65
Die Partie war eröffnet. Dreißig Menschen, in einen engen Raum gepfercht. Einige davon würden über Tom Stollers Schicksal entscheiden. Andere würden vom Richter wegen triftiger Gründe abgelehnt, wieder andere von der Staatsanwaltschaft oder von mir ausgeschlossen.
»Geschworene Nummer sieben«, sagte ich zu der Frau in der ersten Reihe. »Der Zivilprozess, bei dem Sie als Geschworene fungierten – da drehte es sich im Wesentlichen um Geld, sehe ich das richtig?«
»Das stimmt«, sagte sie. »Sie forderten Geld. Aber am Ende spielte es keine Rolle, weil wir zugunsten des Angeklagten entschieden.«
»Ich mag Sie jetzt schon«, sagte ich und erntete einen Lacher. »Ich vermute, in diesem Fall war die Beweislast ausschlaggebend? Es war mehr als wahrscheinlich, dass sich jemand schuldig gemacht hatte?«
»Das ist wohl richtig.«
»Und wissen Sie auch, Ma’am, dass bei einem Strafprozess die Beweislast so erdrückend sein muss, dass kein begründeter Zweifel an der Schuld des Angeklagten mehr besteht?«
»Das weiß ich.« Jeder wusste das.
»Der übliche Standard für die Beweislast ist ›mehr als wahrscheinlich‹ – also eine Wahrscheinlichkeit von einundfünfzig Prozent.« Ich hielt meine Hand auf Höhe meiner Hüfte. »Eine ohne jeden begründeten Zweifel bewiesene Schuld dagegen bedeutet weit mehr als ›höchstwahrscheinlich hat er es getan‹ – es bedeutet vielmehr: ›Ich bin mir so sicher, dass er es getan hatte, dass es keinen begründeten Zweifel daran gibt‹.« Ich hob die Hand so weit über den Kopf wie möglich. Ein Gipfel verglichen mit einem Tal. Ein Wolkenkratzer verglichen mit einer Hundehütte. Vermutlich würde es nur eine Nanosekunde bis zu Wendy Kotowskis Einspruch brauchen.
Es brauchte eine ganze Sekunde. Dem Einspruch wurde stattgegeben.
Mein Handy vibrierte in meiner Tasche. Vier kurze Vibrationsstöße, also ein Anruf und keine SMS. Ich berührte das Handy, um ganz sicher zu sein, konnte aber im Moment nicht drangehen.
»Worauf ich hinauswill: In unserem Alltagsleben beurteilen wir Dinge nicht nach dem Standard begründeter Zweifel«, sagte ich. »Wir sehen am Straßenrand jemanden in Handschellen neben einem Polizeibeamten und denken automatisch, er hat sich was zuschulden kommen lassen. Richtig? Mir geht es jedenfalls so. Ich gehe davon aus, dass sie Drogen in seinem Auto gefunden haben oder dass er betrunken am Steuer saß. Aber würde mir irgendjemand von Ihnen widersprechen, wenn ich sage, dass sich Ihre Aufgabe davon unterscheidet? Dass Sie im Dienste der Regierung einen viel höheren Standard anlegen müssen?«
Keine Hand erhob sich. Kein Einspruch von Wendy, die in diesem Punkt offensichtlich nicht allzu heikel erscheinen wollte. Also behielt ich den eingeschlagenen Kurs bei. Für Tom galt bis zum Beweis des Gegenteils die Unschuldsvermutung; nur weil die Regierung ihn anklagte, war er noch lange nicht schuldig, und so weiter – Dinge, die jeder wusste, die zu betonen aber in diesem Zusammenhang lohnte. Und Wendy konnte schlecht Einspruch einlegen. Schließlich gehörten diese Prinzipien zu den verfassungsmäßigen Grundlagen unserer Nation.
»Würde mir irgendjemand widersprechen, wenn ich sage, dass wir gerade deshalb die großartigste Nation der Welt sind, weil wir nicht einfach blind der Regierung vertrauen – sondern dass sie Beweise von allerhöchster Qualität liefern muss, wenn sie einen von uns Bürgern einsperren will? Möchte mir da jemand widersprechen?«
Niemand widersprach. Ich hatte es auch nicht erwartet. Dies war bereits Teil meines Abschlussplädoyers, aber ich verpackte es in die bei einer Geschworenenauswahl absolut zulässige Frageprozedur.
Mein Handy vibrierte erneut – ein weiterer Anruf.
Ich war fast am Ende. Ich hatte jedem Geschworenen eine Reihe persönlicher Fragen auf der Basis der von ihnen ausgefüllten Fragebögen gestellt. Weitere zehn Minuten hatte ich auf das Thema der Selbstbeschuldigung verwandt – und was wir doch für ein tolles Land waren, das seine Angeklagten nicht zu Aussagen zwang; und jeder sollte bitte die Hand heben, der einen Angeklagten verurteilen würde, nur weil er nicht in den Zeugenstand trat. Tatsächlich gaben einige der potenziellen Geschworenen zu, dass sie durchaus Zweifel an einem Angeklagten hätten, der nicht aufstehen und seine Unschuld erklären würde. Dem Richter würde keine andere Wahl bleiben, als die betreffenden Kandidaten nun selbst auszusondern.
Und ich hatte ihnen ein wenig Hurrapatriotismus in die Ohren geblasen. Jetzt fehlten nur noch meine sogenannten Durchhaltefragen. Schließlich brauchte ich am Ende nur einen einzigen Geschworenen.
»Ist sich jeder von Ihnen bewusst, dass Sie als Geschworene die absolute Freiheit haben, in diesem Fall so zu entscheiden, wie Sie wollen? Dass Sie nicht verpflichtet sind, sich den anderen anzuschließen, nur weil Sie überstimmt wurden? Heben Sie bitte Ihre Hand, wenn Ihnen das nicht bewusst ist.«
Niemand hob die Hand.
»Würde irgendjemand unter Ihnen den Druck verspüren, eine bestimmte Entscheidung zu treffen – ob schuldig oder unschuldig –, nur weil alle anderen so stimmen, Sie persönlich aber anderer Meinung sind?«
Offensichtlich würde niemand diesen Druck verspüren.
»Würde mir irgendjemand widersprechen, wenn ich sage, dass es in einem System, das ein unbestechliches Urteil verlangt, Ihre verfassungsmäßige Pflicht ist, bei einer Entscheidung Ihrem Gewissen zu folgen, selbst wenn Sie allein gegen elf stehen?«
Niemand widersprach. Aber mein Handy vibrierte erneut.
Irgendjemand wollte mich dringend sprechen. Wenn es etwas mit dem Fall zu tun hatte, dann musste es eine gute Nachricht sein, denn schlimmer konnte es nicht werden.
Ich konferierte leise mit Shauna, und wir beschlossen, von sechs unserer zehn möglichen Ablehnungen potenzieller Jurymitglieder Gebrauch zu machen. Wir wollten sie nicht alle verwenden, denn höchstwahrscheinlich würde sich unsere Jury nicht allein aus diesem Pool rekrutieren. Weitere dreißig Kandidaten würden befragt werden, und wir wollten uns einige unserer sogenannten Einreden für sie aufbewahren.
Wir gaben Wendy unsere Liste, sie gab uns ihre, und wir überreichten sie dem Richter. Nun würden wir uns in sein Büro zurückziehen und auswerten, auf wie viele wir uns geeinigt hatten. Dann würden wir uns weitere dreißig Kandidaten vornehmen und sie derselben Prozedur unterwerfen, bis wir die erforderlichen fünfzehn hatten – zwölf plus drei als Reserve.
Aber zuvor hatte ich endlich Gelegenheit, einen Blick auf mein Handy zu werfen. Bradley John hatte mich bereits viermal angerufen.
» Diese Initialen«, erklärte er mir, als ich mich bei ihm meldete.
»Ja? Du hast rausgefunden, wer AN und NM sind?«
»Nein«, sagte er. »Ich habe rausgefunden, was sie sind.«
66
Richter Nash hielt uns bis fünf Uhr nachmittags im Gericht fest, und nach dem dritten Geschworenenaufgebot hatten wir schließlich die fünfzehnköpfige Jury inklusive der drei Ersatzjuroren komplett. Acht der zwölf regulären Geschworenen waren Frauen. Fünf waren Afroamerikaner. Einer war Pakistani und ein weiterer ein Halbchinese. Das Altersspektrum reichte von neunzehn bis einundsechzig. Eine war Fußpflegerin, ein anderer Caterer. Es gab eine Kellnerin, einen Lackierer, zwei Hausfrauen, die Leiterin einer Kindertagesstätte, einen Personalmanager, eine Buchhalterin, eine Pharmavertreterin, eine Produktmanagerin für Sanitätsartikel und schließlich meinen Favoriten Jack Strauss. Er war Rentner.
Ein pensionierter Militärangehöriger, um genau zu sein. Ein Ex-Colonel der US Marines, der auf Grenada gekämpft und in den frühen Neunzigern für einige Zeit bei der Operation Desert Storm im Einsatz gewesen war.
Wendy hatte ihre möglichen Einreden bereits beim zweiten Kandidatenaufgebot verbraucht. Sie hatte darauf gesetzt, dass wir bereits mit dem zweiten Durchlauf komplett wären, hatte sich jedoch verrechnet – es blieben am Ende noch vier Positionen zu besetzen, der zwölfte Platz in der regulären Jury sowie die drei Ersatzjuroren. Und als wir uns das dritte Aufgebot vornahmen, war darunter Juror einundsechzig: Jack Strauss. Wendy tat ihr Bestes, um ihm Voreingenommenheit zu unterstellen, aber der Mann ließ sich von ihr nicht einschüchtern, und es gab keinen Grund, ihn vom Prozess auszuschließen. Es war mein erster kleiner Erfolg in diesem Fall.
Ich musste Tom irgendwie dazu bewegen, in den Zeugenstand zu treten und über den Irak zu reden. Colonel Strauss musste unbedingt erfahren, dass Tom ein Kriegsveteran und ein Held war.
***
Shauna und ich kehrten um Viertel vor sechs in die Kanzlei zurück, begleitet von Shaunas Leibwächter, einem Kerl, der aussah wie ein Profi-Wrestler. (Als echter Cowboy hatte ich natürlich keinen Leibwächter, aber immerhin hatte ich ja meine eigene Pistole.)
Bradley John wartete bereits im Konferenzraum auf uns.
»Sie studierte im Hauptfach organische Chemie«, begrüßte er uns.
»Was?«
»Kathy Rubinkowski. Sie strebte einen Abschluss in organischer Chemie an, richtig? Ich hatte das nicht mit einberechnet.«
Bradley hatte eine Kopie des Dokuments vor sich, das Kathy an ihren Vater gemailt hatte und auf dessen Rückseite eine Notiz gekritzelt war:
AN
NM
??
»Das Symbol AN steht für Ammoniumnitrat«, sagte er. »Es ist der Hauptinhaltsstoff von Düngemitteln.«
»Und offensichtlich hat Global Harvest ihn verkauft«, sagte ich.
»Richtig. Und NM steht für Nitromethan«, sagte Bradley. »Nitromethan findet Verwendung in Drogen, Lösungsmitteln und Pestiziden. Aber jetzt kommt der eigentliche Clou: Mischt man Ammoniumnitrat und Nitromethan zusammen, erhält man einen der hochexplosivsten Sprengstoffe überhaupt.«
Ich sah zu Shauna. »Sprengstoff«, wiederholte ich. »Jesus.«
Erneut warf ich einen Blick auf Kathy Rubinkowskis Notiz. Es erschien einleuchtend. Eine Chemiestudentin benutzte logischerweise die chemischen Kürzel.
»Und deshalb überwachen sowohl Bundes- als auch Staatsregierung den Verkauf von Düngemitteln«, sagte Bradley.
Ich versuchte, meine Hände ruhig zu halten. Ich war auf hundertachtzig, trotzdem musste ich aus dieser Information etwas vor Gericht Präsentables machen. »Noch mal zum mitschreiben«, sagte ich. »Es besteht kein Zweifel daran, dass Global Harvest Ammoniumnitrat verkauft hat. Ich meine, das ist ihr Geschäft – Düngemittel, richtig?«
»Klar.«
»Aber was ist mit Nitromethan? Verkauft Global Harvest diesen Stoff auch?«
Er schüttelte den Kopf. »Soweit ich weiß, nicht.«
»Aber wo besteht dann die Verbindung? Warum hat Kathy überhaupt NM notiert?«
»Ich weiß es nicht, Jason. Aber wir können wohl annehmen, dass ihre Notiz …«
»Nein, nein, nein. Wir können gar nichts annehmen, Bradley. Gesichert wissen wir nur, was alle Welt weiß, nämlich dass Global Harvest International Dünger verkauft. Und das bringt mich vor Gericht kein bisschen weiter. Verbinde die Punkte für mich, dann kann ich es womöglich verwenden. Verstehst du, was ich sagen will?«
Er wirkte zerknirscht, aber er gab nicht auf. »Verstehe, ja.«
Ich packte ihn bei der Schulter. »Möglicherweise ist es genau das, wonach wir suchen. Aber ich brauche mehr. Nimm dir Summerset Farms vor. Dorthin wurden die Düngemittel geliefert. Vielleicht haben die auch das Nitromethan bekommen.«
»Ich klemm mich dahinter.«
»Oh, und Bradley«, rief ich ihm hinterher. »Erinnerst du dich an meine Bemerkung, dies sei ein Marathon und kein Sprint?«
»Ja?«
»Vergiss es. Jetzt ist es ein Sprint.«
»Verstanden.« Bradley verließ den Konferenzraum, Shauna und ich blieben alleine zurück.
Shauna zog die Augenbrauen hoch. »In was sind wir da reingeraten?«
»Als ich neulich abends diese Typen bei ihren Schießübungen beobachtete, habe ich sie noch für Waffenhändler gehalten«, sagte ich. »Ich dachte, die Düngemittellieferungen könnten als Deckmantel für den Schmuggel von Waffen dienen. Aber möglicherweise lag ich falsch.« Ich betrachtete die von Kathy Rubinkowski notierten Symbole.
»Vielleicht bauen sie eine Bombe«, sagte ich.
67
In dem Kuppelbau auf dem Gelände von Summerset Farms standen Randall Manning und Stanley Keane auf einem schmalen Balkon und blickten hinab in die große Halle, in der normalerweise landwirtschaftliche Geräte geparkt waren. Heute war wieder einmal ein Teil der Maschinen hinausgeräumt worden, um Platz für die notwendigen Arbeiten zu schaffen. Manning und Keane sahen zu, wie sich ihre sechs Soldaten – vor dem Verlust von Cahill und Dwyer waren es acht gewesen – ans Werk machten.
Die You-Ride-Lastwagen wurden hereingefahren. Bruce McCabe hatte sie letzte Woche vor seinem unglücklichen Dahinscheiden angemietet, wobei er einen fiktiven Namen und eine gefälschte Kreditkarte verwendet hatte. Wegen möglicher Sicherheitskameras hatte er sich sogar verkleidet. Mannings Einschätzung nach konnte man die Spur der You-Ride-Lastwagen schwerlich zu ihm oder dem Zirkel zurückverfolgen.
Sie nahmen sich den ersten Truck vor. Mit einem Akkuschrauber bohrte ein Soldat an einer verborgenen Stelle unter der Sitzbank der Hauptkabine zwei Löcher. Dann schob er jeweils ein Zündkabel durch die beiden Löcher, bis sie sich unter dem Lastwagen auf dem Betonboden aufrollten. Die Zündkabel waren von einem festen Plastikschlauch umgeben, der sie während des Transports schützte.
Anschließend kletterte der Soldat aus der Kabine und schlüpfte unter die Lastfläche des Trucks. Er bohrte zwei weitere Löcher in den Boden des Aufbaus. Dann griff er die ummantelten Kabel, die unten aus der Fahrerkabine ragten, und zog sie zu sich heran. Er schob die Schläuche hoch in den Aufbau und kroch wieder unter dem Lastwagen hervor.
Die Kabine und der Aufbau des Trucks waren nun mit zwei Zündkabeln verbunden.
Zu guter Letzt kletterte der Soldat in den hinteren Teil des Aufbaus und befestigte an beiden Zündkabeln je eine Sprengkapsel. An Stellen, wo die Zündkabel durchhingen – sie hatten sorgfältig gemessen, aber besser, man maß etwas großzügiger als zu kurz –, befestigte er sie mit Klebeband an der Seitenwand des Aufbaus, um zu verhindern, dass sie sich während der Fahrt von den Sprengkapseln lösten.
Und nun kam der lustige Teil.
Von zwei Sattelschleppern lud die Crew zweihundertfünfzig Zentnersäcke mit hochwertigem Ammoniumnitrat-Düngemittel. Außerdem entluden sie sieben 200-Liter-Fässer mit Nitromethan.
Leere 200-Liter-Fässer wurden in den hinteren Teil des ersten Lasters gehievt. Die Soldaten nagelten Bretter auf den Boden, um die sechzehn Fässer an Ort und Stelle zu halten. Dann schafften sie hundert Säcke mit Ammoniumnitrat-Dünger und drei Fässer Nitromethan auf die Ladefläche. Unter Verwendung von Plastikeimern und Industriewaagen mischten sie die Chemikalien und füllten den Cocktail in sämtliche Fässer. Jedes von ihnen wog nun rund zweihundertzwanzig Kilo.
Mit professionellem Stolz betrachteten die Soldaten ihr Werk. Noch war es nicht ganz vollendet, aber die letzten Handgriffe würden am Tag der Operation, am 7. Dezember selbst, erfolgen. Sie würden die Sprengkapseln an den hochexplosiven »Würsten« befestigen, die sich durch die Fässer wanden und zum richtigen Zeitpunkt für ihre Detonation sorgten.
Nachdem das erledigt war, würde es wie folgt laufen: Der Fahrer konnte von der Kabine aus über die Zündkabel die Sprengkapseln auslösen, die wiederum die großen mit Sprengstoff gefüllten Fässer entzündeten. Der Fahrer musste sich lediglich unter seinen Sitz bücken und konnte so eine Explosion auslösen, die ein großes Gebäude dem Erdboden gleichmachen und eine gewaltige Detonationswelle durch das gesamte Geschäftsviertel schicken würde.
Jetzt war es an der Zeit, Lastwagen Nummer zwei auf gleiche Weise zu präparieren.
Manning, der die Vorbereitung des ersten Wagens über Stunden hinweg mit Spannung verfolgt hatte, stieß sich vom Balkongeländer ab. Es war aufregend, kein Zweifel. Endlich passierte es. Aber seine gute Stimmung wurde getrübt durch eine neu aufgetauchte Gefahr.
Sie hatten diese Aktion über achtzehn Monate hinweg geplant, Männer aus Untergrund-Hass-Gruppen sorgfältig ausgewählt und rekrutiert, das notwendige Material beschafft, die Operation immer wieder geprobt, und alles, ohne auch nur im Mindesten die Aufmerksamkeit der Außenwelt zu wecken – einmal abgesehen von dieser Anwaltsgehilfin Rubinkowski, die ihrem Chef ein paar kritische Fragen über Ammoniumnitrat und Nitromethan gestellt hatte. Aber dieses Problem war rasch gelöst worden. Sie hatten die Beseitigung dieser Frau den Capparellis übertragen, die das mit Bravour erledigt hatten. Nicht nur hatte man sie nicht geschnappt, es wurde auch noch jemand anders für den Mord belangt. Ein Armeeveteran, was wirklich bedauerlich war, aber das Leben war nun einmal nicht perfekt.
Von diesem kleinen Missgeschick einmal abgesehen war jedenfalls alles erstaunlich glattgegangen.
Doch jetzt, nur ein Woche vor dem großen Tag – das. Dieser Anwalt Kolarich. Es hatte mit seinen Fragen begonnen und er war damit der Wahrheit so nahe gekommen wie niemand zuvor.
Und jetzt waren seine beiden besten Männer, Cahill und Dwyer, die den Anwalt hätten beseitigen sollen, wegen illegalem Waffenbesitz in Haft. Natürlich hatte Manning das nötige Geld, um für Kautionsforderungen jedweder Höhe aufzukommen; und er hatte Leute, die man nicht mit ihm in Verbindung bringen konnte, um diese Kaution zu stellen. Aber die Kautionsanhörung war schlecht gelaufen. Beide Männer waren Mitglieder der White Aryan Nation gewesen, und dieser Hintergrund, in Verbindung mit Sturmgewehren, Messern und einem Leichensack – Jesus, warum in aller Welt ein Leichensack! – hatte den Richter nachdenklich gestimmt. Der Kautionsantrag war abgelehnt worden. Cahill und Dwyer würden bis zu ihrem Prozess in Haft bleiben müssen.
Seine beiden besten Männer – die Männer, die er für den kritischsten Teil der Aktion und zugleich ihr Herzstück auserkoren hatte – waren jetzt ausgeschaltet.
Manning und Stanley Keane zogen sich in den Konferenzraum zurück, um ungestört zu sein. Sie gingen langsam und stockend, niedergedrückt von der Verantwortung und dem, was kommen würde.
»Wie stehen die Chancen, dass Cahill und Dwyer uns verraten?«, fragte Stanley, sobald sie die Tür hinter sich geschlossen hatten.
Manning zuckte mit den Achseln. Im Lauf der Zeit hatte er gelernt, dass menschliches Verhalten nur schwer vorhersehbar war. Dem Anwalt zufolge, den er für die beiden angeheuert hatte, würden sie bald den Bundesbehörden übergeben, die Waffenvergehen mit bis zu zehn Jahren ahndeten. Wozu wären die beiden bereit, um sich einen Teil der Zeit oder sogar die gesamte Strafe zu ersparen?
»Bei Cahill kann ich es mir kaum vorstellen«, sagte Manning. »Bei Dwyer finde ich es schon schwerer einzuschätzen.«
Er blickte zu dem Diagramm an der Wand. Darauf war das Geschäftsviertel der Stadt abgebildet, inklusive der Regierungsgebäude nördlich des Flusses. Fuhr man über die Lerner Street Bridge, befand sich drei Blocks vom Fluss entfernt das Federal Building, in dem das FBI, die Bundesstaatsanwaltschaft und die Bundesrichter residierten. Nur einen Block nordwestlich davon erhob sich das State Building, in dem sämtliche bundesstaatlichen Behörden untergebracht waren, die Büros des Gouverneurs, des Justizministers, des Staatssekretärs und vieler anderer.
Und was das Ganze noch besser machte: Das Gebäude der Bezirksverwaltung mit seinen Dutzenden von Bezirksbehörden und Gerichtssälen lag direkt gegenüber dem State Building. Verband man all diese Gebäude auf der Karte mit einer Linie, bildete diese eine Art unregelmäßige Sieben. Die Städteplaner des frühen 19. Jahrhunderts, die diese Stadt am Reißbrett entworfen hatten, hatten nicht an Terrorangriffe gedacht. Sie hatten noch keine Vorstellung gehabt von Bomben wie der, an der sie gerade bauten.
Die von Gouverneur Trotter, US-Senator Donsbrook und Bürgermeister Champion angeführte Pearl-Harbor-Day-Parade würde gegen 12.45 Uhr das Federal Building erreichen, vor dem anschließend die Gedenkfeier abgehalten wurde. Genau in diesem Moment würden die beiden Trucks zuschlagen. Einer am Federal Buidling, der andere am State Building. Die Auswirkungen der Explosion würden in der ganzen Innenstadt zu spüren sein, aber besonders an den Regierungsgebäuden. Wenn der Schlag richtig getimed war – und das Team hatte endlose Stunden und Tage auf genau diesen Punkt verwandt –, würden beide Explosionen synchron erfolgen.
Tausende von Menschen würden sterben, unter anderem die wichtigsten Politiker der Stadt, des Landes und zwei US-Senatoren. Das Murrah Building in Oklahoma City würde sich im Vergleich dazu ausnehmen, als hätten Kinder ein paar Feuerwerkskörper darauf geworfen. Selbst der 11. September würde durch die Zahl der zu erwartenden Todesopfer in den Schatten gestellt.
Endlich wäre die Aufmerksamkeit der Regierung geweckt.
»Wir kommen da nicht unbeschadet raus, oder?«, fragte Keane.
Manning musterte ihn einen Augenblick. Diese Frage hätte auf kalte Füße hindeuten können, aber bei Keane schien ihm das unwahrscheinlich. McCabe hatte sich als schwach erwiesen, und auch Keane hatte seine Fehler, aber mangelnde Loyalität gehörte nicht dazu.
»Ich weiß nicht, was Kolarich vor dem siebten Dezember noch alles herausfindet«, sagte er. »Aber ich kann es mir nicht leisten, einen weiteren Mann auf ihn anzusetzen.«
»Und jetzt haben sie auch noch Cahill und Dwyer«, bemerkte Keane. »Cahill ist einer Ihrer Angestellten. Sie werden ihn in die Mangel nehmen, als wären sie in Guantánamo Bay.«
Manning hatte das auch schon erwogen. »Sie werden seine Spur zu mir zurückverfolgen. Nicht notwendigerweise zu Ihnen, Stan. Was haben Sie denn schon groß getan? Ihre Firma hat Summerset Farms Nitromethan verkauft. Das ist kein Verbrechen, und es gibt keinerlei Beweise, dass Sie an dieser Operation beteiligt waren.«
»Da sind noch unsere Männer«, sagte Stanley. »Nicht nur Cahill und Dwyer, sondern auch die sechs da unten. Sind Sie sicher, dass sie schweigen werden?«
Manning musterte ihn herablassend. »Glauben Sie tatsächlich, diese Männer werden heil da rauskommen? Sie werden es nicht überleben, Stanley. Nach außen hin verhalten sie sich wie Soldaten, die sich eines gewissen Risikos bewusst sind und es akzeptieren. Aber tief drinnen wissen sie sehr wohl, dass ihre Chancen äußerst schlecht stehen. Sie haben schon verdammtes Glück, wenn sie es bis in die U-Bahn-Tunnel schaffen. Und noch mehr Glück, wenn die Tunnel nicht implodieren.«
Keane schwieg. Eigentlich hätte das keine große Überraschung für ihn sein dürfen.
Manning legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich hatte gehofft, diesen Kampf auch nach dem siebten Dezember fortsetzen zu können«, sagte er. »Doch das wird mir verwehrt bleiben. Nun hoffe ich, Sie werden dazu imstande sein. Niemand wird unsere geheimen Lager finden. Es ist noch ausreichend Material für mehr siebte Dezember vorhanden.« Er nickte Stanley zu. »Halten Sie sich an diesem Tag vom Schauplatz fern. Gehen Sie zur Arbeit. Was auch immer. Stellen Sie einfach nur sicher, dass Sie nicht in der Innenstadt sind. Ich zähle darauf, dass Sie die Fackel weitertragen.«
Keane nickte würdevoll. Die beiden Männer schüttelten sich die Hände. Angesichts der Gefahr, die der Operation durch Kolarich drohte, und jetzt auch noch durch Cahill und Dwyer, waren die Trucks in der Kuppelhalle und auf dem gesamten Gelände nicht mehr sicher. Heute Nacht würden sich die Teams zerstreuen und vorher vereinbarte, abgelegene Ziele ansteuern. Ab jetzt würden die Teams nicht mehr untereinander kommunizieren. Sie würden abtauchen und sich auf den Anschlag vorbereiten.
Manning und Keane würden sich nie wiedersehen.
»Gottes Segen, Stan«, sagte Manning und legte seine zweite Hand über die Keanes. »Und vergessen Sie nicht, wofür wir das alles tun. Was auch immer geschieht, wanken Sie nicht im Angesicht von Zweiflern. Wir ändern den Kurs dieser Nation, mein Freund – Sie, ich und die sechs Märtyrer dort unten.«
Manning schritt zur Tür des Konferenzraums und blickte noch einmal kurz zu Stanley Keane zurück, dann war er verschwunden.
68
Ich saß auf meinem Hotelbett und ging meine Notizen zu den Zeugen der Anklage durch, die morgen, am ersten Tag des Prozesses, aufgerufen werden würden. Üblicherweise skizzierte ich meine Kreuzverhöre nur stichpunktartig. Sobald ich mir ausformulierte Fragen notierte, klebte ich zu sehr daran. Abgesehen davon wartete keine allzu schwierige Aufgabe auf mich. Gegen die Beweisführung der Anklage konnte ich ohnehin nicht allzu viel ausrichten. Der Polizeibeamte, der als Erster am Tatort war, der Rechtsmediziner, der Ballistikexperte, der ermittelnde Detective – das waren vermutlich die einzigen vier Zeugen, die Wendy Kotowski aufrufen würde. Mehr brauchte sie auch nicht, bevor sie mir das Feld überließ.
Es war ein Indizienprozess. Aber er stand auf ziemlich soliden Füßen. Tom war mit der Mordwaffe und den persönlichen Habseligkeiten des Opfers aufgegriffen worden. Er war vor der Polizei geflohen, auch wenn die Gründe dafür vor Gericht leicht zu erklären waren. Er hatte zugegeben, dass die Waffe ihm gehörte, und er hatte, zumindest aus Sicht der Strafverfolger, den Mord gestanden. Außerdem lag sein Unterschlupf in Franzen Park ganz in der Nähe des Tatorts.
Was ihre Beweisführung zusätzlich stützte, war die fehlende Verteidigung. Mein Mandant würde den Mord an Kathy Rubinkowski nicht abstreiten, und ich konnte seinen Gedächtnisverlust nicht mit einer posttraumatischen Belastungsstörung erklären, weil der Richter es mir untersagt hatte.
Himmel, mit dieser Entscheidung hatte der Richter mir richtig eins reingewürgt. Natürlich war der Beschluss nicht unrechtmäßig, trotzdem hatte Nash in meinen Augen einen Fehler begangen. Und ich war mir sicher, das Berufungsgericht würde einen gründlichen Blick darauf werfen. Aber kein Prozessanwalt verdiente sein Geld damit, dass er auf die Aufhebung einer Verurteilung wegen Mordes spekuliert.
Ich sprang von meinem Bett auf, als es an der Tür klopfte. Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr, und ich hatte keinen Zimmerservice bestellt. Mit einem raschen Griff in den Nachttisch zog ich meine Waffe heraus. Dann ging ich hinüber zur Tür.
Ich stellte mich neben den Türrahmen und rief: »Hallo?«
»Zimmerservice«, sagte die entzückende Stimme einer Frau.
Die Stimme kam mir ziemlich vertraut vor, auch wenn sie verstellt war, trotzdem warf ich einen Blick durch den Türspion.
Ich öffnete die Tür. Tori trug diesen wundervollen weißen Mantel und, ja, ein weiteres Paar kniehoher Stiefel.
»Hallo, Ms. Martin.«
Sie hob die Hände, als würde sie sich ergeben. »Bitte erschießen Sie mich nicht. Ich komme in friedlicher Absicht.«
»Das werden wir ja sehen«, sagte ich und legte die Pistole zurück in den Nachttisch.
»Nette Bude«, log sie. Ein Zimmer plus Bad, beschissene Aussicht und abblätternde Tapeten.
Bradley war in einem Hotel einen Block entfernt untergebracht. Er hatte eine Suite, und sein Leibwächter schlief auf der Couch. Shauna hatte ebenfalls eine Suite, aber mit einer abschließbaren Tür zwischen ihr und dem Bodyguard. Ich selbst hauste in diesem schäbigen Zimmer, aber andererseits hatte ich schon an schlimmeren Orten genächtigt, etwa in dem Haus, in dem ich aufgewachsen war.
Ich hatte Tori dasselbe Angebot gemacht wie Bradley und Shauna – ein Hotel und einen Bodyguard –, doch sie hatte abgelehnt, weil ihr Apartment sehr sicher war. Außerdem, so hatte sie angemerkt, konnte ich ihr nicht damit drohen, sie ansonsten von dem Fall abzuziehen, da ich sie niemals richtig eingestellt hatte.
Seit Tori sich geöffnet und meinem unwiderstehlichen Charme nachgegeben hatte, war unsere Beziehung ziemlich merkwürdig geworden. Sie half mir immer noch bei dem Fall, aber da war wieder diese innere Distanz. Ich spürte bei ihr eine Art Reue oder Angst oder beides.
Sie stand neben dem Bett – in diesem Raum war es schwer, irgendwo anders zu stehen als neben dem Bett – und wirkte ein wenig unbeholfen, während sie ihre Gedanken sammelte. »Ich wollte … etwas sagen«, sagte sie.
»Schieß los.«
Sie trat zu mir, nahm mein Gesicht zwischen ihre Hände und drückte mir einen warmen Kuss auf die Lippen. Es begann als etwas Flüchtiges, aber dann vertiefte es sich, unsere Lippen teilten sich, wir fuhren uns mit den Fingern durchs Haar und zerrten an unseren Kleidern. Ich trug nur ein T-Shirt und Boxershorts, bei ihr war etwas mehr Arbeit erforderlich. Wie bereits erwähnt, genieße ich den Teil mit dem Entblättern normalerweise sehr, aber diesmal schienen die Kleider nur hinderlich. Ich hob Tori aufs Bett, zog ihr das Höschen herunter und verschwendete kaum Zeit darauf, jede wunderbare Vertiefung und Erhebung ihres Körpers zu erforschen.
Ich wette, es waren die besten sieben Minuten ihres Lebens.
Danach schnappten wir nach Luft, starrten an die Decke, und ihr Kopf war auf meiner Brust gebettet. Der Beerenduft ihres Haars weckte Erinnerungen in mir, die ich nicht einordnen konnte, aber es waren glückliche Erinnerungen. Ihr Körper an meinem fühlte sich an wie eine elektrische Heizdecke.
»Bitte nicht wieder weinen«, sagte ich.
Sie lachte. »Ich hab mich komisch verhalten. Was mir durchaus bewusst ist, falls du dich das gefragt hast. Mir ist nicht ganz klar, wie ich damit umgehen soll. Ich möchte einfach vorsichtig sein. Eigentlich bin ich nur gekommen, um dir das zu sagen. Mir ist klar, dass morgen etwas sehr Wichtiges beginnt und du dich konzentrieren musst.«
»Die Konzentration ist nicht mein Problem«, sagte ich. »Es ist der Mangel an Beweisen. Und die fehlende Zeit.«
Sie drehte sich so, dass sie mich anschauen konnte, das Kinn in die Hände gestützt. »Willst du, dass ich bleibe?«
Ich blickte sie an. »Ja, das möchte ich sehr gerne, Tori. Wie du vielleicht schon bemerkt hast, habe ich weniger Zweifel an unserer Beziehung als du.«
Sie nahm das zur Kenntnis, ohne es zu kommentieren.
»Okay, okay«, versicherte ich ihr. »Das soll dir jetzt keinen Druck machen.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Glücksgefühle schienen sie merkwürdig zu berühren, aber ich hatte den Eindruck, dass sie sich langsam mit ihnen anfreundete. »Willst du was beim Zimmerservice bestellen? Und mir ein bisschen von deinen Ideen erzählen? Mir macht das immer Spaß.«
Es machte tatsächlich Spaß. Es war schon immer das Beste an diesem Fall gewesen, und das nicht nur, weil ich mich unwiderstehlich zu ihr hingezogen fühlte. In Wahrheit hatte sie mir mit ihren Kommentaren und Ideen enorm weitergeholfen.
In Wahrheit hatte ich begonnen, diese Frau sehr nahe an mich heranzulassen.
69
» Kathy Rubinkowski war eine dreiundzwanzigjährige Collegeabgängerin, deren Ziel es war, einmal in der wissenschaftlichen Forschung tätig zu sein. Das war ihr großer Traum. Und während sie tagsüber als Anwaltsgehilfin in einer Kanzlei arbeitete, besuchte sie abends die Universität, um ihren Master zu machen. Sie war wie viele andere junge Menschen in unserer Stadt – ehrgeizig, entschlossen, ohne Scheu vor harter Arbeit. Sie verfolgte ihre Version des amerikanischen Traums.«
Wendy Kotowski trug ein einfaches graues Kostüm. Sie begann ihr Eröffnungsplädoyer vor der Jury mit langsamen Worten und der üblichen Mischung aus neun Teilen klinischer Faktensprache und einem Teil Emotion und Empörung. Sie wollte die Jury spüren lassen, dass ihr das Schicksal von Kathy Rubinkowski naheging, doch davon abgesehen sollte sich die Aufmerksamkeit nicht auf sie konzentrieren – die Fakten sollten im Mittelpunkt stehen.
»Der dreizehnte Januar dieses Jahres sollte eigentlich ein Tag wie jeder andere werden. Kathy erwachte an diesem Morgen in ihrem Apartment in Franzen Park, an der Kreuzung der Gehringer mit der Mulligan Street. Sie fuhr zur Arbeit in die Kanzlei in der Innenstadt und blieb dort bis etwa halb sechs Uhr abends. Anschließend besuchte sie von sechs bis zehn ihre Vorlesung in organischer Chemie an der Abendschule.
Sie fuhr nach Hause und parkte ihren Wagen etwa gegen elf Uhr an diesem Abend. Wir werden nie erfahren, was sie für den Rest des Abends geplant hatte. Vielleicht wollte sie noch lernen. Vielleicht wollte sie sich ein wenig vor dem Fernseher entspannen. Vielleicht wollte sie einfach nur schlafen gehen. Oder vielleicht dachte sie auch an den nächsten Tag, ihren vierundzwanzigsten Geburtstag, und an ihre gemeinsamen Pläne mit Freunden.
Aber wie gesagt, wir werden es nie erfahren. Weil sie ihren vierundzwanzigsten Geburtstag nie erlebte. Weil sie ihr Apartment nie wieder betrat. Ja, weil sie es kaum mehr schaffte, ihre Tasche aus dem Kofferraum ihres Wagens zu holen. Denn am dreizehnten Januar, etwa gegen dreiundzwanzig Uhr, wurde Kathy Rubinkowski von diesem Mann hier angesprochen, dem Angeklagten Thomas Stoller.«
Wendy deutet auf Tom, der neben mir saß. Seine Tante Deidre hatte ihm in einem Secondhandladen einen halbwegs passenden Anzug gekauft, und ich hatte eine Krawatte beigesteuert, die ich schon zehn Jahre nicht mehr getragen hatte. Ich wollte, dass er ordentlich aussah und dem formalen Prozedere gegenüber nicht respektlos wirkte, doch sollte er auf keinen Fall übermäßig gelackt oder zugeknöpft rüberkommen. Es war eine der vielen Finessen im Gerichtssaal. Die Jury gewann aufgrund von Toms Erscheinung einen ersten und vielleicht dauerhaften Eindruck von ihm, der in keinem Zusammenhang mit der Realität stand.
»Der Angeklagte hat Kathy Rubinkowski in der dunklen, verlassenen Straße ausgeraubt«, sagte Wendy. »Der Angeklagte hat ihr die Handtasche abgenommen. Er hat ihr die Halskette abgenommen. Er hat ihr das Handy abgenommen. Und er hat ihr noch etwas genommen, das weitaus wertvoller war. Er hat ihr das Leben genommen. Er hat ihr in den Kopf geschossen. Er hat dieser wehrlosen Frau genau zwischen die Augen geschossen.«
Bei diesen letzten Sätzen zuckten die meisten Geschworenen zusammen oder zeigten anderweitige Reaktionen. Wendy hatte die Botschaft gut rübergebracht und auf die maximale Wirkung abgezielt. Ich an ihrer Stelle hätte womöglich sogar gesagt: Er schoss ihr mitten ins Gesicht, was noch schlimmer klang. Aber Wendy hatte schon immer das Understatement bevorzugt.
Ich achtete sorgfältig auf ihre Wortwahl. Er nahm ihre Handtasche, ihre Halskette, ihre Handy, ihr Leben. Ohne eine detaillierte Abfolge der Ereignisse zu schildern, gelang es ihr damit zu implizieren, dass zuerst der Raub erfolgt war und dann der Mord. Sie legte sich auf keine explizite Theorie fest. Ich wusste, was sie dachte – dass Tom sein Opfer zuerst getötet und dann beraubt hatte. Die Indizien sprachen dafür. Aber diese Theorie konnte sie in Schwierigkeiten bringen, und da sie das offensichtlich wusste, blieb sie im Moment mit ihren Ausführungen im Allgemeinen.
Wendy schilderte die Fakten, die ihre Theorie stützten. Die Mordwaffe wurde bei Tom gefunden, ebenso die anderen Dinge: ihre Handtasche, ihr Handy, ihre Kette mit der zerrissenen Schließe, die man ihr offenkundig vom Hals gerissen hatte. Wendy brachte alle Punkte einzeln vor, als würde jeder Gegenstand Tom noch tiefer hineinreiten. Ich dagegen würde das der Jury als Gesamtpaket vorführen – wenn dann ein Glied riss, war die ganze Kette unbrauchbar.
Sie beendete ihr Eröffnungsplädoyer nach zwanzig Minuten. Es war eine einfache und ziemlich direkte Beweisführung.
»Sie hat das Geständnis nicht erwähnt«, sagte Shauna.
Richtig. Das hob sie sich auf. Sie blieb bescheiden und behielt ihre Trümpfe auf der Hand. Das war Wendys Stil. Es sollte vermutlich eine nette Überraschung werden.
Der Richter bedeutete mir, dass ich nun Gelegenheit hätte, mein Eröffnungsplädoyer vorzutragen. Ich hatte bereits signalisiert, dass ich dieses bis zur eigentlichen Beweisführung der Verteidigung verschieben würde, um meinerseits das Überraschungsmoment zu wahren. Ich hatte Sergeant Hilton als Zeugen verloren, hatte jedoch eine Idee, wie ich möglicherweise meinen Experten, Dr. Sofian Baraniq, einsetzen konnte. Es war ein Glücksspiel, aber es war alles, was ich hatte.
»Ich möchte mein Eröffnungsplädoyer verschieben«, erklärte ich laut. Unter den gegebenen Umständen war es wohl das Geschickteste, was ich tun konnte.
Ich schaute mich kurz um. Ich fing Tante Deidres Blick auf, aber nach ihr hatte ich nicht gesucht. In der letzten Sitzreihe des Gerichtssaals entdeckte ich ihn schließlich: Special Agent Lee Tucker vom FBI.
»Euer Ehren, wäre es wohl möglich, eine kurze Pause zu machen?«, sagte ich. Wir hatten heute spät begonnen, und es war kurz vor elf, also würde er sie mir höchstwahrscheinlich verweigern. Lee würde warten müssen.
»Versuchen wir es vor der Mittagspause noch mit einem Zeugen«, sagte der Richter. »Ms. Kotowski?«
Wendy Kotowski erhob sich.
»Der Staat ruft Officer Francis Crespo in den Zeugenstand«, sagte sie.
70
Officer Francis Crespo stand seit zehn Jahren im Dienst der städtischen Polizei. Er war gebaut wie ein Kühlschrank, hatte dunkle Haut und einen Schnurbart. Er war einer der Streifenbeamten, die gerade in der Gegend waren, als die Nachricht von dem tödlichen Schuss auf der Gehringer Street einging.
»Wir waren nicht die Ersten am Tatort«, erklärte er. »Aber wir bekamen den Zuschlag, als über Funk durchgegeben wurde, dass ein Obdachloser mit einer Pistole durch Franzen Park rennt.«
»Sie ›bekamen den Zuschlag‹?«, fragte Wendy.
»Wir wurden vom diensthabenden Detective angewiesen, dem nachzugehen. Mein Streifenwagen und der von Officer Downing. Wagen achtzehn und dreiundzwanzig.«
»Fahren Sie fort, Officer.«
»Mein Partner und ich fuhren mit unserem Wagen Richtung Franzen Park.«
»Warum im Wagen?«, fragte Wendy. »Lag der Park nicht lediglich einen Block entfernt?«
»Das ist korrekt, Ma’am, aber es ist ein ziemlich lang gestreckter Block. Das nordöstliche Ende des Parks lag einen halben Kilometer entfernt. Daher erschien es sinnvoll, zu fahren, auch um vor Ort mobil zu sein.«
»Das ist verständlich, Officer. Wo fuhren Sie hin?«
»Officer Downings Wagen übernahm das Südende des Parks und ich und mein Partner den Norden. Als wir hinter dem Gebäude der Parkverwaltung nachsahen, stießen wir zwischen zwei Müllcontainern auf eine Person. Er hatte …«
»Entschuldigen Sie, Officer. Ist diese Person heute hier im Gericht anwesend?«
» Das ist korrekt, Ma’am. Es war der Angeklagte, der dort sitzt.«
Er deutete auf Tom.
»Identifikation auf Verlangen«, sagte ich.
»Fahren Sie fort, Officer.«
»Er – der Angeklagte hatte eine Handtasche auf dem Schoß und durchwühlte sie. Ich leuchtete ihn mit meiner Maglite – meiner Taschenlampe – direkt an und gab mich als Polizist zu erkennen. Im Gras links neben ihm entdeckte ich eine Pistole. Eine Glock. Daraufhin zogen meine Partnerin und ich unsere Waffen. Ich befahl der Person, die Hände zu heben, sodass ich sie sehen konnte.«
»Seine Hände steckten in der Tasche?«
»Das ist korrekt.«
»Was tat er, als Sie ihn aufforderten, die Hände zu heben?«
»Zuerst gar nichts. Ich wiederholte den Befehl. Er reagierte nicht.«
»Aber dann …«
»Dann zog er eine Hand heraus und starrte in den Lichtkegel der Taschenlampe. Seine Waffe lag links von ihm, also bestand kaum die Gefahr, dass er danach greifen würde.«
Er versuchte, sich in diesem Punkt zu rechtfertigen.
»Und dann griff er mit einer einzigen schnellen Bewegung nach einer Holzlatte und schleuderte sie nach mir. Es war eine Art Bumerangwurf. Die Latte traf mich an der Brust und schlug mir die Taschenlampe aus der Hand.«
»Und was geschah dann?«
»Ich stolperte rückwärts, Ma’am, und da meine Partnerin mich gerade von hinten umrundete, stürzte ich auf sie.«
»Und der Angeklagte flüchtete zu Fuß«, kam Wendy ihm zu Hilfe.
»Das ist korrekt, Ma’am. Das Ganze ist mir unangenehm. Aber er entkam. Er rannte nach Westen, und wir verfolgten ihn. Er sprang über einen Zaun und rannte auf der Gehringer Street etwa drei Blocks nach Norden. Wir riefen über Funk Verstärkung, und zwei Streifenwagen schnitten ihm den Weg ab.«
»Und dann?«
»Der Verdächtige – der Angeklagte – fiel auf die Knie und legte die Hände hinter den Kopf.«
»Sie haben ihn festgenommen.«
»Das ist korrekt, Ma’am.«
Wendy befragte den Officer zur Sicherstellung der Beweisstücke – Mordwaffe, Handtasche, Halskette und Uhr. Außerdem hatten die Beamten im Park die Stelle gefunden, wo Tom hauste. Abschließend ließ Wendy den Beamten noch den Vorgang der Abgabe der Beweisstücke auf dem Polizeirevier schildern.
Um Viertel vor zwölf war die Zeugenbefragung abgeschlossen. Ich wollte unbedingt mit Lee Tucker sprechen und hoffte, der Richter würde sich in die Mittagspause zurückziehen.
»Kreuzverhör, Mr. Kolarich?«, fragte er.
»Damit würden wir die Zeit überziehen, Euer Ehren.«
»Kreuzverhör, Mr. Kolarich?«, wiederholte er.
Ich erhob mich. Ein stechender Schmerz durchzuckte mein Knie. Ich gehe beim Kreuzverhör gerne im Gerichtssaal auf und ab, was heute jedoch recht schmerzhaft würde.
»Officer, nach der Verhaftung entdeckten Sie bei Ihrer Suche im Park die Stelle, an der sich mein Mandant eine notdürftige Behausung eingerichtet hatte. Mit Decken, Lebensmitteln in Dosen und dergleichen.«
»Korrekt, Sir.«
»Und dieser Platz lag in der südwestlichen Ecke des Park, richtig?«
»Das ist richtig.«
»Sie lag direkt an den Zäunen? An der Ecke, wo der südliche auf den westlichen Zaun stößt?«
»Ja, Sir.«
»Die Ecke, die dem Tatort am nächsten liegt.«
»Das … das trifft wohl zu, Sir.«
Ich blickte zur Jury. »Weniger als einen Block vom Tatort entfernt.«
»Korrekt.«
Dieser Umstand war ein zweischneidiges Schwert. Einerseits machte er ein Gelegenheitsverbrechen wahrscheinlicher. Tom war in seinem Unterschlupf, bemerkte die Frau und raubte sie aus. Andererseits unterstützte diese Tatsache auch meine eigene Theorie.
»Jemand, der vom Tatort zur südwestlichen Parkecke läuft – oder besser joggt –, bräuchte für den Weg nur ein paar Sekunden, richtig? Weniger als eine Minute?«
Officer Crespo dachte kurz darüber nach. »Vermutlich nicht mehr als eine Minute.«
»Jemand konnte also, nachdem er Kathy Rubinkowski ermordet und ausgeraubt hatte, in weniger als einer Minute ihre Habseligkeiten und die Mordwaffe über den Zaun und in Tom Stollers Schoß werfen.«
»Einspruch.« Wendy Kotowski war aufgesprungen. »Aufforderung zur Spekulation.«
Der Richter setzte seine Brille ab und putzte sie mit einem Tuch. »Der Zeuge ist gehalten zu antworten.«
Das kam überraschend. Ich persönlich hätte dem Einspruch stattgegeben. Aber Richter Nash war nicht wie die meisten Richter.
»Vermutlich wäre das möglich gewesen«, sagte Crespo. »Aber es bedeutet gleichzeitig, der Angeklagte konnte das Opfer innerhalb von Sekunden erreichen, es töten und ausrauben.«
»Ich bin froh, dass Sie das aufbringen«, sagte ich. Ein Satz, den ich üblicherweise sage, wenn ich nicht froh bin, dass jemand etwas aufbringt. Damit will ich den kleinen Schockmoment überspielen, den Eindruck abmildern, die andere Seite habe einen Treffer erzielt, und wenn ich dann mit meinen anschließenden Ausführungen am Ende bin, hat die Jury diesen Augenblick hoffentlich vergessen.
Nur war ich diesmal wirklich froh. »Der Park liegt nördlich vom Tatort, richtig?«
»Richtig.«
»Und Kathy Rubinkowskis Mörder hat sie aus südlicher Richtung erschossen. Er stand südlich von Kathy, als er abdrückte, richtig?«
»Einspruch«, sagte Wendy. »Diese Annahme ist noch nicht bewiesen.«
Ich schlackerte mit den Armen. »Euer Ehren, ich glaube nicht, dass irgendjemand diesen Umstand bezweifelt. Kathy Rubinkowski stand nach Süden gewandt, als sie frontal von einer Kugel getroffen wurde. Ihr Mörder muss also südlich von ihr gestanden haben. Die Anklage wird das später selbst ausführen, und ich werde dem nicht widersprechen. Muss ich deswegen wirklich eigens den Zeugen aufrufen, oder können wir in diesem Punkt übereinkommen?«
Dem Richter gefiel meine Idee. »Ms. Kotowski?«
»Einverstanden, einigen wir uns darauf«, sagte sie.
»Verzichten wir auf eine schriftliche Übereinkunft zugunsten einer mündlichen Aussage?«, fragte der Richter. Wird eine Übereinkunft nicht durch eine Zeugenaussage bestätigt, muss sie der Jury in Schriftform ausgehändigt werden. Der Richter schlug vor, dieses Prozedere durch eine Bestätigung der Anklage zu vermeiden.
»Absolut, Herr Richter«, sagte sie.
Ich stimmte ebenfalls zu. Dann wandte ich mich wieder an den Officer. Nach dieser Unterbrechung musste ich neuen Schwung holen. »Officer, sofern Ihre Aussage zutrifft, müsste mein Mandant, nachdem er seinen Unterschlupf im Park verlassen hatte, also zunächst in südlicher Richtung an dem Opfer vorbeigelaufen sein, um dann in nördlicher Richtung zurückzukehren und es zu erschießen. Ist das richtig?«
»Nun, vielleicht hat er sich zunächst um sie herumgeschlichen und beobachtet, ob sie wirklich ein leichtes Opfer war. Und als er das bestätigt fand, kam er zurück und griff sie an.«
Das war eine ziemlich gute Antwort. Vielleicht hätte ich diesen Kurs besser nicht eingeschlagen. Aber es war immer noch Zeit, aus sauren Zitronen süße Limonade zu machen.
»Das würde aber wohl Vorausdenken erfordern? Ein gewisses Maß an Planung?«
Er kicherte. »Nicht allzu viel.«
Er hatte recht. Er war ein würdigerer Gegner als erwartet. Trotzdem, die Limonade war in Reichweite. »Also, Ihrer Theorie nach raubt er sie aus und läuft dann in Richtung Süden – entfernt sich demnach vom Park –, bevor er sich umdreht und sie erschießt?«
Normalerweise probiere ich bei einem Zeugen nicht einfach spontane Ideen aus – bei einem guten Kreuzverhör geht es um Kontrolle, man will ein klares Ja oder Nein als Antwort, und kennt die Erwiderungen bereits, bevor sie gegeben werden –, aber in diesem Fall konnte ich nur darauf abzielen, dass die Anklage selbst den genauen Ablauf der Tat nicht kannte. Also war ich bereit, diesen Punkt den ganzen Tag immer wieder durchzukauen, solange Wendy keinen Einspruch erhob.
Doch das tat sie. Sie sprang auf. »Das führt jetzt aber deutlich zu weit«, sagte sie. »Das ist reine Spekulation, die jeglicher Grundlage entbehrt, und wir sind zu keiner Übereinkunft bereit.«
»Herr Richter«, sagte ich, »behauptet die Anklage nun, das Opfer wurde erst erschossen und dann ausgeraubt oder erst ausgeraubt und dann erschossen? Wenn die Staatsanwaltschaft sich bitte auf einen genauen Tathergang festlegen könnte, dann könnte ich meine Frage dementsprechend stellen. Andernfalls muss ich davon ausgehen – und bin da auch zu einer Übereinkunft bereit –, dass die Theorie der Anklage absolut spekulativ ist.«
»Euer Ehren, das ist lächerlich …«
Der Richter hob eine Hand. »Dem Einspruch wird stattgegeben. Meine Damen und Herren der Jury, bitte betrachten Sie Mr. Kolarichs Ansprache an Sie als gegenstandslos. Die Schlussplädoyers werden erst in ein paar Tagen gehalten. Fahren Sie fort, Herr Anwalt.«
»Ja, Euer Ehren. Nur noch ein paar kurze Fragen. Officer, sie haben Tom zugerufen, er solle die Hände aus der Handtasche nehmen, richtig? Sie haben sich als Polizeibeamter zu erkennen gegeben und ihn angewiesen, die Hände zu zeigen, stimmt das?«
»Das ist korrekt.«
»Aber er hat nicht darauf reagiert, oder?«
»Nein.«
»Ich gehe davon aus, dass ihr Stimme laut und befehlend war?«
»Das will ich doch hoffen.«
»Richtig, denn wenn Sie Befehle erteilen, ist es wichtig, dass man Sie ernst nimmt.«
»Korrekt.«
»Also? Er hat nicht auf Ihren unmissverständlichen Befehl reagiert?«
»Nein, hat er nicht.«
»Und dann haben Sie die Aufforderung wiederholt, richtig?«
»Ich … ja, ein zweites Mal.«
»Und wieder hat er in keiner Weise reagiert?«
»Einspruch, mangelnde Relevanz«, sagte Wendy. »Ich beantrage eine Unterredung mit dem Richter unter Ausschluss der Jury.«
Sie wusste, worauf ich hinauswollte. Ich stellte Tom als geistig krank dar, in seiner eigenen kleinen Welt abgeschottet, gleichgültig gegenüber den Rufen eines sich nähernden Polizisten.
»Ich denke, der Zug ist bereits abgefahren, Ms. Kotowski«, sagte der Richter, bevor Wendy ihre Unterredung bekam. Womit er zum Ausdruck brachte, dass ich bereits zwei Antworten zu diesem Thema erhalten hatte. Sie hatte ihre Chance verpasst. »Abgelehnt.«
»Officer? Auch beim zweiten Mal war Tom also nicht ansprechbar?« Jetzt, da ich freie Bahn hatte, verwendete ich einen mehr klinisch gefärbten Terminus, der Tom annähernd komatös erscheinen ließ.
»Das ist korrekt.«
Ich beendete das Kreuzverhör. Viel hatte ich nicht erreicht. Wendy dagegen hatte von diesem Zeugen alles bekommen, was sie brauchte, ohne dass ich seine Aussagen nennenswert hatte ankratzen können.
Staatanwaltschaft gegen Verteidigung – 1:0.
71
»Diesem Cop konnten Sie ja nicht viel anhaben.« Lee Tucker trug seinen üblichen bequemen Standardlook: blaues Sportsakko, weißes Hemd und Jeans. Er wirkte ausgemergelt und nicht sonderlich gepflegt mit seiner rauen Haut und dem langen schmutzig-blonden Haar.
Lee und ich hatten bereits in der Vergangenheit zusammengearbeitet. Er war mein vom FBI zugewiesener Führungsagent gewesen während der Ermittlungen gegen Gouverneur Snow. Das war eine lange Geschichte, und es soll dazu nur so viel gesagt sein: Im Allgemeinen kamen wir recht gut miteinander aus, hatten aber ab und zu auch unsere kleinen Reibereien.
Lee hatte eingewilligt, mich hier im Gerichtsgebäude zu treffen, und der Bezirksstaatsanwalt hatte uns für die Mittagspause ein Büro im achten Stock zur Verfügung gestellt.
Ich schilderte ihm, was ich zum augenblicklichen Zeitpunkt wusste: alles über den Mord an Kathy Rubinkowski, ihre rätselhafte Notiz und was ich über Global Harvest, Randall Manning und die assoziierten Firmen in Erfahrung gebracht hatte.
»Möglicherweise bauen diese Leute eine Bombe«, schloss ich.
Tucker gehörte nicht zur Abteilung für Terrorismusbekämpfung. Sein Fachgebiet war politische Korruption, ein beständig blühendes Geschäft in dieser Stadt. Aber er war nicht auf den Kopf gefallen und verarbeitete die Informationen rasch.
Er ging die Notizen durch, die er sich gemacht hatte. »Dieses Unternehmen liefert also Ammoniumnitratdünger an eine weitere von ihr aufgekaufte Firma. Und sie melden diese Verkäufe beim Staat und den Bundesbehörden. Das ist doch absolut legal, oder?«
»Ja. Ich glaube, dass an diesen Verkäufen etwas Ungewöhnliches ist, weil sie so heikel damit waren …«
»Klar, schon kapiert. Aber Sie wissen nicht, ob sie dieser Firma auch Nitromethan geliefert haben?«
»Nein. Ich versuche gerade, das herauszufinden.«
»Das heißt, bisher steht nur fest, dass diese Firma einer anderen Firma ganz legal ein Produkt verkauft hat.«
Ich nickte. »Dasselbe hab ich auch meinem Mitarbeiter erklärt, Lee. Ich verstehe das. Vielleicht ist das kein hinreichender Grund, um Nachforschungen …«
»Ganz bestimmt nicht.«
»Aber Sie können doch mal bei denen anklopfen, oder? Ich meine, wenn die wissen, dass Ihr Laden auf sie aufmerksam geworden ist, dann fahren die vielleicht ihre Aktivitäten runter. Und in der Zwischenzeit können wir Material für eine Anklage sammeln.«
»Wir«, sagte er. » Wir sammeln Material für eine Anklage.« Er nickte in Richtung Tür. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihnen diese Geschichte bei Ihrem aktuellen Fall helfen soll?«
»Das will ich nicht abstreiten. Ja, es würde mir helfen. Aber diese Leute bauen möglicherweise Bomben, Lee. Das geht weit über meinen Fall hinaus.«
Er nickte, wirkte jedoch immer noch skeptisch. Bei unserer letzten Begegnung hatte er wohl mitbekommen, dass ich nicht zu unterschätzen war. Vermutlich dachte er, ich wolle ihn für meinen Fall einspannen, ihn als Zeugen dafür aufrufen, dass das FBI aktiv wegen Terrorverdachts gegen Global Harvest ermittelte oder irgendwas in der Art.
»Lee, es gibt Zeiten für Späße und Zeiten, in denen Schluss mit lustig ist. Das ist eine Schluss-mit-lustig-Zeit. Diese Leute sind eine echte Bedrohung. Eine Anwaltsgehilfin und ein Anwalt sind tot. Die haben versucht, mich zu ermorden. Ich würde meine Anwaltslizenz drauf verwetten, dass die was Großes planen.«
Er dachte einen Moment nach. »Haben Sie Fotos, wie sie diese Sturmgewehre abfeuern.«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie haben mich entdeckt, bevor ich Fotos machen konnte. Ich hab’s vermasselt.«
Tucker klappte sein kleines Notizbuch zu und wedelte damit in meine Richtung.
»Okay«, sagte er. »Okay. Ich hab die Informationen.«
Ich liebe die Ausdruckweise dieser Typen. Absolut nichts preisgeben. Nicht mal ein einfaches Wir-schauen-uns-das-mal-an. Einfach nur die simple Bestätigung, dass er das Gesagte zur Kenntnis genommen hatte.
Und das lief nach meinen bisherigen Erfahrung mit dem FBI auf Folgendes hinaus: Sie würden das tun, was sie für angebracht hielten, und mich würden sie über ihr weiteres Vorgehen von Anfang bis Ende komplett im Dunkeln lassen.
Trotzdem atmete ich erleichtert aus. Ich hatte getan, was in meiner Macht stand. Ich hatte die Sache an die Experten weitergegeben. Natürlich würde ich meine eigenen Ermittlungen vorantreiben, aber das FBI hatte Ressourcen, von denen ich nur träumen konnte.
Ich war mir sicher, dass Randall Manning und Konsorten etwas im Schilde führten.
Jetzt konnte ich nur hoffen, dass mich das FBI ernst nahm.
72
Als Nächstes rief die Staatsanwaltschaft die Rechtsmedizinerin in den Zeugenstand. Dr. Mitra Agarwal arbeitete seit mehr als dreißig Jahren im Büro des County Coroners und war gegenwärtig die stellvertretende Leiterin dort. Außerdem war sie eine alte Freundin meines Mentors Paul Riley, und wir standen schon seit Jahren privat und beruflich miteinander in Kontakt. In meiner Zeit als Staatsanwalt hatte sie zweimal für mich ausgesagt. Die Geschworenen mochten sie, denn sie hatte nichts Anmaßendes oder Arrogantes. Ihr Auftreten war so schlicht und geradeheraus wie nur denkbar. Das graue Haar fiel ihr glatt auf die Schultern. Ihre inzwischen leicht faltige braune Haut war sommersprossig. Das Alter ließ sie ein wenig gebückt erscheinen, aber sie sprach noch immer mit kräftiger Stimme.
Keine Ahnung, warum sie diesen Fall übernommen hatte, vermutlich hatte sie gerade Dienst, als Kathy Rubinkowskis Leiche hereingerollt wurde. Als stellvertretende Chefin hätte sie keine Autopsien mehr durchführen müssen, doch wäre ihr das vermutlich nie in den Sinn gekommen. Sie war ein Arbeitstier.
All das machte sie zu einer guten Zeugin für die Anklage und zu einer schrecklichen für mich. Die einzige gute Nachricht war, dass sie eine absolut ehrliche Haut war – zu ehrlich für den Geschmack der meisten Staatsanwälte. Trotzdem war hier unterm Strich nicht viel zu holen. Die Todesursache stand außer Frage. Ich hätte mit der Staatsanwaltschaft eine Übereinkunft treffen können, doch die Verteidigung brauchte ein paar Informationen von der Zeugin; außerdem wollte die Anklage durch sie ein paar drastische Fotos einführen, was ich durch meine vorgerichtlichen Anträge nicht hatte verhindern können.
Wendy Kotowski überließ ihrer ersten Assistentin, einer Frau namens Maggie Silvers, die Befragung der Zeugin. Vermutlich weil sie Dr. Agarwal für eine sichere Zeugin hielt. Die Staatsanwältin führte die Jury akribisch durch die Referenzen der Rechtsmedizinerin und durch die von ihr vorgenommene Autopsie.
»Die Kugel durchdrang Haut und Muskulatur der Stirn«, sagte die Ärztin, während sie auf ein Diagramm des menschlichen Schädels zeigte. »Sie durchschlug die Glabella und setzte ihren Weg bis zum Hinterhauptbein fort, wo sie steckenblieb.«
»Und das Blut, Frau Doktor?«, fragte die Anklägerin und deutete auf ein Foto der Blutlache, die sich rund um den Kopf des Opfers gebildet hatte. »Rührte es von dem Schuss her?«
»Ja, ganz sicher. Keilbein und Siebbein wurden zerschmettert. Das sorgte für starke Blutungen. Und vergessen Sie nicht, selbst nach Erlöschen der Hirnaktivitäten schlägt das Herz noch weiter. Möglicherweise hat das Opfer bis zu fünf Minuten so dagelegen, bevor auch das Herz seine Aktivitäten einstellte.«
»Verstehe«, sagte die Anklägerin. »Sie haben das Erlöschen der Hirnaktivitäten erwähnt. Was meinen Sie als Sachverständige, wodurch wurde das bewirkt?«
Dr. Agarwal nickte. »Die Kugel erzeugte eine Schockwelle, die im Wesentlichen jede Hirnaktivität zum Erliegen brachte. Der Hirntod trat höchstwahrscheinlich direkt nach Einschlagen der Kugel ein. Das erklärt auch die Verletzungen an ihren Knien und an der einen Seite ihres Schädels.«
»Erklären Sie uns das bitte. War es das, was wir umgangssprachlich ›tot umfallen‹ nennen, Frau Doktor?«
»Man kann diesen Ausdruck durchaus verwenden. Sie starb durch den Einschlag der Kugel und brach auf der Straße zusammen. Ihre rechte Kniescheibe wurde durch den Sturz zertrümmert, außerdem erlitt sie deutliche Kontusionen auf der rechten Schädelseite.«
»Sie war tot, bevor sie auf dem Boden aufschlug?«
»Richtig.«
»Und die Blutungen in ihren Augen, Frau Doktor?«
»Ja, schauen Sie hier.« Die Ärztin zeigte auf eine Nahaufnahme des Opfers. »Ihre Orbitalknochen wurden durch die Druckwelle der Kugel zerschmettert. Und wie bereits erwähnt schlug ihr Herz weiter, sodass Blut ins Gewebe rund um ihr Auge drang.«
»Also, Frau Doktor, die zertrümmerte Kniescheibe, die blutunterlaufenen Augen, die Kontusionen am Schädel – all das sind Folgen des Schusses?«
»Ohne Frage. Der Schuss ist die Todesursache. Es gibt sonst keinerlei Spuren wie etwa von Schlägen oder sonstiger äußerlicher Gewaltanwendung.«
Die Zeugin schien etwas voreilig zu diesem Schluss gekommen zu sein und die letzte Frage der Anklägerin vorweggenommen zu haben. Da diese nun ihrer letzten geplanten Frage beraubt war, blätterte sie einen Augenblick ratlos in ihren Notizen. »Vielen Dank, Frau Doktor«, sagte sie schließlich.
Ein etwas holpriges Ende, aber die Aufgabe war erledigt. Sie hatte herausstreichen wollen, dass der einzige Angriff auf Kathy Rubinkowski in dem Schuss zwischen ihre Augen bestanden hatte. Keine Schläge, Tritte oder Ähnliches, denn an Tom Stoller hatte man keinerlei dementsprechende Spuren gefunden. Er hatte keine Schwellungen oder Blut an den Händen oder auf den Schuhen. Ein einziger Schuss hatte das Opfer tot zusammenbrechen lassen.
Shauna hatte die Sachverständigen in diesem Fall übernommen, also war sie mit dem Kreuzverhör an der Reihe. »Frau Doktor«, sagte sie, noch bevor sie ans Pult trat. »Rund um das Einschussloch im Schädel des Opfers fanden sich keine Abschürfungen oder Druckstellen auf der Haut, nicht wahr?«
»Nein, so etwas gab es nicht.«
»Und auch keine Schussrückstände oder Pulverteilchen in der Haut?«
»Nein, nichts dergleichen.«
»Und keine Schmauchspuren, richtig?«
»Korrekt.«
»Sie können also mit einem gewissen Grad medizinischer Exaktheit sagen, dass die Mündung der Waffe mindestens einen Meter vom Schädel des Opfers entfernt war, richtig?«
»Richtig.«
Shauna ließ das einen Augenblick lang wirken. »Also war der Schütze mehr als einen Meter entfernt, oder?«
»Es scheint so, ja.«
»Sie gehen davon aus, richtig?« Shauna mag es nicht, wenn Zeugen ausweichend antworten. Das gehört zu den Dingen, die ich an ihr liebe. Allerdings macht sie das bei unseren privaten Diskussionen auch zu einer echten Nervensäge.
»Davon gehe ich aus.«
»Aber es ist durchaus möglich, dass der Schütze drei Meter entfernt stand, richtig?«
»Ich würde nicht sagen, dass es unmöglich ist.« Ein weiteres Ausweichmanöver.
»Also ist es möglich.«
»Ja, es ist möglich. Ich will damit nur sagen …«
»Sie haben meine Frage bereits beantwortet, Frau Doktor.«
Mit so etwas wäre ich nie durchgekommen. Vielleicht hat das mit dem Geschlecht zu tun oder meiner großen, die meisten Zeugen überragenden Statur. Trotzdem hinterließ es für mein Gefühl nie einen guten Eindruck bei der Jury, einem Zeugen das Wort abzuschneiden. Höchstwahrscheinlich hätte der Richter es mir nicht durchgehen lassen, doch Shauna schien der alte Bock zu mögen.
»Die von Ihnen gefundenen Spuren, Frau Doktor, schließen also keineswegs aus, dass der Täter drei Meter vom Opfer entfernt stand?«
Dr. Agarwal zögerte. Sie ließ sich nicht gerne auf Diskussionen ein, war aber auch nicht wirklich einer Meinung mit Shauna. Wir wussten alle, dass die Patronenhülse aus der Mordwaffe unter einem Baum auf dem Gehweg gelandet und die Waffe mit hoher Wahrscheinlichkeit aus drei Metern Entfernung abgefeuert worden war. Aber möglicherweise war die Patronenhülse auch ein Stück über den Gehweg gehüpft, sodass die Schätzung von drei Metern geringfügig in beide Richtungen abweichen konnte.
Shauna hatte einen Köder für die Zeugin ausgelegt.
»Wenn ich gesunden Menschenverstand und Berufserfahrung zur Spurenanalyse hinzuziehe«, antwortete die Ärztin, »dann bin ich nicht vollständig davon überzeugt, dass die Waffe aus einer Entfernung von drei Metern abgefeuert wurde.«
»Und warum nicht, Frau Doktor?«, fragte Shauna. Man stellte bei einem Kreuzverhör niemals ergebnisoffene Fragen, es sei denn, man war sich sicher, dass die Antwort den eigenen Zielen diente. Shauna hatte eine Vorstellung, wie die Ärztin antworten würde, aber sie konnte sich nicht sicher sein.
»Meiner Erfahrung nach«, erwiderte Dr. Agarwal, »sind die meisten Schüsse aus einer Glock-Handfeuerwaffe zu unpräzise, um jemanden aus drei Metern Entfernung direkt zwischen die Augen zu treffen. Es ist natürlich möglich, aber es ist schwierig.«
»Es müsste also ein sehr guter Schütze gewesen sein«, sagte Shauna. »Und er müsste viel Übung mit dieser Waffe gehabt haben?«
»Einspruch«, rief die Anklägerin Maggie Silver, doch war sie mit ihrem Einwand gegen diese Art Fragestellung ein wenig spät dran, was ihr der Richter auch mitteilte.
»Das würde ich annehmen, ja«, sagte die Ärztin, nachdem Shauna ihre Frage wiederholt hatte.
Wir wollten den Schützen so weit von dem Opfer entfernt wie möglich, um die bizarre Argumentation der Anklage zu verdeutlichen und um zu zeigen, dass man verdammt gut schießen können musste, um ein Opfer aus dieser Entfernung zwischen die Augen zu treffen. Die Anklage hatte natürlich eine Antwort darauf – First Lieutenant Tom Stoller war ein trainierter Schütze der Army Rangers –, aber dazu mussten sie seinen militärischen Hintergrund zur Sprache bringen. Und das wollten sie tunlichst vermeiden, besonders da wir einen pensionierten Colonel in der Jury untergebracht hatten.
Shauna verbrachte weitere zwanzig Minuten mit der Befragung der Rechtsmedizinerin, dann war erneut die Anklage am Zug. Wir hatten nur einen einzigen Punkt für uns verbuchen können, dafür hatte die Jury diverse schreckliche Nahaufnahmen des Mordopfers gesehen und anschauliche Schilderungen vom gewaltsamen Ende Kathy Rubinkowskis gehört. Unterm Strich war es eine weitere Zeugenaussage zugunsten des Staates gewesen.
Anklage gegen Verteidigung, 2:0.
73
Als ich gegen Ende des Tages meine Unterlagen zusammenpackte, entdeckte ich Tori im Gerichtssaal. Sie suchte meinen Blick und signalisierte mir, sie habe etwas Wichtiges für mich.
Doch zunächst musste ich mich um meine Mandanten kümmern: Tom und Tante Deidre. Tom hatte heute vor Gericht einen ziemlich gefassten Eindruck gemacht, sehr zu meinem Bedauern, denn die Jury sollte jemanden erleben, der eindeutig unter einer geistigen Störung litt. Doch stattdessen war Tom aus irgendeinen Grund relativ entspannt und ruhig geblieben.
Wir trafen uns in dem Verwahrraum, den man uns für unsere Nachbesprechungen zur Verfügung gestellt hatte. Ich berichtete ihnen, was wir bisher über Global Harvest herausgefunden hatten und von meiner Unterredung mit dem FBI am Vormittag. »Wir verfolgen diese Spur mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln«, sagte ich. »Wenn dort was zu finden ist, dann stoßen wir hoffentlich innerhalb der nächsten Tage darauf.«
Tom schien mir zuzuhören, erwiderte jedoch nichts. So wie ich ihn kannte, war er bereits mit seinem Abendessen im Bezirksgefängnis beschäftigt. Deidres Ausdruck konnte man bestenfalls als niedergeschlagen bezeichnen.
»Bitte denken Sie daran«, erklärte ich ihnen, »dies ist ein Indizienprozess. Die können weder beweisen, dass er am Tatort war, noch dass er die Waffe abgefeuert hat.«
»Richtig«, sagte Deidre. Sie hatte das schon öfter gehört, aber ganz offensichtlich hatte die Wiederholung eine tröstliche Wirkung auf sie. Wir verabschiedeten uns in der Lobby, wo Tori auf mich wartete. Wie üblich trug sie ihren langen weißen Mantel, allerdings stellten sich diesmal bei mir keine Fantasien ein, wie ich ihn ihr auszog.
Es war nicht der richtige Zeitpunkt, mit diesem Teil meiner Anatomie zu denken. Vielmehr brauchte ich mein Gehirn. »Na, was hast du für mich, Kleines?«, fragte ich sie, um dem Ganzen einen platonischen Anstrich zu geben. Es klang gezwungen. Es klang geradezu lächerlich.
»Kleines? Bin ich jetzt dein ›Kleines‹?«
»Dein neuer Spitzname.«
»Tja, also dann, Daddy-O.«
»Nett.«
Wir traten aus der Tür in die kalte Luft. Es fühlte sich gut an.
» Willst du jetzt wissen, was ich rausgefunden habe?«, fragte sie.
»Klar.«
Sie blickte mich an.
»Ich habe Kathys E-Mail-Adresse«, sagte sie. »Und ich hab mich in ihr Konto gehackt.«
74
Tori und ich gingen in mein Büro, wo sie ihren Laptop aufklappte. Unter den gegebenen Umständen hielten wir eine solche Besprechung besser unter vier Augen ab.
»Ihr Anwälte würdet ein solches Vorgehen wohl als sittenwidrig bezeichnen«, sagte Tori.
»Davon abgesehen ist es vor Gericht unzulässig«, fügte ich hinzu. Selbst wenn ich in Kathys E-Mail-Konto auf Gold stieß, würde ich es nicht verwenden können. Andererseits, wenn ich etwas wirklich Hilfreiches entdeckte, konnte ich immer noch einen Antrag auf Zulassung der Mails als Beweismittel stellen und dann so tun, als würde ich sie zum ersten Mal lesen.
Eigentlich hätte ich solche Gedanken aufzeichnen und sie mir in einem besinnlichen Moment wieder vorspielen sollen. Mit meinem Berufsethos stand es nicht zum Besten. Wann hatte das eigentlich begonnen?
Ach, richtig – als ein unschuldiger Mann wegen Mordes gehängt werden sollte.
»Hier ist es.« Tori deutete auf den Bildschirm. »Das ist Kathys private E-Mail.«
»Ist das ihr Posteingang?«
»Genau. Wie du siehst, kriegt sie auch ein Jahr nach ihrem Tod immer noch ein paar E-Mails. Das meiste davon ist Werbung. Persönliche Mails gibt es nicht mehr seit dem dreizehnten Januar, ihrem Todestag.«
Wir setzten uns nebeneinander auf die Couch. Sie reichte mir den Laptop. Ich scrollte durch die empfangenen Nachrichten. Die meisten davon waren wohl von Freunden. Die Nachrichten ganz oben auf dem Bildschirm – die aktuellsten – drehten sich um die Feier ihres vierundzwanzigsten Geburtstags, der am Tag nach ihrem Tod gewesen wäre. Etwas durchzuckte mich in diesem Moment, ein dumpfer Schmerz in den Eingeweiden, das Gefühl des Verlusts. Diese Frau war keine vierundzwanzig geworden. Wenn ich hier ein Rätsel zu lösen versuchte, dann tat ich das nicht nur für meinen Mandanten. Auch ihr war ich etwas schuldig.
»Schau mal unter dem achten Januar nach«, sagte Tori.
Dazu musste ich ein zweites Bildschirmfenster aufrufen. Ich öffnete eine E-Mail, die auf Freitag, den 8. Januar, 13:31 datiert war:
Ich brauche Rat
Von: Katherine Rubinkowski
‹KRubinkowski@DLMlaw.net›
An: Thomas J. Rangle
‹TRangle@DLMlaw.net›
BCC: Ich ‹Rubes@Intercast.com›
Tom, mir macht da was Sorgen, und ich würde gern mit dir darüber sprechen. Momentan sollte es aber besser unter uns bleiben.
Erinnerst du dich an das, was ich dir über den LabelTek/GHI-Rechtsstreit erzählt habe? Dass ich Summerset Farms als Käufer von GHI-Düngemitteln in die Liste aufgenommen hatte, sie aber jemand wieder aus der schriftlichen Anfrage gestrichen hat? Und dass ich mich deswegen bei Bruce beschwert habe, der mich aber brüsk abwies? Also, offensichtlich hat LabelTek das mit Summerset inzwischen selbst herausgefunden, vermutlich übers Landwirtschaftsministerium. Und als sie eine schriftliche Anfrage an Summerset rausschickten, hat GHI daraufhin den Rechtsstreit sofort mit einem Vergleich beigelegt.
Okay, das ist an sich schon merkwürdig, aber es wird noch seltsamer. Als wir GHI als Mandanten übernahmen, war ich anfänglich mit der rechtlichen Seite des Ankaufs von Summerset beschäftigt. Summerset ist ein kleiner Betrieb, und GHI hat ihnen mehr Düngemittel verkauft, als sie jemals verwenden können. Ich weiß, das klingt paranoid – aber es sieht so aus, als würde Summerset diesen Dünger horten.
Bis dahin deckte sich die Mail mit den uns bekannten Informationen. Sie schilderte in prägnanter Form das, was wir bisher herausgefunden hatte. Kathy hatte diese Mail in der Arbeit abgeschickt – das » DLMlaw« in der E-Mail-Adresse stand unzweifelhaft für Dembrow, Lane und McCabe –, aber an sich selbst eine Blindkopie gesandt. Offensichtlich wollte sie die Nachricht für ihre eigenen Unterlagen.
Die E-Mail ging weiter:
Und erinnerst du dich an diese andere Firma, die wir übernommen haben – SK Tool and Supply? Etwa zur gleichen Zeit wie Summerset. Also, SK verkaufte bisher nur einfache Ausrüstung für Industriebetriebe, aber jetzt verkaufen sie auf einmal auch Nitromethan, das man für viele Dinge verwenden kann – unter anderem für Sprengstoff. Und als ich neulich wegen der Secada-Klage bei SK war – ich weiß, ich hätte das nicht tun dürfen –, hab ich in ihren Auftragsunterlagen geblättert und festgestellt, dass SK das Nitromethan nur an einen einzigen Kunden verkauft. Und jetzt rate mal, an wen?
Summerset.
Ich weiß, das Ganze klingt wie ein Oliver-Stone-Film, aber offenbar wurden jede Menge geschäftliche Transaktionen vorgenommen, um Dünger (Ammoniumnitrat) und Nitromethan in großen Mengen an eine einzige Firma zu verkaufen.
Wenn man Ammoniumnitrat und Nitromethan mischt, erhält man einen hochwirksamen Sprengstoff. Etwas Ähnliches hat Timothy McVeigh in Oklahoma benutzt.
Sag mir bitte Bescheid, wenn ich total paranoid bin, aber das Ganze macht mir ziemlich Angst. Bruce hat mich ja schon mal abfahren lassen, aber jetzt, wo wir das mit dem Nitromethan wissen – soll ich es ihm gegenüber noch mal ansprechen? Oder – und ich kann kaum glauben, dass ich das sage – soll ich besser zur Polizei gehen?
Danke T.
K.
»Wer ist Tom Rangle?«, fragte ich.
»Der leitende Anwaltsgehilfe in der Kanzlei«, sagte Tori. »Kathys Boss.«
Ich las das Ganze ein zweites Mal. Wenn ich schnell lese, entgeht mir meistens etwas.
»Jesus, Tori.« Ich blickte zu ihr auf. »Damit haben wir ein klares Motiv.«
Ich sprang von der Couch auf. Mein linkes Knie brüllte mich an, ich solle gefälligst etwas langsamer machen. Es wurde allmählich besser, schmerzte aber immer noch, sobald ich nur Luft holte. Ich durchquerte mein Büro – durchhumpelte wäre der angemessenere Ausdruck – und fand nach etwas Herumwühlen meinen Football.
»Ein paar Tage vor ihrer Ermordung stellte Kathy die Verbindung her«, sagte ich. »Global Harvest übernahm eine Firma als Deckmantel, um zwei Chemikalien zu horten und daraus seine Bombe zu bauen. Global Harvest hatte bisher zwar Dünger im Angebot, aber kein Nitromethan. Und diesen Stoff neu ins Angebot aufzunehmen, wäre möglicherweise zu auffällig gewesen, also taten sie das Nächstbeste. Sie übernahmen eine weitere Firma, SK Tools and Supply, und ließen diese Firma das Nitromethan an Summerset verkaufen. Niemand schenkte dem Beachtung, weil sie das Zeug schließlich nicht an Al Qaida verscherbelten. Sie verkauften es einfach nur an eine harmlose Farm. An einen landwirtschaftlichen Betrieb, der Dünger für den Weizenanbau brauchte und Nitromethan für was weiß ich, vielleicht für Pestizide. Bradley hat gesagt, man könnte es dafür verwenden, richtig?«
»Also war Summerset Farms die perfekte Fassade.«
»Perfekt«, stimmte ich zu. »Wir wissen aus dieser E-Mail, dass Kathy bereits mit Bruce McCabe über das Verschwinden von Summerset Farms aus der schriftlichen Anfrageerwiderung gesprochen hatte. Also wusste McCabe, dass sie misstrauisch geworden war. Und zum Zeitpunkt dieser E-Mail – wann war das, am achten Januar? – hatte Kathy noch mehr Puzzleteile zusammengesetzt. Möglicherweise hat sie McCabe darüber informiert, dass hier eine terroristische Verschwörung im Gange war.«
»Vermutlich hat sie das«, pflichtete Tori bei.
»Und das führt uns zu Randall Manning. McCabe hat seinem Mandanten mit hoher Wahrscheinlichkeit davon berichtet, dass eine Anwaltsgehilfin kritische Fragen stellte.«
»Und ein paar Tage später wurde Kathy ermordet«, sagte Tori. »Genug Zeit für Manning, um die Capparellis mit ihrer Beseitigung zu beauftragen.«
Wie schauten uns an. Das war die Lösung.
Tori sagte: »Aber du kannst es nicht verwenden. Es ist unzulässig, hast du gesagt.«
»Natürlich darf ich dem Richter nicht verraten, dass ich ihre E-Mail gehackt habe. Aber ich kann ihre Mails als Beweismittel anfordern und dann angenehm überrascht tun.«
Ich dachte darüber nach. Es musste noch einen anderen Weg geben.
»Oder besser«, sagte ich, »wir sprechen mit Tom Rangle.«
75
Freitag, der 3. Dezember. Ich blickte auf meine Uhr. Die Verhandlung würde heute später eröffnet, da Richter Nash zuvor noch ein paar Dinge zu erledigen hatte – sprich, ein paar Anwälte herunterputzen musste. Die Verzögerung würde Tori hoffentlich ausreichend Zeit geben, um Kathy Rubinkowskis Boss Tom Rangle zu einem Gespräch herzubringen. Ich selbst musste der Verhandlung beiwohnen, da heute die entscheidende Beweisführung der Anklage auf dem Programm stand, und da traten unter anderem auch meine Zeugen auf.
Die bisher von der Anklage eingeführten Beweisstücke waren die Mordwaffe und die Habseligkeiten des Opfers, die man eine Stunde nach Kathys Ermordung bei Tom gefunden hatte. Außerdem hatte die Staatsanwaltschaft die offenkundige, aber notwendige Tatsache etabliert, dass ein Schuss zwischen die Augen die Todesursache war. Darüber hinaus hatte sie der Jury eine Reihe blutiger Fotos vorgeführt.
Heute würde der Ballistiker aussagen, dass die Kugel in Kathy Rubinkowskis Schädel aus der Glock 23 stammte, die man in Toms Hand gefunden hatte. Und anschließend würde Detective Frank Danilo in den Zeugenstand gerufen, um zu bestätigen, dass Tom Stoller im Verhörraum gestanden hatte.
Und das war es dann auch schon. Sie hatten keinen Augenzeugen für den Mord. Aber den würden sie vermutlich auch nicht brauchen. Tom war mit der Waffe und den gestohlenen Gegenständen aufgegriffen worden. Und selbst wenn Tom in den Zeugenstand trat, würde er den Mord nicht abstreiten. Er würde lediglich aussagen, dass er sich nicht erinnerte.
Allerdings hatte ich immer noch ein Ass im Ärmel. Sobald die Staatsanwaltschaft Toms Geständnis als Beweismittel einführte, würde ich argumentieren, dass er in Wahrheit nicht den Mord an Kathy, sondern die Schießerei im Irak gestanden hatte. Zwar hatte der Richter die posttraumatische Belastungsstörung als Beweis ausgeschlossen, ich würde sie jedoch durch die Hintertür wieder einführen – indem ich sie einfach als Erklärung für das vermeintliche Geständnis nutzte.
Ein Manöver, mit dem Wendy vermutlich nicht rechnete. Da der Richter die PTSD-Verteidigung abgelehnt hatte, musste sie davon ausgehen, dass kein Anlass für eine Aussage von Dr. Sofian Baraniq bestand. Doch der Richter hatte Dr. Baraniq nicht ausdrücklich als Zeugen ausgeschlossen.
Es war Viertel vor zehn, als die Jury hereinkam. Wo zum Teufel steckte Tori? Ich betete, dass Tom Rangle nicht im Urlaub war oder etwas dergleichen.
Wendys Assistentin Maggie Silvers rief den Ballistiker in den Zeugenstand und befragte ihn etwa zwanzig Minuten lang. Ich wies Shauna an, ihr Möglichstes zu tun, um das Ganze mit ihren Fragen in die Länge zu ziehen. Wir hatten nichts, mit dem wir die Aussage hätten anfechten können, aber ich brauchte Zeit. Ich wollte verhindern, dass die Anklage ihre Beweisführung heute abschloss, und wenn doch, dann möglichst nicht vor Ende des Tages.
Ich brauchte das Wochenende. Ich brauchte zumindest ein paar weitere Tage, um das alles zusammenzufügen.
Shauna tat, was sie konnte, aber die Befragung war vor elf Uhr zu Ende.
Normalerweise hätten wir jetzt eine Morgenpause eingelegt, aber wegen des späten Beginns erschien das kaum sinnvoll. Der Richter bat Wendy, ihren nächsten Zeugen aufzurufen.
»Das Volk ruft Detective Frank Danilo in den Zeugenstand«, sagte sie, und genau in diesem Moment betrat Tori den Gerichtssaal in Begleitung eines Mannes.
Tom Rangle, wie ich vermutete.
76
Zu meiner Zeit als Staatsanwalt hatte ich bei einem Fall mit Frank Danilo zusammengearbeitet. Er war ein anständiger Kerl. Unauffällige Erscheinung – durchschnittliche Größe, durchschnittliche Statur, kurzes braunes Haar – und unter Druck immer ruhig und gelassen. Ich war ihm vor etwa sechs Wochen zufällig im Flur des Gerichtsgebäudes begegnet, und er hatte mir erzählt, wie wenig es ihm behagte, dass sie einen Irakkriegsveteranen, der auch noch geistig verwirrt war, wegen dieser Geschichte drankriegten.
Ich erinnerte mich an ein gemeinsames Verhör mit ihm, bei dem er den Verdächtigen so eingeschüchtert hatte, dass er Frank auf die Schuhe gekotzt hatte.
Danilo trug seinen besten Sonntagsanzug. Man konnte sehen, dass ihm das Tragen von Hemd und Krawatte nicht sonderlich behagte. Im Zeugenstand dagegen fühlte er sich ganz offensichtlich wie zu Hause. Er war die Art Cop, den die Jurys mochten.
Ich blickte über die Schulter zu Tori. Sie saß auf einer der hinteren Bänke neben dem Mann, bei dem es sich vermutlich um Tom Rangle handelte. Ich war mehr an dem interessiert, was sie zu sagen hatte, als an den Äußerungen Danilos, aber der Richter würde mir jetzt keine Pause einräumen, denn er wollte Wendy Kotowski die Chance geben, Danilos Befragung noch vor der Mittagspause unter Dach und Fach zu bringen.
Wendy begann mit den Basics und breitete Danilos Werdegang vor der Jury aus. Er war seit sieben Jahren leitender Detective bei der Mordkommission. Er hatte in über einhundert Mordfällen ermittelt.
Danilo gab einen chronologischen Abriss der Nacht, in der Kathy Rubinkowski gestorben war. Der Notruf war ein paar Minuten nach Mitternacht eingegangen. Danilo und seine Partnerin Ramona Gregus rückten zu der weiblichen Leiche mit Schusswunde aus. Danilo war der leitende Detective und damit zuständig für das Vorgehen am Tatort. Er und Wendy machten ein großes Tamtam um die ausgiebige Spurensuche vor Ort, walzten es für mein Gefühl aber zu sehr aus. Ich sage das, weil sie nichts Belastendes fanden und diesen Umstand damit letztendlich nur unterstrichen. Die meisten Geschworenen haben heutzutage CSI gesehen und erwarten solche raffinierten Ermittlungsmethoden. Daher hatte Wendy während der Geschworenenauswahl auch die meiste Zeit damit verbracht, den potenziellen Juroren klarzumachen, dass CSI lediglich eine Fiktion war – und Fingerabdrücke zum Beispiel viel schwieriger zu finden waren, als es uns das Fernsehen glauben macht. Staatsanwälte im ganzen Land müssen sich mit diesen ungerechtfertigt hohen Erwartungen von Jurys herumschlagen. Allerdings hielt mich das nicht davon ab, mein eigenes » CSI-Kreuzverhör« durchzuziehen und auf all die erstaunlichen technischen Möglichkeiten hinzuweisen, die jedoch keinerlei Beweise gegen meinen Mandanten erbracht hatten.
Nach Abschluss von Wendys Befragung zur Spurensuche – die zeigen sollte, dass die Beweismittel vorschriftsmäßig gesammelt und gelagert worden waren –, war Mittag vorbei. Das war in Ordnung für Wendy, die Danilos Aussage in die Länge ziehen wollte, weil er vermutlich ihr letzter Zeuge war. Und es war in Ordnung für mich, weil in meinen Augen der Tag gar nicht schnell genug vorübergehen konnte.
Aber Richter Nash wollte fortfahren, also zögerte Wendy keine Sekunde.
»Das Verhör mit dem Angeklagten wurde von mir selbst und Detective Ramona Gregus durchgeführt«, sagte Danilo.
»Haben Sie das Verhör aufgezeichnet, Detective?«
»Ja, das haben wir.«
»Haben Sie dem Angeklagten seine Rechte verlesen?«
Danilo nickte. »Ich hab ihn über sein Recht aufgeklärt, zu schweigen und sich einen Anwalt zu nehmen. Er signalisierte uns, dass er bereit sei zu sprechen.«
»Und hat er mit Ihnen gesprochen?«
»Ja.«
Wendy Kotowski nahm die Mordwaffe vom Beweismitteltisch und bat um die Erlaubnis, sich dem Zeugen nähern zu dürfen. Die meisten Richter verzichten mittlerweile auf diese Formalität, nicht so Bertrand Nash.
»Ich zeige Ihnen hier Beweisstück Nummer sechs«, sagte Wendy. »Haben Sie dem Angeklagten diese Waffe gezeigt?«
»Ja, hab ich.«
»Und was geschah dann?«
»Ohne zu zögern, sagte der Angeklagte: ›Das ist meine Pistole‹. Er wiederholte es zweimal. ›Das ist meine Pistole.‹«
»Und nachdem Ihnen der Angeklagte zweimal erklärt hatte, die Waffe gehöre ihm«, fragte Wendy, auf altbewährte Art die hilfreiche Information wiederholend, »was geschah dann?«
»Ich fragte ihn, wo er die Waffe herhat.«
»Hat der Angeklagte darauf geantwortet?«
»Nein, hat er nicht.«
Wendy nickte und ging dann ihre Notizen durch. Offensichtlich wollte sie sich das Geständnis bis zuletzt aufheben und sicherstellen, dass der Zeuge zuvor alle anderen Informationen geliefert hatte.
Dann blickte sie zum Richter auf und sagte: »Keine weiteren Fragen mehr an diesen Zeugen, Euer Ehren.«
Keine weiteren Fragen?
Es riss mich in meinem Stuhl herum, und ein elektrischer Stromstoß durchzuckte mich. Wendy befragte ihn nicht zum Geständnis?
Ich versuchte, mir über ihr Vorgehen klar zu werden. Sie hatte etabliert, dass Tom die Waffe als sein Besitz reklamierte, also konnte sie unterstellen – und Tom würde dem nicht widersprechen –, dass sich die Waffe schon vor dem Mord längere Zeit in seinem Besitz befunden hatte. Wenn ich das unangefochten stehen ließ, war jedes Argument zunichte, der fliehende Mörder habe Tom die Waffe untergeschoben.
Offenbar war das für Wendy ausreichend.
Denn sie hatte meinen Plan durchschaut.
Sie wusste, Toms Geständnis war wacklig. Die Jury würde ein Video sehen, in dem Tom einem imaginären Feind gegenübertrat, ihm Befehle wie »Lassen Sie die Waffe fallen« zubrüllte und anschließend in Tränen ausbrach. Sie wusste, damit böte sie mir eine Chance, mein PTBS-Argument und Toms militärische Vorgeschichte einzuführen.
Daher würde sie Toms Geständnis nicht für ihre Beweisführung heranziehen. Sie würde sich darauf beschränken, dass Tom die Mordwaffe als die seine reklamierte.
Ich wäre nie darauf gekommen, dass ein Staatsanwalt ein aufgezeichnetes Geständnis nicht verwenden würde. Als Wendy es in ihrem Eröffnungsplädoyer nicht erwähnt hatte, dachte ich, sie hielte es nur zurück. Mir war nicht klar gewesen, was sie vorhatte.
Wendy Kotowski hatte mich ausgetrickst.
Richter Nash ließ seinen Richterhammer ertönen. »Das Gericht wird sich bis ein Uhr dreißig zurückziehen«, verkündete er.
Ich blickte zu Shauna. Ihr Gesichtsausdruck verriet mir, dass sie dieselben Hochrechnungen angestellt hatte wie ich. »Cleverer Zug«, flüsterte sie mir zu.
Ich blickte über die Schulter an Tante Deidre vorbei zu Tori, die eifrig nickte. Ich nickte zurück.
Und ich hoffte, dass sie gute Nachrichten brachte.
77
Um Viertel vor zwei erhob ich mich zum Kreuzverhör.
»Detective«, sagte ich, »als Sie Tom Stoller am frühen Morgen des vierzehnten Januar verhafteten und aufs Revier brachten, fanden sich keinerlei Spuren von Kathy Rubinkowskis Blut an seinen Händen, richtig?«
»Wir haben nichts gefunden, nein.«
»Sie fanden auch keine Spuren ihres Bluts auf Toms Hemd, oder?«
»Nein.«
»Oder auf seinen Schuhen?«
»Korrekt, wir konnten nichts finden.«
»Sie haben den Ort durchsucht, an dem Tom lebte, um es mal so auszudrücken. Also seine Schlafstelle. An der südwestlichen Ecke von Franzen Park. Und auch dort unter seinen Habseligkeiten fanden Sie keine Blutspuren von Kathy Rubinkowski, oder?«
»Korrekt.« Er antwortete knapp und sachlich, als handelte es sich hierbei nicht um wichtige Tatsachen. Er war ein gut vorbereiteter Zeuge.
»Schmauchspuren«, sagte ich. »Das sind Verbrennungsrückstände eines abgefeuerten Schusses, richtig?«
»Richtig.«
»Wenn eine Waffe abgefeuert wird, gibt es eine Explosion, die Teile des Zündsatzes und unvollständig verbrannte Pulverkörner herausschleudert.«
»Ganz genau.«
»Solche Schussrückstände lassen sich auf dem Arm, dem Handgelenk oder dem Körper eines Schützen finden, richtig?«
»Manchmal. Aber nicht immer.«
Eine gute Antwort. Das würde er bei einer erneuten Befragung durch die Anklage ohnehin aussagen. »Sie haben Tom Stoller auf Schmauchspuren hin getestet, richtig?«
»Ja, und wir sind auf keine gestoßen.«
»Noch haben Sie solche Spuren oder Ähnliches an seinen persönlichen Dingen in der südwestlichen Ecke von Franzen Park entdeckt, korrekt?«
»Nein, haben wir nicht.«
»Sie haben also keine Beweise dafür gefunden, dass Tom Stoller diese Waffe abgefeuert hat, oder?«
»Wir haben keine Schmauchspuren gefunden, wie Sie selbst bereits sagten.«
Eine Ausflucht. Dumm von ihm. Damit bot er mir die Chance, die Frage zu wiederholen und zu unterstreichen.
»Schmauchspuren oder sonstiges, Detective – Sie fanden also keine forensischen Beweise, dass Tom Stoller die Mordwaffe abgefeuert hat, richtig?«
»Das ist korrekt, Sir.«
Ich machte eine kleine Pause, um zur nächsten Frage überzuleiten und um das Stakkato der für uns vorteilhaften Informationen ins Bewusstsein der Juroren einsinken zu lassen.
»Bei der Sicherung der Spuren an diesem Abend fanden Sie unter anderem die leere Patronenhülse aus der Glock 23 auf dem Gehweg im Erdreich eines dort gepflanzten Baums?«
»Das ist korrekt, Mr. Kolarich.«
»In einer Entfernung von ziemlich genau dreieinhalb Metern von der Leiche.«
»Richtig.«
»Eine halb automatische Glock wirft die Hülsen nach rechts aus, richtig?«
»Richtig.«
»Nicht nach vorne oder hinten.
»Korrekt.«
»Daher ist es wahrscheinlich, dass die Waffe aus einer Entfernung von dreieinhalb Metern abgefeuert wurde.«
Danilo zuckte mit den Achseln. »Schwer zu sagen. Die Patronenhülse könnte bewegt worden sein.«
Ich blickte zur Jury. »Sie sagen also, jemand könnte die Hülse bewegt haben?«
»Ich sage, es ist möglich.«
»Fanden Sie Fingerabdrücke auf der Hülse?«
»Nein, Sir. Aber es war Winter. Da tragen die Leute Handschuhe.«
»Trug mein Mandant Handschuhe, als Sie ihn verhafteten?«
Er zögerte, dann lächelte er. »Nein.«
»Sie haben also keinen Beweis dafür, dass die Patronenhülse bewegt wurde?«
»So wie Sie keinen Beweis dafür haben, dass sie nicht bewegt wurde.«
»Aber ich versuche auch nicht, die Unschuld meines Mandanten jenseits berechtigter Zweifel nachzuweisen. Sie dagegen behaupten seine Schuld, obwohl die Beweise einen berechtigten Zweifel offenlassen. Ist das in Ihren Augen das angemessene Vorgehen, Detective?«
»Einspruch. Unterstellung«, sagte Wendy.
Der Richter wies den Einspruch ab. Danilo gab mir in dem Punkt recht. »Ich habe keinen Beweis, dass die Hülse bewegt wurde.«
»Und wenn sie nicht bewegt wurde, dann bedeutet das, der Schütze stand dreieinhalb Meter von Kathy Rubinkowski entfernt, als er auf sie schoss.«
»Wenn die Hülse nicht bewegt wurde, ja.«
»Detective, haben Sie je mit einer Glock-Pistole geschossen?«
»Ja, das habe ich.«
»Jemanden mit einer Glock aus dreieinhalb Metern genau zwischen die Augen zu treffen – das ist nicht leicht, oder?«
»Dazu muss man ein guter Schütze sein«, stimmte er zu.
»Dazu muss man ein exzellenter Schütze sein, würden Sie mir da recht geben?«
Er dachte einen Moment darüber nach. »Ja«, sagte er.
»Und die Straßenbeleuchtung auf der Gehringer Street war eher schummrig, oder?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich das so beschreiben würde.«
Ich befragte ihn zu den starken Taschenlampen und der transportablen Flutlichtanlage, die er in dieser Nacht zur Spurensuche am Tatort eingesetzt hatte. Durch mein wiederholtes Nachhaken wollte ich vor allem das Argument unterstreichen, dass der Schuss aus der Glock nicht nur wegen der Entfernung, sondern auch wegen der relativen Dunkelheit beeindruckend war.
»Aber da Sie den Punkt nun schon einmal aufgebracht haben, Detective.« Ich löste mich jetzt von Podium. Mein Knie spürte ich kaum mehr. »Warum bewegt Ihrer Erfahrung nach jemand eine Patronenhülse?«
Danilo zögerte einen Moment. Vermutlich hatte er diese Frage nicht erwartet. »Um exakte Messungen zu verhindern«, sagte er. »Kriminelle verändern den Tatort, um das Geschehen zu verfälschen.«
Das war es, was ich brauchte. »Kriminelle verändern Spuren, um ihr Verbrechen zu vertuschen, ja?«
»Natürlich.«
»Zum Beispiel sammeln Mörder nach dem Schuss ihre Patronenhülsen ein. Richtig?«
»Ja.«
»Und gibt es Ihrer Erfahrung nach Fälle, in denen Mörder ihre Opfer nachträglich bestehlen, um es wie einen Raub aussehen zu lassen? Sie haben so etwas schon erlebt, richtig? Der Mörder hatte ein anderes Motiv, wollte es aber verbergen, daher ließ er es wie einen Raub aussehen? In Ihren zweiundzwanzig Dienstjahren haben Sie doch so was sicher schon erlebt?«
Danilo konnte sich schlecht rausreden. »Ich habe so etwas schon erlebt. Es ist aber nicht die Norm.«
»Aber Sie haben erlebt, dass Menschen einen Raub vortäuschen, um ihre wahren Motive zu vertuschen.«
»Einspruch, Euer Ehren. Gefragt und beantwortet.«
»Ich ziehe die Frage zurück«, sagte ich. »Kathy Rubinkowski war Anwaltsgehilfin in einer Kanzlei, stimmt das, Detective?«
»Richtig.«
»Wissen Sie, an wie vielen Strafprozessfällen sie arbeitete?«
»Nein, das weiß ich nicht.«
Die Antwort war, an keinem, aber ich weiß es nicht war das, was ich hören wollte.
»Würden Sie uns dann bitte beschreiben, an welcher Art von Fällen Kathy Rubinkowski im Allgemeinen arbeitete?«
Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«
»Sie haben nicht nachgeforscht, an welchen Fällen sie arbeitete?«
»Das hielt ich nicht für notwendig, nein.«
»Haben Sie ihre E-Mails überprüft?«
»Nein, Sir. Auch das schien mir nicht nötig, da Ihr Mandant mit den persönlichen Wertsachen des Opfers aufgegriffen wurde – und mit der Mordwaffe, die er als seine eigene bezeichnete.«
»Hat Tom gesagt, wie lange sich die Waffe schon in seinem Besitz befand?«, wollte ich wissen. Ich stellte ihm bewusst eine offene Frage, weil ich die Antwort bereits kannte; die gesamte Unterhaltung war ja auf Band aufgezeichnet.
»Nein, hat er nicht«, gab Danilo zu.
»Er hat nicht gesagt: ›Diese Pistole gehört mir schon seit zehn Jahren‹?«
»Nein, Sir.«
»Er hat auch nicht gesagt: ›Diese Pistole gehört mir seit zehn Stunden‹.«
»Nein, Sir, hat er nicht.«
»Detective, Sie haben in Ihrer Zeit als Streifenpolizist und später als Detective doch sicher Erfahrungen mit obdachlosen Menschen gesammelt, oder?«
»Ja.«
»Und trifft es nicht zu, dass obdachlose Menschen oft sehr besitzergreifend sind, was ihre Habseligkeiten betrifft?«
»Das kommt vor. Es ist zwar keine eiserne Regel, aber ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.«
Wie nett von ihm. »Ist es da nicht vorstellbar, dass Tom, obwohl er sagte: ›Das ist meine Pistole‹, die Waffe in Wahrheit erst eine Stunde vor seiner Verhaftung erhalten hatte?«
»Das würde mich sehr überraschen.«
»Aber es ist möglich.«
»Möglich schon.«
»Also ist es möglich, dass jemand die Waffe über den Zaun geworfen hat – den Zaun unmittelbar in der Nähe des Tatorts –, wo Tom sich aufhielt. Er hob die Waffe auf, und voilà, in seiner Vorstellung war es nun seine Waffe.«
»Einspruch. Aufforderung zur Spekulation.«
»Das ist nicht spekulativer als die Theorie der Anklage«, protestierte ich. Dies war keine zulässige Antwort auf den Einspruch, und jeder Jurist im Raum wusste das. Das Argument war Teil meines Abschlussplädoyers.
Der Richter gab dem Einspruch statt und ermahnte mich.
Was mich nicht sonderlich traf. Ich wollte ohnehin zu meinem zentralen Punkt zurückkehren. »Haben Sie mit Kathys Arbeitskollegen darüber gesprochen, ob jemand ein Problem mit ihr hatte oder ihr vielleicht etwas antun wollte?«
Danilo blickte auf und seufzte. »Ich glaube nicht, dass wir mit ihnen gesprochen haben, nein.«
»Und was ist mit ihren Freunden?«
»Nein, Sir. Wie ich bereits angedeutet habe …«
»War es nicht nötig. Ja, Detective. Sie haben also keine Ahnung, ob Kathy Rubinkowski möglicherweise Angst um ihr Leben hatte? Dass jemand ihr etwas antun könnte. Sie haben nicht in diese Richtung ermittelt?«
»Einspruch.« Wendy war aufgestanden. »Das ist alles Spekulation.«
»Euer Ehren, ich frage nur nach, wie umfassend beziehungsweise wie wenig umfassend die Ermittlungen geführt wurden.«
Richter Nash zögerte, dann wies er den Einspruch ab.
»Wir hatten unseren Mann, Herr Anwalt«, sagte Danilo.
»Sie können also der Jury nicht sagen, ob Kathy E-Mails an ihre Freunde oder Arbeitskollegen geschickt hat, in denen sie Angst um ihr Leben zum Ausdruck brachte?«
»Er hat bereits ausgesagt, dass er ihre E-Mails nicht gelesen hat, Herr Anwalt.« Das kam vom Richter.
Ich warf ihm einen Blick zu und fuhr fort. »Aber als leitender Ermittler in diesem Fall, Detective, wären das nicht interessante Informationen für Sie gewesen? Dass das Opfer sein Leben bedroht sah?«
»Einspruch. Unterstellung und Spekulation, Euer Ehren.«
»Abgelehnt. Der Zeuge soll antworten. Aber, Mr. Kolarich«, sagte der Richter und spähte über seine Brille hinweg auf mich herab, »reiten Sie nicht weiter darauf herum.«
»Ja, Euer Ehren.« Ich blickte zu Shauna, die mir zunickte. Sie hatte recht. Vermutlich war jetzt der richtige Zeitpunkt.
»Detective«, sagte ich, »trifft es nicht zu, dass Kathy Rubinkowski wenige Tage vor ihrer Ermordung mit ihren Erkenntnissen über eine kriminelle Verschwörung an die Öffentlichkeit gehen wollte?«
»Einspruch!« So schnell hatte ich Wendy noch nie aufspringen sehen. »Ich beantrage eine Unterredung unter Ausschluss der Jury, Euer Ehren.«
Der Richter winkte uns zu sich. Ich hatte zunächst überlegt, dem Richter meine ganzen bisherigen Ergebnisse vorzulegen und ihn zu bitten, sie als Beweise zuzulassen. Aber so war es besser. Egal wie Richter Nash entscheiden würde, nun hatte die Jury zumindest einmal davon gehört.
Der Richter kam von seiner Bank herunter. Seitlich davon trafen wir drei aufeinander.
Er bedachte mich mit einem langen Blick.
»Ich hoffe für Sie, dass an der Sache was dran ist, Mr. Kolarich«, sagte er.
78
Die beiden Anklägerinnen Wendy Kotowski und Maggie Silvers waren sprachlos. Sogar Richter Nash, der hinter seinem Schreibtisch im Richterzimmer saß, wirkte wie vor den Kopf geschlagen. Mein Mandant Tom Stoller saß still dabei und zeigte keinerlei Reaktion.
Wendy Kotowski sagte: »Herr Richter, ich muss davon ausgehen, dass es sich hierbei um einen Scherz handelt.«
»Mir ist bewusst, dass es spät kommt, Euer Ehren«, sagte ich. »Glauben Sie mir, ich weiß das. Aber zum ersten Mal habe ich etwas Konkretes, das ich Ihnen zeigen kann. Wenn ich früher damit vor Ihnen erschienen wäre, hätte ich vermutlich keine Chance gehabt.«
»Aber jetzt glauben Sie, Sie haben eine Chance?«, fragte der Richter. Ohne seine Robe, mit seinen knochigen Schultern und seiner gebeugten Haltung wirkte er fast zerbrechlich. Aber er hatte immer noch diese donnernde Stimme.
»Ich hoffe es zumindest, Euer Ehren. Ich weiß alles über Verfahrensregeln und nehme sie sehr ernst. Ich habe rund um die Uhr gearbeitet, um diese Beweise zu sammeln und um Ihnen mehr zu bieten als bloße Spekulationen.«
»Es sind immer noch Spekulationen«, sagte Wendy. »Diese Firma – Global Harvest – hat Düngemittel an eine ihrer Tochterfirmen verkauft? Eine weitere Firma hat ein weiteres Produkt ebenfalls völlig legal an dieselbe Tochterfirma verkauft? Kathy Rubinkowski kam deswegen auf die Idee, dass jemand eine Bombe baut, und wurde ermordet, weil man sie zum Schweigen bringen wollte?«
Der Richter deutete auf Wendy, blickte aber zu mir. »Abgesehen davon, dass diese Informationen viel zu spät kommen, sind sie auch nicht überzeugend«, sagte er. »Wenn Sie glauben, dass diese Personen etwas im Schilde führen – irgendeinen terroristischen Anschlag –, dann sollten Sie darüber mit dem FBI reden.«
»Das habe ich bereits«, sagte ich.
»Ach, das haben Sie bereits.«
»Herr Richter, das Opfer in diesem Fall stolperte über diese Informationen, und eine Woche später war sie tot. Und als sie eine E-Mail an ihren Vorgesetzten in der Kanzlei schickte, kam diese Mail niemals an. Wir haben gerade mit diesem Vorgesetzten gesprochen, Tom Rangle. Diese Mail hat ihn nie erreicht. Also muss irgendjemand in der Kanzlei Kathys E-Mail-Verkehr überwacht und die betreffende Nachricht vernichtet haben. Und nur wenige Tage später hat er sie getötet. Ich habe mehr als genug, um es einer Jury zu präsentieren.«
»Mal abgesehen von der erforderlichen Zeit.«
Ich umklammerte beide Armlehnen meines Sessels. »Wenn Tom verurteilt würde, würde man mir in ein paar Monaten oder Jahren aufgrund dieser Information eine Anhörung wegen neuer Beweise gewähren. Aber ich ziehe es vor, die Beweise hier und jetzt vor einer Verurteilung offenzulegen. Geben Sie mir diese Chance, Herr Richter.«
»Euer Ehren …«, sagte Wendy, aber ich unterbrach sie und fuhr fort.
»Es geht hier um Gerechtigkeit, Euer Ehren«, sagte ich. »Ich meine, deswegen sind wir doch alle hier, oder? Klar, wir haben Regeln und Vorschriften, doch am Ende des Tages sollte keiner von uns – weder Sie noch ich noch die Anklage – verhindert haben, dass die Wahrheit ans Licht kommt. Darum sind Wendy und ich Staatsanwälte geworden. Wir wollten das Richtige tun. Und ich versichere Ihnen, selbst wenn es eine Weile gedauert hat, ich bin auf Informationen gestoßen, die die Unschuld meines Mandanten beweisen. Ich schwöre Ihnen, die Anklage hat den falschen Mann. Und ich kann nicht fassen, dass irgendein Ultimatum mich davon abhalten soll, der Jury das zu zeigen.«
Der Richter dachte über meine Ausführungen nach, was mehr war, als ich erwartet hatte.
»Euer Ehren, ich möchte hier niemanden überrumpeln. Wenn die Anklage mehr Zeit braucht, um meine Informationen zu verarbeiten, dann ist das in Ordnung. Mein Mandant wird so lange eingesperrt bleiben. Sie kann alle Zeit der Welt haben. Verdammt, ich würde ihre Beteiligung sogar begrüßen. Das könnte uns möglicherweise zum richtigen Ergebnis führen. Und es könnte einen terroristischen Anschlag verhindern. Denn mit so etwas möchte ich mein Gewissen nicht belasten. Sie etwa?«
Nach meinem letzten Kommentar starrte mich der Richter verdutzt an. Und genau darum ging es mir. Ich setzte auf den kleinen Schockeffekt, denn während ich diese Information seit Wochen mit mir herumgetragen hatte, hörten die anderen hier zum ersten Mal davon.
Ich wusste nicht, ob irgendetwas davon Wirkung zeigen würde. Wahrheit und Gerechtigkeit waren in diesem Gerichtsgebäude ironischerweise wenig gebrauchte Begriffe, denn hier tummelten sich Anwälte, deren Idealismus im Laufe von jahrzehntelanger Berufsausübung geschwunden war. Kein praktizierender Jurist – ob Richter, Ankläger oder Verteidiger – verwechselte die Vorgänge in diesem Gebäude mit der Suche nach Gerechtigkeit. Aber es kam dem so nahe wie nur möglich. Ein alter Spruch lautete: Die Vereinigten Staaten haben das schlechteste Rechtssystem der Welt, mit Ausnahme aller anderen.
In gewisser Weise musste ich jetzt also klingen wie ein idealistischer Jurastudent im ersten Semester. Aber Richter Nash kannte mich gut genug, um zu wissen, dass ich diese Rede nicht ohne Grund hielt.
»Herr Richter«, sagte Wendy. »Herr Richter, das ist absurd. Und falls es das aus irgendeinem Grund nicht sein sollte, dann hat Mr. Kolarich die zuständigen Behörden ja bereits alarmiert. Es ist also möglich, ihn ernst zu nehmen und mit dem Prozess fortzufahren. Und sollte er am Ende tatsächlich recht behalten, so hat er selbst schon auf die Möglichkeit einer Revision hingewiesen.« Ich wollte antworten, aber sie erhob eine Hand und ihre Stimme. »Wenn ein Prozess jedes Mal zum Erliegen käme, nur weil ein Anwalt sich kurz davor wähnt, die Punkte zu verbinden, die zur vollständigen Entlastung seines Mandanten führen, dann käme es in keinem Gerichtssaal mehr zu einem Urteil.«
Ich blickte hinüber zum Gerichtsschreiber und hatte einen letzten Einfall. »Ich möchte noch eine abschließende Sache fürs Protokoll anmerken, wenn Sie es gestatten, Herr Richter. Nur wenige Tage vor Prozessbeginn haben Sie meine Schuldunfähigkeitsverteidigung ausgeschlossen. Ich weiß, Sie denken, Sie haben die richtige Entscheidung getroffen, aber trotzdem hat mich das in eine sehr schwierige Lage gebracht. Ich plante eine auf einem Schuldeingeständnis basierende Verteidigung, und Sie haben mir diese untersagt. Also blieb mir nur, auf unschuldig zu plädieren, mit wenigen Tagen Vorbereitungszeit. Das habe ich getan. Anfänglich habe ich tatsächlich nur nach rettenden Strohhalmen gegriffen, aber dann haben wir Gott sei Dank Beweise für die Unschuld meines Mandanten gefunden. Worüber ich mindestens ebenso überrascht war wie jeder andere. Aber hier sind sie. Ich bin Ihren Instruktionen gefolgt und fand entlastendes Material, und wenn Sie dieses nun ebenfalls ausschließen – wie kann man da noch von einem fairen Prozess sprechen? Wenn Sie jede Richtung, die ich einschlage, abschmettern?«
Zum ersten Mal flunkerte ich ein wenig. In Wahrheit hatte ich bei der Verteidigung von Anfang an zweigleisig fahren wollen – Schuldunfähigkeit und Unschuld –, um mich irgendwann für eine Richtung zu entscheiden, bevorzugt für Unschuld. Doch das würde Richter Nash nie erfahren. Und während er den Gerichtsschreiber beim Tippen dieser Worte beobachtete, sah er in seiner Vorstellung das Berufungsgericht vor sich, wie es dieses Protokoll studierte. Sie haben ihm eine Schuldunfähigkeitsverteidigung verweigert, worauf er sich für eine Unschuldsverteidigung entschied, und die haben Sie ebenfalls abgelehnt?
Ursprünglich war es mein Plan gewesen, eine wasserdichte Beweisführung auf die Beine zu stellen und diese dem Richter zu präsentieren. Wenn ich ihn von ihrer Schlüssigkeit hätte überzeugen können, hätte er keine andere Wahl gehabt, als sie zuzulassen. Aber so weit war ich noch nicht. Und die Zeit war mehr als knapp. Morgen würde die Anklage ihre Beweisführung abschließen und spätestens am Montagmorgen musste ich eine Verteidigungsstrategie parat haben. Also war jetzt der Zeitpunkt gekommen. Ich musste meine Karten auf den Tisch legen, selbst wenn es noch kein richtig gutes Blatt war.
Richter Nash lehnte sich in seinem Ledersessel zurück und nickte eine Weile mit dem Kopf. Ein großer Denker bei der Arbeit oder so was in der Art. Ich starrte Wendy an, die zurückstarrte. Höchstwahrscheinlich hätte ich als Ankläger ähnlich reagiert, auch wenn ich vermutlich ein wenig gründlicher darüber nachgedacht hätte.
»In Ordnung«, sagte der Richter. »Es wird folgendermaßen laufen. Wir werden jetzt wieder da reingehen und die Zeugenbefragung fortsetzen. Wir werden diese heute noch zu Ende bringen. Und damit dürfte die Beweisführung der Anklage vermutlich abgeschlossen sein, sehe ich das richtig, Ms. Kotowski?«
»Absolut, Euer Ehren.«
»Gut. Montagmorgen erscheinen alle wieder hier. Mr. Kolarich, ich werde mir die Sache durch den Kopf gehen lassen und vorerst auf eine Entscheidung verzichten. Aber ich kann Ihnen nur eines raten, Mr. Kolarich.« Er wackelte mit seinem knochigen Finger in meine Richtung. »Seien Sie Montag auf den Beginn Ihrer Beweisführung vorbereitet. Denn wenn Sie fest damit rechnen, dass ich ein neues Beweisoffenlegungsverfahren eröffne und Sie all diese neuen Zeugen einführen lasse, dann ist das ein Hochseilakt ohne Netz und doppelten Boden. Also tun Sie nicht überrascht, wenn ich Ihren Antrag ablehne und Sie auffordere, Ihren ersten Zeugen aufzurufen.«
Auch diese Bemerkung war für das Protokoll bestimmt, das dem Berufungsgericht vorliegen würde.
»Und da wir schon beim Protokoll sind«, fügte er hinzu, »lassen Sie uns festhalten, dass diese Informationen dem Gericht und der Staatsanwaltschaft an diesem Nachmittag zum ersten Mal vorgelegt wurden. Und nun gehen wir wieder rein.«
»Danke, Herr Richter.«
Alles in allem war es das Beste, auf was ich hatte hoffen dürfen. Der Richter gewährte mir einen Zeitraum von achtundvierzig Stunden, um meine Beweisführung zu komplettieren.
»Besser als erwartet«, raunte Shauna mir zu, als wir das Richterzimmer verließen. »Jetzt bleiben uns zwei Tage, um die Puzzleteilchen zusammenzufügen.«
79
Ich schloss mein Kreuzverhör innerhalb einer weiteren Stunde ab. Es waren ziemlich vorhersehbare Fragen; ich nahm mir die Theorie der Anklage vor und stellte sie in Zweifel, wo immer sich die Möglichkeit dazu bot. Wenn Tom das Opfer zuerst erschossen und dann beraubt hatte – die Theorie, die am meisten Sinn ergab –, wie hatte er es dann geschafft, ihr die Handtasche, das Handy und die Halskette abzunehmen, ohne Blut abzubekommen. Und wenn er sie zuerst beraubt und im Anschluss erschossen hatte – warum bewegte er sich dann zunächst vom Opfer aus gesehen in südliche Richtung, wo sein späterer Fluchtweg doch in nördlicher Richtung lag? Und warum entfernte er sich zuerst dreieinhalb Meter von ihr, bevor er sie erschoss? Wenn er sie beraubt hatte und sie aus irgendeinem Grund töten wollte, dann wäre ein Schuss aus nächster Nähe doch naheliegend gewesen.
Dies war als Kreuzverhör getarnt in Grundzügen mein Abschlussplädoyer. Ich hatte es in Teile zergliedert und stellte meine Fragen ohne chronologische Ordnung. Doch in meinem Resümee würde ich die Teile für die Jury in einen klar erkennbaren Zusammenhang bringen.
Trotzdem wurde ich das Gefühl nicht los, dass in dieser letzten Stunde ein allgemeines Wen-juckt’s-Gefühl vorherrschte. Es fanden sich keine Blutspuren an Tom, weil er aus der Distanz geschossen hatte, und als er ihre Sachen gestohlen hatte, da war er einfach vorsichtig gewesen. Und was die Chronologie des Tathergangs betraf: Wen juckt’s, ob er sie erst beraubt oder erst erschossen hat? Niemand hat gesehen, wie’s passiert ist. Aber das heißt noch lange nicht, dass es gar nicht passiert ist. Präzise Details spielten in der Theorie der Anklage keine Rolle.
All diese Punkte strich Wendy Kotowski in ihrer erneuten Befragung des Zeugen heraus. Ich verzichtete auf ein erneutes Kreuzverhör, und die Anklage schloss ihre Beweisführung ab. Aus meiner Sicht ging die Jury mit dem Gefühl ins Wochenende, dass Tom Stoller schuldig war.
Ich sprach kurz mit Tom, bevor sie ihn zurück ins Body Center schafften. Tante Deidre fand, mein Kreuzverhör sei gut gelaufen, aber sie war natürlich nicht gerade unparteiisch. Ich selbst gab mir eine solide 3+, trotzdem stand es immer noch Anklage gegen Verteidigung, 4:0.
Den Samstagvormittag verbrachte ich mit Deidre und Tom und ging mit Tom seine Aussage durch, zumindest theoretisch. Praktisch versuchte ich, ihn dazu zu bewegen, sich zu öffnen und mir etwas über die Ereignisse vom 13. Januar zu erzählen. Aber sofern es ihm überhaupt gelang, sich zu konzentrieren, beharrte er darauf, dass er sich an nichts erinnern konnte. Es war doppelt frustrierend, weil mir mein Mandant nicht half und ich gleichzeitig kostbare Zeit verlor, in der ich die Ermittlungen gegen Global Harvet hätte weitertreiben können.
Um elf Uhr an diesem Vormittag traf ich eine Entscheidung.
»Ich werde ihn nicht als Zeugen aufrufen«, informierte ich Deidre draußen vor dem Boyd Center. »Er kann uns nicht helfen. Er wird den Mord nicht abstreiten. Und wir dürfen seine Gedächtnislücke nicht durch seine geistige Krankheit erklären. Der Richter hat das ausgeschlossen, weil Tom nicht mit den Psychiatern der Staatsanwaltschaft kooperieren wollte.«
»Weil er es nicht konnte«, schluchzte sie. »Er kann es nicht. Er ist so krank, Jason.«
»Das weiß ich.« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Der Richter hat eine falsche Entscheidung getroffen. Er hat uns reingelegt. Aber es hat keinen Sinn, deswegen Tränen zu vergießen. Stattdessen konzentrieren wir uns lieber auf die Schwächen in der Beweisführung der Anklage. Und da gibt es einige. Außerdem werde ich alles tun, was in meiner Macht steht, um bis Montagmorgen genügend belastendes Material gegen Global Harvest zu sammeln.«
Sie suchte in meinem Gesicht nach einem Zeichen der Hoffnung. »Glauben Sie, der Richter wird das zulassen? Sie haben gesagt, er erwägt es?«
»Ich denke, er erwägt es. Ja. Aber je stichhaltiger die vorgelegten Beweise sind, desto besser stehen unsere Chancen. Ich werde mich jetzt auf den Weg machen, um die neuesten Ergebnisse meiner Anwälte und Ermittler zu erfahren.«
Sie nickte schweigend. Sie brauchte Trost, aber das Beste, was ich für sie und ihren Neffen tun konnte, war, so schnell wie möglich zurück in meine Kanzlei zu fahren.
Unterwegs rief ich Shauna auf dem Handy an. Sie ging nicht dran, rief mich aber nach dreißig Sekunden zurück.
»Tut mir leid, dass ich nicht gleich drangegangen bin«, sagte sie.
»Wie steht’s?«
»So weit, so schlecht.« Shauna war mit Kathy Rubinkowskis direktem Vorgesetzten Tom Rangle drüben in Bruce McCabes Kanzlei. Sie versuchten zu rekonstruieren, was an jenem Tag geschehen war, als Kathy die E-Mail abgeschickt hatte, die vernichtet worden war und die Tom nie erhalten hatte: Wo Bruce McCabe an jenem Tag gewesen war, wer die E-Mail geöffnet und gelesen hatte und wo das Ganze geschehen war, hier im Büro oder außerhalb.
»Bleib dran und fördere was Hilfreiches zutage. Jemand hat dafür gesorgt, dass Tom diese E-Mail nicht kriegt. Es muss McCabe gewesen sein.«
Als ich am Samstagmittag in meine Kanzlei zurückkehrte, waren es noch genau sechsunddreißig Stunden bis zur Eröffnung der Beweisführung der Verteidigung. Und Tom Stollers Schicksal hing jetzt ganz allein von dem ab, was wir bis dahin fanden.
80
»Bruce McCabe«, wiederholte ich am Telefon. »M-c, großes C, a-b-e. Er war einer der namensgebenden Partner der Kanzlei.«
Am anderen Ende der Leitung stieß Wendy Kotowski einen Seufzer aus. »Aber ich sage nicht Ja.«
Allerdings sagte sie auch nicht Nein. Sofern sie noch die Wendy Kotowski war, die ich einmal gekannt hatte, stellte sie als Anklägerin ein gerechtes Urteil über einen Sieg. Nach dem gestrigen Tag mussten ihr gewisse Zweifel gekommen sein. Sie kannte meine Kapriolen vor Gericht, daher war sie zu Anfang mit Recht skeptisch gewesen, doch hatte ich mein übliches theatralisches Gebaren weit hinter mir gelassen, und das wusste sie. Keine Ahnung, ob sie mir wirklich glaubte, was ich sagte, aber offenbar glaubte sie, dass ich es glaubte.
»Mit Joel Lightner wollen die nicht reden«, erklärte ich Wendy. »Die rücken keine Informationen raus. Bitte – prüf es selbst nach, auch wenn du es nachher für dich behältst. Zehn zu eins, dass die Cops Zweifel an McCabes angeblichem Selbstmord haben. Ein Dinner bei Marleys, wenn sie nicht von einem als Selbstmord getarnten Mord ausgehen.«
»Kolarich, zuallererst, verkauf mich bitte nicht für blöd, ja? Wir beide wissen, wenn ich diese Frage stelle und eine Antwort kriege, bin ich automatisch verpflichtet, sie dir mitzuteilen.«
Natürlich hatte sie recht. »Und wir beide wissen, dass ich dich bitte, das Richtige zu tun. Das ist der Mann, den Kathy Rubinkowski wegen Summerset Farms aufgesucht hat. Er ist der Mann, der sie hat abfahren lassen. Und auch wenn ich es vielleicht nie werde nachweisen können, er ist der Kerl, der Kathys Mail aus Tom Rangles Computer gelöscht hat, bevor dieser sie lesen konnte. Tja, und kaum fange ich an, bei ihm herumzuschnüffeln, hängt sich der Kerl plötzlich auf? Ich meine, wie viele Zufälle braucht es noch, damit das Ganze für dich nicht nur Schall und Rauch ist?«
»Ich brauche keine Predigten von dir, Jason.«
»Nein, das brauchst du nicht. Du weißt, was zu tun ist. Also tu es.«
Ich drückte die Austaste.
»Das war schroff«, sagte Tori, die neben mir in meinem SUV saß.
War es auch. Aber ich hatte Vertrauen in Wendy. Und wenn sie nicht mit den Detectives sprach, die Bruce McCabes Selbstmord untersuchten, dann würde ich die Männer vorladen und sie selbst fragen. Was ihr klar war, sodass unsere ganze Unterhaltung etwas Gekünsteltes hatte. Gekünstelt, aber notwendig. Es war besser, Wendy hatte bei der ganzen Sache das Gefühl von Freiwilligkeit. Umso mehr Bedeutung hatte das Ergebnis dann für sie selbst.
Ich bog nach rechts in westliche Richtung ab. »Ich weiß nicht, warum ich mich hab überreden lassen, dich mitzunehmen«, sagte ich.
»Weil du so gerne Zeit mit mir verbringst.« Tori legte eine Hand auf meine, die in meinem Schoß lag. »Weil du nicht so unentschieden bist wie ich.«
»Das könnte gefährlich werden, Tori. Das ist kein Spaß.«
»Ich lache auch gar nicht.«
Nein, das tat sie nicht, aber sie war guter Laune. Räuber und Gendarm zu spielen, schien ihre Stimmung immer zu heben – von unserem ersten Besuch eines Tatorts über den Ausflug zu Summerset Farms bis heute. Damit rückte unsere Beziehung aus dem Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Vielleicht sollte mir das ja etwas verraten.
Ich hielt nach Straßenschildern Ausschau und fuhr langsamer, während wir uns der gesuchten Straße näherten. Als das Schild auftauchte, waren wir noch etwa einen halben Block von der Adresse entfernt. Ich parkte am Straßenrand.
Prompt klingelte mein Handy. Das Display verriet mir, dass es mein draufgängerischer Assistent Bradley John war. Oder John Bradley. Manchmal vergaß ich das.
»Hallo, schöner Mann«, sagte ich.
»Ich hab’s gefunden. Die bundesstaatliche Polizei ist zuständig, ob du’s glaubst oder nicht. Die kontrollieren den Handel mit einer ganzen Zahl explosiver Chemikalien. Unter anderem Nitromethan. SK Tool und Supplies hat Nitromethan an Summerset Farms verkauft.«
»Mann, was für ein großartiges bürokratisches System. Das Landwirtschaftsministerium kontrolliert den Verkauf von Düngemitteln und die bundesstaatliche Polizei den von Nitromethan?«
»So funktioniert unsere Regierung«, stimmte er mir zu. »Die eine Hand weiß nicht, was die andere tut. Und Kathys E-Mail hatte recht – SK hat dieses Produkt ausschließlich an Summerset Farms verkauft.«
Falls es noch irgendwelche Zweifel gegeben hatte, waren sie nun ausgeräumt. Randall Manning hatte zwei Firmen zur selben Zeit gekauft, Summerset Farms sowie SK Tool und Supply. SK lieferte das Nitromethan, Mannings Unternehmen den Ammoniumnitratdünger, und Summerset war beide Male der Empfänger.
Was mir immer noch fehlte, war das Warum. Warum wollte ein Multimillionär wie Randall Manning eine Bombe bauen?
»Es ist sicher interessant zu hören, wie Stanley Keane das erklären will«, sagte Bradley.
»Klar. Ich geb dir Bescheid, sobald ich es weiß.«
Dann legte ich auf und nickte Tori zu. Wir stiegen aus dem Wagen und liefen auf Stanley Keanes Haus zu.
81
Stanley Keane lebte in einer kleinen Stadt namens Weston, hundertfünfzig Kilometer südwestlich der City. Er wohnte in einem doppelstöckigen viktorianischen Ziegelhaus, das auf einem Eckgrundstück stand. Die Grundstücke hier waren großzügig bemessen, und hinter dem Haus hatte Stanley einen parkähnlichen Garten, in dem viele um diese Jahreszeit kahle Bäume standen. Wir marschierten zur Straßenecke und spähten an der Fassade hinauf. Oben brannte Licht. Die vordere Veranda war von einer Markise überdacht, und aus einem Wandleuchter strahlte orangefarbenes Licht.
Soweit ich wusste, lebte Stanley Keane allein. Er war fünfundfünfzig Jahre alt und der einzige registrierte Wähler unter dieser Adresse, was vermutlich eine Frau oder erwachsene Kinder in seinem Haushalt ausschloss. Sein Alter schloss wahrscheinlich auch jüngere Kinder aus, aber da konnte man sich nie sicher sein. Wir arbeiteten rasch und ohne große Vorbereitung, daher mussten wir uns im Moment mit dem Nötigsten zufriedengeben.
Ich hatte bereits ein paar Dinge über Stanley Keane herausgefunden, wusste aber noch nicht genug. Zum Beispiel wusste ich nicht, ob er mich kannte, oder ob er mein Gesicht wiedererkennen würde. Ich wusste nicht mal, ob er Teil dieser Machenschaften war, doch es war ziemlich wahrscheinlich, und mir blieb keine Zeit, lange um den heißen Brei herumzureden.
Es war 20.30 Uhr, kalt und dunkel, daher waren die Straßen menschenleer, was uns entgegenkam. Zwar war Samstagabend, Ausgehabend, doch dies war eine reine Wohngegend. Auf dem Weg hierher waren wir an ein paar gut besuchten Lokalen vorbeigekommen. Aber die waren über einen Kilometer entfernt.
Tori und ich drehten eine Runde um den Block. Es gab einen Hintereingang zu Keanes Haus und natürlich einen Vordereingang. Ich überlegte, wie wir es anstellen sollten.
Wir gingen zurück zum Wagen. Ich fuhr um die Ecke und parkte vor seinem Haus. Zunächst hatte ich erwogen, durch die Hintertür einzudringen, während Tori ihn an der Eingangstür ablenkte. Aber am Ende hatte ich beschlossen, es offen und direkt anzugehen.
Nun ja, mehr oder weniger. Ich heftete meine Dienstmarke gut sichtbar an den Aufschlag meines Mantels. Es war die Dienstmarke eines Staatsanwalts. Ich hatte sie damals im Dienst verloren, was eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit war, weil sie in falschen Händen alle möglichen Katastrophen hätte anrichten können. Sie gaben mir eine Ersatzmarke und behielten zur Strafe ein Monatsgehalt ein, womit ich kein Problem hatte. Als ich später das Original in einem Sakko wiederfand, das aus der Reinigung kam, war ich der Meinung, ich hätte für das Ding bezahlt, also behielt ich es.
»Du bleibst besser im Wagen«, erklärte ich Tori. »Ich weiß, du wolltest mitkommen, und ich dachte, ich hätte Verwendung für dich, aber die Sache zieh ich besser allein durch. Wenn ich ein Strafverfolger bin, wer bist du dann? Du schaust aus wie ein Model, Tori.«
»Dazu bin ich zu klein.«
»Okay, wie ein klein geratenes Model.«
»Mit mir an deiner Seite wirkst du weniger bedrohlich«, wandte sie ein. »Andernfalls bist du dieser einsame, finster aussehende Kleiderschrank. Ich fände dich weniger bedrohlich mit einer Frau an deiner Seite.«
Da mochte sie recht haben. Also gut.
Wir stiegen aus dem SUV und gingen zur Eingangstür. Ich klingelte, trat unter dem Vordach hervor auf die Veranda und hielt meine Dienstmarke hoch in Richtung des erleuchteten Fensters im ersten Stock. Eine Silhouette zeigte sich, dann wurde das Fenster nach oben geschoben.
Ich hielt die Marke so, dass mein Gesicht verdeckt war. Vermutlich hatte er ohnehin keinen allzu guten Blick auf mich, aber es konnte nicht schaden, es ihm noch ein bisschen schwerer zu machen.
»Mr. Keane?«, rief ich. »Ich bin Ermittlungsbeamter des County Sherriffs.«
Er streckte den Kopf durchs Fenster. »Es ist spät. Kann das nicht bis morgen warten?«
»Wenn es warten könnte«, erwiderte ich, »dann hätte ich vermutlich gewartet.«
Er nickte und schloss das Fenster. Wenn Stanley Keane unschuldig und kein Teil dieser Verschwörung war, würde er an die Tür kommen. Wenn Stanley Keane ein schuldiger Mitverschwörer war, würde er ebenfalls an die Tür kommen. Warum auch nicht. War er tatsächlich der Komplize eines geplanten terroristischen Anschlags, warum sollte er es riskieren, diesen zu verraten, indem er vor seinem Haus einen Streit mit einem Strafverfolger vom Zaun brach? Was sollte er dann als Nächstes tun? Mich erschießen?
Ich würde es bald herausfinden. Im Haus gingen eine Reihe von Lichtern an, während er die Treppe herunterkam. Eine Lampe neben der Eingangstür wurde eingeschaltet, und ich straffte mich.
Langsam öffnete er die Tür. Ich hielt meine Dienstmarke so, dass er sie gut erkennen konnte, Teil der Standardprozedur eines nächtlichen Besuchs durch Strafverfolgungsbehörden. Sofern er scharfe Augen hatte, fragte er sich möglicherweise, was ein Typ mit der Marke eines Bezirksstaatsanwalts aus der City hier draußen in Fordham County wollte.
Aber diese Frage stellte er sich nicht. Das erkannte ich sofort, als unsere Blicke sich begegneten. Er wusste, wer ich war.
Ich rammte mit der Schulter gegen die Tür, gerade als er sie ins Schloss werfen wollte. Eine Sekunde später, und sie wäre zu gewesen. Ich konnte die Wucht meines Aufpralls spüren und dann den Widerstand, als die Tür gegen seinen Körper knallte. Wie sich herausstellte, hatte ich ihn zu Boden geschleudert.
»Hier, Stanley«, sagte ich und warf ihm einen Umschlag wie einen Frisbee auf die Brust. »Das ist eine offizielle Vorladung.« Das brachte ihn momentan aus der Fassung, denn offensichtlich hatte er sich innerlich gegen eine drohende Gefahr gewappnet, und nun redete ich lediglich von einer Vorladung. Ich beugte mich über ihn, packte ihn bei seinem Sweatshirt und zog ihn hoch auf die Beine. Er schien sich immer noch nicht so ganz klar darüber, was ihn umgehauen hatte.
Stanley war Mitte fünfzig, circa ein Meter achtzig groß, eher mager und trug einen militärisch kurzen Haarschnitt. Er steckte von Kopf bis Fuß in Trainingsklamotten.
Ich hielt ihn in dieser Position, sein Gesicht direkt vor meinem. Er stand auf den Zehenspitzen. In seinem unsteten Blick spiegelte sich Furcht – ja, jetzt wurde ihm klar, der erste Instinkt, der ihn vor einer umittelbar drohenden physischen Gefahr gewarnt hatte, war doch richtig gewesen.
»Was … wollen Sie?«, brachte er hervor.
»Ich möchte wissen, wer mich umbringen wollte. Zweimal«, fügte ich hinzu. »Und ich werde Ihnen sämtliche Knochen brechen, so lange, bis ich eine Antwort habe.«
Seine Furcht wandelte sich schnell in Trotz. Er blickte finster, was angesichts seiner prekären Lage und der Atemnot sicher nicht leicht war.
»Da müssen Sie sich … schon mehr einfallen lassen«, fauchte er.
»Das ist jetzt interessant, Stanley. Eigentlich hätte ich so was erwartet wie: ›Was meinen Sie damit, jemand wollte Sie umbringen? Ich habe keine Ahnung, wovon Sie da reden. Ich kenne Sie nicht mal‹. Daher weiß ich Ihre Offenheit sehr zu schätzen, Stan. Das ist ein guter Anfang.«
Ich stieß ihn gegen die nächste Wand, behielt ihn dabei aber fest im Griff.
»Also, Patrick Cahill und Ernie Dwyer – Sie erinnern sich doch noch an die beiden Aryan Brothers, die nach ihrem versuchten Mordanschlag auf mich verhaftet wurden? Die beiden behaupten, Sie stecken dahinter, Stan. Sie wälzen die ganze Schuld auf Sie und Bruce McCabe ab.«
»Blödsinn«, zischte er durch die Zähne.
»Ich persönlich glaube ja, es war Ronald McDonald oder … wie war sein Name gleich? Ach ja, Randall Manning.« Ich rammte ihm mein rechtes Knie in den Unterleib. Er kippte nach vorn, aber ich war da, um ihn aufzufangen. In meinen Armen sackte er in sich zusammen, aber obwohl ich nicht trainiert hatte seit der Verletzung meines linken Knies – das übrigens dank des Adrenalinschubs gut mitmachte –, gelang es mir, ihn wieder aufzurichten, indem ich die Wand zu Hilfe nahm. Das musste mit irgendwelchen physikalischen Gesetzen zu tun haben. Ich würde Tori später dazu befragen.
»Jason, was machst du da?«, fragte Tori.
»Ich erkundige mich nach Informationen. Warum gehst du nicht nach oben und schaust dich dort ein wenig um? Ist das in Ordnung für Sie, Stan, wenn meine Partnerin oben ein wenig herumschnüffelt?«
»Scheiß … auf Sie.«
»Ich nehme das als Ja.« Ich nickte Tori zu, darauf bedacht, ihren Namen nicht zu erwähnen. »Sieh dich um. Such nach einem Computer, einem Handy, Unterlagen, solchem Kram.«
Ich wartete, bis sie die Stufen hinaufgerannt war.
»Ich werde … Sie beide töten«, sagte Stanley
Ich hielt ihn mit meiner linken Hand fest. Dann rammte ich meinen rechten Ellbogen gegen sein Schultergelenk. Der Lineman in der College-Footballmannschaft hatte diesen Block den ganzen Tag lang geübt, und ich hatte ihm nach dem Training dabei Gesellschaft geleistet. Ich hatte dieses Manöver immer gemocht, ein schneller Stoß, der ohne Ausholen gleichsam aus dem Nichts kam.
Der Treffer gegen Stanleys Schulter war entweder Übelkeit erregend oder befriedigend, je nachdem aus welcher Perspektive man es betrachtete. Stanley schrie auf vor Schmerz und biss dann die Zähne zusammen. Jetzt war er richtig sauer.
»So fühlt sich ein ausgerenktes Schultergelenk an, Stan. Wie angekündigt werde ich Knochen brechen, aber bisher waren das nur ein Tritt in die Eier und eine ausgekugelte Schulter …«
Seine rechte Hand hob sich zu einem wirkungslosen Schlag. Ich packte seine Rechte mit beiden Händen. Dann bog ich seine Finger zurück und legte mein ganzes Körpergewicht hinein. Vermutlich brach ich ihm mindestens drei Finger, den Knackgeräuschen nach zu urteilen. Allerdings war es schwer, das genau zu sagen, weil die Geräusche fast gleichzeitig ertönten.
Keane stürzte zu Boden, seine linke Hand hielt die rechte umklammert. Er schrie, und weil das hier ein ruhiges Viertel war, warf ich mich auf ihn und presste meine Hand auf seinen Mund.
»Es wird noch schlimmer, Stan. Ich breche Ihnen jeden einzelnen Knochen im Leib, wenn es sein muss. Also kommen wir endlich auf den Punkt.« Ich funkelte ihn an. »Erzählen Sie mir was über die Bomben.«
82
»Jason, hör auf damit.« Tori kam die Treppe heruntergelaufen, in der Hand eine blaue Sporttasche aus Leinen. »Du bringst ihn noch um.«
»Man stirbt nicht an einer ausgerenkten Schulter«, stellte ich fest, die Knie auf Stanleys Arme gedrückt. »Oder an gebrochenen Fingern. Oder an einem gebrochenen Handgelenk. Sieht dieses Handgelenk für Sie gebrochen aus, Stan?«
Ein gebrochenes rechtes Handgelenk passte in meinen Augen vorzüglich zu gebrochenen linken Fingern, denn damit konnte er keine Waffe mehr bedienen, jetzt oder später. Stanley hatte die Augen zugekniffen und stöhnte vor Schmerz. Offensichtlich befand er sich kurz vor einem Schockzustand. Möglicherweise hatte Tori doch recht.
»Wenn du weitermachst, kriegt er noch eine Herzattacke«, sagte sie.
»Stanley. Stanley.« Ich klatschte leicht gegen seine Wange. »Die Bomben, Stan. Was wollt ihr in die Luft jagen und wann?«
Stanley Keane verlor jetzt immer mal wieder kurz das Bewusstsein. Höchstwahrscheinlich litt er unter entsetzlichen Schmerzen. Ich hatte es übertrieben. Ich hatte meiner Wut freien Lauf gelassen. Aber das war mir gleichgültig.
»Hör auf damit, Jason. Ich denke, ich hab was gefunden. Lass uns verschwinden«, sagte Tori. »Bitte.«
»Geh zum Wagen«, sagte ich. »Du musst hier nicht dabei sein.«
»Nein. Ich gehe nicht ohne dich. Komm jetzt.«
»Noch nicht.« Ich erhob mich von Stanley, schleifte ihn ins Wohnzimmer und hievte ihn in einen Sessel. Dann marschierte ich in seine Küche, schnappte mir ein Glas und füllte es mit Wasser. Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, war er in sich zusammengesackt, sein Kinn lag auf der Brust, und sein Atem ging flach.
Ich nahm einen Schluck Wasser, weil ich durstig war. Den Rest schüttete ich ihm ins Gesicht.
Es half ein bisschen. Er schüttelte den Kopf und schaffte es, mich anzusehen.
»Sie haben es in der Hand, wann es zu Ende ist«, sagte ich. Dann streifte ich die Slipper von seinen Füßen. »Als Nächstes werde ich Ihre Zehen zu Hackfleisch verarbeiten«, sagte ich und zeigte ihm meine Stiefel.
»Nein, Jason. Hör auf!«, rief Tori.
»Sie haben … keine Ahnung«, murmelte Stanley.
»Ich weiß, dass Ihre Firma das Nitromethan geliefert hat und Randys Firma das Düngemittel. Ich weiß, dass Sie eine Bombe bauen. Und das FBI weiß das ebenfalls. Sie kennen doch das FBI, Stan. Vermutlich haben Sie das genau ausgeklügelt. Die Bundesbehörden sind immer ein oder zwei Schritte hinterher, weil sie Beweise für einen Durchsuchungsbefehl brauchen, aber irgendwann sind die auch so weit. Stanley, Sie sind erledigt. Die sind Ihnen auf der Spur. Weder Sie noch Randy noch irgendjemand aus Ihrer Gruppe von Geistesgestörten wird davonkommen. Also erzählen Sie mir, was Sie vorhaben und wann es stattfindet, oder Sie werden den Rest Ihres armseligen Lebens an Krücken gehen.«
»Ich … war … nicht eingeweiht.«
Ich legte eine Pause ein. Er wollte mir also erzählen, dass es Sicherheitsmaßnahmen gab und nur die Akteure des betreffenden Tages in die Details eingeweiht waren. Das war immer eine gute Geheimhaltungsstrategie.
»Sie wissen jede Menge, Sie Drecksack.« Ich packte ihn am Hemd. »Ich gehe nicht, bevor Sie es mir nicht verraten.«
Ich wollte seine Zehen nicht zerquetschen. Aber es war eine Chance, etwas herauszufinden. Vielleicht meine einzige Chance. Also verpasste ich ihm einen weiteren Stoß gegen die Schulter, der ihn daran erinnerte, wie sehr sie schmerzte.
Er stieß einen dumpfen Laut aus, irgendetwas Primitives, wie ein verwundetes Tier, dann sackte er gegen die Armlehne des Sessels und fauchte durch die Zähne. Jetzt war die Grenze erreicht. Er schrie nicht einmal mehr laut, er keuchte und stöhnte nur noch. Zu viel auf einmal war unerträglich.
»Sie werden es mir erzählen. Und weil Sie vermutlich bald ohnmächtig werden, kommen wir besser gleich zum Finale. Es besteht darin, dass ich in Ihre Küche gehe, ein Schlachtermesser hole und Ihnen die Eier abschneide. Sie werden hier im Sessel verbluten, während ich dabei zusehe.«
Ich blickte zu Tori, die mich mit offenem Mund anstarrte. Offenbar war sie sich nicht sicher, was sie da miterlebte oder wen sie miterlebte. Nicht mal ich war mir da sicher, nicht im Moment.
Ich deutete ein Kopfschütteln an, um ihr zu signalisieren, dass ich bluffte. Doch das änderte nichts an ihrem Gesichtsausdruck.
Stanley schluckte hart, dann wurden seine Augen leer. Einen panischen Moment lang dachte ich, er wäre gestorben. Aber er war nicht tot. Er war nur ruhig geworden.
»Es … tut mir leid«, murmelte er. »So leid … dass ich nicht für dich da war.«
»Was tut Ihnen leid?«, fragte ich und schüttelte ihn am Arm.
Er verzog das Gesicht. Aus dem Nichts kamen plötzlich Tränen und strömten seine Wangen hinab, während sein Kopf auf die Armlehne sank.
»Ich vermisse dich so«, sagte er. »Ich komme … zu dir … ich komme …«
»Er verfällt in einen Schockzustand«, sagte Tori. »Wir müssen ihn in ein Krankenhaus schaffen.«
Ich blickte wieder zu Stanley, der mir in die Augen sah. »Töten Sie mich«, sagte er mit erstaunlich kräftiger Stimme. »Es spielt kei… keine Rolle … mehr.«
»Erzählen Sie es mir, Stanley. Was immer Sie vorhaben, es muss verhindert werden.«
In null Komma nichts hatte mein Tonfall von aggressivem Drohen zu Bitten gewechselt. Dieser Mann, das hatte ich jetzt erkannt, würde nicht reden. Vermutlich konnte ich sogar die Wasserfolter anwenden, und er würde nicht auspacken. Was immer er vorhatte, er stand entschlossen dahinter.
Worüber er da sprach – über irgendeine Tragödie in seinem Leben? –, wusste ich nicht. Aber mir war klar, dass ich ihn nicht zum Reden bringen würde, und einfach hierlassen konnte ich ihn auch nicht.
Also hob ich ihn auf meine Arme und ging zur Tür.
83
Tori fand in ihrem iPhone die nächstgelegene Notaufnahme. Ich stürmte hinein, und wir wurden sofort drangenommen. Ich erzählte ihnen, mein Onkel hätte alleine einen Kühlschrank in den Keller tragen wollen und wäre dabei die Treppe hinuntergestürzt. Die Frakturen des Handgelenks, der Hände und die ausgerenkte Schulter schienen mir zu dieser Geschichte zu passen.
Stanley konnte natürlich eine ganz andere Geschichte erzählen, aber das erschien mir wenig wahrscheinlich. Er hatte eine ziemlich schmutzige Weste. Warum sollte er Aufmerksamkeit auf sich lenken?
Ich füllte die medizinischen Fragebogen aus und verließ dann das Krankenhaus. Tori wartete draußen mit laufendem Motor auf mich, und ich sprang in den SUV.
»Das … war nicht richtig«, sagte sie zu mir gewandt.
»Da hast du recht.« Ich blickte sie an. »Du hättest mich nicht bremsen sollen.«
»Das hab ich nicht ge…«
»Ich versuche, hier Leben zu retten, Tori. Dieser Kerl will irgendwas in die Luft jagen. Da bleibt keine Zeit für irgendwelchen menschelnden Bürgerrechtsscheiß. Tut dir dieses Arschloch etwa leid?«
»Darum geht’s nicht …«
»Verdammt, natürlich geht’s darum. Glaubst du vielleicht, es hat mir Spaß gemacht?«
Sie schwieg. Was einer Antwort gleichkam.
»Okay, jetzt bin ich also der Soziopath«, schäumte ich. »Ich schlage einen Terroristen, und deswegen bin ich jetzt der Böse. Ich werde eingesperrt, damit er in Ruhe einen Massenmord planen kann.«
Sie blickte weg. »Lass uns einfach nach Hause fahren«, sagte sie ein wenig kleinlaut.
»Ja, einverstanden. Und vielen Dank für deine Begleitung, Tori. Du warst eine echte Hilfe.«
Sie antwortete nicht. Es gab nicht mehr viel dazu zu sagen. Mein Vorgehen tat mir kein bisschen leid. Ich bereute nur, dass ich nicht mehr aus ihm herausgeholt hatte. Tatsächlich hatte ich im Grunde gar nichts bekommen, außer der Bestätigung, dass ich auf der richtigen Spur war.
Wir fuhren eine Weile, bis wir wieder auf die Hauptstraßen gelangten und dann auf den Highway. Jetzt, da das Adrenalin weg war, fühlte ich mich völlig erschöpft. Mein Schädel pochte, und mein Knie erinnerte sich plötzlich daran, wie sehr es schmerzte.
»Was ist in der Sporttasche?«, fragte ich. »Was hast du aus dem ersten Stock mitgenommen?«
»Alles, was auf seinem Schreibtisch lag«, antwortete sie. »Ein Stapel Papiere, den ich nicht durchsehen konnte.«
»Was ist mit seinem Handy oder seinem Computer?«
»Ich konnte nirgendwo einen Laptop entdecken. Nur einen PC, den ich nicht hätte wegschleppen können. Und es war nirgendwo ein Handy zu finden. Ich hatte ja auch kaum Zeit, Jason. Es hat sich angehört, als würdest du ihn umbringen.«
Ich hatte nicht die Energie, die Diskussion über Bürgerrechte wieder aufzuwärmen. Ich betete einfach nur, dass sie irgendetwas Brauchbares aufgetan hatte.
84
Zurück in meinem Hotelzimmer leerte ich die blaue Sporttasche aus, die Tori aus Stanley Keanes Büro mitgenommen hatte. Mein ursprünglicher Optimismus ebbte rasch ab beim Sichten von Stanleys Telefon- und Kabelfernsehrechnungen, Briefen seiner Krankenkasse, Gehaltsabrechnungen seiner Firma und einem Schreiben von Publishers Clearing House, das ihm einen möglichen Gewinn von einer Million Dollar ankündete.
Aber bevor ich zu einem zweiten provisorischen Stapel übergehen konnte, der ähnlich irrelevanten Kram zu enthalten schien, machte mein Herz plötzlich einen Sprung. Unter dem Stapel lag eine zusammengefaltete Karte der Innenstadt.
Ich breitete sie auf dem Tisch aus. Die Karte beschränkte sich auf den Geschäftsbezirk, der im Westen von der Nord-Süd-Schleife des Flusses und im Osten vom See begrenzt wurde; insgesamt umfasste sie zwölf Häuserblocks, die durch den von Osten nach Westen verlaufenden Seitenarm des Flusses in zwei Hälften unterteilt wurden.
Die Markierungen mit Rotstift fielen mir sofort ins Auge. In der Nähe der südlichen Grenze war neben dem Hartz Building am South Walter Drive ein rotes X eingetragen. Daneben stand von Hand geschrieben die Zahl 12. Von dort führte ein roter Strich nördlich die South Walter hinauf zum River Drive, überquerte die Lerner Street Bridge und endete am Federal Building. Neben dem Federal Building war ein weiteres X eingetragen, ebenso wie beim zwei Blocks entfernten State Building. Neben State und Federal Building stand jeweils die Zahl 1.
»Das ist es«, sagte ich zu Tori, die auf dem Bett neben mir saß. »Sie werden das Hartz Building und das State und das Federal Building in der Innenstadt in die Luft jagen.«
»Das Hartz Building?«, fragte Tori. »Was ist das? Was befindet sich dort?«
»Keine Ahnung. Ich kenne da ein paar Kanzleien.« Ich folgte der Route mit meinem Finger. »Angenommen zwölf und eins sind Uhrzeiten, dann werden sie um zwölf – oder um Mitternacht – beim Hartz Building zuschlagen und dann eine Stunde später bei den Regierungsgebäuden.«
Das kam mir merkwürdig vor. Ich hatte noch nie einen Bombenanschlag geplant und daher zugegebenermaßen wenig Ahnung von der Materie, dennoch schien es mir wenig einleuchtend, die Anschläge nicht gleichzeitig durchzuführen.
»Die Frage ist der Zeitpunkt«, sagte Tori. »Morgen, in einem Monat, wann?«
Das war nicht die einzige Frage. Aber keiner von uns kannte die Antworten. Und Stanley Keane stand nicht länger für Fragen zu Verfügung. Wären wir bei ihm zu Hause anders vorgegangen, hätten wir vielleicht diese Karte rechtzeitig entdeckt und ihn dazu befragen können.
Doch das war Schnee von gestern. Es war sinnlos, diese Diskussion noch einmal aufzurollen.
»Ich rufe das FBI an«, sagte ich.
Ich blickte mich um und fand mein Handy. Gerade als ich danach griff, begann es zu klingeln. Ich hasse es, wenn das passiert.
Diesmal war es möglicherweise anders. Denn die Anruferkennung verriet mir, dass es Wendy Kotowski war, meine Widersacherin im Gerichtssaal.
»Morgen früh um neun«, verkündete Wendy. »Im Büro der Rechtsmedizin. Wenn du nur eine Minute zu spät bist, lass ich dich nicht mehr rein.«
85
Wendy Kotowski, Detective Frank Danilo und ich beugten uns über einen Tisch im Büro der leitenden Rechtsmedizinerin des Bezirks, Dr. Mitra Agarwal.
»Das«, sagte die Medizinerin, »sind Fotos eines Mannes, der sich vor drei Wochen in einer psychiatrischen Klinik erhängt hat.« Sie deutete auf die Blutergüsse, die vom Nacken aus an beiden Seiten des Halses schräg nach vorne unten verliefen und sich in der Mitte seiner Kehle trafen.
»Die Wirkung der Schwerkraft bei einem Sturz aus einer gewissen Höhe – dieser Mann sprang von einer Leiter – erzeugte eine Strangfurche in Form eines V«, sagte die Ärztin. »Sein Genick war nicht gebrochen. Beim Erhängen bricht fast nie das Genick, und bei einer Höhe von einem Meter achtzig oder weniger ist es so gut wie ausgeschlossen. Dieser Tote weist keine Quetschungen der Hals- oder Kehlkopfmuskulatur auf, was ebenfalls für Selbstmord spricht. Und schauen Sie hier.« Sie zeigte eine Reihe weiterer Fotos. »Man sieht keine zusätzlichen Blutergüsse neben der Strangfurche, die auf irgendeine Form von Kampf oder Widerstand hindeuten. Keine Schnitte oder Abschürfungen. Dies«, folgerte sie, »ist ein klassischer Selbstmord durch Erhängen.«
Okay. So weit, so gut. Und nun würden wir uns hoffentlich unserem toten Lieblingsanwalt Bruce McCabe zuwenden.
»Und hier sind Aufnahmen des zu untersuchenden Toten, Mr. … McCabe.«
Sie ließ zwei aus leicht unterschiedlichen Winkeln gemachte Aufnahmen von Bruce McCabes Hals und Schultern auf den Tisch fallen. Mir stockte der Atem.
»Beachten Sie, dass die Strangfurche in gerader Linie quer über die Kehle verläuft«, sagte sie. »Außerdem ist das Genick des Toten gebrochen. Und wir fanden innere Quetschungen der Halsmuskulatur.«
Sie legte zwei weitere Fotos dazu.
»Und schließlich«, sagte sie, »sehen Sie weitere Blutergüsse und Abschürfungen rund um die Strangfurche, ebenso wie an Kinn und Wangen. Spuren eines Kampfes. Er hat verzweifelt nach der Schnur um seinen Hals gegriffen.«
Ich blickte zu Wendy, dann zu der Ärztin.
»Bruce McCabe hat also nicht Selbstmord begangen«, sagte ich.
»Bruce McCabe wurde von hinten stranguliert.« Die Ärztin nickte. »Er war tot, lange bevor sie ihm eine Schlinge um den Hals legten und ihn aufhängten.«
***
»Ach, komm schon, Wendy«, sagte ich draußen vor dem Büro der Rechtsmedizin. Es war einer der seltenen Dezembertage, an denen sich die Sonne zeigte. Letzte Nacht war etwas Schnee gefallen, er glitzerte im Sonnenlicht. »Der Anwalt, der zu vertuschen versuchte, was Kathy Rubinkowski aufgedeckt hatte, wird tot aufgefunden, just als ich anfange herumzuschnüffeln? Diese Kerle verwischen ihre Spuren, sie bauen eine Wagenburg.«
Wendy stand mit verschränkten Armen da und ließ sich demonstrativ Zeit mit ihrer Antwort.
»Du hast diese Information schon eine ganze Weile, Jason. Aber du hast mir nie was davon gesagt, um den Überraschungseffekt auf deiner Seite zu haben – doch jetzt, jetzt knallst du sie mir vor den Bug und erwartest, dass ich freudig darauf reagiere? Dir brav aus der Hand fresse wie ein Hund?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich erwarte nur, dass du diesen Punkt sorgfältig erwägst«, sagte ich. »Ich erwarte, dass du ihm den nötigen Stellenwert beimisst und anerkennst, dass deine Cops vielleicht vorschnell über meinen Mandanten geurteilt haben. Ich verlange nicht, dass du die Anklage fallen lässt, Wendy. Aber gönn uns einfach mehr Zeit. Lass uns den Prozess vertagen oder zusammen vor den Richter treten mit einem Antrag auf Einstellung wegen Verfahrensfehler. Du hast mehr als begründete Zweifel daran, dass die Person, die du anklagst, wirklich schuldig ist. Ich muss das noch mal in der Verfassung nachlesen, aber vermutlich ist das etwas, das du nicht tun solltest.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn du mir diese Information früher gegeben hättest, hätte ich sie einbeziehen und Nachforschungen anstellen können. Das hätte ich ganz sicher getan, Jason. Aber du hast sie zurückgehalten, um mich damit zu überraschen …«
»Du weißt verdammt genau, dass Richter Nash meine Beweisführung in einer Nanosekunde zurückgewiesen hätte, hätte ich sie in dieser vorläufigen Form vorgelegt! Und du hättest ihm auch noch dafür applaudiert«, fügte ich hinzu. »Ich konnte diese Fakten nicht anführen, solange es bloße Spekulation war. Ich hätte gerne noch ein bisschen länger damit gewartet, aber weil du deine Beweisführung frühzeitig abgeschlossen hast, hieß es jetzt oder nie. Jeden Tag erfahre ich neue Dinge, Wendy, und jeden Tag wird meine Theorie weiter untermauert. Denk nur an das, was du mir da drin gezeigt hast.«
»Gern geschehen übrigens.«
»Ja, danke, dass du deinen Job gemacht hast. Auch wenn wir beide wissen, dass andernfalls ich Mitra hätte vorladen lassen und den Richter über die verweigerte Zusammenarbeit informiert hätte.«
Diese Bemerkung hätte ich mir vermutlich besser verkniffen. Natürlich war es uns beiden klar, trotzdem war es besser, wenn sie das Gefühl hatte, es aus freien Stücken getan zu haben. Es ermunterte sie zu einer kooperativen Haltung und verhinderte, dass sie sich in ihre Ecke zurückzog und ich mich in meine, bevor wir im Ring wieder aufeinander einprügelten.
»Hör zu, Wendy. Ein Kerl, den ich wegen Beihilfe zum Mord und womöglich wegen noch Schlimmerem unter die Lupe nehme, wird tot aufgefunden, bevor ich ihn vorladen kann. Es ist ein lupenreiner Mord, der als Selbstmord ausgegeben wird. Damit wir nicht erkennen, was er in Wahrheit ist – nämlich ein weiterer Beweis für eine groß angelegte Vertuschungsaktion.«
Das alles wusste sie bereits. Ich versuchte es nur für sie noch einmal in ein klares Licht zu rücken. Es sollte ein tiefgehendes Schuldgefühl bei ihr wecken. Und hier kam der K.o.-Schlag:
»Ein Mann hat sein Leben für sein Land riskiert und wurde dabei völlig ruiniert – schuldet ihm die Regierung, die ihn dorthin geschickt hat, da nicht wenigstens einen gründlichen Blick auf die Beweise, bevor sie ihn lebenslänglich ins Gefängnis schickt?«
»Okay«, sie winkte ab. »Das reicht. Du hast deine Theorie, ich habe meine. Ich glaube immer noch, dass dein Mandant der Täter ist. Du glaubst es nicht. In Ordnung. Lass uns in die Schlacht ziehen. Und wäre ich nicht auf den Prozess vorbereitet, dann würdest du mir wohl auch kaum deine Schulter zum Ausweinen anbieten.«
»Unsere Jobs haben ein unterschiedliches Profil, und das weißt du. Du hast eine höhere moralische Verpflichtung.«
Sie deutete mit dem Finger auf mich. »Belehre mich nie wieder über meine Verpflichtungen, Jason. Ich habe die Nase voll von deinen Moralpredigten. Ich habe meinen Täter und eine schlüssige Beweisführung. Soll doch der Richter über Prozessaufschübe oder Verfahrensfehler entscheiden. Ich habe dir Zugang zu diesen Informationen über die Autopsie verschafft, und damit hat sich’s. Das war mehr als genug Entgegenkommen. Jetzt erledige du deinen Job, und ich erledige meinen.«
Sie drehte sich auf dem Absatz um und rauschte davon. Ich hatte sie noch nie so wütend gesehen. Aber es war keine verlorene Zeit gewesen. Zwar hatte ich das Gewünschte nicht erhalten, trotzdem würde sie über die Sache nachdenken. So sehr sie sich auch wehrte – sie kannte ihre Verpflichtung und war sich darüber im Klaren, dass diese über das Gewinnen eines Prozesses hinausging. Es ging um Gerechtigkeit. Ich hoffte immer noch, dass sie sich morgen auf meine Seite schlagen würde.
Apropos. Ich blickte auf meine Uhr. Es war Sonntag Punkt zwölf Uhr mittags. In einundzwanzig Stunden würden wir uns wieder im Gerichtssaal einfinden.
Mein Handy klingelte. Es war Joel Lightner.
»Ich bin in der Kanzlei«, sagte er. »Wo zum Teufel steckst du?«
Ich seufzte. »Ich? Ich bin im Schönheitssalon und lass mir die Augenbrauen zupfen.«
»Ah, dann verfrachte deinen hübschen Hintern mal schleunigst hierher, mein Süßer«, sagte er. »Ich hab Neuigkeiten für dich.«
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Die Fahrt vom Büro der Rechtsmedizin auf der South Side bis zu meiner Kanzlei dauerte fünfundzwanzig Minuten. Unterwegs versuchte ich mich zu konzentrieren, doch das gelang mir nur mit Mühe. Mir fehlte Schlaf. Tori und ich hatten fast die ganze Nacht über den Unterlagen aus Stanley Keanes Haus gebrütet. Irgendwann bei Anbruch der Dämmerung musste ich eingedöst sein. Daher fühlte ich mich wie die Lexikondefinition von auf dem Zahnfleisch gehen.
Als ich in der Kanzlei eintraf, erwartete mich Joel Lightner bereits; er wirkte ausgeruht und voller Tatendrang. Er informierte Shauna telefonisch über meine Rückkehr, also war er offensichtlich bereit, die aufregende Nachricht uns beiden zu verkünden. Bradley John stellte sich ebenfalls ein, und wir ließen uns alle im Konferenzraum nieder, um Joel zu lauschen.
»Okay«, sagte er und legte die Fingerspitzen aneinander. »Wie wir wissen, hat Global Harvest International im Juni 2009 zwei Firmen aufgekauft – Summerset Farms und SK Tool und Supply. Und wir wissen weiterhin, dass Manning seine Pläne, Global Harvest in eine Aktiengesellschaft zu verwandeln, aufgeschoben hat.«
»Richtig.«
»Die Frage war also, was passierte im Juni 2009?«
»Richtig«, wiederholte ich. »Und die Antwort?«
»Die Antwort ist«, sagte Joel, »dass im Juni 2009 überhaupt nichts passierte. Aber dein hervorragender Privatdetektiv – du weißt schon, der, der nicht mal die Spur eines blutenden Elefanten im Schnee verfolgen kann …?«
»Ich denke, ich hab mich bereits dafür entschuldigt.«
»Aber deine Entschuldigung klang nicht allzu überzeugend. Jedenfalls, die Frage ist, was geschah im Mai 2009?«
»Okay«, sagte ich. »Was geschah im Mai 2009?«
»Im Mai 2009 ging Global Harvest International eine Partnerschaft mit der türkischen Firma Verimli Toprak ein, einem Unternehmen aus dem Süden der Türkei, der … Çukurova? Die Region Çukurova ist offenbar eine der fruchtbarsten in der ganzen Welt. Also haben wir hier Konzernbildung, Globalisierung, internationale Partnerschaften, all das. Richtig?«
»Richtig.«
»Okay, sobald der Deal in trockenen Tüchern war, der erste Spatenstich getan, der Grundstein gelegt, kehrte Randall Manning in die Vereinigten Staaten zurück und überließ seinem Sohn Quinn die Leitung des neu entstandenen Joint-Venture-Unternehmens. Quinn Manning hatte eine Frau, Julie, und eine Tochter, Cailie. Auch Mannings Frau Bethany blieb dort, vermutlich um noch etwas Zeit mit ihrem Sohn und ihrer Enkelin zu verbringen, richtig?«
»Richtig.«
»Sie lebten alle in der Stadt Adana. Adana in der Türkei.« Er blickte uns an.
»Oh, Adana.« Shauna schnappte nach Luft. »Das … wie nannten sie es doch gleich? Das Adana-Massaker oder so ähnlich?«
Ich konnte nicht ganz folgen. Irgendwie ließ der Name was bei mir klingeln, doch ich hatte mich schon einige Zeit nicht mehr ums Weltgeschehen gekümmert. Manche würden sagen, eine lange Zeit. Andere würden sagen: noch nie. »Kann mich irgendjemand aufklären«, sagte ich.
Joel übernahm das, stolz auf seine erfolgreichen Ermittlungen. » In der ersten Maiwoche 2009 fand im Hauptstadion von Adana ein europäisches Fußballturnier statt. Franzosen, Spanier, Italiener, Deutsche – alle Nationalitäten strömten nach Adana zum Turnier. Und damit sind wir beim sechsten Mai 2009. An diesem Tag verübte die Terrorgruppe Bruderschaft des Dschihad einen Anschlag auf das Sahmeran Adana Hotel. Ein Lastwagen voller Sprengstoff raste die Stufen des Hotels hinauf und explodierte. Die Detonation erschütterte das Gebäude so, dass es kurz vor dem Einstürzen war. Im Inneren starben viele Menschen. Aber einige überlebten. Sie konnten fliehen. Und – erinnerst du dich jetzt? Die Terroristen warteten draußen auf sie. Sie eröffneten das Feuer auf die Flüchtigen. Sie ballerten sie ab wie in einem Videospiel. Und sie hatten Macheten. Sie enthaupteten einige von ihnen. Es war wie im blutigen finsteren Mittelalter.«
»Jesus«, sagte ich.
»Allah wäre wohl richtiger.« Joel nickte. »Mannings Frau, Sohn, Schwiegertochter und einziges Enkelkind wohnten in dem Hotel. Sie starben alle. Randall Mannings gesamte Familie wurde ausgelöscht.«
Heilige Scheiße. Ich wusste, was es hieß, eine Frau und eine Tochter zu verlieren. Aber ich konnte niemandem die Schuld dafür geben außer mir selbst.
»Bruce McCabe«, sagte Joel. »McCabes Frau arbeitete im Marketing von Global Harvest«, sagte er. »Sie war nur für kurze Zeit in Adana. Auch sie starb.«
»Wow«, sagte Shauna.
»Und Stanley Keane?«, fragte ich.
Joel nickte ernst. »Sein Sohn war ein großer Highschool-Fußballstar. Er stand unter Vertrag bei einem belgischen Team, das in dieser Woche in Adana spielte. Keine Ahnung, ob er in dem Hotel untergebracht war, jedenfalls war er an diesem Tag dort. Und auch er starb. Ebenso wie seine Mutter, Stanleys Frau.«
Unglaublich. Das erklärte Stanleys Gemurmel, wie leid es ihm tat, nicht dort gewesen zu sein, und wie sehr er seine Familie vermisste. Seine Frau und sein Sohn waren von islamischen Terroristen in die Luft gesprengt worden.
»Über dreihundert Menschen starben an diesem Tag«, sagte Joel. »Darunter siebzehn Amerikaner.«
»Es wurde also nicht als direkter Angriff auf Amerika gewertet.«
»Richtig. Die meisten Opfer waren Europäer. Es starben zwar auch Amerikaner, aber in erster Linie galt der Angriff den Abtrünnigen, den Ungläubigen«, sagte Joel. »Den Ungläubigen, die ihr Land okkupierten.«
Shauna warf die Arme hoch. »Das ist also die Verbindung.«
»Die Verbindung besteht darin, dass sie stinksauer auf unsere Regierung waren«, sagte Joel. Er gestikulierte mit der Hand, in der er die Fernbedienung für den Fernseher und den DVD-Player in unserem Konferenzraum hielt. Dann drückte er auf Play, und der Fernseher sprang an. »Das war verdammt schwierig aufzutreiben«, sagte er.
Ich brauchte einen Moment, doch dann erkannte ich Randall Manning, der vor einer Reihe Mikrofone stand. Er war nachlässig gekleidet, sein Haar war ungewohnt zerzaust und sein Gesicht vor Wut verzerrt.
»Warum marschiert unsere Regierung nicht in dieses Land ein?«, sagte er. »Warum räuchern wir die Hauptquartiere der Bruderschaft des Dschihad nicht einfach aus? Als al-Qaida die Twin Towers in Schutt und Asche legte, sind wir in Afghanistan einmarschiert und haben sie in ihrem eigenen Land bekämpft. Warum nicht jetzt auch? Wir wissen, die Bruderschaft des Dschihad sitzt im Sudan, im Jemen und in der Türkei. Worauf warten wir noch?
Dreitausend Opfer sind nicht hinnehmbar, aber siebzehn sind in Ordnung? Wie viele amerikanische Opfer müssen wir hinnehmen, bevor diese Regierung handelt? Wir sind alle sehr gerührt, dass die Behörden ›tief betroffen‹ sind und ›gründliche Nachforschungen anstellen‹ wollen. Aber wo bleibt die Gerechtigkeit?« Er blickte in die Runde der Reporter, die vermutlich hinter den Mikrofonen standen. »Wo ist unsere Regierung, wenn unsere Bürger sie am nötigsten brauchen?«
Die Aufzeichnung brach ab, und der Bildschirm wurde schwarz.
Niemand sagte etwas. Ein Teil von mir gab diesem Mann recht. Diese Typen greifen uns an, also schlagen wir zurück.
»Er ist also nicht wirklich zufrieden mit unserer Regierung«, sagte Lightner. »Er hat online eine Petition organisiert und über eine Million Unterschriften gesammelt, damit der Präsident die Stützpunkte der Bruderschaft des Dschihad im Jemen, im Sudan und in der Türkei bombardiert.«
»So einfach ist das nicht«, sagte Shauna.
Vielleicht nicht, aber das war vermutlich kaum ein Trost für Randall Manning.
»Er will das Ganze wiederholen«, sagte ich. »Er hat Sprengstoff und Schnellfeuergewehre. Er wird diese Gebäude in die Luft jagen und alle erschießen, die zu fliehen versuchen.«
87
Wenn Randall Manning sich an die Ereignisse erinnerte, schloss er stets die Augen, als könnte er damit die Bilder bannen. Er mied die Erinnerungen, und gleichzeitig kultivierte er sie. Er hatte sich selbst geschworen, niemals zu vergessen.
Die Bruderschaft des Dschihad hatte unmittelbar nach dem Anschlag auf das Sahmeran Adana Hotel ein Video ins Internet gestellt. Jemand war so vernünftig gewesen, es sofort wieder rauszunehmen, doch Manning besaß eine Kopie davon. Er ließ sie nicht jeden Tag laufen. Aber immer mal wieder. Etwa wenn ihm Zweifel kamen an dem, was er vorhatte.
So wie heute, nachdem er eine SMS auf seinem Prepaid-Handy erhalten hatte: Das FBI hat heute Morgen nach Ihnen gesucht.
Er musste zugeben, dass er – wie Bruce McCabe – mit dem Gedanken gespielt hatte, das Unternehmen abzubrechen. Auch er war nur ein Mensch. Aber das Gefühl war wieder verflogen. Dazu musste Manning nur auf die Playtaste am Computer drücken und fünf Sekunden das Video betrachten.
Trümmer stürzten herab. Das Gebäude wankte in seinen Grundfesten. Unschuldige Menschen sprangen aus den Fenstern oder taumelten aus der Lobby. Terroristen schossen auf sie, jagten sie mit Macheten, die sie ohne Gnade schwangen, gleichgültig ob gegen Männer, Frauen oder Kinder.
Er erinnerte sich an die Leichen, die in einem Militärflugzeug aus der Türkei zurückkamen, und an das unermessliche Gefühl von Verlust. Er erinnerte sich, wie er den Bestattungsunternehmer, einen alten Freund der Familie, gefragt hatte, ob dieser für die Aufbahrung den Kopf seines Sohns wieder an seinem Körper befestigen könne, und wie er in Tränen ausgebrochen war, als die Antwort Nein lautete.
Er erinnerte sich an das Bild von Jawhar Al-Asmari, den Anführer der Bruderschaft des Dschihad, der in die Kamera sprach, hinter ihm eine nackte weiße Wand, feige an einem geheimen Ort versteckt, von dem aus er den Anschlag auf das Sahmeran Adana Hotel rühmte und weitere derartige Aktionen ankündigte.
Er erinnerte sich an einen Präsidenten, dessen einziger Trost in leeren Worten bestand. Diplomatie und Gerechtigkeit – offenkundig unvereinbar.
Er erinnerte sich an die ausweichenden Verlautbarungen des Außenministeriums, eine Menge doppelzüngiges politisches Gerede über die komplizierte Interessenlage und die Verflechtungen im Nahen Osten.
Er erinnerte sich daran, wie verzweifelt er den Kopf von Jawhar Al-Asmari gewollt hatte, und wie verzweifelt er wollte, dass die Regierung dasselbe wollte.
Er erinnerte sich daran, wie er seiner Frau Bethany, seinem Sohn Quinn, seiner Schwiegertochter und seinem einzigen Enkelkind – über ihre Leichen gebeugt – geschworen hatte, niemals zu vergessen.
In dem Militärflugzeug in Richtung Türkei war er Bruce McCabe und Stanley Keane begegnet. Sie lebten nicht weit voneinander entfernt, daher hatte ihnen die Regierung den gleichen Flug angeboten. Sie alle waren zutiefst geschockt, verwundet, wie betäubt und völlig ratlos. Damals sprachen sie nur über allgemeine Ideen – dieser Angriff darf nicht unerwidert bleiben, unsere Regierung muss zurückschlagen, jemand muss dafür bezahlen. Sie hatten Telefonnummern ausgetauscht, um weiter in Kontakt zu bleiben.
Es hätte nicht zum Äußersten kommen müssen. Aber diese verdammte Regierung war so vorsichtig in Bezug auf den Islam, so besorgt über mögliche Auswirkungen internationaler Militäraktionen, dass sie versäumte klarzustellen, was mit Leuten passierte, die Amerikaner töteten. Der Präsident bekam zu Hause keinen großen politischen Druck deswegen. Es war nicht in Amerika passiert, Ziel waren nicht explizit amerikanische Staatsangehörige gewesen, und es waren nur wenige amerikanische Opfer zu beklagen. Siebzehn amerikanische Opfer alles in allem? Das fiel nicht ins Gewicht. Man schüttelte den Kopf, machte einen abfälligen Kommentar über Muslime und schaltete dann zur neuesten Reality-TV-Show um.
Er erinnerte sich an den alten Kommilitonen aus Ivy-League- und Burschenschaftszeiten, der jetzt ein Rüstungsunternehmen und gute Beziehungen zum CIA hatte, und der für Manning einen Kontakt anbahnte. Er erinnerte sich an den Agenten, der ihm Geheiminformationen beschaffen wollte – gegen eine Gebühr natürlich. Costigan war sein Name. Ein Mann, der viele Informationen hatte und außerdem Zwillingstöchter, die in den Genuss derselben Ivy-League-Erziehung kommen wollten wie Randall Manning in jungen Jahren.
Er erinnerte sich an das, was Costigan ihm zwei Wochen später mitgeteilt hatte. Bis ans Ende seiner Tage würde er sich an jedes einzelne Wort Costigans erinnern.
Er erinnerte sich, wie er einige Wochen nach dem Bombenanschlag Bruce McCabe und Stanley Keane angerufen hatte. Manning war bereits fest von seinem Vorhaben überzeugt, ließ aber bei den beiden anderen zunächst nur vorsichtige Andeutungen fallen. Er wusste nicht, ob sie bereitwillig einsteigen würden, ob er sie langwierig würde überzeugen müssen, oder ob sie einfach Nein sagen würden. Er hatte keine Ahnung, wie es für ihn weitergegangen wäre, hätten sie sofort ablehnend reagiert.
Aber das taten sie nicht. Sie sagten Ja.
Manning hatte es den anderen gegenüber immer so dargestellt, als würde ihnen niemand jemals auf die Spur kommen können. Ein großes internationales Unternehmen wie GHI und eine kleinere Zulieferfirma wie SK konnten unbemerkt Sprengstoffkomponenten an eine Tarnfirma verkaufen, eine Farm, die sowohl Ankäufe von Düngemittel wie auch den von Nitromethan für Pestizide rechtfertigten konnte. Niemand würde je mit so etwas rechnen. Und wenn die Bombenattentate ordnungsgemäß ausgeführt wurden, würde auch anschließend niemand Verdacht schöpfen. Die Lastwagen konnten über anonyme Kontaktpersonen angemietet werden, die Bombenbauteile ließen sich nicht zurückverfolgen, und die unmittelbar an den Anschlägen beteiligten Personen würden diese nicht überleben – also würde niemand nachträglich eine Verbindung zu ihnen, den eigentlichen Drahtziehern, herstellen können.
Aber in Wahrheit hatte Manning nie wirklich geglaubt, dass er ungeschoren davonkommen würde. Das FBI verfügte über ihm völlig unbekannte Mittel und Wege, Beweise zu sammeln und Spuren zu verfolgen. Er musste einfach damit rechnen, dass sie ihn schnappen würden. Bei Stanley war das möglicherweise anders. Er war nur ein kleiner Firmenbesitzer, der sich nichts anderes hatte zuschulden kommen lassen, als ein völlig legales Produkt an eine Farm zu verkaufen. Und auch Bruce McCabe hatte nicht mehr getan, als die Finanzdeals und Verträge auszuarbeiten, die es GHI erlaubten, Summerset Farms und Stanleys Firma aufzukaufen.
Natürlich hatte Manning den Börsengang von GHI abblasen müssen. Bei dem, was er vorhatte, wollte er sich nicht vor einem Aufsichtsrat oder irgendwelchen Aktionären rechtfertigen müssen. Nein, es würde ein Privatunternehmen bleiben und er der einzige Boss, der mit der Firma verfahren konnte, wie es ihm beliebte. Der beispielsweise eine ungewöhnlich große Menge von Ammoniumnitratdünger an einen kleinen Landwirtschaftsbetrieb verkaufen konnte. Oder Männer wie Patrick Cahill in Brot und Arbeit halten, damit er die richtigen Leute als Wachposten und Lastwagenfahrer zur Verfügung hatte.
Er hatte immer gedacht, am schwierigsten würde es werden, Rekruten zu finden; Leute, die die Regierung verabscheuten und bereit waren, mit Waffengewalt gegen sie vorzugehen und dabei ihr Leben zu riskieren. Doch er stellte überrascht fest, dass dies eine der leichtesten Aufgaben war.
Dienstag, der 7. Dezember, war das ideale Datum. Seine symbolische Bedeutung war überragend, und bis dahin blieb ihnen genug Zeit, ausreichend Material für diese und zukünftige Anschläge zu bunkern und die Söldner anzuwerben und auszubilden.
Manning dehnte und streckte seine angespannten Glieder und setzte sich aufs Bett. Erneut blickte er auf sein Handy, ein nicht zurückverfolgbares Telefon, das er zusammen mit zweihundert Freiminuten in einem Supermarkt gekauft hatte. Das FBI hatte sich heute gemeldet. Die Büros hatten sie nicht durchsucht. Sie hatten nur vorbeigeschaut, um ein wenig zu plaudern.
Demnach hatten sie zwar Wind von der Sache bekommen, vermutlich durch Jason Kolarich, aber es klang nicht so, als hätten sie eine heiße Spur.
Nicht heiß genug. Und nicht rasch genug.
Denn der Anschlag sollte in weniger als achtundvierzig Stunden stattfinden.
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Nach Joel Lightners Briefing verbrachten wir beide die nächsten Stunden mit Lee Tucker vom FBI. Diesmal hatte Lee Tucker kein herablassendes Lächeln aufgesetzt. Offensichtlich hatte ich etwas bei ihm bewirkt, und was Joel und ich ihm jetzt mitteilten, untermauerte unsere Position noch.
Nicht dass Lee im Gegenzug selbst auch nur das Geringste preisgegeben hätte. Er machte keinerlei Andeutungen, ob ihm meine Informationen neu oder längst bekannt waren. Es war unmöglich zu sagen, ob er das Risiko niedrig, mittel oder hoch einschätzte, ob seiner Ansicht nach die Gefahr schon bald oder erst in ferner Zukunft drohte.
Aus seiner Perspektive, die er in diversen Bemerkungen durchschimmern ließ, konnte ich bestenfalls einige Indizien gegen Global Harvest anführen. Die Verkäufe von Düngemittel oder Nitromethan waren nicht illegal. Tatsächlich waren sie den Behörden ordnungsgemäß gemeldet worden. Und auch dafür, dass die gelieferten Mengen in Wahrheit wohl viel größer waren, hatte ich keinerlei Beweise. Ebenso waren meine Theorien über die Morde an Kathy Rubinkowski und Bruce McCabe eben nur – Theorien. Klar, es unterstützte meine Argumente, dass zwei Menschen aus der Anwaltskanzlei von GHI ermordet worden waren und dass zwei weiße Rassisten namens Patrick Cahill und Ernie Dwyer, die wegen Vergehen gegen das Waffengesetz in Bundesgewahrsam saßen, als Wachleute für GHI gearbeitet hatten. Aber letztendlich war das alles wenig wert, solange ich keinen wirklich schlagenden Beweis hatte. Vor Gericht wäre ich lediglich ein Strafverteidiger, der sich verzweifelt an irgendwelche Fakten klammerte, um seinen Mandanten zu entlasten.
»Diese Karte stammt also aus Stanley Keanes Haus«, sagte Lee Tucker. »Und du hältst diese mit einem X markierten Gebäude für Anschlagsziele.«
»Du etwa nicht?«, erwiderte ich.
»Und Stanley Keane liegt gerade mit diversen gebrochenen Knochen im Krankenhaus und erholt sich von einem massiven Schockzustand.«
Ich nickte. »Er hat sich so beeilt, mir die Karte zu übergeben, dass er dabei die Treppe runtergefallen ist.«
Tucker grinste nicht mal. »Ist das auch seine Version der Geschichte?«
»Lee, sind wir hier, um darüber zu diskutieren, ob ich dieses Arschloch angegriffen habe, oder darüber, ob er irgendwann in nächster Zeit Bomben in unserer Stadt hochgehen lassen will?«
Tucker dachte länger darüber nach, blätterte in seinen Notizen und nickte dann. »Okay, Kolarich, verstanden«, sagte er.
Prima, er hatte verstanden. Mehr würde ich von ihm nicht erfahren. Immerhin hatte ich meine Pflicht getan. Wieder einmal.
Joel und ich kehrten gegen vier Uhr nachmittags in die Kanzlei zurück. Shauna saß in ihrem Büro und tippte eifrig. Morgen früh würden wir Richter Nash einen schriftlichen Antrag vorlegen, der alle unsere Ermittlungsergebnisse zusammenfasste und darlegte, warum wir eine Einstellung wegen Verfahrensfehler oder einen Verfahrensaufschub forderten. Sollte Richter Nash diesen Antrag ablehnen, würde ich einen Eilantrag an das Oberste Bundesgericht schicken, das die Aufsicht über jedes Gericht und jeden Fall führte, und sie darum bitten, aufgrund der aktuellen dramatischen Entwicklungen den Prozess auszusetzen. Und ich würde dafür sorgen, dass Richter Nash von meinem Plan B erfuhr. Danach blieb mir nur zu hoffen, dass das drohende Schreckgespenst des höchsten Gerichtshofs den alten Sturkopf zu einer kurzen Unterbrechung des Verfahrens bewegte. Die meisten Richter hätten dem zugestimmt. Aber wie gesagt, Richter Nash war nicht die meisten Richter.
Wie auch immer, die schriftliche Eingabe musste absolut wasserdicht sein. Ich brauchte ein bestmöglich abgefasstes Schriftstück, und das bedeutete, Shauna musste ran. Sie beherrschte so etwas aus dem Effeff, doch da sie sich bisher auf die Forensik konzentriert hatte, bat ich auch noch Joel Lightner hinzu. Außerdem rief ich Tori an, die bei einigen Ermittlungen persönlich dabei gewesen war. Wir brauchten eine knappe, knackige Zusammenfassung und zudem eidesstattliche Versicherungen, die unsere Erörterung der Faktenlage unterstützten.
»Okay, lass deine Magie wirken«, sagte ich zu Shauna. »Und Lightner, benimm dich anständig in Gesellschaft dieser beiden wunderhübschen Damen.«
»Ach ja?«, sagte er. »Und wohin zum Teufel verdrückst du dich?«
Ich streckte meine Arme. »Ich bereite mein Abschlussplädoyer vor«, sagte ich. »Für den Fall, dass Richter Nash uns komplett auflaufen lässt.«
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Den Rest des Abends und bis in den frühen Morgen hinein arbeitete ich an zwei Dingen: den Argumenten, warum Richter Nash den Fall neu aufrollen und Ermittlungen zu den von mir vorgelegten Beweisen zulassen sollte, und, falls er das ablehnte, an meinem Abschlussplädoyer über die unzureichenden Beweise der Anklage bezüglich der Schuld von First Lieutenant Thomas Stoller.
Gegen drei Uhr morgens kapitulierte ich schließlich. Tori, die mit mir in der Kanzlei ausgeharrt und sich sogar mehrfach mein abschließendes Resümee angehört hatte, begleitete mich in mein Hotelzimmer.
Mein Zimmer war lausig, aber immerhin hatte ich von dort einen Ausblick über die North und die East Side, wo die meisten jungen Menschen lebten und ein Großteil des Nachtlebens tobte.
Selbst jetzt noch um halb vier Uhr morgens. Ein paar dieser Läden hatten eine Ausschanklizenz bis vier. Ich erinnerte mich an die Zeit vor meiner Ehe, als man nicht vor Mitternacht ausging, um vier Uhr morgens das Trinken einstellte und sich dann ein 24-Stunden-Diner oder einen Burrito-Imbiss suchte.
»Du hast getan, was möglich war, und mehr als das«, sagte Tori, die auf meinem Bett saß. Sie trug ein graues T-Shirt und sonst nichts. Unter anderen Umständen hätte ich wohl kaum widerstehen können. Ich wäre aufs Bett gehechtet.
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht. Hätte ich mich nicht so in Gin Rummy verbissen, hätte ich Lightner diesen Randall Manning möglicherweise schon viel früher unter die Lupe nehmen lassen. Das ganze Zeug, das ihm und seiner Familie zugestoßen ist – und den Familien von Stanley Keane und Bruce McCabe, diese üble Geschichte mit der Bruderschaft des Dschihad. Hätte ich das schon vor ein paar Wochen gewusst, hätte ich mehr daraus machen können.«
»Es war von Anfang an eine Aufholjagd«, sagte sie. »Du dachtest, es wäre ein simpler Fall von Schuldunfähigkeit. Das hast du selbst gesagt. Als man dir den Fall übergab, hat man dir erklärt, der Fall läge einfach. Ich meine, Jason, die Typen, die den Fall vor dir hatten – die haben nichts von alldem herausgefunden, oder? Du solltest stolz auf das sein, was du in dieser kurzen Zeit aufgedeckt hast.«
Unten auf der Straße, ein paar Blocks weiter, stolperte ein Mann, der mehrere Lagen Kleidung übereinander trug, über eine Kreuzung. Er wirkte betrunken. Er wirkte wie ein Obdachloser.
Alles hatte mit Tom begonnen und meinem Versprechen an Tante Deidre, dass ich alles in meiner Macht Stehende für ihren Neffen tun würde.
Tori kletterte vom Bett und trat zu mir. Sie schlang ihre Arme um mich und schmiegte ihren warmen Körper an meinen. Eine Ewigkeit standen wir so da. Ich legte mein Kinn auf ihren Scheitel und blickte hinaus auf die Stadt, in der ich aufgewachsen war, in der ich lebte und in der ich sterben würde.
»Was, wenn wir einfach weggehen?«, flüsterte sie. »Wenn das vorbei ist, meine ich. Wir könnten diese Stadt verlassen. Ich habe ein bisschen was geerbt und das Geld gespart. Wir könnten es tun, Jason. Wir könnten all das hinter uns lassen.«
Ich drehte mich um und sah sie an. Ich berührte ihre Wangen und schaute ihr in die Augen, die verzweifelt die meinen suchten. »Das würdest du tun? Mit mir?«
Einen Moment lang hielt sie meinen Blick fest, dann nickte sie.
»Wo würden wir hingehen?«, fragte ich.
»Irgendwohin.«
Irgendwohin? Mit mir? Offenbar hatte ich sie bisher falsch eingeschätzt. Mir war klar gewesen, dass sich etwas bewegte in unserer Beziehung, aber ich hatte nicht geahnt, dass sie innerlich bereits so weit war. Wie war das bei mir?
»Lass uns das zuerst zu Ende bringen«, sagte ich.
»Ja, du hast recht.« Sie nickte kaum merklich mit dem Kopf. Es war vernünftig so. Wir beide wussten das. Ich hatte keine Ahnung, wie dieser Fall ausgehen würde. Und ich hatte keine Ahnung, was von mir übrig wäre, wenn es so weit war.
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Am nächsten Morgen traf ich frühzeitig im Gerichtsgebäude ein. Ich marschierte durch die Lobby, zeigte dem Deputy meine Anwaltslizenz, nahm den Aufzug in den siebten Stock, betrat den Gerichtssaal und setzte mich. Shauna erschien eine halbe Stunde vor Verhandlungsbeginn. Kurze Zeit später folgte das Team der Staatsanwaltschaft unter Führung von Wendy Kotowski. »Ich hab dein Resümee bekommen«, sagte sie zu mir und hielt es hoch. »Vor einer halben Stunde«, fügte sie eine Oktave tiefer hinzu. »Nicht unbedingt ein frühzeitiger Bescheid, Herr Anwalt.«
Ich nickte ihr zu. »Du wirst heute das Richtige tun, Wen.«
»Ich tue immer das Richtige«, sagte sie, ohne von ihrem Dokument aufzublicken.
In diesem Augenblick kam Tante Deidre herein. Ich konferierte kurz mit ihr, beschränkte mich dabei jedoch im Wesentlichen auf Plattitüden, die sie aufmuntern sollten. Die unschöne Wahrheit war, dass der Richter guten Grund hatte, alles abzulehnen, was ich hier und heute versuchen würde.
Um Viertel vor neun brachten sie Tom herein. Er sah an diesem Morgen etwas zerzaust aus, was seinem inneren Zustand jedoch sicherlich angemessen war. Ich beugte mich zu ihm hinüber und fragte: »Wie waren die Eier heute Morgen, Tom?«
Er lächelte kurz, was ich als ein gutes Omen betrachtete.
»Ungenießbar«, antwortete er.
Um fünf vor neun steckte der Gerichtsdiener, ein alter Knabe namens Warren Olive, den Kopf in den Gerichtssaal und blickte in die Runde. »Alle anwesend für den Fall Stoller?«
»Alle da«, antwortete ich im Namen aller.
»Der Richter erwartet Sie zu einer Besprechung in seinem Zimmer«, sagte Warren.
Das kam wenig überraschend. Wir trotteten alle nach hinten ins Richterzimmer. Richter Nash, der jedes menschliche Wesen auf diesem Planeten überlebt hatte, verwahrte hier Fotos und Erinnerungsstücke, die über siebzig Jahre alt waren. Die Wände seines Zimmers waren dicht behängt mit gerahmten Fotos, auf denen er mit sämtlichen Bürgermeistern dieser Stadt zu sehen war, an die ich mich erinnern konnte, und mit einigen demokratischen Präsidentschaftskandidaten – er war Delegierter auf einem ihrer Konvente gewesen, möglicherweise der, bei dem sie Lincoln nominiert hatten? – sowie mit diversen anderen politischen Größen und Prominenten. Er hatte Ehrungen von allen möglichen Juristenkammern und Bürgerorganisationen erhalten, die zum Bewundern ausgestellt waren. Hier drin sah es aus wie in einem alten italienischen Restaurant.
Richter Nash nahm in dem hohen Ledersessel hinter seinem Walnussschreibtisch Platz. Direkt über seinem Kopf hing die Flagge der Vereinigten Staaten und eine Urkunde über seine ehrenhafte Entlassung aus dem US Marine Corps im Jahr 1950, nachdem er im Koreakrieg gekämpft hatte.
Richter Nash wartete, bis die Gerichtsschreiberin bereit war. Als sie ihm ein Zeichen gab, wandte er sich an mich.
»Mr. Kolarich, ich hatte heute Morgen die Gelegenheit, Ihren umfassenden Antrag zu lesen, den ich erst heute Morgen erhalten habe. Darin werfen Sie Fragen auf, die noch weit über das hinausgehen, was wir letzten Freitag hier im Gericht diskutiert haben.«
»Das ist korrekt, Euer Ehren. Wir gewinnen ständig neue Erkenntnisse hinzu. Und das beweist mehr als alles andere, dass wir mehr Zeit für die Entwicklung dieser Beweisführung benötigen. Wenn Sie erwägen …«
»Herr Anwalt, hätte diese Suche nach Beweisen auch nur im Entferntesten etwas mit Ihrem Fall zu tun, hätte ich womöglich mehr Verständnis dafür. Aber nichts davon steht mit Ihrer Beweisführung in Verbindung. Sie verstricken sich da heillos in eine Geschichte mit Terroristen und Verschwörungen. Die Anklage darf mit Recht davon ausgehen, dass diese völlig unerwartet und aus heiterem Himmel kommen.«
»Es sind frisch entdeckte Hinweise«, erwiderte ich. »Sobald wir davon erfuhren, haben wir die Anklage informiert.«
Der Richter setzte seine Brille ab und wischte sie mit dem Taschentuch sauber. »Wenn ich jede Prozesspartei kurz vor Ende des Prozesses eine vollständig neue Beweisführung aus dem Hut zaubern ließe …«
»Das ist nicht irgendeine Prozesspartei«, unterbrach ich den Richter. »Und das ist nicht irgendein Fall.«
Er quittierte meine Unterbrechung nicht mit einem Kommentar, was ein noch schlechteres Zeichen war; offenkundig war er entschlossen, gegen mich zu entscheiden, und gestattete mir deswegen ein wenig Spielraum.
»Herr Richter, mir ist bewusst, dass mein Vorgänger auf Schuldunfähigkeit plädierte und ich ursprünglich dasselbe geplant habe. Aber ich bin auf neue Beweise gestoßen, die alles andere als wilde Spekulation sind. Wenn Sie mir nur eine Woche geben, dann bin ich in der Lage, alles hieb- und stichfest zu belegen, was ich hier behaupte. Geben Sie mir nur eine Woche.«
»Nein, Herr Anwalt. Falls sie in einer Woche oder einem Monat oder einem Jahr etwas finden sollten, dann können Sie einen Wiederaufnahmeantrag stellen. Aber wir werden dieses Verfahren nicht unterbrechen.«
»Richter …«
»Das war’s. Sie haben bis morgen Zeit, einen Zeugen aufzurufen, Mr. Kolarich, ansonsten gehen wir direkt zu den Resümees über. Ist das klar? Ms. Kotowski, halten Sie sich für den siebten Dezember um neun Uhr bereit, wenn die Verteidigung ihre Beweisführung abschließt.«
Ich schüttelte den Kopf und blickte zu Shauna. Wir hatten beide von Anfang an gewusst, dass dies ein möglicher Ausgang war. Der Richter lag falsch, doch er würde seinen Kurs nicht ändern. Ich erhob mich und starrte Richter Nash an, der bereits in seinen Unterlagen für einen anderen Fall blätterte. Erneut fiel mir die Urkunde der ehrenhaften Entlassung aus dem Marine Corps über seinem Kopf ins Auge. Neben der Urkunde hing ein Foto des Richters in Uniform, auf dem er dem Bürgermeister der Stadt, Mayor Champion, die Hand schüttelte; auch Champion war ein ehemaliger Marine, der keine Gelegenheit militärischer Ehrungen ausließ und der Paraden und Gedenkfeiern an Tagen veranstaltete, die in anderen Städten oder Bundesstaaten längst passé waren, wie D-Day oder …
O mein Gott.
Pearl Harbor Day.
»Richter«, sagte ich, »ich akzeptiere Ihre Entscheidung, aber könnten Sie mir nicht wenigstens weitere vierundzwanzig Stunden gewähren? Wenn ich nur Zeit bis Mittwoch haben könnte.«
Das Gesicht des Richters zog sich zusammen, wie stets, wenn etwas seine Missbilligung fand.
»Herr Anwalt …«
»Nur einen einzigen weiteren Tag, Euer Ehren. Mehr verlange ich nicht. Ich werde dann keine zusätzliche Verlängerung mehr beantragen.«
Der Richter blickte zu Wendy, allerdings ohne wirklich einen Rat von ihr zu erwarten. Er hatte mir übel mitgespielt, und vermutlich spekulierte er darauf, dass es sich vor dem Berufungsgericht günstig für ihn ausnahm, wenn er mir auf meine Bitte hin einen zusätzlichen Tag gewährte.
»Einverstanden«, sagte er. »Mittwoch, der achte Dezember um neun Uhr. Dann werden wir die Verhandlung wieder aufnehmen und zwar ohne jede weitere Verzögerung.«
Mit diesen Worten wies uns der Richter aus seinem Zimmer. Es war eine ungünstige Wendung für unseren Fall, trotzdem schoss neues Adrenalin durch meine Adern. Ich hatte morgen einen freien Tag. Und irgendetwas sagte mir, dass ich ihn brauchen würde.
Denn morgen war der 7. Dezember. Morgen war Pearl Harbor Day.
91
»Kolarich, beruhigen Sie sich«, sagte Lee Tucker am Telefon.
»Haben Sie gehört, was ich gesagt habe, Lee? Morgen ist …«
»Ich habe verstanden. Hören Sie, wir müssen uns treffen.«
Wir klärten die Details und legten auf. Im Gerichtssaal konferierte ich mit Tom und Tante Deidre, dann besprach ich mit Shauna unser weiteres Vorgehen.
»Pass auf, Lady«, sagte ich und legte ihr die Hand fest auf die Schulter. »Du und alle anderen aus der Kanzlei – niemand von euch geht morgen zur Arbeit. Bleibt weg von der Innenstadt. Das ist kein Spaß. Verstanden?«
»Gott, bist du dir so sicher?« Sie entzog sich meiner Hand. »Ich meine, wenn das wirklich stimmt mit dem Anschlag, müssten wir es dann nicht von sämtlichen Dächern brüllen?«
»Es ist nicht hundert Prozent sicher. Mein Bauchgefühl sagt es mir. Aber in wenigen Minuten berichte ich dem FBI davon.« Ich zuckte mit den Achseln. »Ansonsten kann ich da wenig tun, Kleines. Ich kann keine Stadt evakuieren lassen. Aber mir ist es ernst damit, ist das klar? Versprich es mir, Shauna Tasker.«
»Okay, versprochen. Morgen machen wir Betriebsurlaub. Aber nur, wenn du versprichst, dass du auch wegbleibst.«
»Ich pass auf mich auf«, versicherte ich ihr und machte mich auf den Weg, bevor sie weitere Forderungen stellen konnte.
***
Keine zehn Minuten später hielt Lee Tuckers unauffälliger Regierungs-Sedan unten am Straßenrand. Ich sprang auf den Rücksitz.
»Jason Kolarich, Special Agent Barry Clemens.« Lee, der hinterm Steuer saß, deutete auf einen großen Afroamerikaner, der einen durchtrainierten Eindruck machte und die Rückbank mit mir teilte. »Und das ist Dan Osborne von der Abteilung für Terrorismusbekämpfung im Justizministerium.« Osborne saß auf dem Beifahrersitz, ein älterer Mann mit militärisch kurz geschnittenen roten Haaren. Diesen Kerlen stand Regierungsbehörde förmlich auf der Stirn geschrieben.
»Die Informationen, die ich Ihnen gegeben habe, haben sich bestätigt«, mutmaßte ich.
Osborne nickte. »Sie haben sich bestätigt.«
»Morgen ist Pearl Harbor Day«, sagte ich. »Morgen wird es passieren.«
Lee blickte zu Osborne, dann betrachtete er mich im Rückspiegel. »Hören Sie gut zu, Kolarich. Wir gewähren Ihnen in dieser Sache einen Vertrauensvorschuss. Und das nicht, weil wir Sie für einen tollen Typen oder einen aufrichtigen Kerl halten. Sondern weil wir es in diesen Zeiten nicht riskieren können, es nicht zu tun. Verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja.«
»Wenn Sie in Bezug auf diese Typen recht haben, dann kennen Sie die besser als wir. Nichtsdestotrotz bleibt alles, was wir Ihnen hier mitteilen, unter uns. Abgemacht?«
»Abgemacht«, sagte ich. Allerdings wusste ich nicht, ob ich zu diesem Versprechen würde stehen können. Die Verteidigung meines Mandanten hing möglicherweise entscheidend von den hier erhaltenen Informationen ab. Doch mit diesem Problem würde ich mich – wenn nötig – später herumschlagen.
»Wenn Sie irgendwelche Tricks versuchen …«
»Keine Tricks, Lee. Ich habe verstanden.«
Er musterte mich einen Augenblick lang, dann nickte er. »Morgen ist Pearl Harbor Day«, sagte er. »Ich hatte keine Ahnung, aber offensichtlich feiert unsere Stadt diesen Tag jedes Jahr mit einer Parade.«
»Bürgermeister Champion ist die treibende Kraft dahinter«, sagte ich. »Er steht auf diesen Militärkram. Er war bei den Marines. Und sein Sohn ist ein Marine. Und sein Vater und dessen Vater waren Marines. Deshalb veranstalten wir jedes Jahr eine Parade. Zwar eine kleine, kurze Parade, aber immerhin. Und der Bürgermeister kann fast immer den Gouverneur zum Mitmarschieren bewegen. Und … oh, Scheiße.« Ich schnippte mit den Fingern. »Die Parade startet am südlichen Zipfel der Innenstadt, also am …«
»Am Hartz Building«, ergänzte Lee. »Um zwölf Uhr mittags. Und raten Sie mal, wo sie endet?«
»Entweder am State oder am Federal Building, und zwar um ein Uhr«, sagte ich.
»Annähernd richtig. Ein Uhr ist vermutlich eine gute Schätzung. Der Umzug wird wohl etwas früher dort eintreffen. Aber selbst wenn, dann wird im Anschluss auf der Federal Plaza eine kurze Gedenkfeier abgehalten. Dort werden sich mindestens hundert Menschen einfinden. Wer weiß, vielleicht sogar fünfhundert oder tausend.«
Wir waren inzwischen losgefahren, höchstwahrscheinlich in Richtung des besagten Federal Building. Über uns schwebte ein Helikopter. Ich fragte mich, ob er mit der Sache zu tun hatte.
»Also wird der Gouverneur dieses Jahr wieder dabei sein?«, fragte ich.
»Wie üblich, ja.« Lee legte eine Pause ein. »Gouverneur Trotter, Bürgermeister Champion und Senator Donsbrook werden mitmarschieren.« Er blickte nach hinten zu mir.
»Die sollten die ganze Gedenkfeier abblasen«, sagte ich. »Und ihr Jungs solltet die gesamte Innenstadt evakuieren.«
Osborne schnaufte. »Haben Sie eine Ahnung, wie oft wir die komplette Innenstadt evakuieren müssten, wenn wir jedes Mal bei solchen Informationen in Aktion treten würden?«
Das schien eine rhetorische Frage zu sein. »Ziemlich häufig?«, sagte ich.
»Ziemlich häufig. Unsere Bürger würden in ständiger Angst leben. Sämtliche Büros und Betriebe könnten dichtmachen. Unsere Wirtschaft würde zusammenbrechen.«
Es war wohl ein bisschen übertrieben, aber mir war klar, worauf er hinauswollte. Es war sein Job, für uns alle Verantwortung zu tragen. Und ich beneidete ihn nicht darum.
Diese Männer hatten mich offenbar ernster genommen, als mir bewusst war, aber trotzdem – irgendeine neue Entwicklung musste eingetreten sein, die meine Verdachtsmomente erhärtet hatte. Offenbar hatten sie selbst Ermittlungen angestellt. »Was ist passiert, dass Sie mir plötzlich Glauben schenken?«, fragte ich.
Es trat eine Pause ein. Vermutlich gab es im Wagen eine klare Rangordnung, und da Osborn den höchsten Dienstgrad hatte, ergriff er das Wort. »Bei unserer Arbeit setzen wir nicht auf ›Glauben‹, sondern auf klare Beweise«, sagte er. »Aber Sie haben recht. Wir haben erst kürzlich erfahren, dass vor über einer Woche drei You-Ride-Lastwagen angemietet wurden, bei drei unterschiedlichen Filialen, alle mit derselben gefälschten Kreditkarte. Als wir die Überwachungskameras der Filialen überprüften, identifizierten wir darauf jedes Mal denselben Mann.« Er zeigte mir das körnige Schwarzweiß-Foto eines untersetzten Mannes, der ein kariertes Flanellhemd, Jeans, eine Baseballkappe und einen lächerlich aussehenden Bart trug. ZZ Top bei einem Spiel der Chicago Cubs. Aber ich erkannte das Gesicht wieder.
»Bruce McCabe«, sagte ich. Randall Mannings kürzlich verschiedener Anwalt.
Osborne nickte.
McCabe hatte also drei Lastwagen angemietet. Transporter für die Bomben. »Haben Sie die Trucks schon aufgespürt?«
»Nein. Haben Sie vielleicht eine Idee? Irgendeinen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort aus Ihren bisherigen Ermittlungen?«
»Nichts, was mir jetzt unmittelbar einfiele. Außer dass sie wahrscheinlich an drei unterschiedlichen Standorten geparkt sind.«
»Wahrscheinlich«, sagte Agent Clemens.
»Und warum zuerst das Hartz Building?«, fragte ich. »Und dann eine Stunde später zwei separate Anschläge auf Regierungsgebäude? Das ergibt keinen Sinn. Wenn im Geschäftsbezirk ein Gebäude explodiert, würden Sie dann nicht sofort alle anderen Regierungsgebäude abriegeln?«
»Natürlich«, sagte Clemens. »Aber weiß Randall Manning das?«
»Manchmal denken diese Radikalen nicht unbedingt logisch«, sagte Osborne. »Oder es hat für sie eine Logik, aber nicht für uns.«
Das war wirklich beruhigend.
»Vermutlich würde ich die Lastwagen irgendwo in der Nähe abstellen«, sagte ich. »Vielleicht sind sie bereits irgendwo in der Innenstadt geparkt. Oder nicht weit von hier. An Ihrer Stelle würde ich sämtliche Orte durchkämmen, an denen ein You-Ride-Laster parken kann. Parkgaragen, Gassen, was auch immer.«
Osborne sah mich an. Er schien nicht sonderlich beeindruckt von meinem Vorschlag. Vermutlich weil er bereits selbst daran gedacht hatte.
Alle schwiegen für eine Weile.
»Was ist mit diesen beiden Typen – Patrick Cahill und Ernie Dwyer? Ich meine, die wissen doch vermutlich über das Ganze Bescheid.«
Obsborne schüttelte den Kopf, noch bevor ich den Satz zu Ende gebracht hatte. »Wir haben nichts aus ihnen rausbekommen. Diese Typen sind hartgesotten. Wir wissen ja noch nicht mal, ob es einen Anschlag geben wird. Und wenn, ob sie darüber Bescheid wussten. Wenn Ihre Vermutungen über Randall Manning tatsächlich zutreffen, dann hat er diese gesamte Operation vorbereitet, ohne dabei unsere Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er macht also so gut wie keine Fehler. Ich wäre nicht überrascht, wenn seine Söldner keine Ahnung von den Details haben.«
Wir erreichten das Federal Building – von Kriminellen häufig abschätzig als der »braune Bau« bezeichnet – und fuhren die Rampe zur Tiefgarage hinab. Rund um das Gebäude war bereits eine verstärke Präsenz von Polizeikräften wahrnehmbar.
»Setzen Sie Ihre Denkkappe auf, Jason«, sagte Lee. »Jetzt heißt es, alle Mann an Deck. Wir brauchen jede Hilfe, die wir kriegen können.«
92
Die FBI-Agenten und ich fuhren hinauf in die fünfzehnte Etage des Federal Building, die offenkundig die Kommandozentrale war. Ich bin an sich kein neugieriger Mensch, und das hier war keine Hausführung – sie marschierten mit mir an einer Sichtschutzwand entlang direkt zum Konferenzraum –, aber ich spähte trotzdem verstohlen in die Runde. Hier gab es große Projektionsschirme mit Satellitenbildern der Innenstadt und der nördlichen Viertel. Agenten tippten auf Computertastaturen, sichteten alle möglichen Arten von Informationen und sprachen Anweisungen in Headsets.
Ich hatte keine Ahnung vom Ausmaß dieser Operation. Was Osborne mir im Wagen erklärt hatte, klang zutreffend – sie überprüften hier rund um die Uhr potenzielle Gefahren und Bedrohungen. Wo in dem Spektrum war unsere angesiedelt?
Im Konferenzraum lagen Dokumente auf einem langen Tisch. Es waren Dossiers über Randall Manning, Stanley Keane, Bruce McCabe, Patrick Cahill und Ernie Dwyer. Ich entdeckte Fotos der Summerset Farms, die schrecklich vertraut wirkten, ebenso wie von Global Harvest International.
Außerdem gab es Aufnahmen eines Standard-You-Ride-Lastwagens. Es war ein gelber Transporter mit einer Frontkabine und einem großen Ladebereich. Es war nicht das längste Modell – nicht die Größe, mit der man üblicherweise einen Umzug macht –, aber auch nicht das kürzeste. Obwohl ich kein Experte war, schien mir der Laderaum ausreichend Platz für den Transport einer Bombe zu bieten.
»Bleiben Sie hier drin und lassen Sie uns wissen, wenn Ihnen irgendeine Idee kommt«, sagte Osborne. »Wir werden zum Teil hier sein, zum Teil aber auch draußen unterwegs. Vielleicht haben wir Fragen, vielleicht fällt Ihnen was ein. Und denken Sie daran, das Wichtigste ist im Moment, den Standort der drei Lastwagen zu ermitteln. Am besten wäre es, sie zu stoppen, bevor sie auch nur in die Nähe ihrer Ziele gelangen.«
»Ich bin beeindruckt«, sagte ich. »Normalerweise sind FBI-Beamte doch so clever, dass sie keine fremde Hilfe brauchen.«
Er starrte mich einem Moment lang an, dann lächelte er. »Stimmt, Kolarich. Aber falls Sie recht haben und hier wirklich was läuft, dann sind wir diesen Typen um Längen hinterher. Wir hatten nur ein paar Tage Zeit, und die möglicherweise ein ganzes Jahr. Daher brauche ich alle cleveren Leute, die ich kriegen kann.« Er nickte mir zu. »Und Sie können möglicherweise auch was dazu beitragen.«
Ein netter kleiner Seitenhieb zum Abschied. Die nächsten zwei Stunden verbrachte ich damit, alle verfügbaren Unterlagen zu sichten. Eines musste man dem FBI lassen, sie hatten ihren Job gewissenhaft erledigt und in kurzer Zeit ziemlich umfassendes Material über Manning, GHI und Konsorten zusammengetragen. Höchstwahrscheinlich half es, dass Lee Tucker und ich alte Bekannte waren, und gleichgültig, was er persönlich von mir halten mochte, ich genoss bei ihm wohl einen gewissen Respekt. Ausgehend von meinen lückenhaften Erkenntnissen hatten sie in Windeseile einiges zutage gefördert.
Ich hockte in einem fensterlosen Raum, und die Zeit schien außer Kraft gesetzt, was interessant war, angesichts der tickenden Uhr, gegen die wir arbeiteten. Irgendwann jedoch verrieten mir meine Armbanduhr und mein Magen zuverlässig, dass wir uns der Mittagszeit näherten.
Mein Handy klingelte. Die Nummer des Anrufers war mir unbekannt, daher ging ich nicht dran. Aber ich hörte die Mailbox ab. Es war Dr. Braniq, unser Sachverständiger, der auf seine übliche knappe, präzise Art wissen wollte, wann im Verlauf der Woche seine Aussage im Stoller Prozess vorgesehen war.
Ich hatte ganz vergessen, ihn anzurufen und ihm die Neuigkeit mitzuteilen, dass es keine Aussagen geben würde. Kurzzeitig war ich mit meinem Gedanken nicht mehr bei der terroristischen Verschwörung, sondern bei Toms Fall, den ich meiner tiefen inneren Überzeugung nach gründlich in den Sand gesetzt hatte. Ich war überheblich gewesen. Ich hatte mein Blatt überreizt.
Ich rief Shauna an, um sie auf den neuesten Stand zu bringen. Ich erzählte ihr alles, was ich durfte, erklärte ihr aber, dass ich momentan zum Stillschweigen verpflichtet war.
»Es wird also keine Evakuierung der City geben oder so was?«
Ich seufzte. »Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, ob das FBI bereits endgültig darüber entschieden hat. Wir haben hier ein paar sehr beunruhigende Fakten zusammengetragen, doch in Wahrheit wissen sie weder, ob es morgen passiert, noch ob es überhaupt je passieren wird. Und überleg mal, wie unser Land aussähe, wenn man bei jedem beunruhigenden Gerücht in einer großen Metropole die Notbremse reinhauen und den ganzen Handel und Wandel zum Stillstand bringen würde? Denk an al-Qaida oder die Bruderschaft des Dschihad oder unsere einheimischen Spinner. Die würden überall falsche Bombenwarnungen streuen und gemütlich dabei zusehen, wie wir uns in den eigenen Schwanz zu beißen versuchen, Städte evakuieren und unsere gesamte Lebensweise ruinieren. Es wäre ein langsamer Tod durch tausend kleine Stiche. Die würden uns in die Knie zwingen, ohne einen einzigen Menschen zu töten.«
Shauna schwieg längere Zeit. »Hört sich an, als hätten sie dich indoktriniert.«
»Mir leuchten bloß ihre Argumente ein. Trotzdem – für mich passiert es morgen. Meiner Ansicht nach schlägt Manning bewusst am Jahrestag des schlimmsten Angriffs auf amerikanischem Boden zu.«
»Aber warum hat er dann nicht den elften September gewählt?«
Das war eine gute Frage. Ich hatte sie mir selbst schon gestellt. Vielleicht, weil an diesem Tag die Sicherheitsvorkehrungen überall zu hoch waren? Am Pearl Harbor Day dagegen würde die Regierung wohl kaum mit einem Anschlag rechnen.
»Wie dem auch sei, meine Süße«, sagte ich, »versprich mir, dass niemand von euch morgen in die Nähe der Innenstadt kommt.«
»Versprochen«, sagte sie.
Ich ging hinüber zur Tür meines fensterlosen Raums und spähte hinaus. Dutzende hoch spezialisierter Agenten gaben ihr Bestes, um falsche Bombendrohungen und Telefonspäße von echten Gefahren zu unterscheiden und anschließend zu überlegen, ob Letztere wahrscheinlich oder eher unwahrscheinlich waren, ob sie bald oder in ferner Zukunft stattfinden würden. Und irgendwo in dieser Drei-Millionen-Stadt versuchten sie, drei mit hochexplosiven Stoffen beladene You-Ride-Mietlaster zu lokalisieren. Sie stocherten verzweifelt im Dunkeln, fahndeten nach irgendeinem Hinweis.
Ebenso wie ich. Ich hatte die meisten Dokumente auf dem Tisch durchforstet und dabei auf irgendeinen Anstoß oder Geistesblitz gewartet – vergeblich. Und diese bittere Wahrheit schnürte mir den Magen zu und füllte meine Brust mit einem namenlosen Grauen.
Wir hatten nicht die geringste Ahnung, wo diese drei Lastwagen steckten.
***
Gegen dreiundzwanzig Uhr betrat Lee Tucker meinen Konferenzraum. In den letzten Stunden waren hier immer wieder Agenten ein und aus gegangen, hatten Fragen gestellt und Ideen in die Runde geworfen. Ich hatte selbst ein paar Hypothesen entwickelt. Aber nichts davon hatte sich bisher als wirklich tragfähig erwiesen.
Lee blickte auf die halb gegessene Pizza und erwog offensichtlich, sich ein Stück davon einzuverleiben. »Ich hätte Sie schon bei unserem ersten Gespräch ernster nehmen sollen«, sagte er.
Ich schwieg. Er hatte recht. Aber diese Jungs hatten einen harten Job mit dem ganzen Mist, den sie ständig aussortieren mussten.
»Es ist vorbei«, sagte er zu mir. »Wir haben die Suche eingestellt. Wir können uns einigermaßen sicher sein, dass sich kein Laster mit einer Bombe im Geschäftsviertel befindet. Weder auf den Straßen noch in Parkhäusern oder auf Parkplätzen. Wir haben Block für Block durchkämmt.«
»Was ist mit den Privathäusern?«
Er zuckte mit den Achseln. »Nicht viele davon haben Garagen, wo einer dieser You-Ride-Laster reinpasst. Die Dinger sind über drei Meter hoch. Trotzdem haben wir alles kontrolliert, wo wir vorbeikamen. Wir haben an Türen geklopft und um Erlaubnis gebeten, aber nötigenfalls sind wir auch ohne Erlaubnis rein.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn diese Autobomben wirklich existieren …«
»Sie existieren.«
»… dann sind sie noch nicht hier.«
Das war immerhin eine gute Nachricht. »Warum dehnen Sie Ihren Suchradius nicht aus?«, fragte ich. »Warum gehen Sie nicht ein oder zwei Kilometer über den Geschäftsbezirk und die nördlichen Viertel hinaus?«
»Weil wir dann nie fertig werden«, sagte Lee. »Außerdem müssen wir uns irgendwann auf unsere anderen Ressourcen konzentrieren.«
»Auf welche?«
»Zum Beispiel auf die Prävention«, sagte Lee. »Wir wissen, dass die Trucks noch nicht hier in der Innenstadt sind. Also müssen wir sicherstellen, dass sie gar nicht erst hierher gelangen. Wir müssen sie stoppen, bevor sie ihr Ziel erreichen.«
Lee rieb sich die Augen, die bereits blutunterlaufen und verschleiert waren.
Dann blickte er auf die Uhr. »In genau zwölf Stunden«, sagte er, »beginnt die Parade.«
93
Randall Manning stellte die gerahmten Fotos seiner Familie auf das Armaturenbrett des You-Ride-Lasters. In der Garage war es düster, trotzdem konnte er sie gut erkennen. Die Aufnahmen waren ohnehin nur physische Erinnerungshilfen. Seine Frau, sein Sohn, seine Schwiegertochter und sein Enkelkind waren tief in sein Gedächtnis eingebrannt.
Wäre seine Frau einverstanden mit dem, was er vorhatte? Wäre Quinn einverstanden? Er wusste es nicht. Er machte sich nichts vor; nicht alle aus seiner Familie wären auf seiner Seite. Doch das änderte nichts an seiner Entscheidung. Dies war nicht die Zeit für Vergeben und Vergessen. Seine Regierung hatte den Opfern von Sahmeran Adana den Rücken gekehrt, und das würde er ihr niemals vergeben.
Noch konnte er es je vergessen. Er würde immer an die Worte denken müssen, die alles verändert hatten; Worte, die sein CIA-Maulwurf Costigan geäußert hatte, ein Mann mit schütterem Haar und faltigem Gesicht, der mit Mannings hunderttausend Dollar die Ausbildung seiner Zwillinge finanzieren wollte.
Wir haben ihn gefunden. Wir wissen, wo Jawhar steckt.
Manning war ein Schauer den Rücken hinunter gelaufen. Die US-Behörden hatten Jawhar Al-Asmari aufgespürt, den obersten Anführer der Bruderschaft des Dschihad und den Drahtzieher des Anschlags auf das Sahmeran Adana Hotel.
Wo?, hatte Manning gefragt.
Costigan hatte fast geflüstert, obwohl niemand sie in Mannings Wagen in der Parkgarage hatte hören können.
Das darf ich nicht verraten, hatte Costigan erwidert.
Die Antwort hatte Manning überrascht angesichts der hohen Summe, die er für diese Information bezahlt hatte. Und was geschieht jetzt? Wann schicken wir Truppen dorthin und schnappen ihn?
Costigan hatte sich geräuspert. Das Land, in dem wir ihn gefunden haben – es ist ein strategischer Verbündeter, um den wir uns lange Zeit bemüht haben. Ein Land, das wir aus dem Einflussbereich des Iran, von Russland und China herauslösen wollten. Wir brauchen in dieser Region alle Verbündeten, die wir kriegen können …
Was wollen Sie damit sagen?, unterbrach ihn Manning.
Costigan zögerte einen Moment. Ich will damit sagen, dass der Anschlag auf das Sahmeran Adana nicht als ein Angriff auf Amerika gewertet wird. Wenn wir Truppen dahin entsenden und ein Lager überfallen, verlieren wir dieses spezielle Land für immer.
Manning war sprachlos. Der Mann, der den Mord an Hunderten von Unschuldigen befohlen hatte, unter ihnen siebzehn Amerikaner – und Mannings gesamte Familie –, sollte ungeschoren davonkommen?
Der Präsident hat erst letzte Woche versichert, dass wir Al-Asmari immer noch jagen, sagte Manning. Also war das alles gelogen?
Costigan nickte und seufzte. Es war gelogen. Offiziell geht die Jagd nach ihm weiter. Diese Version wird allgemein verbreitet. Sogar von mir. Aber aus dem Weißen Haus kommt folgende Anweisung: Niemand darf ein Wort über den Aufenthaltsort von Jawhar Al-Asmari verlauten lassen, und die US -Regierung wird nichts unternehmen, um ihn zu verhaften oder zu töten.
Dann soll eins der europäischen Länder das erledigen, protestierte Manning. Informieren Sie die Briten. Oder die Franzosen.
Costigan schüttelte den Kopf. Man befürchtet, dass ein Anschlag trotzdem noch unsere Handschrift tragen würde. Wir werden unsere Alliierten nicht mal darüber informieren. Tut mir leid, Mr. Manning.
Dann sagen Sie es mir, Costigan. Verraten Sie mir, wo er steckt! Ich habe Sie großzügig bezahlt …
Wenn Sie möchten, können Sie das Geld zurückhaben, Mr. Manning. Es tut mir aufrichtig leid. Wenn es nach mir ginge, würden wir uns dieses Arschloch schnappen. Aber es ist bereits beschlossene Sache. Jawhar Al-Asmari wird für diese Sache nicht zur Rechenschaft gezogen.
Und das ist der ausdrückliche Wunsch des Präsidenten?
Costigan wollte etwas sagen, zögerte dann aber. Nach allem, was man so hört, war es eine Empfehlung des Justizministers. Er ist Mitglied des für solche Angelegenheiten zuständigen Beraterstabs. Er genießt das Vertrauen des Präsidenten. Die Meinungen innerhalb des Stabes waren geteilt – aber am Ende setzte sich die Position des Justizministers durch.
Der Justizminister? Randall Manning traute seinen Ohren nicht. Langdon Trotter? Lang Trotter war bis zu seiner Ernennung zum Justizminister vor ein paar Jahren der Gouverneur von Mannings Bundesstaat gewesen. Er hatte sich immer für Recht und Ordnung eingesetzt, ein echter Hardliner. Zum Teufel, Randall Manning hatte für Trotter Wahlkampfspenden aufgetrieben, er war einer der finanziell potentesten »Freunde von Lang« gewesen. Sie hatten zusammen Zigarren geraucht und Scotch getrunken. Manning hatte vermutlich mehr als eine Million Dollar an Spenden für diesen Mann aufgetrieben. Und das war jetzt der Lohn dafür?
Randall Manning rieb sich die Augen und erschauerte angesichts dieser Erinnerung. Das war der Tag gewesen, an dem sein Land und ein alter Freund ihn verraten hatten. Es war der Tag, an dem er sein Land dafür zu verachten begann, dass es ein von Feigheit geprägtes, multikulturelles Schlammloch geworden war.
Morgen wurde der erste Schritt getan, um sein Land wieder zurückzuerobern. Die Pearl-Harbor-Day-Parade. Er hätte sich nichts mehr gewünscht, als dass Justizminister Langdon Trotter auch an diesem Jahrestag mitmarschieren würde, so wie er es als Gouverneur immer getan hatte.
Doch er würde sich mit dem neuen Gouverneur zufrieden-geben müssen: Langs Sohn, Gouverneur Edgar Trotter, der morgen die Parade gemeinsam mit Bürgermeister Champion anführen würde.
Nach dem morgigen Tag würde Lang wissen, wie es sich anfühlte, einen Sohn durch einen Terroranschlag zu verlieren.
94
Während die Männer mit ihren Vorbereitungen fortfuhren, sagten sie den gelernten Text auswendig auf.
»Ich weiß, dass unsere Sache bedeutsamer ist als das Leben jedes Einzelnen. Ich weiß, dass die Hingabe dieses Lebens den Weg zu einem neuen und reicheren Leben im Jenseits eröffnet. Ich weiß, dass der Baum der Freiheit von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen gegossen werden muss. Ich weiß, dass Revolution nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht ist. Ich weiß, dass religiöser Fanatismus und Hass nicht mit Toleranz, sondern mit Intoleranz beantwortet werden müssen. Ich weiß, dass allen, die ihre Waffen gegen uns erheben, nicht mit Frieden, sondern wiederum mit Waffen begegnet werden muss.«
Die Männer befanden sich innerhalb eines Lagerabteils, das fünf Meter hoch, vier Meter breit und zehn Meter lang war. Keine Fenster, keine Möbel, nicht mal eine traditionelle Tür – nur ein automatisches Garagentor an der Stirnseite. Der You-Ride-Laster war seit Verlassen des Silos auf den Summerset Farms hier untergestellt – ein bisschen früher als erwartet wegen dieses Anwalts, über den Manning sich immer beschwerte.
Aber sie hatten ohnehin von Anfang an geplant, dass sie diese Nacht – die Nacht vor dem Anschlag – in unmittelbarer Nähe der Innenstadt verbringen würden. Hier drin war es eng und stickig, aber das spielte nun keine große Rolle mehr. Es war ein kleines Opfer im Vergleich zu dem, das sie schon bald bringen würden.
»Ich weiß, dass unsere Sache bedeutsamer ist als das Leben jedes Einzelnen. Ich weiß …«
Einer der Männer – Olsen – führte eine technische Inspektion des You-Ride-Lasters durch, kontrollierte den Reifendruck, die Batterie und den Motor, sah nach allem, das morgen möglicherweise schiefgehen konnte. Der zweite Mann – Briggs – hatte die Aufgabe, die Sprengladung zu inspizieren. Er überprüfte die Funktionstüchtigkeit der Zündschnüre in der Fahrerkabine. Er vergewisserte sich, dass die Plastikschläuche, die die Zündschnüre schützten und durch ein Loch im Boden der Fahrerkabine nach hinten führten, alle intakt waren. Im Ladebereich kontrollierte er die Verbindung zwischen den Zündschnüren und den Sprengkapseln. Und er stellte sicher, dass der durchhängende Teil der Plastikschläuche gut an der Kabinenwand befestigt war, damit die Zündschnüre sich nicht während der Fahrt versehentlich von den Sprengkapseln lösen konnten.
Der dritte Mann des Teams – Roscoe – schlief. Sie mussten sich abwechseln, jeweils nur ein Mann ruhte sich aus. Sie waren alle angespannt und aufgeputscht wegen des morgigen Tages, doch Mannings Anweisungen waren unmissverständlich gewesen – vor dem großen Ereignis musste jeder von ihnen mindestens vier Stunden schlafen. Konzentration, Disziplin und saubere Durchführung waren unmöglich ohne ein gewisses Maß an Schlaf.
Es war fast Mitternacht. In wenigen Minuten brach der 7. Dezember an.
In dreizehn Stunden würde sich dieses Land von Grund auf und für immer verändern.