand. Da gab es diese Kalaschnikow-schwingenden Großmäuler aus den ehemaligen Ostblockstaaten noch nicht. Offene Grenzen waren eben nicht immer ein Segen, doch er machte sich nichts vor. Der Mafia-Krieg in Paris hatte nichts mit unterschiedlichen Kulturen zu tun. Hier ging es um die Vorherrschaft der führenden Familien – das war ein reiner Machtkampf.

Wenn er ehrlich war, mochte er die Russen. Sie waren ein melancholisches Volk mit brutaler Geschichte, das eine Menge einstecken musste. Außerdem kannte er unter den Italienern genauso viele Dreckschweine wie unter den Sankt-Petersburgern oder Moskauern. Im Moment hieß das größte Schwein Zoey. Grundgütiger, woher hatte er nur diesen lächerlichen Namen, war der eine Kelloggs-Beigabe? Mittlerweile wusste er, dass der Junge Alexander Viktorowitsch Petrow hieß und Victors Sohn war. Dass Leo seine Ankunft in Paris nicht bemerkt hatte, gab ihm zu denken. Seine Pfandleihe war einer der Dreh- und Angelpunkte der Gerüchteküche in Paris. Wenn jemand von seinen Jungs etwas wusste, kam er als Erstes zu ihm. Zoey musste den Ball flach gehalten haben, denn in diesem Fall war Leo der Letzte, der von der Rückkehr des verlorenen Sohns erfahren hatte.

Doch im Moment beschäftigte ihn weniger das Wie-konnte-das-passieren als vielmehr: Wie sollte er mit den Folgen leben? Er würde Renée nicht wiedersehen, daran gab es keinen Zweifel.

Leo schloss die Augen und dachte an die Frau, an deren Seite er die letzten zwanzig Jahre verbracht hatte. Sie war keine Schönheit, dafür hatte das Leben gesorgt. Tiefe Sorgenfalten waren wie Ackerfurchen in ihre Stirn gegraben. Ihre Haut hatte an Spannkraft verloren und in den letzten Jahren war sie üppiger geworden. Renée war darüber nicht glücklich, doch Leo mochte es, denn sie war an den richtigen Stellen runder geworden, weicher. Er hatte eine Schwäche für Frauen mit Kurven und Renées Kurven mochte er besonders. Ihr volles Haar war nicht von Natur aus rot, das wusste er von Anfang an. Dennoch hatte sie versucht, es vor ihm zu verbergen. Einmal war er so dumm gewesen, sie darauf anzusprechen, doch sie hatte nur gelacht. Er liebte es, sie zum Lachen zu bringen, denn sie war keine Frohnatur. Davon abgesehen fand er ihr tiefes Gelächter erregend, genau wie den kecken Augenaufschlag. Obwohl sie die zwanzigjährige Renée schon lange hinter sich gelassen hatte, konnte sie ihn noch genauso um den Finger wickeln wie damals, als er sie kennenlernte.

In den gemeinsamen Jahren war er ihr treu geblieben – warum hätte er sich auch nach anderen Frauen umsehen sollen? Renée war alles, was er wollte: ehrlich, geradlinig und loyal. Er liebte sie und hatte ihr seine Zuneigung in den Kleinigkeiten des Alltags gezeigt. Im Umgang mit ihr und dem Respekt, den er ihr entgegenbrachte. Er wusste, wie sie ihren Kaffee trank – schwarz mit drei Löffeln Zucker, kannte ihren Lieblingsfilm, Pretty Woman, und führte sie regelmäßig zu Antonio zum Essen aus. Renée liebte Antonios Pasta.

Er atmete tief durch. All die kleinen Details prasselten wie ein Funkenregen auf ihn ein, während er der Tatsache ins Auge sah, dass seine Renée tot war. Ermordet von Zoey-fucking-Alexander-Hurensohnowitsch, einer Ratte aus Moskau, der die Sankt-Petersburger auf Enzos Terrain herausforderte.

Leo wischte den Nebel vom Spiegel und betrachtete sein schmerzverzerrtes Gesicht. Er war zu alt, um noch einmal von vorn anzufangen. Seine Pfandleihe war Geschichte, sein illegales Wettlokal im Hinterzimmer gab es nicht mehr. Der Laden war mit dem Löwenanteil seiner Altersvorsorge unter den Dielen zu Asche verbrannt. Die Glock-Lieferung, die am Tag zuvor eingetroffen war, zu einem Metallklumpen geschmolzen. Er hatte an einem Tag seine Existenz und seine Liebe verloren. Und, ach ja, er hatte seinen besten Freund verraten. Wayne.

Leo presste die Lider fest zusammen und lehnte die Stirn gegen die kühle Spiegeloberfläche. Wayne.

Mit diesem Mann hatte ihn mehr als bloße Freundschaft verbunden. Er gehörte praktisch zur Familie, war wie ein Bruder für ihn. Wie hatte er ihn verraten können? Ohne seine Information hätten diese Russenschweine ihn niemals gefunden. Warum hatte ausgerechnet er, Big-Ass-Leo, den alle für einen harten Kerl hielten, geplaudert?

Sein Schmerz wich Resignation. Die traurige Wahrheit konnte man in etwa so zusammenfassen: Er war in Panik geraten. Als er Renée in den Händen dieser Schläger gesehen hatte, wäre er beinahe durchgedreht. Dazu kam der Fakt, dass Wayne unverwundbar zu sein schien, gewissermaßen schussfest. Wer konnte auch ahnen, dass sich Zoey nicht mit Munition aufhalten würde, sondern gleich das ganze Gebäude in die Luft sprengte. Mann, der Typ musste eine Scheißangst vor Wayne gehabt haben. Zu Recht.

Und nun war alles verloren. Wayne lag unter der Erde, Renée hatten sie wahrscheinlich irgendwo verscharrt – nicht mal eine anständige Beerdigung war ihr vergönnt. Auch von Wayne hatten sie nicht genug gefunden, das man hätte begraben können. Das Leben konnte echt beschissen sein und der Tod stand dem in nichts nach. Seine Zukunft war in Flammen aufgegangen, sein Herz zu einem leblosen Klumpen verschrumpelt, genau wie die Ladung Glocks in den Trümmern seiner Vergangenheit.

Offensichtlich war Enzos Schutz einen Dreck wert, denn er hatte diesen Blindgänger Pierre als sein Auge und Ohr eingesetzt. Pierre taugte als Wächter so viel wie Leo als Ballkönigin.

Er trat einen Schritt vom Waschbecken zurück und betrachtete seine Hände. In der Linken hielt er ein Gläschen Barbiturate von einem Dealer, den man schwerlich als Apotheker bezeichnen konnte. In der anderen einen Revolver Kaliber 38 von Smith & Wesson.

Nachdenklich blickte er von einer Hand zur anderen. Schlafmittel oder doch lieber eine Kugel in den Kopf? Fragen über Fragen. Letzteres würde eine ziemliche Sauerei hinterlassen, aber Barbiturate waren eigentlich nicht so sein Ding. Zur Hölle mit den Details. Leo hob die Waffe. Dann zögerte er und runzelte die Stirn. Verfluchter Mist, er war zu alt für diesen Scheiß.