95

Ich stand auf der Lerner Street Bridge, einem Teil der Route der Pearl-Harbor-Day-Parade, die drei Blocks nördlich von hier am Federal Building enden würde. Es war ein heller, aber sonnenloser Tag. Der Himmel hatte die Farbe von Asche, was hoffentlich kein schlechtes Omen war.

Es war elf Uhr morgens. Der Verkehr auf der Brücke war spärlich und würde bald ganz gestoppt. Die Stadtverwaltung würde die Brücke für den Umzug sperren, der um zwölf Uhr startete und die Brücke vermutlich zwanzig oder fünfundzwanzig Minuten später erreichte.

Ich trug mein Handy bei mir, denn Lee und ich hatten verabredet, in Kontakt zu bleiben, auch wenn das wohl kaum mehr nötig war. Ich brauchte dem FBI nicht zu erklären, wie man einen Lastwagen mit einer Bombe stoppt und entschärft.

Lee hatte mich sogar angewiesen, die Innenstadt zu verlassen, aber irgendwie hätte sich das merkwürdig angefühlt. Niemand sonst wurde evakuiert. Warum ausgerechnet ich?

Ich war mir nicht sicher, was ich tun sollte. Ich überquerte die Brücke, die den Geschäftsbezirk teilte, und lief erneut in Richtung Norden auf das Federal Building zu. Die Barrikaden um das Gebäude herum waren verstärkt worden, und die Armee war zur zusätzlichen Verteidigung angerückt. Lee hatte auch etwas von Luftunterstützung erwähnt – Kampfjets vermutlich. Dabei war laut Lee die gute Nachricht, dass die ganze militärische Präsenz perfekt zum Gedenktag für die Gefallenen von Pearl Harbor passen würde.

Über uns, unsichtbar für das menschliche Auge, schossen amerikanische Satelliten Bilder, suchten nach verdächtigen Fahrzeugen, nach drei fünf Meter langen You-Ride-Lastern.

Ich schlenderte in Richtung Norden und dann nach Westen, kam am State Building vorbei, einem hässlichen Bau, der zum größten Teil aus Glas bestand. Er wäre ein perfektes Ziel für eine Autobombe.

Als ich meine Runde um die möglichen Anschlagsziele beendet hatte, wandte ich mich wieder nach Süden. Um Punkt zwölf Uhr wollte ich am Hartz Building sein.

***

Die Teilnehmer der Parade hatten sich am South Walter Drive in der Nähe des Hartz Building versammelt. Über fünfundsiebzig Menschen waren zusammengekommen, einige Weltkriegsveteranen, ein paar Kinder oder Enkelkinder von in Pearl Harbor Gefallenen. Vor und hinter der Parade fuhren Panzer, was wiederum völlig normal war in diesem Zusammenhang und einen symbolischen Wert zu haben schien. Soldaten im Kampfuniform – möglicherweise Army Rangers, so wie Tom – standen in Habachtstellung bereit, die Waffen nach oben gerichtet.

Die Politiker waren nicht anwesend. Man hatte sie informiert, und vermutlich hatten sie sich dagegen entschieden, an diesem Tag als Terroristenköder zu dienen. Ich wusste das, weil ich jetzt Teil des inneren Zirkels war. Sonst wusste niemand davon. Das FBI wollte es nicht im Vorfeld bekannt geben, denn möglicherweise hätten so die Attentäter davon erfahren und ihr Vorgehen geändert. Wir wollten nicht, dass sie wussten, dass wir wussten. Soweit die Öffentlichkeit wusste, waren der Bürgermeister, der Gouverneur und Senator Donsbrook als Teilnehmer vorgesehen, aber aus irgendeinem Grund nicht eingetroffen. Also würde der Zug lediglich von einem ehemaligen Brigadegeneral angeführt, der am Tag des Überfalls auf Pearl Harbor stationiert gewesen war.

Es fühlte sich falsch an, dass die anderen Teilnehmer nicht über die drohende Gefahr informiert worden waren. Klar, die unmittelbare Umgebung war gründlich abgesucht worden, und es gab ausreichend Barrikaden, um einen You-Ride-Laster lange vor der Parade zu stoppen.

Aber trotzdem. Die Innenstadt war voller Menschen, die in Büros arbeiteten oder durch die Straßen schlenderten. Ich hatte einfach kein gutes Gefühl dabei. Es war, als wäre ich mitschuldig.

Ich fing Lee Tuckers Blick auf, der mich finster anstarrte und offensichtlich wenig erfreut war über meine Anwesenheit.

Es waren noch zehn Minuten bis zwölf Uhr. Offenbar gab es keine Anzeichen eines sich nähernden Lastwagens, denn andernfalls hätte Lee wohl kaum noch hier gestanden.

Auf einmal summte das Handy in meiner Tasche. Eine unbekannte Nummer. Ich blickte zu Lee, doch der schien es nicht zu sein, also spielte es keine Rolle.

Noch fünf Minuten bis zwölf. Jemand formierte die Marschierer auf dem Walter Drive zu einer Art Kolonne. Lee Tucker war hoch konzentriert, hielt den Zeigfinger auf seinen Ohrhörer gepresst, wirkte aber nicht übermäßig besorgt. Noch tat sich nichts.

Und dann war es zwölf.

Nichts explodierte. Kein Lastwagen donnerte auf uns zu. Ich blickte zu Lee, der ausdruckslos zurückstarrte.

Die Parade setzte sich in Bewegung.

96

Olsen blickte auf seine Uhr. Es war 12.37 Uhr. Das kam einigermaßen hin. Sie lagen ein bisschen hinter der geplanten Zeit, doch es bestand kein Grund zur Panik. Der Verkehr war dichter als erwartet. Sie hatten natürlich mit einer Verlangsamung gerechnet, da wegen der Parade bestimmte Straßen gesperrt sein würden, aber es war schlimmer als angenommen. Trotzdem war immer noch ausreichend Zeit bis dreizehn Uhr. Selbst wenn sie ein paar Minuten nach eins eintrafen, wäre es noch nicht zu spät. Die Gedenkfeier würde mindestens eine Viertelstunde dauern.

Zur Hölle, sogar wenn sie die Gedenkfeier verpassten, wäre da immer noch das Federal Building.

Keine Panik. Mr. Manning hatte ihnen das immer wieder gepredigt: keine Panik.

Er blickte in den Rückspiegel. Hinter ihm fuhren die anderen aus seinem Team, Briggs und Roscoe, in einem Chevy Sedan. Sie saßen im Fluchtwagen und bildeten zugleich die Verstärkung, wenn es hart auf hart kommen sollte.

Vorsichtig steuerte er den You-Ride-Laster durch den stockenden Verkehr. An der nächsten Querstraße vor ihm – der Miller Street – regelte ein Polizist den Verkehr. Das ergab nun allerdings keinen Sinn. Sie waren immer noch drei Blocks vom Federal Building entfernt und erst dort sollte der Verkehr umgeleitet werden. Nicht schon an der Miller Street.

»Ich versteh das nicht«, sagte er und konnte die Nervosität in seiner Stimme hören.

» Das ist nur der Verkehrsrückstau«, sagte Briggs im Wagen hinter ihm.«

» Trotzdem läuft es scheiße«, meldete sich eine weitere Stimme. Das war McPike, der Fahrer des zweiten You-Ride-Lasters mit Ziel State Building. Olsen blickte in den Seitenspiegel. Der zweite You-Ride-Laster stand etwa zehn Autos hinter ihnen im Stau. Er würde an der Miller Street rechts abbiegen und dann an der nächsten Kreuzung in Richtung Süden zu dem einen Block entfernten State Building fahren, während Olsen direkt geradeaus in südlicher Richtung auf die Federal Plaza zuhalten würde.

»Cool bleiben«, sagte Olsen, der seinen eigenen Rat zu beherzigen versuchte. »Entspann dich.«

Die Wagenschlange kam nur stockend voran. Der Cop an der Kreuzung Miller Street ließ jedes Auto anhalten, sprach mit dem Fahrer, dann ließ er sie oder ihn weiterfahren. Schwer zu sagen, warum. Diese Regierungsarschlöcher hielten den Verkehr auf, nur um ihre eigene beschissene Existenz zu rechtfertigen.

Der Wagen vor Olsen war als Nächster an der Reihe und fuhr auf die Kreuzung. Der Polizist ging zur Fahrertür und sprach mit dem Fahrer. Dann deutete er nach links und trat vom Wagen zurück. Der Wagen fuhr weiter über die Kreuzung.

Der Verkehrspolizist winkte Olsen heran. Olsen holte tief Luft und rollte langsam vorwärts. Der Cop kam an Olsens Fenster und vermied dabei jeden Augenkontakt. Olsen ließ das Fenster herunter.

»Hören Sie«, sagte der Cop. In der nächsten Sekunde riss er beide Hände nach oben und feuerte ein Gummigeschoss direkt in Olsens Gesicht, der sofort das Bewusstsein verlor.

***

Die Aktion war perfekt koordiniert: Panzer donnerten von beiden Seiten auf die Miller Street, um dem You-Ride den Weg abzuschneiden. US Special Forces stürmten hinter den an der Kreuzung liegen Gebäuden hervor direkt auf den Laster und den Wagen von Briggs und Roscoe zu. Die Satelliten waren den You-Rides lange genug gefolgt, um den zweiten Wagen mit der Verstärkung unmittelbar dahinter auszumachen.

Briggs und Roscoe griffen nach ihren Sturmgewehren, aber noch bevor sie den Wagen verlassen konnten, wurden sie von einem Hagel Gummigeschosse gestoppt. Die Special Forces hatten sie außer Gefecht gesetzt, ohne eine einzige Runde scharfer Munition abfeuern zu müssen.

Bei dem zweiten, von McPike gesteuerten You-Ride-Truck spielte sich ein ähnlicher Vorgang ab, nur hatten sich die Special Forces hier von hinten genähert. Bevor die beiden Teammitglieder McPikes wussten, wie ihnen geschah, krachten Sturmgewehre durch die Scheiben ihres Wagens und feuerten Gummigeschosse gegen ihre Schläfen. McPike selbst war es nicht viel besser ergangen. Er wollte nach seiner Waffe greifen, anstatt den Zündmechanismus zu seinen Füßen auszulösen. Aber wie auch immer, die Special Forces hatten seine Scheibe eingeschlagen und ihn ins Land der Träume geschickt, bevor er seinen eigenen Namen sagen konnte.

Die Einsatzkräfte wussten nicht, was sie im Laderaum erwartete, abgesehen natürlich von der Bombe, doch er erwies sich als nicht bemannt. Spezialisten sprangen auf die Ladefläche und entfernten die Zündschnüre von den Sprengkapseln, für den Fall, dass die Fahrer den Zündmechanismus ausgelöst hatten.

»Laster Nummer eins klar!«, rief der Spezialist in Olsens Truck in sein Mikro.

»Laster Nummer zwei klar!«, meldete der Mann in McPikes Laster.

Die Bomben waren entschärft. Die Laster wurden von Polizeikräften abgeschleppt. Die Terroristen waren unschädlich gemacht.

Zwei Laster ausgeschaltet, blieb noch einer.

Es war jetzt 12.44 Uhr.

97

Ich stand auf der Plaza des State Building, blickte hinauf zu dem Glasgebäude und fragte mich gerade, ob es in fünfzehn Minuten wohl noch stehen würde, als mein Handy klingelte. Es war Lee Tucker.

»Zwei Laster ausgeschaltet, keine Verletzten oder Toten zu beklagen«, sagte er. »Sie hatten recht, Jason. Sie hatten von Anfang an recht. Diese Leute hatten genug Sprengstoff geladen, um die halbe Innenstadt in die Luft zu jagen. Zeitverzögerte Zündmechanismen unter den Sitzen, modernste Sprengkapseln, alles ganz raffinierter Kram. Aber wir haben sie. Scheiße, wir haben sie!«

Mein Herz pochte. Eine Woge der Erleichterung überschwemmte mich, gefolgt von einem Stich in der Magengrube, als sich mir die naheliegende Frage aufdrängte. »Wo zum Teufel ist der dritte Laster?«, fragte ich. Ursprünglich waren wir davon ausgegangen, der dritte Laster würde das Hartz Building ansteuern, aber da hatten wir uns getäuscht. Also wo steckte er?

»Keine Ahnung. Der Satellit hat nichts geortet. Wir wissen es nicht. Ich muss Schluss machen.«

Ich legte auf und starrte ratlos auf das Display. Es zeigte einen unbeantworteten Anruf von heute Morgen 11.51 Uhr an. Richtig, ich erinnerte mich. Höchstwahrscheinlich war es ein weiterer Anruf von Dr. Baraniq wegen des Zeitplans für seine Aussage beim Prozess. Ich hatte gestern vergessen, ihn zurückzurufen.

Ich starrte noch ein wenig länger.

Dr. Baraniq war besorgt gewesen wegen des Zeitplans in dieser Woche, weil er einen wichtigen, nicht zu verschiebenden Termin hatte.

Eine religiöse Verpflichtung, hatte er gesagt.

Mich überlief es eiskalt. Ich klickte die Nummer an, von der aus man mich um 11.51 Uhr angerufen hatte, und mein Herz begann wild zu hämmern.

»Hier ist Sofian Baraniq.«

»Dr. Baraniq, hier ist Jason Kolarich.«

»Oh, ja, Jason, ich wollte fragen, wann Sie …«

»Herr Doktor«, sagte ich. »Herr Doktor, ist heute diese religiöse Verpflichtung, von der Sie sprachen?«

»Ja, sie findet heute statt, wie ich erwähnt hatte.«

»Was ist das für eine religiöse Verpflichtung?«, fragte ich, während ich loszulaufen begann.

»Sie wollen wissen … was das für eine besondere Verpflichtung ist?«

»Richtig.«

»Nun, es ist der erste Tag des Muharram, also der erste Tag in unserem Kalender«, sagte er. »Wir haben einen anderen, kürzeren Kalender als der amerikanische, weil wir nach Mondjahren rechnen.«

Ich begann zu rennen. »Worüber reden wir hier, Herr Doktor? Ist das ein größeres Ereignis?«

»Für manche ja«, sagte er. »Nicht so sehr für die Shia …«

»Wo sind Sie?«

»Wo … also, ich parke in der Nähe der Moschee.«

»Diese gigantische Moschee auf der West Side, gegen deren Bau nach dem elften September protestiert wurde? Die al-Qadir-Moschee?«

»Ja, natürlich.«

»Findet dort eine Art Gottesdienst statt?«

»Ja, Jason. Aber warum …?«

»Beginnt er um eins?«, fragte ich, und die Panik in meiner Stimme war unüberhörbar.

»Ja«, sagte er, mittlerweile von meiner Besorgniss angesteckt.

»Schicken Sie alle raus, Doktor! Dort befindet sich eine Bombe! Hören Sie mich? Das Gebäude muss evakuiert werden! Sofort!«

Ich presste den Aus-Schalter und rief Lee Tucker an. Inzwischen sprintete ich in Richtung Westen.

»Lee«, keuchte ich, als er sich meldete. »Diese gigantische Moschee … auf der West Side. Auf der … Dayton.«

»Ja?«

»Dort ist Laster Nummer drei, Lee. Fahren Sie sofort hin!«

»Woher wissen Sie das?«

»Es ist die größte Moschee im gesamten Mittleren Westen, Lee …«

»Aber woher wissen Sie, dass der Anschlag dort stattfindet?«

Ich drängte mich unsanft zwischen zwei Passanten durch und rannte über die Brücke, die den westlichen Seitenarm des Flusses überspannt. Jetzt waren es noch etwa drei Kilometer bis zur Masjid al-Qadir.

»Weil heute nicht nur Pearl Harbor Day ist«, rief ich. »Heute ist auch das islamische Neujahrsfest!«

98

Ich gab alles, was in mir steckte, aber mein Knie ließ keine Höchstleistungen zu. Obwohl ich quer über Plätze stürmte und Straßen diagonal kreuzte, lief ich keine dreitausend Meter in zehn Minuten. Ich würde es nicht bis ein Uhr schaffen.

Das islamische Neujahr liegt jedes Jahr an einem anderen Tag unseres gregorianischen Kalenders. Wie hatte mir das entgehen können? Ich hatte nicht mal gewusst, dass zu diesem Anlass gefeiert wurde. Es war der perfekte Tag für Randall Manning. Er konnte zwei Fliegen – die Regierung und eine große Versammlung von Muslimen – mit einer mörderischen Klappe schlagen.

Ich stieß auf die Dayton, eine Einbahnstraße, die in östlicher Richtung verlief – entgegengesetzt meiner Zielrichtung – und erreichte eine Kreuzung mit wartendem Verkehr. Ein Typ auf einem Motorrad stand vor einer roten Ampel. Das Überraschungsmoment war nicht auf meiner Seite, da er mich ein gutes Stück herankeuchen sah, aber ich machte das mit Aggression wieder wett. Ich rammte ihn oben im Kopf- und Schulterbereich. Meine Hoffnung, ich könnte sein Motorrad während meiner Attacke aufrecht halten, war allerdings vergeblich. Der Kerl fiel von seinem Motorrad, es stürzte auf ihn und ich gleich hinterher.

»Ich brauche dieses Motorrad«, sagte ich. »Wenn es sein muss, bring ich Sie deswegen um.«

Der Kerl war völlig perplex und wusste ganz offensichtlich nicht, was er von meinem Überfall denken sollte.

Ich stemmte die Maschine in die Senkrechte, sprang auf, stülpte mir den Helm für Beifahrer über und raste davon, während er lautstark zu protestieren anfing. Ich fuhr ein kurzes Stück geradeaus, legte dann eine Kehrtwende hin und bretterte auf dem Gehweg zurück in westliche Richtung.

Auf meiner Uhr war es vier Minuten vor eins. Sicher würden sie mit dem Anschlag warten, bis alle Muslime in der Moschee waren. Warum nicht die größtmögliche Zahl von Opfern in den Tod reißen?

Aber vielleicht ging meine Uhr nach und ihre vor.

Ich hatte seit Collegezeiten kein Motorrad mehr gefahren und hatte natürlich keine Ahnung von all den Besonderheiten dieser Maschine, doch ich kam einigermaßen voran, und mehr war im Moment nicht nötig. Ich schlängelte mich durch den Verkehr, jagte haarscharf am hupenden Gegenverkehr vorbei, bog an einer Kreuzung nach Norden ab und betete stumm, dass ich nicht zu spät kam.

99

Randall Manning fuhr den Laster aus dem Lagerraum, den er vor sechs Monaten gegen Barzahlung angemietet hatte. Der Raum lag unmittelbar nördlich des Anschlagsziels, keine zehn Blocks entfernt. Er befand sich hier etwa drei Kilometer westlich des Geschäftsbezirks.

Die erste Kreuzung erreichte er an der Rovner Street. Die Ampel war rot. Manning stoppte, sah nichts Ungewöhnliches auf der Straße vor sich, griff zwischen seinen Beinen hindurch unter den Fahrersitz und aktivierte das erste Zündkabel, das Fünf-Minuten-Zündkabel.

Er drückte die Timerfunktion an seiner Uhr: 4:59 … 4:58 … 4:57 …

Kurz schloss er die Augen und dachte nacheinander an all seine Lieben. Seinen Sohn Quinn, wie er bei einem Little League Baseballspiel in den Catcher krachte und weinte, als er erfuhr, dass der Catcher eine Gehirnerschütterung hatte. Seine Frau an ihrem Hochzeitstag, so unschuldig und süß in ihrem weißen Kleid, und wie ihre Augen geleuchtet hatten, als sie seine Hand gedrückt und gesagt hatte: »Ja, ich will nichts mehr als das.«

Und er dachte an Langdon Trotter, der damals nach seiner Wahl zum Gouverneur Mannings Hand geschüttelt und gesagt hatte: »Randy, ohne dich hätte ich das nie geschafft. Wenn du was brauchst, bin ich immer für dich da«. Das war gewesen, bevor Lang der ach so wichtige Justizminister wurde und die vergiftete Luft Washingtons atmete, die ihn zu einem Feigling machte und ihn vergessen ließ, was er Manning schuldete, die dafür sorgte, dass er keine Jagd auf den Dschihadisten machte, der viele Amerikaner getötet hatte, unter ihnen Mannings Sohn.

Rache kann süß sein, Lang. Warten wir ab, wie du darüber denkst, wenn dein Sohn heute von einer Bombe zerfetzt wird.

Die Ampel sprang um, und Manning setzte den You-Ride-Laster in Bewegung. Im Gegensatz zu den beiden anderen Mietlastern, die kanariengelb lackiert waren, hatte Manning diesen hier feuerrot gespritzt und ein anderes Firmenlogo auf die Seiten geklebt. Doch heute wurden damit keine Blumen ausgeliefert.

Möglicherweise waren das FBI und dieser Anwalt mit ihren Ermittlungen weit genug gediehen, um heute die Augen nach einem Anschlag offen zu halten. Aber er würde es ihnen nicht leicht machen. Sein Fahrzeug war getarnt und war jetzt, fünf Minuten vor der Explosion, zum ersten Mal auf der Straße zu sehen. Selbst wenn sie absolute Asse in ihrem Job waren, würden sie ihn nicht mehr stoppen können.

Trotzdem wünschte er, Cahill und Dwyer wären bei ihm. Die anderen bildeten Dreierteams, und er hatte auch für sich eines vorgesehen gehabt. Besonders für sich. Denn im Gegensatz zu den anderen beiden Teams, die versuchen würden, vor der Detonation der Bombe zu fliehen, hatte Manning nicht die Absicht, sich zu entfernen. Gemeinsam mit Cahill und Dwyer hatte er geplant, alle Flüchtenden niederzumachen, so wie es die Bruderschaft bei Mannings Familie und den anderen aus dem Adana Hotel getan hatte.

Er hatte sogar eine Machete mitgebracht.

Nachdem er an der Rovner das Fünf-Minuten-Zündkabel aktiviert hatte, blieb noch das Zwei-Minuten-Kabel an der Dodd Street, die nur noch einen Block von der Moschee in der Dayton Street entfernt war.

Sein Herzschlag beschleunigte sich, als der Laster Querstraße um Querstraße und eine Ampel nach der anderen hinter sich ließ.

»Ich weiß, dass der Baum der Freiheit von Zeit zu Zeit mit dem Blut von Patrioten und Tyrannen gegossen werden muss. Ich weiß, dass Revolution nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht ist. Ich weiß, dass religiöser Fanatismus und Hass nicht mit Toleranz, sondern mit Intoleranz beantwortet werden müssen. Ich weiß, dass allen, die ihre Waffen gegen uns erheben, nicht mit Frieden, sondern wiederum mit Waffen begegnet werden muss.«

Als Manning die Dodd Street erreichte, sprang die Ampel auf Rot um. Er wollte sich gerade zu dem Zwei-Minuten-Kabel hinunterbeugen, da erregte eine unerwartete Bewegung vor ihm seine Aufmerksamkeit. Bei der Moschee, einen Block entfernt.

Menschen rannten davon, flohen, als ob …

Als ob jemand einen Bombenalarm ausgelöst hätte.

»Nein«, schrie er. Er stieg auf das Gaspedal, rollte über die rote Ampel an der Dodd und nahm Tempo auf, während er auf die Dayton und die Masjid al-Qadir zuhielt. An der Dayton leuchtete eine weitere rote Ampel. Im Näherkommen erkannte Manning die Flüchtenden nun ganz klar als Moscheebesucher, die das Gebäude eilig verließen und hinaus auf die Grasflächen und Gehwege stürmten.

Trotzdem waren immer noch genug von ihnen im Gebäude. Und die Explosion – nun, sie würde zwar nicht alle töten, aber die Zahl der Opfer wäre hoch genug.

Und plötzlich traf er eine Entscheidung. Vergiss die Zündkabel. Vergiss das Niedermähen der Fliehenden. Er würde den You-Ride-Laster direkt in die Moschee krachen lassen und das ganze verfluchte Ding mit einem Schlag in die Luft jagen.

Er trat das Gaspedal durch und hielt den Atem an. Er stählte sich innerlich, als er über die rote Ampel an der Dayton raste. Vor ihm quollen jetzt Trauben von Menschen aus der Eingangstür der Moschee, unter ihnen ein Mann, der eine ältere Frau auf den Armen trug – ein großer weißer Mann …

Kolarich?

Kolarich.

Manning stieß mit aller Kraft das Gaspedal nieder und brüllte sie hinaus: die Namen seiner Frau, seines Sohns, seiner ganzen Familie.