100
Mit einem Ruck erwachte ich in einem Krankenzimmer. Zwei schöne Frauen standen an meinem Bett. Und Joel Lightner war zwar nicht Robert Redford, aber es war schön, auch ihn wiederzusehen.
Ich versuchte, tief einzuatmen, und das tat weh. Jeder einzelne Teil meines Körpers schmerzte. Aber ich hatte immer noch zwei Arme und zwei Beine und konnte sie alle fühlen, also hätte es vermutlich schlimmer kommen können.
»Was ist passiert?«, fragte ich. »Ist die … Bombe hochgegangen?«
Sie blickten einander an. »Du erinnerst dich nicht«, sagte Shauna.
Tori hielt sich etwas im Hintergrund, während Shauna und Joel sich über mich beugten.
»Die Bombe ging hoch«, erklärte sie. »Die Moschee wurde dem Erdboden gleichgemacht.«
Ich probierte einen weiteren schmerzhaften Atemzug. »Todesopfer?«
Shauna schüttelte den Kopf. »Viele Verletzte. Ein paar davon in kritischem Zustand. Aber bisher keine Toten.«
Mein Kopf fiel aufs Kissen zurück. Ich schloss die Augen und spürte, wie alles sich drehte. »Das ist … erstaunlich.«
»Sie haben eine Theorie«, sagte Joel. »Er hatte nicht so viel Sprengstoff in diesen Laster geladen wie in die anderen. Er wollte ja kein ganzes Regierungsgebäude sprengen, sondern lediglich eine einstöckige Moschee. Im Grunde also nur ein geräumiges Haus. Und sie vermuten, dass er es ohnehin nicht vollständig in die Luft jagen wollte.«
»Er wollte … dass die Menschen überleben … und zu fliehen versuchen«, murmelte ich. »Damit er sie auf der Flucht … abknallen kann.«
»Genau wie in diesem Hotel in Adana«, sagte Shauna. »Aber offensichtlich änderte er seinen Plan, als er erkannte, dass die Moschee bereits evakuiert wurde. Also donnerte er mit dem Laster direkt in den Eingangsbereich. Bei der Explosion befand er sich zu drei Vierteln im Inneren des Foyers. Der Sprengradius – so nennen diese Bombenspezialisten das –, der Sprengradius war also nicht besonders groß, vor allem da die Moschee einen maßgeblichen Teil der Druckwelle absorbierte.«
Joel sagte: »Daher haben die Leute in unmittelbarer Nähe der Moschee, so wie du, Superstar, das Schlimmste abgekriegt. Aber niemand wurde in Stücke gerissen. Die Menschen wurden einfach nur weggeschleudert. Du bist auf dem Kopf gelandet und hast fünf Stunden durchgepennt.«
»Die Frau, die du rausgetragen hast«, sagte Shauna, »die mit dem Rollstuhl, hat sich ein Bein gebrochen und ein paar Kratzer und Prellungen abbekommen, aber davon abgesehen geht’s ihr gut.«
»Und alle haben es nach draußen geschafft«, meldete sich Lightner erneut zu Wort. »Offenbar hast du Dr. Baraniq angerufen. Dadurch hatten die Menschen einen Vorsprung von zwölf Minuten. Über eintausend Menschen wurden in knapp zehn Minuten aus der Moschee evakuiert.«
Ein Arzt erschien und wollte mich untersuchen. Meine Sicht war verschwommen, und es tat weh, wenn ich meine Augen von links nach rechts bewegte. Oder wenn ich sie schloss. Oder auch wenn ich sie überhaupt nicht bewegte. Ich realisierte allmählich, dass mein linkes Bein bandagiert war, ebenso wie mein linker Arm.
»Wir werden dich jetzt verlassen.« Shauna presste die Lippen auf meine Stirn. Sie erhob sich vom Bett. »Auf geht’s, Joel.«
»Bis bald, harter Bursche.«
Ich öffnete die Augen. Nicht alle waren am Gehen. Shauna wollte mir und Tori etwas Privatsphäre lassen. Das fühlte sich … ich weiß nicht, wie es sich anfühlte.
Als der Arzt mit mir fertig war, trat Tori an mein Bett und setzte sich an die Stelle, wo Shauna vorher gesessen hatte. Sie nahm meine Hand in ihre und führte sie an ihr Gesicht.
»Schlaf«, sagte sie. »Ich werde da sein, wenn du aufwachst.«
101
Deidre Maley und ich warteten in der obersten Etage des Boyd Center im Empfangsbereich. Tom Stoller kam den Flur herunter, zum ersten Mal seit einem Jahr ohne Eskorte, in den Händen eine kleine Tüte mit persönlichen Habseligkeiten.
Er schielte kurz in unsere Richtung, bevor sein Blick wieder ins Leere schweifte. Das war Tom. Aber vielleicht würde sich auch das eines Tages ändern.
Nach dem Bombenanschlag hatte Richter Nash den Prozess der Staat gegen Thomas Stoller wegen Verfahrensfehler eingestellt. Zwei Tage später rief Wendy Kotowski bei mir an und überbrachte mir die Nachricht, dass die Bezirksstaatsanwaltschaft Tom Stoller nicht erneut wegen Mordes an Kathy Rubinkowski anklagen und das Verfahren zugunsten Toms einstellen würde. Randall Manning war tot, doch es gab mehr als genügend Beweise, dass Kathy Rubinkowski seine terroristische Verschwörung aufgedeckt hatte und deswegen sterben musste.
Die Medien, die sich auf sämtliche ausschlachtbaren Aspekte des Attentats vom 7. Dezember stürzten wie die Aasgeier, hatten sich Toms Geschichte angenommen. In den Nachrichten des Kabelprogramms und sogar bei 60 Minutes wurde ausführlich über ihn berichtet. Tom selbst hatte einen Platz in einer Privatklinik zugesagt bekommen, in der ihm endlich die Pflege zuteilwürde, die er seit seiner Rückkehr aus dem Irak so dringend benötigte. Wir hofften, dass er danach schon bald wieder ambulant behandelt werden konnte, sodass er nicht den Rest seines Lebens in einer Einrichtung verbringen müsste. Aber im Moment war vor allem wichtig, dass sich für diesen Mann endlich wieder bessere Zeiten am Horizont abzeichneten.
Zusammen fuhren wir mit dem Aufzug nach unten in die Lobby. Deidre würde Tom jetzt zur Klinik bringen, und ich würde mich auf den Weg zurück in die Kanzlei machen.
Deidre war schon den ganzen Morgen nah am Wasser gebaut. Offensichtlich tat sie sich schwer mit Abschieden. Da es mir ähnlich ging, hatten wir uns bereits für die folgende Woche in Toms Klinik zum Mittagessen verabredet. Es war also kein endgültiger Abschied. Nur ein ganz kleiner, bis nächste Woche.
»Tja, wir haben es geschafft«, sagte ich und klatschte in die Hände. Dann streckte ich Tom die Hand hin. »Lieutenant …«
Tom tat einen Schritt auf mich zu und schlang fest seine Arme um mich. Ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte. Solche Gesten waren nicht üblich zwischen uns. Deidre, bei der sich inzwischen alle Schleusen geöffnet hatten, gesellte sich zu uns und machte daraus eine Dreier-Umarmung. Klar, es war eine ziemliche holprige Fahrt gewesen, aber am Ende hatte Tom gegen alle Erwartungen gewonnen.
Schließlich ließ Tom mich los. Er trat zurück, nickte, ohne mich anzublicken, und marschierte davon. Deidre küsste mich auf die Wange und sagte: »Wir sehen uns dann nächste Woche«, bevor sie ihm folgte.
102
Nachdem ich mich von Tom und Tante Deidre verabschiedet hatte, kehrte ich in meine Kanzlei zurück. Ich bewegte mich in letzter Zeit ziemlich langsam und vorsichtig. Am linken Bein hatte ich eine Menge Haut eingebüßt, ebenso am linken Arm. Und mein linkes Knie war schon vorher nicht richtig fit gewesen. Der Arzt im Krankenhaus hatte mir erklärt, eine Operation ließe sich nur vermeiden, wenn ich zwei Monate lang jede übermäßige Belastung des Knies vermied.
Als ich mein Büro betrat, fand ich alle Unterlagen des Falls Stoller in Kartons verpackt vor. Offensichtlich hatte sich unsere Büroassistentin Marie zu ein paar Stunden Arbeit bequemt.
Jemand hatte mir die heutige Ausgabe des Chronicle auf den Schreibtisch gelegt. Gestern hatte die Bundesstaatsanwaltschaft Anklage gegen Stanley Keane und acht weitere Personen erhoben wegen Mordes, schwerer Körperverletzung und einer Menge anderer verbotener Dinge, wie zum Beispiel aktiver Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Manning hatte den Deckmantel von Global Harvest International und Stanley Keanes SK Tool und Supply genutzt, um langsam, aber sicher erstaunliche Mengen von Sprengstoff zu horten. Sie hatten die beiden Laster, die in Richtung Federal und State Building unterwegs gewesen waren, mit je einhundert Säcken Ammoniumnitrat-Dünger und drei Fässern flüssigem Nitromethan ausgerüstet. Jeder Laster war Teil eines Dreierteams. Der Fahrer, der allein im Wagen saß, würde den Laster in das Gebäude fahren. Die anderen Teammitglieder folgten in einem Wagen als Verstärkung. Sobald der Laster in das Gebäude gekracht war – und sofern er dabei nicht bereits explodiert war –, sollten der Fahrer und seine Komplizen in der nächstgelegenen U-Bahn-Station abtauchen, um der Explosion zu entgehen. Allerdings musste der Fahrer zuvor ein Fünf-Minuten-Zündkabel auslösen und dann ein Zwei-Minuten-Kabel, was seine Aufgabe zu einem regelrechten Himmelfahrtskommando machte.
Beim dritten Laster – Mannings Fahrzeug – lag der Fall etwas anders. Dieser war lediglich mit fünfzig Säcken Ammoniumnitrat bestückt, also mit nur halb so viel Sprengstoff, weil sein Ziel kleiner und weniger stabil war – eine Moschee und kein Hochhaus. Außerdem hatte Manning gar nicht vor, die Moschee vollständig zum Einsturz zu bringen. Der Bau sollte lediglich destabilisiert werden, genau wie das Hotel, in dem seine Familie gestorben war. Die Menschen sollten in Panik aus der Moschee rennen, damit er und seine beiden Helfer – Patrick Cahill und Ernie Dwyer – sie einzeln niedermetzeln konnten, auf die gleiche Art, wie es damals die Adana-Terroristen getan hatten.
Eines musste man Manning lassen, er war äußerst clever und diszipliniert vorgegangen. Hätte er den Sprengstoff irgendwo in größeren Mengen erworben oder ankaufen lassen, hätten die Bundesbehörden höchstwahrscheinlich Wind davon bekommen. Aber über die ganze Zeit verteilt und als legale Unternehmenstransaktionen getarnt, hatte Manning ausreichend Material horten können, um nach dem 7. Dezember noch zehn weitere Gebäude in die Luft zu sprengen. Erst gestern hatte das FBI das geheime Sprengstofflager mehrere Hundert Kilometer entfernt in einem unterirdischen Bunker entdeckt.
Stanley Keane zufolge, der jetzt mit den Behörden zusammenarbeitete, hatte Randall Manning nicht damit gerechnet, den 7. Dezember zu überleben. Ebenso wenig wie die von ihm angeheuerten Söldner. Stattdessen hätten seinem Plan zufolge die beiden anderen »Köpfe« der Operation, Bruce McCabe und Stanley Keane, die Mission fortsetzen sollen. Manning war davon ausgegangen, dass keine Spur zu Keane oder McCabe führen würde und diese somit in der Lage wären, weitere Anschläge vorzubereiten. Das war natürlich, bevor Manning Bruce McCabe ermorden ließ aus bisher unbekannten Gründen.
Die Bundesbehörden hatten nichts von alldem mitbekommen. Eigentlich hätten sie registrieren müssen, dass Summerset Farms wesentlich mehr Ammoniumnitrat erwarb, als sie jemals verbrauchen konnte. Auf dem Papier hatte die Farm zwar eine Größe, die solche Käufe rechtfertigte, wäre jedoch irgendjemand dort hinausgefahren und hätte gesehen, wie wenig Land wirklich für den Anbau genutzt wurde, hätten die Behörden sofort Verdacht geschöpft.
Auch dass der 7. Dezember das islamische Neujahr war, war ihnen vollständig entgangen. Allerdings konnte ich ihnen deswegen keinen wirklichen Vorwurf machen. Zum einen hatten Lee Tucker und dieser Osborne nicht viel Zeit gehabt, sich in die ganze Angelegenheit einzuarbeiten. Ich hatte ihnen die Informationen erst wenige Tage vorher zukommen lassen, und bis einen Tag vor dem 7. Dezember wusste niemand, dass dies das Datum des Anschlags sein würde. Zudem ist das islamische Neujahr für die meisten Muslime kein wirklich bedeutender Tag. Aber aus Mannings Sicht reichte es aus, um den Gedenktag mit einem Angriff auf amerikanischem Boden zu einem islamischen Feiertag zu verbinden.
Die gute Nachricht war, mein Name wurde aus der ganzen Affäre herausgehalten, zumindest so weit als möglich. Natürlich wussten die Reporter, dass ich Tom Stollers Anwalt war, doch das war’s dann auch schon.
In einem der Kartons bemerkte ich eine dicke Aktenmappe, die ich nicht auf Anhieb zuordnen konnte. Dann erinnerte ich mich. Joel Lightner hatte ein Dossier über Gin Rummy zusammengestellt, den keiner je hatte identifizieren können. Während der Ermittlungen hatte ich mich kurze Zeit auf diesen Namen konzentriert, bis Tori zu Recht bemerkt hatte, dass mir das am Ende nicht viel helfen würde. Selbst wenn es mir gelungen wäre, den Kerl ausfindig zu machen, hätte ich ihn wohl kaum vor Gericht schleppen und ihm dort ein Geständnis entlocken können. Seine Identität festzustellen, hätte mir also für den Stoller-Fall wenig gebracht.
Ich musste an Kathy Rubinkowski denken, die Erste, die laut über die Machenschaften von Global Harvest gesprochen hatte. Sie war jetzt die Heldin dieser ganzen Saga, diejenige, die den Ball überhaupt erst ins Rollen gebracht hatte.
Der Mord an ihr war theoretisch noch nicht aufgeklärt. Doch gingen alle davon aus, dass es Randall Mannings Leute gewesen waren. Vielleicht einer der beiden, die vor dem Anschlag verhaftet worden waren, Patrick Cahill oder Ernie Dwyer. Möglicherweise auch einer der anderen. Es war kein wirklich entscheidendes Detail. Ich hätte der Polizei von Gin Rummy erzählen können, aber in ihren Augen wäre es vermutlich so gewesen, als hätte ich den Osterhasen der Tat bezichtigt. Niemand kannte seine Identität, und niemand schien noch sonderlich interessiert daran, den Fall vollständig zu lösen.
Aus irgendeinem unerfindlichen Grund schlug ich Joels umfangreiche Mappe dennoch auf. Er hatte eine Reihe von Leuten innerhalb und außerhalb des Capparelli-Clans genau unter die Lupe genommen, die möglicherweise als Gin Rummy infrage kamen. Joel hatte sogar eine Art Resümee geschrieben, eines, wie es seine normalen Wirtschaftskunden vermutlich gerne lasen:
Vor etwa vier Jahren tauchte in einem vom FBI abgehörten Telefongespräch zweier bekannter Mitglieder des Capparelli-Clans erstmals der Name »Gin Rummy« auf. Seither wurden Gin Rummy mehrere Auftragsmorde zugeschrieben, doch seine Identität blieb ein Rätsel. Die Behörden gehen davon aus, dass die zunehmend engmaschiger werdende Überwachung durch FBI-Agenten die Capparelli-Familie dazu veranlasste, alle wichtigen Anschläge Gin Rummy zu übertragen, unter anderem den Mord an dem Verbrecherboss Anthony Moretti, wobei die wahre Identität des Killers nur einem kleinen Personenkreis bekannt ist. Das FBI vermutet, dass sich dieser Kreis auf Paul Capparelli, dessen einzigen Vertrauten Donnie Mancini und Gin Rummy selbst beschränkt. Wir gehen allerdings davon aus, dass auch Lorenzo Fowler über dessen Identität Bescheid wusste und diese Information zu tauschen bereit war, bevor er erschossen wurde, möglicherweise von Gin Rummy selbst.
Richtig. Ich erinnerte mich an die merkwürdige Unterhaltung mit Lorenzo hier in diesem Büro, als er mir gegenüber zum ersten Mal »Gin Rummy« erwähnte. Ein Berufskiller?, hatte ich gefragt. So in der Art, hatte er geantwortet. Ein Auftragsmörder? Richtig, hatte er erwidert. Auf meine Frage, was denn der Unterschied zwischen einem Berufskiller und einem Auftragsmörder sei, hatte ich keine Antwort erhalten.
Und möglicherweise würde ich sie auch nie erhalten. Wie dem auch sei, Joel hatte im folgenden Absatz seines Resümees eine Hypothese aufgestellt.
Der wohl wahrscheinlichste Verdächtige ist Peter Gennaro Ramini, alias »Pockets«, wichtigster Auftragsmörder der Capparelli-Familie unter Rico Capparelli, bis Rico nach seiner Verhaftung und Verurteilung durch Paul Capparelli als Boss abgelöst wurde.
Ich las das Resümee zu Ende und stieß einen Seufzer aus. Hier waren einige Fragen offen geblieben. Aber vielleicht würde ich mich ja auf die Suche nach dem schwer zu fassenden Killer machen.
Oder vielleicht würde er sich irgendwann auf die Suche nach mir machen.
Vielleicht auch nicht. Vielleicht hatte ich ja die Nase voll von allem. Vielleicht hatte Tori recht gehabt in jener Nacht vor dem 7. Dezember. Wir konnten von hier verschwinden. Wir konnten alles stehen und liegen lassen, einfach abhauen und irgendwo neu anfangen. War ich bereit dazu?
Ich betrachtete die Fotos auf meinem Schreibtisch. Eins von meiner verstorbenen Frau Talia, die unser neugeborenes Baby Emily im Arm hielt. Talia würde immer die Liebe meines Lebens bleiben. Dieser Platz war auf Dauer besetzt.
Das andere Foto zeigte Shauna und mich, wie wir bei einem Footballspiel unter der überdachten Tribüne herumalberten. Ich starrte in ihre unbeweglichen Augen und fühlte mein Herz schneller schlagen. Keine Ahnung, was das zu bedeuten hatte. Keine Ahnung, was mit uns beiden los war. Ich war mir nicht sicher, ob ich den Mut aufbringen würde, es herauszufinden.
Ausatmen.
Ich beschloss, mich diesem speziellen Thema vorerst nicht weiter zu widmen und stattdessen Joels Bericht zu Ende durchzublättern. In diesem Jahr hatte es in meinem Leben bereits genug Drama gegeben.
103
Peter Gennaro Ramini wartete an der Straßenecke, die Hände in den Manteltaschen vergraben, und sah seinen Atem in der Luft gefrieren. Die Limousine traf genau zum verabredeten Zeitpunkt ein. Man konnte über Donnie und seinen Bruder Mooch sagen, was man wollte, pünktlich waren sie.
Er stieg ein und spürte, wie seine Nerven zuckten, was perfekt zu dem Gestank von frittiertem Essen passte.
Donnie ließ ihn schmoren, was nervtötend war, aber zum Prozedere gehörte. Er war im Grunde nur ein besserer Botenjunge, fühlte sich aber gerne wichtig.
Nachdem die Limousine ein paar Blocks gefahren war, tätschelte Donnie schließlich Raminis Knie.
»Selbst Paulie weiß, wann er zurückstecken muss«, sagte er. »Folgendes hat er zu mir gesagt, pass auf: ›Wenn wir den Schwanzlutscher umlegen, malen wir uns nur selbst ’ne Zielscheibe auf den Rücken‹.«
Ramini atmete erleichtert aus. Er hatte gehofft, Paulie würde einsehen, dass es gefährlicher Unsinn war, den Mann zu töten, der geholfen hatte, einen Terrorangriff auf die Stadt abzuwehren. Selbst wenn der Öffentlichkeit die wirkliche Bedeutung seines Beitrags nicht bekannt war, dem FBI war sie das ganz sicher. Wenn der Clan Kolarich jetzt abservierte, konnte das FBI den Patriot Act anwenden, um die Mafia ins Visier zu nehmen.
»Ihm ist klar, dass wir für den Moment aus dem Schneider sind«, fuhr Donnie fort. »Wir sind heil aus der Sache rausgekommen. Wenn wir uns jetzt diesen Kolarich vorknöpfen, sitzen wir wieder im Schlamassel.«
»Prima. Danke, Don.«
»Allerdings hat er Sal und Augie getötet.«
Was nicht stimmte, aber in diesem Punkt hatte Ramini Paulie und Donnie belügen müssen. Die Capparellis durften niemals erfahren, was sich in dieser Gasse mit Kolarich wirklich abgespielt hatte.
»Was soll das heißen?«, fragte Ramini.
Die Limousine hatte wieder die Ecke erreicht, an der Ramini kurz zuvor eingestiegen war.
Donnie sagte: »Das soll heißen, wir vergessen nicht. Es soll heißen, wir warten ab. Eines Tages kriegt der Anwalt vielleicht Besuch von uns. Und das bedeutet, Mr. Jason Kolarich sollte immer auf der Hut sein.«
104
Es war nach 18.30 Uhr, und ich war der Letzte in der Kanzlei. Ich blickte aus dem Fenster auf die Stadt hinaus, da hörte ich ihre Schritte im Flur, das vertraute Klacken ihrer Stiefel.
»Hey«, sagte Tori.
»Hey.« Unten auf den Straßen drängten sich die Weihnachtseinkäufer. Als Kind hatte ich Weihnachten geliebt, denn es war einer der wenigen Tage, an denen mein Vater gute Laune hatte. Und es war die einzige Zeit, in der mir unsere Familie halbwegs normal vorkam. Das spielte als Kind für mich eine wichtige Rolle – mich einmal ganz normal fühlen zu können. Ein Gefühl von Zugehörigkeit zu haben.
»Hast du das ernst gemeint, was du neulich gesagt hast?«, fragte ich, die Stirn gegen die Fensterscheibe gelehnt und den Blick weiter nach unten auf die Straße gerichtet. »Dass wir diese Stadt verlassen sollten? Alles hinter uns lassen können?«
»Natürlich war es mir ernst«, sagte sie. »Würdest du … das tun?«
Ich antwortete nicht. Ich atmete gegen das Glas und beobachtete, wie es beschlug.
»Stimmt was nicht, Jason? Ist irgendwas …?
Sie beendete den Satz nicht. Im Fenster sah ich ihr Spiegelbild. Sie stand neben der Couch. Dort lagen Joels Ermittlungen über »Gin Rummy«, das Resümee war aufgeschlagen.
»Ich hatte es ernsthaft überlegt«, sagte ich. »Wirklich. Ich liebe diese Stadt, aber ich hätte sie für dich verlassen.«
»Das kannst du immer noch«, sagte sie.
Richtig. Ich hätte es auch jetzt noch gekonnt, trotz allem, was geschehen war.
»Ich habe hier noch was zu erledigen«, sagte ich. »Gin Rummy ist immer noch auf freiem Fuß. Ich muss Kathy Rubinkowskis Mörder finden.«
»Das ist nicht deine Aufgabe. Du hast deinen Job getan. Überlass den Rest jemand anderem.«
Ich nickte. Dasselbe hatte ich mir auch einzureden versucht.
»Klär mich auf«, sagte Tori. »Denn das klingt verdächtig nach einer Ausrede, um mich abzuservieren. Und wenn du das vorhast, dann sag es mir lieber offen und direkt.«
Ich verstand ihre Befürchtung. Viele Frauen beschwerten sich darüber, dass Männer, wenn sie eine Beziehung beenden wollten, die Auseinandersetzung scheuten. Lieber versteckten sie sich hinter albernen Ausreden. Doch das war hier nicht der Fall.
Ich beobachtete ihr Spiegelbild. Es war irgendwie leichter so. Sie beugte sich vor und hob die Aktenmappe hoch, die Joel zusammengestellt hatte.
»Joel hat mich auf die richtige Spur gebracht«, fuhr ich fort. »Er hat einen langjährigen Auftragskiller namens Peter Ramini identifiziert. Offensichtlich war dieser eine große Nummer unter Rico Capparelli. Und auch nachdem dessen Bruder Paulie die Geschäfte übernommen hatte, schien Ramini noch der wahrscheinlichste Kandidat zu sein.«
»Wie hier zu lesen steht«, sagte sie, das Resümee in der Hand.
»Richtig. Aber letztendlich schließt Joel aus, dass er Gin Rummy ist«, sagte ich.
Tori schwieg. Sie las, was Joel geschrieben hatte.
Ich hielt eine zusammengerollte Kopie des Resümees in der Hand. Ich entrollte sie und las die betreffende Stelle laut vor. »›Vor etwa fünf Jahren wurde bei Peter Ramini ein sogenannter essenzieller Tremor diagnostiziert, ein unkontrollierbares Zittern, das sich in seinem Fall besonders an den Händen zeigte. Raminis Spitzname »Pockets« rührt von dem Umstand her, dass er keinen seine Hände sehen lässt. Das FBI geht sogar davon aus, dass seine Krankheit innerhalb der Capparelli-Familie niemandem bekannt ist.‹ Es ist also nicht Peter Ramini«, fuhr ich fort. »Er kann vermutlich nicht mal mehr eine Pistole in der Hand halten.«
»Scheint so.« Ich sah, wie Tori den Ordner zurück auf die Couch warf. »Und jetzt erklär mir bitte, was das mit dir und mir zu tun hat.«
Ich drehte mich um und sah sie direkt an. »Tja, es ist komisch. Joels Bericht enthält auch die biografischen Hintergründe der Hauptverdächtigen. Demzufolge hat Peter niemals geheiratet oder Kinder in die Welt gesetzt. Aber er hatte einen Bruder namens Joey, der jung gestorben ist. Joey hinterließ eine achtjährige Tochter. Peters Nichte.«
Tori blinzelte. Sie wollte etwas erwidern, überlegte es sich dann aber anders. Ihr Blick zuckte durch den Raum und in Richtung Flur.
»Sie ist heute siebenundzwanzig«, erklärte ich.
»Was du nicht sagst.«
»Ihr Name ist Ginger.«
Die Temperatur im Raum fiel schlagartig. Tori musterte mich lange. Ihre Züge verhärteten sich. Sie trug immer noch den langen Mantel, und ihre Hände waren in den Taschen verborgen.
»Nein, stimmt nicht«, sagte sie. »Sie heißt Victoria. Victoria Virginia Ramini.«
Sie zog ihre rechte Hand aus der Tasche, die jetzt eine Pistole hielt.
»Unglücklicherweise hieß meine Tante auch Victoria, also nannten sie mich Virginia. Und aus ›Virginia‹ wurde ›Ginger‹. Übrigens hab ich diesen Spitznamen immer gehasst.«
»Und jetzt heißt du Tori Martin«, sagte ich. »Also kommt ›Tori‹ von ›Victoria‹. Und was ist mit ›Martin‹? Hast du dir diesen Namen ausgedacht?«
»Es war der Mädchenname meiner Mutter.«
»Ah. Das ist natürlich praktisch. Schauen wir mal, ob ich da richtig liege. Du hast deinen Ehemann getötet, es ging eine Zeit lang abwärts für dich, doch dann bist du unter einem neuen Namen wieder aufgetaucht – Tori Martin –, und was noch besser war, du hattest gleich einen neuen Job. Du hast deinem alten Onkel Peter dabei geholfen, Leute aus dem Verkehr zu ziehen. Er kriegte die Aufträge, aber weil er sie mit seinen zittrigen Händen nicht mehr durchführen konnte, gab er sie an dich weiter. Niemand kannte dich. Niemand würde dich je verdächtigen. Und die Cops und das FBI hatten Peter zwar wegen einiger Morde in Verdacht, konnten jedoch nichts beweisen. Keine Fingerabdrücke, keine verwertbaren Spuren – zur Hölle, Peter war vermutlich zum Zeitpunkt der Morde zwanzig Kilometer entfernt und hatte ein perfektes Alibi.«
Tori studierte mich gründlich, bevor sie antwortete. »In Wahrheit schaut er gerne zu. In dem Punkt ist er sehr eigen. Ich weiß nicht, ob er mich schützen will oder einfach die Aufsicht über alles behalten möchte, auch wenn er selbst den Abzug nicht mehr drücken kann. Aber er ist jedes Mal dabei. Willst du meinen Onkel noch eingehender psychologisch analysieren, Jason?«
Nein, wollte ich nicht. Toris Hand mit der Waffe hing locker an ihrer Seite herab, doch sie beobachtete mich aufmerksam. Ich stand hinter meinem Schreibtisch. Sie wusste, dass ich eine Pistole besaß. Allerdings hatte sie keine Ahnung, wo diese sich befand. Nicht dass ihr das Kopfzerbrechen bereitet hätte. Sie hatte sich als außergewöhnliche Schützin erwiesen. Sie hätte mir eine Kugel zwischen die Augen verpassen können, bevor ich auch nur in die Nähe meines Schreibtischs gelangen konnte.
»Die Capparellis bekamen mit, dass Lorenzo Fowler nervös wurde, dass er vielleicht plaudern würde«, sagte ich. »Und sie fanden heraus, dass er einen Termin bei mir hatte, bei einem Anwalt, der nicht in den Diensten der Capparellis stand. Sie wollten also jemanden in meiner Nähe. Jemanden, der herausfand, was ich wusste. Und dieser Jemand warst du. Du und diese beiden Schläger; ihr habt eine kleine Szene im Vic’s inszeniert, damit ich einschreiten und den Helden spielen kann. Und anschließend hast du meisterhaft die Unnahbare gespielt, bis wir beide uns schließlich doch näherkamen. Ich habe dich in alles eingeweiht. Ich habe dir alles verraten, und du hast denen alles verraten.«
Ich lachte angesichts einer Erinnerung. »Du hast natürlich auch mitgekriegt, wie ich nach der wahren Identität von Gin Rummy suchte, und mir ausgeredet, diese Spur weiter zu verfolgen. Und ich hab dir sogar noch für deinen klugen Vorschlag gedankt. Du musst mich für den naivsten Trottel gehalten haben, dem du je …«
»Sag das nicht.« Tränen stiegen in Toris Augen empor. »Du hast keine Ahnung, was ich für dich empfinde.«
»Du hast recht, ich habe keine Ahnung. Weil alles eine Lüge war.«
»Nicht alles.«
Ich holte ein paarmal tief Luft. Dann bewegte ich mich etwas nach rechts, in Reichweite der Schreibtischschublade. Es war schwer zu sagen, ob Tori es bemerkt hatte.
»Warum hast du mir erzählt, dass du vor fünf Jahren deinen Mann erschossen hast?«, fragte ich. »Denn das war die Wahrheit, richtig?«
Sie nickte.
»Warum hast du mir das erzählt? Warum hast du mir die Wahrheit verraten, obwohl du damit dein Geheimnis gefährdet hast?«
Sie neigte den Kopf zur Seite und blinzelte die Tränen weg. »Weil ich es mit dir teilen wollte.«
Sie sagte es so, als wäre es selbstverständlich. Ich schüttelte den Kopf. Ich war wütend, ich fühlte mich gedemütigt und verwirrt.
»Wenn du damit sagen willst, meine Handlungsweise ergibt keinen rechten Sinn, dann muss ich dir recht geben, Jason. Ich habe das längst nicht so kühl durchdacht und geplant, wie du vermutest. Ich sollte deine Freundin werden und ein Auge auf dich haben. Doch was danach kam, geschah einfach so.«
»Blödsinn.«
»Tritt vom Schreibtisch zurück, Jason. Und halte deine Hände so, dass ich sie sehen kann. Lass mich nichts tun, was wir bereuen würden.«
»Ich werde dich anzeigen«, sagte ich.
»Nein, wirst du nicht. Sonst hättest du es längst getan.«
»Ich kann es immer noch tun.«
»Wenn du die Polizei verständigst, kann ich dich nicht mehr schützen.« Tori kam auf mich zu, verkürzte die Entfernung zwischen uns auf die Hälfte, bevor sie stehen blieb. »Hast du eine Ahnung, wie schwer es für mich war, dich am Leben zu erhalten? Mein Onkel hat Paulie angefleht, dein Leben zu schonen. Und als er es nicht länger verhindern konnte, bin ich eingeschritten. Ich kannte Sal und Augie schon mein ganzes Leben. Ich habe in dieser Gasse zwei Freunde getötet.«
Ich holte Luft. Wut und Enttäuschung hatten meinen Verstand vernebelt, trotzdem leuchteten mir ihre Worte ein. Sie hatte mich in dieser Gasse gerettet, als die beiden Schläger mich töten wollten. Sie hatte sich gegen die ausdrücklichen Wünsche des Clans gestellt. Die Mafiabosse hatten meinen Tod befohlen, und Tori hatte sich eingeschaltet und es verhindert.
»Was diese Jobs mit Onkel Pete betrifft – ich hab nur Menschen getötet, die es verdient haben«, sagte sie. »Menschen die betrogen, geraubt, gemordet und andere schlechte Dinge getan haben. Keines meiner Opfer war unschuldig.«
»Kathy Rubinkowski«, sagte ich.
Sie nickte. »Man hat mir erzählt, sie würde ihren Boss erpressen; sie hätte etwas gegen ihn in der Hand und würde eine Million Dollar verlangen. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich nichts über Randall Manning oder Global Harvest. Ich übernahm einfach nur den Auftrag von meinem Onkel. Aber du weißt: Sobald ich die Wahrheit herausgefunden hatte, tat ich alles, um dir bei der Lösung deines Problems zu helfen.«
»Alles, nur nicht dich selbst zu stellen. Du hättest einfach die Hand heben können, und alles wäre vorüber gewesen.«
»Und wenn ich das getan hätte, wäre es zum schlimmsten Terroranschlag in der Geschichte dieses Landes gekommen.«
Ich lachte lauter als beabsichtigt. Meine Gefühle fuhren Achterbahn. Meine Nerven lagen blank, ich fühlte mich im Innersten getroffen und suchte einen Weg, um mich zu schützen. Trotzdem war ich nicht von gestern.
»Du bist also die Killerin mit dem goldenen Herzen.«
»Nein«, sagte sie. »Ich bin jemand, der falsche Entscheidungen getroffen hat, mit denen er jetzt leben muss. Jemand, der sich wünscht, es wäre ganz anders gelaufen. Ich kann mich ändern, Jason. Ich …«
Ich ließ sie reden. Für mich war dieses Gespräch beendet.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
»Nein.«
»Doch. Das tue ich, Jason. Du bist ein starker, aufrichtiger und moralischer Mensch, und obwohl du selbst tief verletzt worden bist, hast du dir ein großes Herz bewahrt, einen Sinn für Recht und Unrecht. Ich bin immer nur Menschen begegnet, die auf ihren Vorteil bedacht waren, Menschen, die anderen Schmerz zufügten und sie töteten, wenn es nicht nach ihrem Willen ging. Aber du bist anders. Ich hatte keine Ahnung, dass es Menschen wie dich gibt. Ich möchte auch so ein Mensch werden. Ich kann mehr sein als das, was ich bisher war. Ich kann besser mit meinem Leben umzugehen lernen, schätze ich.«
»Wie anrührend.«
»Es gibt Dinge, die nicht in irgendeinem lächerlichen kleinen Bericht stehen. Ich war total durch den Wind, nachdem ich meinen Mann erschossen hatte. Ich begann Drogen zu nehmen – zunächst Schmerzmittel, dann Kokain. Mein Leben war eine Katastrophe. Es gab nur eins, was ich gut konnte, und das war, mit der Pistole zu schießen. Ich hatte Schießen trainiert, seit ich sieben war, und ich war besser darin als jeder andere. Die Laufbahn meines Onkels war am Ende, als bei ihm dieser Tremor diagnostiziert wurde, und auch ich war am Ende. Also halfen wir einander. Er hielt mich bei der Stange, und ich hielt ihn in Brot und Arbeit. Aber er versprach mir, dass es nur schlechte Menschen wären. Menschen, die sich die Hände schmutzig gemacht hätten. Und jetzt will ich ein neues Leben, und du sollst ein Teil davon sein.«
»Du hast Kathy Rubinkowski ermordet, und du hast es Tom Stoller in die Schuhe …«
»Ich habe niemandem was in die Schuhe geschoben. Damit hatte ich nichts zu tun. Ich habe nur den Abzug gedrückt und bin dann weggelaufen. Man hat mich angewiesen, die Patronenhülse zurückzulassen, damit es nicht wie ein Auftragsmord aussieht. Das hab ich getan. Der Rest – die Habseligkeiten der Frau zu entwenden und sie irgendeinem Obdachlosen unterzuschieben –, das war ich nicht, und davon wusste ich auch nichts.«
Ich dachte einen Augenblick darüber nach. »Wer war es dann?«
»Es war Lorenzo«, sagte sie. »Auf Anweisung meines Onkels. Vermutlich ahnte er, dass diese Tat Aufmerksamkeit erregen würde. Ein nettes weißes Mädchen in einem Yuppie-Viertel? Also unternahm er Vorkehrungen, um es wie einen Feld-Wald-und-Wiesen-Raubmord aussehen zu lassen. Lorenzo wusste ohnehin von meinem Arrangement mit Onkel Pete. Er, Paulie und Paulies Botenjunge Donnie. Also sorgte Onkel Pete dafür, dass Lorenzo meine Spuren verwischte. Ich hatte keine Ahnung davon, Jason. Ich schwöre es.«
Ich schüttelte den Kopf. »Aber später hast du es gewusst. Und du wolltest Tom …«
»Nein«, unterbrach sie mich. »Niemals hätte ich zugelassen, dass er ins Gefängnis kommt. Wenn es dazu gekommen wäre, hätte ich gestanden. Ich hätte irgendwas unternommen. Aber auf keinen Fall hätte ich diesen armen Kerl ins Gefängnis wandern lassen.«
Ich musterte sie, versuchte sie zu durchschauen, denn meine normalerweise sehr verlässlichen Instinkte verweigerten mir den Dienst. »Im Nachhinein sagt sich das leicht.«
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen. Mit ihrer linken Hand. Mit der rechten hielt sie immer noch die Waffe an ihrer Seite. »Du glaubst mir nicht«, sagte sie. »Wenn du mir das nicht glaubst, dann haben wir beide wohl keine Chance mehr.«
Ich schwieg. Meine Kehle war wie zugeschnürt, und ich konnte spüren, wie sich mir der Magen umdrehte.
Sie stieß enttäuscht den Atem aus. »Ich hab mich gefragt, ob dieser Tag wohl kommen würde. Ob du es glaubst oder nicht, ich dachte, wenn es irgendwann so weit ist, kann ich dich dazu bringen, es zu verstehen. Ich dachte, du würdest mir eine Chance geben.« Sie schüttelte den Kopf und holte tief Luft. »Ich schätze, ich war naiv.«
Ich streckte meine Hand in Richtung Schreibtischschublade aus.
»Tu das nicht, Jason. Bitte.«
Ich öffnete sie.
»Jason, nicht.«
Ich zog die Visitenkarte von Detective Frank Danilo heraus, der den Mordfall Rubinkowski untersucht hatte. Ich legte sie auf den Schreibtisch, nahm den Hörer meines Bürotelefons ab und wählte seine Nummer.
Als sich das Revier meldete, sagte ich: »Detective Frank Danilo bitte.«
»Leg den Hörer auf, Jason.« Tori fixerte mich und zielte mit der Pistole auf mich. Wir sahen einander in die Augen, während ich darauf wartete, dass Danilo an den Apparat kam – vermutlich waren es nur ein paar Sekunden, die sich jedoch zu einer Ewigkeit dehnten. Nur ein Zucken von Toris Finger, und mein Leben war zu Ende.
»Bitte, tu das nicht«, sagte Tori. Ich starrte in den Lauf der Waffe, als die Stimme von Frank Danilo durch die Muschel drang.
»Detective, hier ist Jason Kolarich«, sagte ich.
Toris Augen wurden schmal. Sie hielt die Waffe völlig ruhig. Ich wäre tot, bevor ich auch nur realisieren konnte, dass sie den Abzug gedrückt hatte.
»Hallo, Jason. Was liegt an?«
Ich liebte Tori. Das war mir an diesem Nachmittag klar geworden, als ich die Puzzleteilchen zusammengesetzt hatte. Liebe war für mich schon immer mit tiefstem Schmerz verbunden gewesen. Der Tod meiner Frau und meiner Tochter hatte mich am Boden zerstört, und als ich mich wieder einigermaßen gefangen hatte, glich mein neues Selbst nur noch vage meinem alten. Doch dieser Schmerz jetzt war ein anderer. Er war wie Gift in meinem Blut, er krallte sich in meinen Eingeweiden fest und raubte mir den Atem. Ich liebte sie, und in diesem Moment glaubte ich ihr, dass auch sie mich liebte. Das hätte es einfacher machen sollen. Aber es machte es nur umso schlimmer.
»Kathy Rubinkowskis Mörderin heißt Victoria Virginia Ramini«, sagte ich. »Sie ist die Nichte von Peter Ramini. Sie nennt sich Tori Martin. Sie ist Gin Rummy, Detective.«
Langsam legte ich den Hörer zurück aufs Telefon. Ich schloss die Augen. Holte tief Luft.
Als ich aufblickte, war Tori Martin verschwunden.
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