30
Gegen 20.30 Uhr kam Tori in der Kanzlei vorbei und brachte erste Arbeitsergebnisse mit. Ich hatte sie als Assistentin rekrutiert und die Protokolle der Hintergrundrecherchen zusammenfassen lassen. Sie hatte unbedingt helfen wollen, obwohl ich sie vor der niedersten aller niederen Routinearbeiten gewarnt hatte – resümierende Berichte über Tom Stoller und die Leute, mit denen er im Irak gedient hatte. Womöglich würde ich diese nie benötigen, aber es war besser, sie zu haben und nie zu brauchen, als sie zu brauchen und nicht zu haben.
Shauna hatte sich Arbeit mit nach Hause genommen, was schade war, denn ich hätte ihr Tori gerne vorgestellt.
Tori wirkte bedrückt. Keine ungewöhnliche Reaktion für eine Frau in meiner Gegenwart, doch auch Toris allgemeine Gemütsverfassung schien nicht unbedingt die heiterste zu sein.
»Das ist wirklich traurig«, sagte sie. »Er trug eine schlummernde Schizophrenie in sich, und der posttraumatische Stress hat sie entfesselt?«
»Ja, eine üble Geschichte.«
»Aber du wirst das vor Gericht nicht so darstellen? Dass er einen Rückfall oder etwas in der Art hatte?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich denke, mit begründetem Zweifel an seiner Täterschaft fahre ich besser.«
»Schade«, sagte sie.
Ich konnte ihr nicht ganz folgen.
»Ich meine, es ist eine packende und berührende Geschichte«, sagte sie. »Wenn ich in der Jury säße und vom Krieg und den tragischen Ereignissen mit dem kleinen Mädchen im Irak hören würde, und dass er jetzt unter posttraumatischem Stress leidet und darüber hinaus auch noch unter einer geistigen Krankheit, dann hätte ich großes Mitleid mit ihm. Ich würde ihn nicht verurteilen wollen.«
Das war eine kluge Beobachtung für eine Mathematikstudentin. Sie hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
»Diese Information werde ich der Jury auf jeden Fall versuchen zu vermitteln«, sagte ich.
»Oh, gut. Das solltest du wirklich.« Tori schlenderte durch den Konferenzraum und betrachtete die Ausstellungsstücke. Sie blieb vor den vergrößerten Tatortaufnahmen stehen, den leblos starrenden Augen des Opfers, der Blutlache, wandte sich aber rasch wieder ab.
»Man gewöhnt sich daran«, sagte ich.
Sie drehte sich zu mir. »An was?«
»An die Gewalt. An das Blut und die grausigen Wunden. Du hast ein Problem damit, richtig?«
»Wie kommst du darauf?«
»Wegen deiner Reaktion neulich. Als ich dir erzählt hab, dass ich jemanden verteidige, der in Franzen Park eine Frau ermordet hat. Du hast ausgesehen, als würdest du dich gleich übergeben.«
Sie starrte mich an. Offensichtlich wurde sie nicht gerne analysiert. Mir ging es ähnlich. Ich bekam immer mehr das Gefühl, dass wir füreinander geschaffen waren.
»Na ja, ich mag keine Gewalt gegen unschuldige Menschen«, sagte sie. »Sie sollte niemanden treffen, der sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmert, der arbeitet, für seine Familie sorgt und anständig und ehrlich lebt. Wenn so ein Mensch kaltblütig und sinnlos getötet wird, dann dreht sich mir tatsächlich der Magen um. Und daran möchte ich mich gar nicht gewöhnen.«
Das war nachvollziehbar. Und ein guter Grund, bei der Mathematik zu bleiben. Außerdem würde sie eine Klasse männlicher Mathe-Schüler an der Highschool sehr, sehr glücklich machen. Sie zog ihren langen weißen Mantel aus, und darunter kamen ein schwarzer Rollkragenpullover und Jeans zum Vorschein. Jedes Mal wenn wir uns trafen, sah sie besser aus.
»Aber wenn man ein Krimineller ist«, fuhr sie fort, »ein Drogendealer zum Beispiel, und von jemandem getötet wird – dann habe ich ehrlich gesagt nicht viel Mitleid. Wenn man sich auf dieses Spiel einlässt, muss man auch die Risiken tragen.«
»Wer im Dreck spielt, macht sich schmutzig«, sagte ich.
»Genau.« Zögernd drehte sie sich zu den Tatortfotos um. »Von welcher Sorte war sie?«
»Du meinst das Opfer? Kathy Rubinkowski?«
»Ja. War sie ein unschuldiges Opfer? Oder hatte sie auch Dreck am Stecken?«
Interessant. Sehr interessant. Es war wirklich hilfreich, ein bisschen frisches Blut in diesen Fall zu injizieren. Jemanden, der sich zwar nicht mit dem Gesetz auskannte, aber über hohe Intelligenz und einen gesunden Menschenverstand verfügte und außerdem einen hübschen Hintern hatte.
Ich hatte in Kathy Rubinkowski nie etwas anderes gesehen als das Opfer. Wenn Tom sie tatsächlich während eines PTBS-Flashbacks ermordet hatte, dann war sie zweifellos ein zufälliges, unschuldiges Opfer. Selbst wenn es sich um einen Mafia-Auftragsmord handeln sollte, war ich bisher immer davon ausgegangen, dass sie bei der Arbeit auf irgendwelche Machenschaften gestoßen war und ermordet wurde, bevor sie diese aufdecken konnte.
Aber Tori, die das Ganze unbeeinflusst und aus einer frischen Perspektive sah, hatte da ihren Finger auf etwas gelegt. War Kathy zwangsläufig eine unschuldige Akteurin? Sie könnte selbst in etwas Zwielichtiges verwickelt gewesen sein. Ich machte mir innerlich eine Notiz für Lightner. Möglicherweise verfolgte er diese Richtung ohnehin, aber ein kleiner zusätzlicher Hinweis konnte nicht schaden.
»Vielleicht solltest du im Nebenfach Jura studieren«, sagte ich.
»Das ist nichts für mich.« Sie kam quer durch den Raum auf mich zu. Mein Herz machte einen kleinen Hüpfer. Ein leichter Duft von Blumen umwehte sie. Mein Verstand war sich vollständig darüber im Klaren, dass nichts passieren würde. Sie würde sich weder auf meinen Schoß setzen noch sich ausziehen noch irgendetwas anderes tun, das Ähnlichkeit mit den Fantasien hatte, die mir in diesem Augenblick durch den Kopf gingen. Trotzdem wirkte ihre Annäherung provozierend.
Es war peinlich. Ich hatte immer noch keine Ahnung, wie man so etwas anpackte. Schon vor meiner Ehe war ich in der Startphase einer Beziehung immer völlig ratlos gewesen. Und seit dem Tod meiner Frau hatte ich, was diese Dinge betraf, überhaupt keinen Boden mehr unter den Füßen.
»Aber ich möchte gerne helfen«, sagte sie. »Ich bin zwar juristisch unerfahren, aber ich kann Kurzberichte und Resümees schreiben. Ich möchte diesen armen Kerl wirklich gerne unterstützen.«
Meine Augen wurden schmal. »Und du bist sicher, dass das nicht nur ein unbewusster Versuch ist, mehr Zeit mit mir zu verbringen?«
Sie musterte mich kurz, dann erlaubte sie sich ein schwaches Lächeln. »Musst du dich eigentlich immer so aufblasen?«, sagte sie kopfschüttelnd.
Na ja. Trotzdem, ich machte Fortschritte bei ihr, wenn auch nur kleine.
»Du kannst helfen«, sagte ich. »Finden wir als Erstes mal heraus, ob Kathy Dreck am Stecken hatte.«
31
Die Uhr tickte im Stoller-Prozess, und zwar vernehmlich. Trotz aller Bemühungen, mir meinen Terminkalender freizuschaufeln, arbeitete ich nebenher an diversen anderen Fällen. An diesem Morgen hatte ich eine Voruntersuchung wegen Einbruchdiebstahls. Ein Seniorschüler der Highschool war in den Keller eines Nachbarn eingebrochen und hatte einen Teil seiner Waffensammlung gestohlen. Der Bursche war achtzehn, also voll strafmündig, aber man hatte ihn gegen eine Kaution von fünfzigtausend Dollar nach Hause entlassen.
Die Voruntersuchung, bei der das Gericht feststellt, ob ausreichender Tatverdacht besteht und Anklage erhoben werden soll, dauerte weniger als eine Stunde. Es war die übliche einseitige Geschichte, bei der die Staatsanwaltschaft sämtliche Regeln der Beweiserhebung ignoriert und der Richter auf dringenden Tatverdacht befindet, sofern der Ankläger nicht auf die Knie fällt, in Tränen ausbricht und die Unschuld des Angeklagten beteuert.
Die Eltern meines Mandanten wirkten niedergeschlagen, immerhin eine leichte Verbesserung gegenüber ihrer ursprünglichen Schockstarre. Sie waren geschockt, weil ihr Junge in jemandes Haus eingebrochen war, und geschockt über die Schnelligkeit und vermeintliche Gnadenlosigkeit des Justizsystems, das keine Ausnahmen für ihr kostbares Kind machte.
In den letzten drei Wochen hatten sie sich resigniert in das Unvermeidliche gefügt, waren aber immer noch verwirrt und verzweifelt. Sie löcherten mich mit Fragen, verlangten Zusicherungen und verließen eng umschlungen mit ihrem Jungen den Gerichtssaal.
Als es vorüber war, fuhr ich hoch in den sechsten Stock und fragte den Mann am Empfangstresen nach Wendy Kotowski. Nachdem sie mich zehn Minuten hatte warten lassen, erschien Wendy im Flur, winkte mich nach hinten und verschwand wieder in ihrem Büro. Nicht unbedingt ein Erster-Klasse-Empfang, aber wir kannten uns schon lange und pflegten einen lockeren Umgang. Im Grunde waren wir Freunde und schätzten einander sehr.
»Kolarich, du bist ein mieser Dreckskerl, weißt du das?«, sagte sie, als ich ihr Büro betrat.
Okay, vielleicht doch nicht so sehr.
Wendy war schon lange genug im Büro der Staatsanwaltschaft, um ein eigenes Zimmer zu haben, allerdings eines ohne Fenster. Bei ihrer Dienstzeit und ihrem Talent hätte sie es eigentlich schon weiter nach oben gebracht haben müssen. Doch angesichts der miesen wirtschaftlichen Lage gaben nur wenige ihren sicheren Posten bei der Bezirksstaatsanwaltschaft auf, sodass niemand nachrücken konnte.
Ich mochte sie. Sie war geradeheraus und hatte einen Blick für Relationen. Sie war über das erforderliche Maß hinaus fair gegenüber der Verteidigung, aber im Gerichtssaal eine entschlossene Kämpferin.
»Wie geht’s den Zwillingen?«, fragte ich und nickte in Richtung der Fotos auf ihrem Schreibtisch. Zwei Jungs, die inzwischen zwölf oder dreizehn sein mussten.
»Gut, ihnen geht’s gut«, sagte sie und seufzte. »Sie haben gerade ihren Führerschein gemacht, aber ich will durchsetzen, dass sie nicht in die Stadt fahren, bevor sie nicht ihren Collegeabschluss haben.«
Da hatte ich mich wohl um ein paar Jahre vertan.
»Warum bin ich ein mieser Dreckskerl?«, fragte ich. »Deine Nachricht auf dem Anrufbeantworter war nicht sehr spezifisch. Es könnte jede Menge Gründe dafür geben.«
Wendy schaute sich in ihrem Büro nach irgendetwas um. Keine leichte Aufgabe bei den Papierstapeln überall auf dem Boden.
»Ich hab gehört, du hast den Rubinkowskis einen kleinen Besuch abgestattet.«
»Es war sehr nett, danke der Nachfrage.«
Sie legte den Kopf schräg und fixierte mich. »Versuchst du, einen Keil zwischen mich und die Familie zu treiben?«
»Würde mir nicht im Traum einfallen.«
»Nein, natürlich nicht. ›Könnte irgendjemand einen Grund gehabt haben, Ihrer Tochter zu schaden?‹ Was zum Teufel sollte das?«
Ich spielte den Unschuldigen. »Hey, du versuchst, Schuldunfähigkeit bei meinem Mandanten auszuschließen. Ich brauche einen Plan B.«
»Ja, und offensichtlich auch einen Plan C. ›Haben Sie Wendy irgendwelche Dokumente überlassen?‹ Glaubst du, ich weiß nicht, worauf du abzielst?«
»Auf was denn?« Nicht wirklich eine Antwort. Wendy musterte mich eine Weile lang.
»Ich kenne dich, Kolarich. Als du die Übernahme der Verteidigung beantragt hast, hab ich zu Connor gesagt …«
»Wie geht’s übrigens Connor?«
»Gut. Er lebt in Scheidung, aber es geht ihm gut.« Sie nickte. »Ich hab ihm gesagt, da ist Ärger im Anzug. Mir war klar, dass du irgendeine linke Nummer abziehen würdest.«
Sie wirkte müde um die Augen. Ihre widerspenstigen Locken hatten jetzt einen dunklen, kupferroten Ton; offensichtlich ergraute sie langsam und färbte sich die Haare. Keine gute Entscheidung aus meiner Sicht. Vielleicht war sie wieder auf Partnersuche. Sie hatte sich scheiden lassen, als die Zwillinge noch klein waren, und während unserer gemeinsamen Jahre im Büro der Staatsanwaltschaft war für sie der Gedanke an eine neue Beziehung tabu. Sie hatte sich ganz darauf konzentriert, ihre beiden Jungs auf den rechten Weg zu bringen und Kriminelle ins Gefängnis zu schicken. Zu einer anderen Zeit und unter anderen Umständen hätte ich sonst möglicherweise einen Vorstoß bei ihr gewagt.
»Vielleicht hast du von dem Fall Brady gegen Maryland gehört?«, fragte ich.
»Unsinn. Das ist Unsinn, und das weißt du«, sagte sie. »Dieses Dokument stellt kein entlastendes Material dar, das unterschlagen wurde, wie im Fall Brady. Es hat nichts mit diesem Fall zu tun. Und schon gar nichts mit einer Schuldunfähigkeits-Verteidigung.«
Allerdings hatte der Pflichtanwalt Bryan Childress bereits bei der Anklageerhebung gegen Tom Stoller sowohl auf Schuldunfähigkeit als auch auf nicht schuldig plädiert. Die duale Verteidigungsstrategie war eine reine Formsache gewesen, aber im Grunde lief meine Beweisführung inzwischen tatsächlich nicht mehr auf Schuldunfähigkeit, sondern auf ein klares nicht schuldig hinaus.
Natürlich hatte Wendy recht – das Dokument, das Mr. Rubinkowski mir überlassen hatte, verriet nicht viel, zumindest auf den ersten Blick. Es gab keinen Grund, warum Wendy es als für mich vorteilhaft hätte betrachten sollen. Zu meiner Zeit als Staatsanwalt war ich bei der Beweisoffenlegung immer unsinnig großzügig verfahren. Ich hatte der Verteidigung so ziemlich alles überlassen, was ich hatte. Das war zum einen Teil Berechnung und zum anderen Berufsethos: Wenn ich ihnen alles überließ, konnten sie mich nie eines Brady-Verstoßes bezichtigen, außerdem überschwemmte ich die Verteidigung mit jeder Menge unnötigem Material, unter dem die wirklich wichtigen Dinge möglicherweise verborgen blieben.
Wendy wartete auf meine Antwort. Als diese ausblieb, sagte sie schließlich: »Und?«
Sie wollte wissen, ob ich vorhatte, sie deswegen hinzuhängen.
»Was und?«, fragte ich.
»Willst du mich deswegen hinhängen?«
»Kein Gedanke.« Ich bewahrte mein Pokerface, dann lachte ich. »Wendy, so was würde ich nie tun. Ich bin der festen Überzeugung, dass das Dokument in deinen Augen kein entlastendes Beweismaterial darstellte. Du hattest schlichtweg keine Ahnung, was für eine geradezu explosive Bedeutung es hat.«
Sie verdrehte die Augen. »Explosive Bedeutung«, äffte sie mich nach.
»Eine Sprengbombe, ein einschneidender Wendepunkt.«
»Klar doch.« Sie legte die Fingerspitzen aneinander. »Eben bist du noch davon ausgegangen, Tom Stoller hätte Kathy Rubinkowski erschossen, aber dann erfährst du – oh, Horror –, dass sie als Anwaltsgehilfin mit schriftlichen Antragserwiderungen beschäftigt war! Das ändert natürlich alles!«
Erneut lächelte ich. Ich lächelte nicht häufig, außer in ihrer Gegenwart. Ich vermisste meine Staatsanwaltskollegen. Und ich vermisste das Büro. »Du hast sicher recht«, sagte ich. »Und je mehr ich darüber nachdenke – vermutlich besitzt dieses Dokument tatsächlich nicht die geringste Relevanz. Ich würde mir an deiner Stelle nicht weiter den Kopf darüber zerbrechen. Wirklich.«
Wieder pokerte ich. Sie kannte das Spiel. Und offensichtlich fand sie es amüsant. Früher hatte ich sie oft zum Lachen gebracht. Einmal hatte ich es im Gerichtssaal so weit getrieben, dass sie noch lauthals lachte, als ihr Fall aufgerufen wurde, und sie war nur um ein Haar einer Vorladung wegen Missachtung des Gerichts entgangen.
»Du hast also eine Kopie des Dokuments?«, fragte ich.
Sie nickte. »Ray hat es mir gefaxt, gleich nachdem er es erhalten hatte.«
»Ausgezeichnet. Und ich kann davon ausgehen, dass du mir keine weiteren Dokumente vorenthältst?«
»Zumindest fallen mir im Moment keine ein.« Wendy beobachtete mich eine Weile, dann wich das Grinsen langsam aus ihrem Gesicht. »Du wirst doch deswegen keinen Verfahrensaufschub beantragen – wegen diesem bedeutungslosen Schriftstück?«
»Nein«, sagte ich.
Sie entspannte sich. Dann blickte sie erneut zu mir auf. »Und – wie geht’s dir so? Hast du wieder Boden unter den Füßen?«
»Manchmal kneife ich mich selbst«, sagte ich.
»So gut geht’s dir?«
»Nein, ich kneife mich einfach nur gerne.« Wir waren am Ende mit unserem Gespräch. Ich hievte mich aus meinem Sessel.
»Der Verlierer gibt ein Dinner aus«, sagte ich.
»Einverstanden. Aber irgendwo mit weißen Tischdecken.«
Sie hätte nicht so schnell zustimmen müssen.
32
Als ich in die Anwaltskanzlei zurückkehrte, stürzte sich Bradley John förmlich auf mich. Er war noch jung und ehrgeizig, was hoffentlich auf mich abfärben würde, zumindest der Teil mit dem Ehrgeiz. Bradley hatte drei Jahre als Bezirksstaatsanwalt irgendwo im Landkreis Dienst getan und dabei wichtige Erfahrungen gesammelt, hatte aber das ewige Pendeln satt und wollte an seinem Wohnort arbeiten. Er war gerade dreißig geworden, machte jedoch immer noch jede Nacht einen Streifzug durch die Kneipen; in seinen Augen hatte er seine Karriere noch vor sich und schien sich in unserem Team recht wohl zu fühlen.
Er wollte mir etwas zeigen und winkte mich in den Konferenzraum, unsere Einsatzzentrale. Dort griff ich mir als Erstes das Dokument, das Ray Rubinkowski mir gegeben hatte, und studierte wieder einmal die Rückseite mit den rätselhaften handschriftlichen Notizen:
AN
NM
??
»Hast du rausgefunden, wer AN und NM sind?«, fragte ich.
»Ich arbeite dran«, sagte er. »Aber ich weiß jetzt, was die beiden Symbole unter den Initialen bedeuten. Es sind Fragezeichen. Und das heißt, Kathy hatte Fragen.«
»Erstklassige Arbeit, Bradley. Und nur nebenbei bemerkt: Es wäre äußerst hilfreich, wenn es sich bei AN und NM um die Initialen der beiden Mörder von Kathy Rubinkowski handelt.«
»Verstanden.«
»Und besorg dir am besten auch gleich ihre Geständnisse. Das wäre großartig.«
»Kein Problem, Boss. Steht gleich als Nächstes auf meiner To-do-Liste.«
Bradley hatte sich rasch an meinen Sarkasmus gewöhnt. Das war eine seiner einnehmenden Fähigkeiten. Das und sein Fleiß und sein Talent.
» LabelTek Industries gegen Global Harvest International«, sagte er. Es war der Name des Falls auf dem Dokument, das Kathy Rubinkowski ihren Eltern geschickt hatte. Was uns höchstwahrscheinlich verriet, dass Kathy die Antworten auf eine schriftliche Anfrage zu diesem Fall vorbereitet hatte.
Ich setzte mich und wartete auf eine Erklärung.
»Global Harvest verkauft Düngemittel und ähnliche Produkte an andere Firmen«, führte Bradley aus. »LabelTek entwirft Logos und Labels. Ihren Angaben zufolge haben sie ein Label für ein Global-Harvest-Produkt namens Glo-Max entworfen. Irgendein handelsübliches Düngemittel. Jedenfalls hat Global Harvest angeblich ihr Design übernommen und es verwendet, sie aber um die Lizenzgebühren betrogen. Also zogen sie vor Gericht.«
»Der übliche amerikanische Weg.«
»Richtig. Sie verlangten für jeden verkauften Sack Glo-Max rückwirkend eine Lizenzgebühr. Die Forderungen beliefen sich laut Anklage auf über drei Millionen Dollar. Teil der Anklageerhebung war die normale Beweisoffenlegung – schriftliche Anfragen, Forderungen nach Herausgabe von Dokumenten –, der ganz normale Papierkrieg.«
Er deutete auf das Dokument in meinen Händen. Ich wandte mich wieder der Vorderseite zu mit der Überschrift Beweisstück A: Antworten auf die Anfrage zur schriftlichen Erwiderung #2.
»Um was drehte es sich bei dieser schriftlichen Anfrage Nummer zwei?«, fragte ich.
»LabelTek verlangte eine Liste aller Firmen, die Glo-Max-Düngemittel gekauft hatten.«
Ich schaute auf das Papier. Es war die Antwort auf ihre Anfrage. Siebenundvierzig Firmen hatten Glo-Max-Düngemittel gekauft.
»Und jetzt wird’s interessant«, sagte Bradley. Er griff in einen Karton und zog einen dicken Stapel Unterlagen in einem grünen Ordner hervor. Das war ein Teil der Gerichtsakten. Bei abgelegten Fällen hat ein zugelassener Anwalt das Recht, die Gerichtsakten für vierundzwanzig Stunden einzusehen. Aber wehe, man brachte diese Unterlagen in Unordnung oder ein Dokument verschwand, dann wurde der Oberste Gerichtshof ausgesprochen ungemütlich. »Ich habe die Antwort von Global Harvest auf die schriftlichen Anfrage gefunden«, sagte er.
»Die halte ich doch hier in Händen. Ray Rubinkowski hat sie mir gegeben, richtig?«
»Falsch.« Bradley verkniff sich ein Lächeln. Er hatte recht – langsam wurde es interessant.
Er hielt ein umfangreiches Dokument für mich bereit. Er hatte bereits Kopien der Gerichtsakten angefertigt und die Originale in den Ordner zurückgelegt. Es war eine ganze Reihe Erwiderungen von Global Harvest auf die schriftlichen Anfragen von LabelTek. Die erste Seite trug jeweils den Stempel des Urkundsbeamten des Gerichts, wodurch sie juristische Gültigkeit besaßen. Ich blätterte bis zum Ende des Dokuments, wo sich Erwiderung Nummer zwei aufgrund ihrer Länge als Anhang befinden musste.
»Auf dem Erwiderungsentwurf von Kathy Rubinkowski waren siebenundvierzig Namen aufgeführt«, sagte er. »Die Erwiderung in Gerichtsakten enthält aber nur sechsundvierzig.«
Ich überprüfte es rasch, aber die Anwälte von Global Harvest hatten es mir einfach gemacht, indem sie die Liste durchnummeriert hatten. Die Erwiderung listete definitiv nur sechsundvierzig Firmen auf, eine weniger als auf dem Entwurf, den Kathy Rubinkowski an ihren Vater geschickt hatte.
»Und du wirst mir sicher gleich verraten, welche Firma fehlt«, sagte ich.
Bradley nickte. »Ein Unternehmen namens Summerset Farms Incorporated. Nummer achtunddreißig auf dem Entwurf. In der in den Gerichtsakten abgelegten Version taucht sie nicht mehr auf.«
Okay. Möglicherweise brachte uns das weiter, möglicherweise aber auch nicht. Global Harvest hatte sie nicht auf der Liste aufgeführt. Na und?
»Was ist Summerset Farms?«, fragte ich.
»Online ist nicht viel über sie zu finden. Irgendein kleines lokales Unternehmen, das Weizen anbaut, ein Müsli herstellt und Frühstücksflocken vertreibt.«
»Okay. Und das war’s?«
»Nicht ganz.« Er schüttelte entschlossen den Kopf, voller Stolz auf seine Entdeckung. Dann schob er mir ein weiteres Dokument zu. »Hier ist eine Vorladung unter Strafandrohung von LabelTek an Summerset Farms.«
Ich überflog das Papier. Es war eine Vorladung duces tecum, also waren lediglich Dokumente verlangt worden und kein persönliches Erscheinen. Gefordert wurden »Kopien sämtlicher Verträge, Rechnungen, Lieferscheine, Briefwechsel in Zusammenhang mit dem Erwerb von Glo-Max 2.0 von Global Harvest International, einer ihrer Tochtergesellschaften oder Vertretern«. Außerdem wollte man den Namen der Person wissen, die bei Summerset Farms »die umfassendste Kenntnis aller mit Glo-Max in Zusammenhang stehenden Transaktionen hatte«.
Jede Menge juristisches Kauderwelsch, trotzdem war klar, woher der Wind wehte. »Irgendwie«, sagte ich«, »wussten die LabelTek-Anwälte von Summerset Farms, obwohl Global Harvest sie nicht erwähnt hat.«
»Richtig, und es kostete mich einen Tag herauszufinden, woher sie es wussten.« Bradley war bester Stimmung. Es war der packende Moment einer Entdeckung, eines Durchbruchs, um den es sich hier hoffentlich handelte.
»Der Verkauf bestimmter Düngemittel wird vom Staat und durch Bundesgesetze reguliert. Ich will jetzt nicht so tun, als wüsste ich umfassend darüber Bescheid, aber das Landwirtschaftsministerium unseres Bundesstaats, das in diesem Fall möglicherweise mit der Bundesregierung zusammenarbeitet, möglicherweise aber auch selbstständig …«
»Bradley, beschränk dich aufs Nötigste.«
»Okay. Das Landwirtschaftsministerium verlangt von den Firmen Auskunft über den Verkauf bestimmter Düngemittel. Sie registrieren die Verkaufszahlen und die Bewegungen dieser Produkte.«
»Also könnte irgendjemand dort nachschauen, ob Global Harvest Glo-Max-Dünger an Summerset Farms verkauft hat.«
»So in der Art«, sagte Bradley. »Die Daten der Landesregierung sind nicht sehr detailliert. Sie verzeichnen zum Beispiel nicht, welche Art Dünger verkauft wurde. Aber Summerset Farms wird dort als Käufer erwähnt, ja.«
Bradley zeigte mir das nächste Dokument. Wieder eine Vorladung. Diesmal an das Landwirtschaftsministerium.
»Am gleichen Tag, an dem LabelTek Summerset Farms vorlud, nämlich am fünften Januar, haben sie auch eine Vorladung an das Landwirtschaftsministerium geschickt.«
Richtig. Dasselbe Datum, der 5. Januar. Und es wurden dieselben Informationen angefordert. Sie wollten wissen, ob das Land Unterlagen über den Ankauf von Glo-Max durch Summerset Farms besaß.
»Okay«, sagte ich. »Die LabelTek-Anwälte waren skeptisch, ob ihre Prozessgegner ihnen wirklich alle Kunden offenbaren würden. Denn je mehr Verkäufe Global Harvest getätigt hatte, desto mehr Lizenzgebühren konnte LabelTek verlangen, richtig? Also luden sie Summerset Farms und das Landwirtschaftsministerium vor. Das erscheint logisch. Hätte ich an ihrer Stelle auch gemacht. Es einfach auf einen Versuch ankommen lassen. Vielleicht ergab sich ja was.«
»Richtig«, sagte Bradley.
»Und – hat sich was ergeben?«
Ein Grinsen breitete sich auf Bradleys Gesicht aus. »Nichts«, sagte er.
»Okay, mach’s nicht so spannend. Warum haben sie nichts gefunden, Bradley?«
Wieder schob er ein Dokument über den Tisch. Die Überschrift lautete: »Antrag auf gütliche Beilegung und Feststellung nach Treu und Glauben«.
Ich war kein Experte in Zivilrecht, aber ich wusste, was eine gütliche Beilegung war – es bedeutete, dass die Anklage fallen gelassen wurde. Dank Shauna hatte ich eine Ahnung davon, dass Vergleiche der Zustimmung des Gerichts bedurften. Ein Richter musste befinden, dass der Vergleich »in Treu und Glauben« getroffen worden war.
Okay, prima – die Parteien hatten sich geeinigt. Zivile Rechtsstreitigkeiten werden viel häufiger durch eine Einigung gelöst als durch einen Prozess. Das ist einer der Myriaden Gründe, warum ich Zivilrecht verabscheue.
»Schau mal auf das Datum«, sagte Bradley.
Der Antrag auf Beilegung war am 8. Januar eingereicht worden.
»Interessant«, sagte ich.
»Drei Tage, nachdem die Vorladungen rausgegangen waren«, sagte Bradley. »Und das schließt die Zeit für den außergerichtlichen Vergleich mit ein. Schau dir die Einigungserklärung an. Sie stammt vom siebten Januar.«
Er hatte recht. Der Vergleich war am 7. Januar von jemandem namens Randall M. Manning, CEO und Präsident von Global Harvest International, unterzeichnet worden.
»Zusätzlich muss man einberechnen, dass es für eine Einigung etlicher Gespräche bedarf«, sagte ich. »Und einer Vertragsformulierung.«
Bradley nickte begeistert. »Das bedeutet, sie haben die Einigung sofort ausgehandelt, nachdem sie die Vorladung erhalten hatten.«
Okay, aber irgendetwas fehlte mir hier noch. Ich hatte die Dokumente nicht gelesen, aber Bradley hatte das ganz offensichtlich.
»Wie hoch war die Vergleichssumme?«, fragte ich.
Der Junge konnte einfach nicht aufhören zu grinsen. »Erinnerst du dich, dass LabelTek den Schaden auf drei Millionen geschätzt hat?«
»Klar.«
»Sie haben sich auf vier Millionen geeinigt, plus mehr als hunderttausend Dollar Anwaltsgebühren.«
»Wow.« Ich erhob mich aus meinem Stuhl und begann, auf und ab zu marschieren. Ich wünschte, ich hätte meinen Football gehabt. »Also, Kathy Rubinkowski entwirft eine Antwort auf die schriftliche Anfrage zum Prozess, macht dabei eine Liste mit Glow-Max-Käufern, unter denen sich Summerset Farms befindet. Im weiteren Verlauf entfernt irgendjemand Summerset von der Liste. Und dann nehmen sich die einfallsreichen LabelTek-Anwälte die Landesdatenbank vor und versuchen ihr Glück, indem sie Vorladungen an Summerset und das Landwirtschaftsministerium rausschicken.«
»Genau.«
»Und gleich am nächsten Tag streicht Global Harvest die Segel. Nicht nur stimmen sie einem Vergleich zu, sie willigen auch noch in eine viel höhere Vergleichssumme ein, als LabelTek gefordert hatte, und zahlen auch noch ihre Anwaltskosten. Das dürfte das erste Mal in der Geschichte sein, dass der Kläger jeden geforderten Dollar erhielt, plus ein Drittel mehr, plus Anwaltskosten.«
»Und dabei stand der Fall erst ganz am Anfang«, sagte Bradley. »Sie hatten noch keine einzige eidesstattliche Aussage. Kein einziger Zeuge war bisher gegen sie aufgetreten. Das ist absolut bizarr.«
»Und das Beste hast du noch vergessen«, sagte ich. »Kathy Rubinkowski ist am dreizehnten Januar ermordet worden.«
Jetzt, da sein kleiner Auftritt abgeschlossen war, legte Bradley die Füße auf den Konferenztisch.
»Glaubst du an Zufälle, Boss?«
Mein junger Partner hatte sich einen Orden verdient. Er hatte einen roten Faden gefunden. Jetzt blieben uns zwei Wochen, um zu sehen, wie weit uns dieser Faden führen würde.
»Ich glaube nicht an Zufälle«, sagte ich. »Aber ich glaube an Verschleierungsversuche.«
33
Die Anwaltsfirma Dembrow, Lane und McCabe beschäftigte zwanzig Anwälte, die sich um die Belange ihrer Unternehmenskunden kümmerten. Sie hatten eine Insolvenzabteilung und eine für Urheberrecht, aber ihr Hauptgeschäft waren die alltäglichen Belange großer Firmen, von Vertragswerken über Regelüberwachungen bis hin zu Rechtsstreitigkeiten.
Eine schnelle Google-Suche verriet mir, dass die Kanzlei vor etwa einem Jahr zehn Anwälte, also ein Drittel ihrer Gesamtbelegschaft, entlassen hatte. Wirtschaftskanzleien standen und fielen mit ihren Mandanten und daher mit der Ökonomie. Ein paar dieser mittelgroßen Kanzleien nutzten den wirtschaftlichen Niedergang erfolgreich als Marketingstrategie – Großunternehmensvertretung zum Kleinunternehmenspreis, so in dieser Art –, aber das war bei Dembrow und Lane offensichtlich nicht der Fall.
Ihre Büroräume entsprachen meinen Erwartungen, sie waren protzig, aber nicht wirklich beeindruckend. Der Konferenzraum im zweiunddreißigsten Stock, in den sie mich führten, hatte einen Ausblick auf das Geschäftsviertel, das an diesem Freitagmorgen vor Betriebsamkeit nur so brummte.
Ich war allein gekommen. Ich hatte überlegt, Bradley John mitzubringen, der vor zwei Tagen auf diese Information gestoßen war. Und es wäre nett gewesen, Shauna dabeizuhaben mit ihrer untrüglichen Menschenkenntnis. Aber je mehr ich darüber nachdachte, desto angemessener erschien mir ein Gespräch unter vier Augen.
Bruce McCabe betrat den Konferenzraum um 9.45 Uhr – eine Viertelstunde zu spät – ohne eine Entschuldigung. Er war etwa ein Meter achtzig groß und etwas füllig um die Hüften. Er hatte einen Bürstenhaarschnitt und tief liegende dunkle Augen. Laut Lebenslauf hatte er seine Karriere beim Militär begonnen und im JAG-Corps gedient, bevor er vor über zwanzig Jahren in den Privatsektor gewechselt war. Was sein Lebenslauf nicht verriet, was ich aber sofort erfasste, als er den Raum betrat, war, dass Bruce McCabe ein humorloser Mensch war, dessen intensive Ausstrahlung an Wut grenzte.
Bevor er mir die Hand reichte, blickte er demonstrativ auf die Uhr. »Mein Terminkalender ist voll«, sagte er. »Ich hab mir etwas Zeit für Sie freigeschaufelt, aber nicht viel.«
»Ich weiß das zu schätzen«, sagte ich.
»Ihre Anfrage war nicht gerade freundlich.«
Das war richtig. Als ich ihn nicht ans Telefon bekommen konnte, drohte ich seiner Sekretärin mit einer Vorladung. Als ich ihn endlich am Apparat hatte, wiederholte ich meine Drohung. In Wahrheit steckte nichts dahinter. Durch eine Vorladung hätte ich der Staatsanwaltschaft meine Strategie offenbart. Und meine Beweisführung stand auf so wackeligen Beinen, dass ich unbedingt das Moment der Überraschung nutzen wollte. Doch das konnte er nicht wissen. Die angedrohte Vorladung verschaffte mir seine Aufmerksamkeit. Und bereits das verriet mir etwas.
»Fünfzehn Minuten«, sagte er.
»Ich vertrete Tom Stoller, den Mann, der wegen Mordes an Kathy Rubinkowski angeklagt ist.«
»Das haben Sie mir bereits am Telefon erzählt.«
»Wir haben ein paar Fragen über Kathy Rubinkowskis Tod.«
»Auch das haben Sie bereits am Telefon erwähnt. Wollen Sie mir nicht was Neues erzählen?«
Ich fixierte ihn. Okay, Arschloch. Hier kommt was Neues. »Kathy Rubinkowski hat an einer Klage gearbeitet, die LabelTek Industries gegen Ihren Mandanten Global Harvest International Inc. eingereicht hat. Wir würden gerne wissen, ob Kathy Ihnen gegenüber je gewisse Bedenken über diesen Fall geäußert hat.«
McCabe musterte mich lange. Dann sagte er: »Ich dachte, Sie räumen ein, dass Ihr Mandant Kathy erschossen hat. Ich dachte, es geht hier lediglich um Schuldunfähigkeit.«
»Wir überprüfen verschiedene Optionen«, erwiderte ich.
»Verstehe.« Er trommelte mit den Fingern auf den Konferenztisch. »Meine Antwort lautet: Selbst wenn sie mir gegenüber Bedenken geäußert haben sollte, würde ich Ihnen nichts davon erzählen.«
Dieselbe Antwort hätte ich auch gegeben. Vermutlich war es die einzige, die er geben durfte.
»Dieser Fall wurde beigelegt«, sagte ich. »Kaum sechs Monate nach Anklageerhebung, noch vor der Zeugenbenennung, direkt nach Neujahr.«
McCabe breitete die Hände aus. »Irgendein ein Problem damit?«
»Die Frage ist: warum«, sagte ich.
»Sie werden doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich Ihnen offenbare, warum mein Klient einem Vergleich zugestimmt hat.«
»Wenn er ein Drittel der geforderten Summe gezahlt hätte, dann nicht. Oder die Hälfte. Oder vielleicht sogar achtzig Prozent. Aber hundertdreißig Prozent? Plus Anwaltskosten? Global Harvest hat LabelTek alle Forderungen erfüllt und noch einiges darüber hinaus.«
McCabe durchbohrte mich mit seinem Blick. Er war der leitende Anwalt bei diesem Rechtsstreit gewesen. Im besten Fall bedeuteten meine Einwände, dass er schlechte Arbeit für seinen Mandanten geleistet hatte. Aber wir wussten beide, dass ich auf etwas anderes anspielte – nämlich, dass er klein beigegeben hatte, weil sein Prozessgegner irgendeiner zwielichtigen Geschichte auf die Spur gekommen war und man ihn mit einer stattlichen Abfindung hatte loswerden wollen.
»Da Sie so viel über diesen Fall zu wissen scheinen«, sagte er, »und weil es ohnehin in den öffentlichen Akten steht, will ich Sie daran erinnern, dass LabelTek den entstandenen Schaden auf drei Millionen Dollar geschätzt hat. Es hat sich aber herausgestellt, dass er in Wahrheit viel höher ist.«
»Ich bitte Sie, Herr Anwalt. Wir sind doch beide nicht blöd.«
McCabe kanalisierte seinen Ärger in ein gezwungenes Lächeln. Das tue ich manchmal auch. »Sonst noch was, Mr. Kolarich?«
»Mochten Sie Kathy Rubinkowski?«
»Natürlich. Alle hier mochten sie. Wir waren erschüttert über die Nachricht.«
»Dann würde man doch erwarten, dass Sie ihren Mörder gerne vor Gericht sehen würden.«
»Natürlich möchte ich das. Aber ich werde nicht meine anwaltliche Schweigepflicht brechen, nur damit Sie anschließend wild drauflos spekulieren können.«
Ich nickte und dachte kurz nach. McCabe begann sich aus dem Sessel zu hieven.
»Wissen Sie irgendwas über Summerset Farms?«, fragte ich.
Er ließ sich zurückfallen und blickte aus dem Fenster. »Summerset …«
»Die Firma, die kurz vor dem Vergleich eine Vorladung erhielt, Bruce. Am gleichen Tag wurde übrigens auch eine Vorladung an das Landwirtschaftsministerium geschickt. Haben Sie nie von Summerset gehört?«
»Ich … kann mich nicht daran erinnern … je von Summerset gehört zu haben.«
»Das ist merkwürdig«, erwiderte ich. »Denn Sie sind ihr Anwalt.«
Es ist schwer, ein Pokerface zu bewahren, wenn man einen solchen Treffer kassiert hat. McCabe war nicht sehr gut darin. Sonst hätte er sich auf verschiedene Arten rausreden können. Er hätte zum Beispiel sagen können, ja, natürlich sei er der Anwalt von Summerset, er könne sich nur nicht an die Vorladung erinnern.
Bradley John hatte gestern die Verbindung hergestellt. Summerset Farms war wie jede Firma in diesem Bundesstaat dazu verpflichtet, einen Verantwortlichen für die Zustellung von Gerichtsurkunden zu benennen. Und sie hatten Bruce McCabe gewählt. Was merkwürdig war. Denn normalerweise entschied man sich in solchen Fällen für jemanden aus dem Vorstand oder irgendeinen leitenden Angestellten. Summerset hatte einen Anwalt von außen benannt. Ein weiteres Rätsel, auf das ich ab heute eine Antwort suchen würde.
»Dieses Treffen ist beendet, Herr Anwalt.« McCabe erhob sich.
»Gut«, sagte ich. »Ich verstehe Ihre Haltung. Sie haben in diesem Fall nicht die Vollmacht. Also werde ich mich an denjenigen wenden, der sie hat.«
Er blinzelte zweimal. »Wie bitte?«
»Ich werde Randall Manning vorladen müssen. Den Chef von Global Harvest. Der Mann, der die außergerichtliche Einigung unterzeichnet hat.«
McCabe zögerte. »Nur weil er den Vergleich unterzeichnet hat, muss er nichts davon wissen.«
»Das kann er mir selbst erzählen. Nachdem ich ihn vorgeladen habe.«
»Ich werde die Vorladung aufheben lassen.«
»Sie meinen, Sie werden versuchen, sie aufheben zu lassen. Aber daraus wird nichts. Haben Sie schon mal mit Richter Nash zu tun gehabt?«
McCabe wirkte angespannt. Er erwog seine Optionen. Das Ganze war äußerst aufschlussreich. »Ich kann mit ihm über eine bedingte Lockerung der Schweigepflicht reden«, schlug er vor. »Vielleicht kann ich mit seinem Einverständnis weiter ins Detail gehen.«
Ich tat so, als ließe ich mir das durch den Kopf gehen. »Nein, meine Neugier ist geweckt. Ich bleibe bei der Vorladung.« Ich stand auf. »Danke für Ihre Zeit. Ich halte Sie über die Korrespondenz auf dem Laufenden.«
»Warten Sie«, sagte er.
Ich blieb an der Tür stehen.
»Wie wäre es, wenn ich was arrangiere? Sie und Mr. Manning und ich können uns zu einem informellen Gespräch treffen. Die Vorladung wird nicht nötig sein.«
»Das ist die richtige Einstellung, Bruce.« Ich öffnete die Tür. »Gleich als Erstes nächste Woche, oder ich erwirke diese Vorladung.«
34
Randall Manning stand im Büro seines Anwalts Bruce McCabe. Da McCabe einer der namensgebenden Partner von Dembrow, Lane und McCabe war, residierte er in einem Eckbüro mit ausreichend Platz für einen Konferenztisch und einem beeindruckenden Blick auf die westlichen Vorstädte und das Industriegebiet im Süden.
Heute jedoch waren aus einem Übermaß an Vorsicht die Jalousien heruntergelassen, und das, obwohl man sich im zweiunddreißigsten Stockwerk befand. Stanley Keane strich die Karte auf dem Konferenztisch glatt. Bruce McCabe wartete darauf, seine Informationen zu präsentieren.
Manning beobachtete die beiden. Sein Blick wanderte zu Bruces imposantem Walnussschreibtisch. Ebenso wie Manning hatte Bruce McCabe eine Reihe von Familienfotos auf dem Schreibtisch stehen, unter denen das seines ältesten Sohns James herausragte.
Auch Mannings Hauptaugenmerk hatte seinem einzigen Sohn Quinn gegolten. Manning hatte immer gewusst, dass sein Sohn cleverer war als er. Er erinnerte sich noch gut an die Sommer, in denen Quinn als Praktikant in der Firma gearbeitet hatte, die er eines Tages übernehmen sollte; an die frische Perspektive, die er bereits als Highschoolkid eingebracht hatte, seine einsichtsvollen Kommentare. Quinn hatte auch vor einiger Zeit die Idee gehabt, aggressiv in Übersee zu expandieren. Er hatte ein umfassendes Konzept dazu vorgelegt, allerdings ohne konkreten Geschäftsplan, Prognosen, Zahlen und Strategien. »Auf der Tür hier steht Global Harvest, richtig, Dad?«, hatte er gesagt. »Und was bedeutet ›International‹ für dich?«
Und Randall Manning hatte den Fehler seines Lebens begangen. Er hatte eingewilligt und Quinn die Chancen ausloten lassen.
»Okay, fangen wir an«, sagte Stanley Keane
Bruce McCabe hielt einen gelben Leuchtmarker in der Hand und zeichnete auf dem Plan des Geschäftsviertels und der Near North Side, während er sprach. »Der Umzug beginnt zu Mittag am South Walter Drive neben dem Hartz Building«, sagte er. »Er bewegt sich nordwärts die Walter hinauf und an den Flussbiegungen entlang. Dann überquert er den Fluss an der Lerner Street Bridge. Und sobald die Parade über den Fluss ist, sind es nur noch drei Blocks bis zum Federal Building.«
Manning nickte. Der Umzug würde nördlich des Federal Building enden, das man abschätzig auch »brauner Bau« nannte, wegen seiner braungrauen Farbe und der einfallslosen Architektur. Dort saßen die Federal Courts, das Bundesgericht, die US-Staatsanwaltschaft und dreißig weitere staatliche Organisationen. Auf der Federal Plaza vor dem Gebäude würde unmittelbar nach dem Umzug eine kurze Gedenkfeier stattfinden.
»Letztes Jahr«, sagte Stanley Keane, »haben sie achtunddreißig Minuten bis zur Federal Plaza gebraucht.«
»Und wie lange dauerte die Gedenkfeier?«
»Sechsunddreißig Minuten.«
»Also ist dreizehn Uhr ein sicherer Zeitpunkt.« Manning blickte zu Stanley.
»Ja, Sir. Das ist der Plan.«
Manning nickte. »Wie steht es mit den Sicherheitskräften?«
»Sicherheitskräfte?« Stanley Keane stöhnte. »Sie wissen, wie das heutzutage ist, Randy. Die halten sich da ziemlich bedeckt. Wir wissen nur, wie es letztes Jahr ablief.«
»Frischen Sie mein Gedächtnis auf«, sagte Manning, obwohl er das eigentlich nicht brauchte. Er kannte jeden Aspekt der Sicherheitsvorkehrungen von letztem Jahr. Er wollte nur prüfen, wie gut Stanley Keane vorbereitet war.
Stanley griff jetzt zu einem Bleistift und trug Markierungen in die Karte ein. »Die Sicherheitskräfte wurden im Wesentlichen flankierend eingesetzt«, sagte er. »Polizisten zu Fuß, etwa sechs für jeden Block, auf beiden Straßenseiten. Straßensperren am Anfang und am Ende, aber die Querstraßen waren nicht alle abgesperrt. Die meisten Ost-West-Straßen waren einfach durch berittene Polizisten blockiert. Es war lediglich die abgespeckte Version dessen, was bei einer richtig großen Parade aufgefahren wird. Ich meine, es ist mitten im Winter. Die meisten Leute kümmern sich ohnehin nicht groß um den Pearl Harbor Day.«
Das wird sich jetzt ändern, dachte Randall Manning. Er fragte: »Und wie sieht’s mit dem FBI aus?«
Stanley schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht, Sir. Vermutlich werden sie sich dicht beim Gouverneur halten, während er der Menge vorangeht. Aber es lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Der Gouverneur hat letztes Jahr nicht teilgenommen.«
Aber dieses Jahr war er dabei. Gouverneur Trotter, einige US-Senatoren und der Bürgermeister würden den Umzug anführen. Begleitet wurden sie dabei von einem ehemaligen Brigadegeneral, der in der Stadt lebte und im Zweiten Weltkrieg gedient hatte. Er war sogar am Tag des Angriffs in Pearl Harbor stationiert gewesen.
Manning spähte durch die halb durchlässigen Jalousien, die von den Strahlen der Nachmittagssonne eingefärbt wurden. Er dachte daran, was in neunzehn Tagen geschehen würde.
Was hatte Präsident Roosevelt über den 7. Dezember 1941 gesagt? Ein Tag der Schande.
Und was würde man über den 7. Dezember dieses Jahres sagen? Eine andere Zeit, ein anderes Ereignis, wenn auch ohne Zweifel ähnliche Proklamationen, zähnefletschende Anschuldigungen, selbstgerechte Empörung.
Aber eines Tages, da war Manning sich sicher, würde ihm die Menschheit danken.
»Gut. Bruce, Sie sind am Zug«, sagte Manning. »Erzählen Sie mir von dem Besuch heute Morgen. Berichten Sie mir über Jason Kolarich.«
35
»Der Prozess beginnt am ersten Dezember«, bemerkte ich zu Joel Lightner. »Das ist in elf Tagen. Hat dir das schon jemand gesagt?«
»Und hat dir schon jemand gesagt, dass das FBI seit drei Jahren verzweifelt nach der Identität von Gin Rummy fahndet und bisher nicht das Geringste gefunden hat?«
Wir liefen die Gehringer Street hinunter. Es war ein Samstagnachmittag und das Franzen-Park-Viertel war belebt. Die Bars und Restaurants, an denen wir vorbeikamen, waren voll besetzt. Auf den Gehwegen drängten sich die Menschen. Alle waren gut gelaunt. Alle außer mir.
Für alle anderen Menschen bedeutete Samstag das Wochenende, Zeit mit der Familie, trinken und plaudern und entspannen. Für mich hieß es, dass Menschen schwerer erreichbar waren und Regierungsbüros, Firmen und Geschäfte geschlossen hatten. Nach diesem Wochenende war es nur noch eine kurze Woche bis Thanksgiving. Ab Mittwochmittag würden die meisten in die Feiertage starten. Und danach konnte man es vergessen, keine Chance mehr, jemanden aufzutreiben bis Montag.
Und der Montag nach Thanksgiving war bereits der 29. November – zwei Tage bevor wir die Jury auswählten.
Joel Lightner hatte die ganze letzte Woche damit verbracht, Licht in die Gin-Rummy-Frage zu bringen. Er hatte all seine Quellen bei den lokalen, den bundesstaatlichen und den nationalen Ermittlungsbehörden angezapft, ohne Erfolg.
»Nur die letzten drei Jahre?«, fragte Tori. Ja, ich hatte sie mitgenommen. Sie hatte den anderen Tatort mit uns besucht, warum nicht auch diesen? Außerdem zeigte sie echtes Interesse an dem Fall, und ihre Sichtweise als außenstehende Laiin hatte sich schon mehrfach als hilfreich erwiesen.
Es gab also mehrere gute Gründe, sie dabeizuhaben. Und es war ganz sicher nicht so, dass ich sie zu beeindrucken oder für mich zu gewinnen suchte. Gut. Schön, dass das geklärt war.
»Zum ersten Mal tauchte der Name Gin Rummy vor vier Jahren in einem abgehörten Gespräch auf«, sagte Joel. »Bei irgendwelchen niederen Chargen. Nicht bei Paulie Capparelli oder jemandem an der Spitze. Also hat das FBI den Namen lediglich notiert, ihm aber nicht viel Bedeutung beigemessen. Ich meine, diese Burschen haben ohnehin alle mindestens fünf Spitznamen.«
»Richtig«, sagte Tori, obwohl sie vermutlich keine Ahnung hatte.
»Aber dann wurde ein Gespräch im Gefängnis abgehört. Rico Capparelli, der Oberboss, der lebenslänglich sitzt, hat den Namen erwähnt. Ab da wurde das FBI aufmerksam. Soweit sie das überblicken, kann Gin Rummy in den letzten Jahren etwa zehn Auftragsmorde auf sein Konto verbuchen. Erinnert ihr euch an Anthony Moretti?«
Vage erinnerte ich mich. Der Moretti-Clan, der Verbindungen nach New Jersey hatte, war der Hauptrivale der Capparellis. Vor etwa einem Jahr war Anthony Moretti, der Capo, in seinem Bett erschossen worden. Außerdem wurden in seinem Apartment zwei tote Bodyguards entdeckt.
»Und das war Gin Rummy?«, fragte ich.
»Das wird allgemein angenommen.«
Tori blickte zu mir. »Dann hast du es mit einem ziemlich gefährlichen Burschen zu tun.«
»Ich hab’s gern spannend. Aber ich muss diesen Typ finden, bevor er mich findet.«
Wir überquerten die Mulligan an der Kreuzung und kamen an einem Schuhgeschäft vorbei, das Talia geliebt hatte.
»Ich liebe dieses Geschäft«, sagte Tori. Kein Wunder bei einer Fashionista wie ihr. Hey, kaum zu glauben, dass ich ein Wort wie »Fashionista« verwendete. Die Jungs zu Hause hätten sich für mich fremdgeschämt. Vielleicht wurde ich doch langsam weich.
Wir gingen auf der westlichen Straßenseite halb um den Block und blieben stehen. Lightner fischte Kopien der Fotos aus einem braunen Briefumschlag.
»Hier«, sagte er und deutete auf einen Baum, der in der Mitte des Gehwegs gepflanzt war. Keine Ahnung, was die Stadt sich dabei gedacht hatte. Zu dieser Jahreszeit waren die Zweige kahl und ließen den Baum mehr wie ein gigantisches Unkraut aussehen.
»Die Patronenhülse wurde in der Erde unterhalb des Baums gefunden«, erklärte Joel. Er trat einige Schritte nach links und stand nun direkt am Zaun eines Apartmentgebäudes. Hinter dem ein Meter fünfzig hohen Zaun befand sich die Wohnung des Zeugen Sheldon Pierson, der vor Gericht aussagen würde, dass er zum mutmaßlichen Todeszeitpunkt draußen gewesen war und Weihnachtsdekorationen aufgehängt hatte, aber weder etwas gesehen noch etwas gehört hatte.
Auf der anderen Straßenseite standen Ein- und Mehrfamilienhäuser. Einige waren in den letzten Jahren renoviert worden, andere wirkten, als hätten sie gerade ein Flächenbombardement überstanden. Ein Viertel, dessen Generalsanierung durch die Wirtschaftskrise zum Erliegen gekommen war.
Joel streckte den rechten Arm aus und formte mit seiner Hand eine Pistole. »Er hat also von hier aus geschossen. Die Patronenhülse ist vermutlich direkt im Dreck gelandet.«
Mit den Tatortfotos als Führer lief ich hinüber zu der Stelle, wo Kathy Rubinkowski tot am Straßenrand zusammengebrochen war. Dort zog sich ein diagonaler Riss durch den Asphalt, der sich auf den Fotos wiederfand und den ich als Orientierungspunkt benutzte. Außerdem kannte ich die Stelle bereits einigermaßen gut, da es nicht mein erster Ausflug zu diesem Tatort war. Es ist absolut wichtig, den Tatort selbst aufzusuchen. Und fast genauso wichtig ist es, ihn ein zweites und ein drittes Mal zu sehen. Man muss diese Orte genau studieren. Man muss sich die Szene bildlich vorstellen. Andernfalls könnte einem etwas entgehen, das für den Fall entscheidend ist.
»Letztes Mal, als ich die Entfernung abschritt, waren es über drei Meter«, sagte ich, während ich die Distanz zwischen mir und Joel Lightner maß.
»Das war ein Präzisionsschuss«, sagte Joel nicht zum ersten Mal.
»Er hat ihr zwischen die Augen geschossen?«, fragte Tori. »Also hat sie ihn direkt angesehen.«
Ich blickte zu Tori. »Worauf willst du hinaus?«
Sie war wie üblich ansprechend zurechtgemacht in ihrem langen weißen Mantel und kniehohen schwarzen Stiefeln. »Wenn jemand eine Waffe auf mich richtet, würde ich wegrennen. Oder mich ducken.«
»Das sollte man eigentlich erwarten«, sagte Joel. »Aber in Wahrheit starren bedrohte Menschen auf die Quelle der Gefahr. Es gibt Studien darüber. Der Mensch will die Gefahr einschätzen können, also fokussiert er sich darauf. Wenn Kathy die Pistole gesehen hat, hat sie höchstwahrscheinlich den Blick direkt darauf gerichtet, ja, vielleicht hat sie sich ihr sogar frontal zugewandt.«
Tori hörte zu und schüttelte dann den Kopf. »Ich würde mich ducken. Ich würde nicht auf die Pistole starren.«
»Das wäre deine zweite Reaktion«, sagte Joel. »Deine erste Reaktion wäre, die Waffe zu fixieren. Bedenke, dass sich das Ganze innerhalb von ein oder zwei Sekunden abgespielt hat. Wäre etwas mehr Zeit gewesen, wäre es möglicherweise anders abgelaufen.«
»Das klingt alles sehr faszinierend, Leute«, sagte ich. »Wenn das alles vorüber ist, lasst uns gemeinsamen einen Artikel darüber schreiben. Aber wie wär’s, wenn wir uns im Augenblick darauf konzentrieren, unserem Mandanten eine Verurteilung wegen Mordes zu ersparen?«
***
Peter Gennaro Ramini beobachtete, wie Jason Kolarich und die anderen den Mord an Kathy Rubinkowski nachstellten. Im Schutz der dicht gedrängten, festlich gestimmten Menge hatte er ihnen ohne Schwierigkeiten folgen können. Und er musste sich ihnen nicht weiter nähern. Ihm war klar, was sie dort taten. Also stand er etwa einen halben Block entfernt an der Kreuzung Gehringer/Ecke Mulligan, lehnte an der Tür einer Bank und hatte die Hände in die Taschen vergraben – mittlerweile so etwas wie sein Markenzeichen.
Kolarich und seine Mannschaft schienen die Details im Wesentlichen richtig zu erfassen, die Entfernung, den Winkel, die Position des Opfers. Wobei Letzteres leicht den Tatortfotos zu entnehmen war. Allerdings überraschte ihn zunächst die Genauigkeit ihrer Schätzungen die Schussdistanz betreffend. Sobald diese über einem Meter fünfzig lag, war sie nur sehr schwer zu bestimmen.
Doch dann fiel ihm die Patronenhülse wieder ein. Anhand dieser mussten sie die Entfernung bestimmt haben. Aus seiner Sicht war die Patronenhülse kein Problem gewesen, man durfte sie ruhig der Mordwaffe zuordnen; schließlich würde die Pistole ohnehin gefunden. Zudem hätte ihr Fehlen auf einen Profikiller hingedeutet und nicht, wie gewünscht, den Anschein eines amateurhaften Raubmords hinterlassen.
Jetzt sah er allerdings den Nachteil: Sie ließ auf die Distanz schließen. Und diese Distanz war bedeutsam, denn mit einer Glock auf diese Entfernung präzise zu treffen, war nicht leicht. Das gab Kolarich ein wertvolles Argument an die Hand – die Morde waren von jemandem mit Routine und Erfahrung ausgeführt worden. Von einem Profi. Einem Auftragskiller.
Er beobachtete sie, bis er alles Notwendige in Erfahrung gebracht hatte. Dann ging er nach Hause.
Morgen würde es wohl eine längere Unterredung geben.
36
Die schwarze Limousine holte Peter Ramini exakt um neun Uhr ab, als er aus dem Drugstore trat. Er ließ sich auf dem Rücksitz nieder und schob rasch die Hände wieder in die Taschen.
Neben ihm verschlang Donnie einen Bagel mit Blueberry Cream Cheese und verteilte Krümel überall auf seinem Kinn und seinem beständig anschwellenden Bauch. Dieser Kerl ähnelte einem gestrandeten Wal. Aber er war der Einzige, dem Paulie Capparelli vertraute, der Einzige, der sich hinabbeugen, Paulie etwas ins Ohr flüstern und auf gleiche Weise Ratschläge empfangen konnte.
»Was hast du, Pete?«, grunzte Donnie.
»Ich hab ein Problem, das hab ich.«
»Erzähl’s Donnie. Donnie weiß Rat.«
Ramini warf ihm einen Seitenblick zu. Manchmal vergaß Donnie, dass er lediglich der Bote war und nicht der Boss.
»Erinnerst du dich an diese Geschichte letzten Januar mit der Lady aus der Anwaltskanzlei?«
Erneut grunzte Donnie. Das bedeutete ja. »Polnischer Name.«
»Rubinkowski, richtig.«
»Gute Arbeit, mein Freund. Die Cops haben irgendeinen Typen deswegen hochgenommen, und dieser Blödmann hat auch noch gestanden.« Donnie kicherte. »Der Typ war ein Irrer, oder?«
»Richtig, Donnie. Aber hör zu. Vor Kurzem war da diese andere Geschichte – die mit Zo.«
Der Themenwechsel ließ Donnie verstummen. Natürlich erinnerte er sich daran. Lorenzo Fowler war einst der Mann gewesen, der ins Ohr des Capos flüstern durfte, nur hatte der Capo damals noch Rico Capparelli geheißen und nicht Paulie. Aber selbst nach dem Machtwechsel war Zo noch ein vertrauenswürdiges Mitglied des inneren Zirkels – bis das Problem mit dem Stripclubbesitzer auftauchte. Niemand hatte Zo angewiesen, es diesem Typen mit dem beschissenen Baseballschläger zu besorgen, sodass er anschließend an den Verletzungen starb.
Lorenzo hatte den heißen Atem der Strafverfolger in seinem Nacken gespürt und gedroht, die Nerven zu verlieren. Daher hatte Paulie eine strenge Überwachung Lorenzos angeordnet.
Und als Lorenzo sich dann mit diesem Jason Kolarich verabredet hatte – keiner ihrer Anwälte, sondern ein totaler Außenseiter –, erfuhr Paulie keine zehn Minuten später davon. Und es gefiel ihm nicht.
»Du erinnerst dich, dass Zo diesen Anwalt angerufen hat«, sagte Ramini.
»Ja, klar doch. Wahrscheinlich wollte er einen Deal einfädeln und aussteigen. Um das vor uns geheim zu halten, brauchte er einen Anwalt von draußen.«
»Genau. Und der Name dieses Anwalts war Jason Kolarich.«
»Richtig.« Donnie nahm einen gewaltigen Bissen von seinem Bagel. »Kolarich. Was ist das, russisch? Bulgarisch?«
Ramini atmete ein und atmete wieder aus.
»Rumänisch? Nein, ungarisch …?«
»Don, woher zum Teufel soll ich das wissen? Vielleicht stammt er aus … Paraguay, okay? Oder vom beschissenen Nordpol. Ist mir doch scheißegal.«
»Petey …«
»Es ist mir ernst damit. Ich hab ein verdammtes Problem, verstanden?«
»Ist ja gut, Petey.« Donnie tätschelte Raminis Knie. »Hör zu, ich weiß das alles bereits. Lorenzo ist zum Anwalt marschiert. Wir hatten Angst, er verrät was. Jede Menge Kram. Aber dann hast du dich um Lorenzo gekümmert. Damit ist der Anwalt raus aus der Gleichung. Er braucht sich um niemanden mehr Gedanken machen, seit Lorenzo unter der Erde ist. Problem gelöst, richtig?«
»Falsch. Weil dieser Kolarich nicht irgendein Anwalt ist. Wir sind davon ausgegangen, dass Lorenzo ihn zufällig ausgewählt hat. Aus dem Telefonbuch oder so.«
»Genau.«
»Genau. Dummerweise ist dieser Kolarich aber alles andere als eine zufällige Wahl. Kolarich vertritt den Typen, den sie wegen der Rubinkowski-Sache angeklagt haben.«
Donnie hielt mitten im Kauen inne. Er drehte den Kopf samt käseverschmiertem Kinn langsam in Raminis Richtung. »Von dem unzurechnungsfähigen Typen?«
»Richtig. Der heißt Tom Stoller. Aber egal. Der Punkt ist, Zo hat nicht mit irgendeinem Sesselpupser geredet. Er hatte mit dem Typen Kontakt, der den Mörder von Kathy Rubinkowski sucht.«
Donnie fehlten die Worte, was kein Wunder war. Sein Jobprofil war unverbrüchliche Loyalität. Von Cleverness und Intelligenz war darin nicht unbedingt die Rede.
»Also bedeutet Zos Beseitigung nicht automatisch, dass der Anwalt aus der Gleichung ist«, fuhr Ramini fort. »Wenn Zo dem Anwalt verraten hat, wie die Rubinkowski-Kiste wirklich gelaufen ist …«
»Hat er das?«
»Keine Ahnung, Don. Aber hör zu. Es sieht ganz so aus, als würde der Anwalt nicht mehr auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren.«
»Woher weißt du das?«
»Erinnerst du dich an den Kerl, der uns wegen der Rubinkowski-Kiste angeheuert hat?«
Donnie dachte nach. Das dauerte eine Weile. »Der Industrielle. Der Geldsack aus der Provinz.«
»Manning. Randall Manning«, sagte Ramini. »Manning hat mir neulich einen Besuch abgestattet. Er meinte, dieser Kolarich schnüffelt in seinem Umfeld herum. Stellt Fragen, die nicht auf eine Schuldunfähigkeitsverteidigung hindeuten. Sondern mehr darauf, dass er einen Fall aufklären will. Und es klingt ganz so, als hätte er bereits eine ziemlich heiße Spur. So heiß wie ein verfluchter Schneidbrenner.«
Donnie stöhnte.
»Ich hab diesen Kolarich beobachtet«, fuhr Ramini fort. »Gestern Abend hab ich ihm dabei zugesehen, wie er den Tatort studiert hat, um aus der Sache schlau zu werden. Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass er das Ganze als eine Profiarbeit betrachtet.«
»Ach du heilige Scheiße«, stöhnte Donnie.
»Ich weiß alles über diesen Kolarich. Ich hab gründliche Hintergrundrecherchen angestellt, nachdem Zo ihn aufgesucht hatte. Er war früher Staatsanwalt, und jetzt hält er sich für einen Cowboy. Erinnerst du dich daran, wie unser Gouverneur Ärger mit dem FBI hatte?«
»Der Gouverneur?« Donnie wandte sich ihm zu. »Das war Kolarich?«
»Er hatte die Finger mit drin, ja. Ein verfluchter Kreuzritter, der Kerl.«
»Und dieser Kreuzritter«, sagte Donnie. »Dieser Kerl, der vor nichts und niemandem Angst hat … hat dieser Kreuzritter eine Familie?«
Donnie war vielleicht kein Raketenwissenschaftler, aber er wusste das eine oder andere. Das war genau die richtige Frage.
»Nicht wirklich. Frau und Tochter sind bei einem Autounfall gestorben. Sein Dad sitzt wegen Betrugs. Allerdings hat er ohnehin keinen Draht mehr zu ihm. Hat ihn nie besucht, soweit wir wissen. Außerdem gibt’s da einen Bruder, aber der hängt auf den Kaimaninseln rum.«
»Das hilft uns nicht weiter.«
»Hey, Mooch, bieg hier rechts ab«, schnauzte Ramini den Fahrer an, Donnies Bruder. Wenn es überhaupt möglich war, noch weniger talentiert zu sein als Donnie, dann gebührte dieses zweifelhafte Verdienst seinem Bruder. »Ich will ins Fitnessstudio.«
»Was machst du da, Stepmaster und Nautilus und solchen Kram?«, fragte Donnie.
»Nee, die haben dort ein Laufband. Die meiste Zeit renne ich.«
»Ich hab auch schon drüber nachgedacht, so was zu machen.«
Ramini musterte seinen dreihundert Pfund schweren Freund. »Tja, kann sicher nicht schaden, Don.«
Der Wagen hielt vor dem Fitnesscenter.
»Rede mit Paulie, Don«, sagte Ramini. »Und zwar heute noch.«
»Also gibt es da niemand? Komm schon, Petey, gibt es wirklich niemanden, den wir bei diesem Anwalt als Druckmittel einsetzen können? Keiner, der ihm was bedeutet?«
Peter Ramini überlegte einen Augenblick. Er dachte an Kolarichs Begleitung beim Nachstellen des Mordes. Das alles konnte rasch ziemlich kompliziert werden.
»Er hat eine Freundin«, sagte er.
37
Tom Stoller starrte auf seine Füße, und seine Zunge huschte mit hundert Stundenkilometern über seine Lippen. Seine Hände konnte ich nicht sehen, aber mit Sicherheit zuckten seine Finger. Er befand sich gerade in seiner eigenen Welt, dachte an hundert Dinge, die nichts mit seinem Auftritt vor Gericht oder mit seinem Fall zu tun hatten, sondern höchstwahrscheinlich mit seinem Einsatz im Irak.
Und eine Vertreterin des Staates, der diesen Mann zu seiner schmutzigen Arbeit nach Übersee geschickt hatte, ihn damit persönlich ruiniert und anschließend im Stich gelassen hatte, verlangte jetzt, dass ein Richter in seinem Fall Schuldunfähigkeit ausschloss.
Der Gerichtsschreiber rief unseren Fall auf. Tom verzog keine Miene bei der Erwähnung seines Namens.
Heute war Dienstag. Wir befanden uns im letzten Stadium der Prozessvorbereitung. Sämtliche Ablenkungen – andere Mandanten, Meetings, Gerichtstermine – hatten wir inzwischen hinter uns gelassen. Jetzt hieß es, alle Mann an Deck. Shauna arbeitete mit den Sachverständigen. Bradley skizzierte die Vorverfahrensanträge. Joel Lightner jagte allem hinterher, was er über Gin Rummy, Summerset Farms und Global Harvest finden konnte. Ich war mir sicher, dass da irgendwas verborgen war. Und Kathy Rubinkowski war darüber gestolpert.
Aber da ich mich nicht auf das rechtzeitige Eintreffen von handfesten Beweisen verlassen konnte, musste ich mich gleichzeitig für eine auf Schuldunfähigkeit basierende Beweisführung rüsten. Shauna würde unseren Psychiater Dr. Baraniq präparieren und ich vermutlich den Experten der Gegenpartei ins Kreuzfeuer nehmen. Vorausgesetzt, Richter Nash schloss Schuldunfähigkeit nicht ganz aus; wenn doch, würde das bedeuten, dass er mir Zeit für einen völligen Neuaufbau der Verteidigung geben musste. Diese Möglichkeit war, wie Shauna bereits bemerkt hatte, eine meiner stärksten Motivationen heute – die Hoffnung, dass der Richter eventuell Schuldunfähigkeit ausschloss und ich während eines Verhandlungsaufschubs das viel stärkere Unschuldsargument untermauern konnte.
Richter Nash fixierte uns über seine Brille hinweg. Er war heute übler Stimmung. Die drei Anwälte auf der Prozessliste vor uns hatte er bereits heruntergeputzt. Seine Stimmung oder seine Beleidigungen waren mir egal, aber er wurde dadurch unberechenbar – oder besser, noch unberechenbarer.
»Ms. Kotowski«, donnerte er. »Sie sind an der Reihe.«
Wendy stürzte sich in den Kampf. Sie argumentierte, ihre Experten hätten Tom Stoller nicht untersuchen können, da er sich geweigert habe, mit ihnen über die fragliche Nacht zu reden. Sie zitierte einen mir unbekannten Präzedenzfall, dem zufolge der Richter eine Schuldunfähigkeitsverteidigung ausschließen konnte, wenn der Angeklagte die Zusammenarbeit mit den staatlichen Ärzten verweigerte.
Sie führte noch ein weiteres Argument an. Und das war ihr stärkstes. »Bei einem Gespräch mit dem staatlichen Sachverständigen Dr. Ramsey, bei dem sich der Angeklagte zumindest vorübergehend öffnete, erklärte er, er hätte keinerlei Erinnerungen mehr an den Mord an Kathy Rubinkowski. Euer Ehren, laut Gesetz gibt es gewisse Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Schuldunfähigkeit seitens eines Angeklagten, aber diese Voraussetzungen sind hier eindeutig nicht erfüllt. Der Angeklagte kann unmöglich eine auf PTBS basierende Verteidigung für sich in Anspruch nehmen, wenn er sich nicht mal an die Ereignisse erinnern kann.«
Tom hatte mir dasselbe gesagt oder mir vielmehr zugeflüstert, als er mich im Besuchsraum zu Boden geworfen hatte. Außerdem hatte er es in meinem Beisein gegenüber seinem Kriegskameraden Buddy erwähnt.
»Nun, Mr. Kolarich.« Der Richter wandte sich mir zu. Ich näherte mich dem Pult, trotzdem redete er weiter. »Ihr Mandant will also nicht mit den staatlichen Sachverständigen sprechen?«
»Das behaupten die Sachverständigen, Sir. Ich bin kein Fachmann …«
»Hat Ihr Mandant mit Ihrem Sachverständigen gesprochen?«
Ich zögerte. »Mein Sachverständiger wird während der Verhandlung dazu aussagen …«
»Ist das ein Nein, Herr Anwalt? Es klingt wie ein Nein.«
»Er hat Dr. Baraniq keine Details schildern können«, gab ich zu.
»Verstehe. Also, erinnert sich Ihr Mandant jetzt an die Ereignisse des Abends oder nicht?«
»Herr Richter«, sagte ich, »ich möchte der Anklage nur ungern Einblick in meine Beweisführung gewähren.«
Der Richter runzelte die Stirn. »Das werden Sie aber müssen, wenn Sie bei dieser Beweisführung bleiben wollen. Sie können sich nicht hinter dem fünften Zusatzartikel verstecken, wenn Sie mit Schuldunfähigkeit argumentieren. Das wissen Sie.«
»Euer Ehren, ich trage in diesem Fall die Beweislast. Die Verteidigung. Die Anklage kann meine Argumentation immer noch entkräften, nachdem ich …«
»Mr. Kolarich.« Er schüttelte den Kopf. »Die Staatsanwaltschaft hat recht. Der Angeklagte kann keine auf posttraumatischem Stress basierende Verteidigung für sich in Anspruch nehmen, wenn er sich nicht an das Verbrechen erinnert. Ich habe die Unterlagen des Sachverständigen vorliegen, laut denen der Angeklagte sich nicht erinnern kann. Und ich habe bisher kein Gegenargument von Ihnen gehört.«
»Herr Richter …«
»Herr Anwalt, Sie oder Ihr Mandant können mir jetzt erklären, ob er aussagen will – aber das ist Ihre letzte Chance. Erinnert sich Ihr Mandant an die fragliche Nacht oder nicht?«
»Herr Richter, soweit ich weiß, erinnert er sich nicht, aber mein Sachverständiger wird bezeugen, dass …«
»Nein«, sagte der Richter kopfschüttelnd. »Nein. Ich schließe hiermit eine auf Schuldunfähigkeit basierende Beweisführung aus. Dem Antrag der Staatsanwaltschaft wird stattgegeben.«
Ich legte eine kurze Pause ein, als müsste ich diese im Grunde vorhergesehene Entwicklung verdauen. Beide Argumente der Anklage hätten dem Richter ausreichend Grund geliefert, eine Schuldunfähigkeitsverteidigung abzulehnen.
Aber ich hatte einen Plan B, und es war an der Zeit, ihn in Kraft treten zu lassen. »Herr Richter, das Problem der Anklage mit meinem Mandanten ist auch mein Problem. Er reagiert nicht auf meine Fragen. Er kann mir nicht helfen. Er ist nicht in der Lage, mich bei meiner Verteidigung zu unterstützen. Und das ist nicht allein meine Einschätzung. Die Staatsanwaltschaft liefert selbst die nötigen Argumente dafür. Tom Stoller ist nicht verhandlungsfähig.«
»Augenblick mal«, protestierte Wendy.
»Nicht so schnell, Herr Anwalt«, sagte der Richter. »Mr. Kolarich, reden wir jetzt über Verhandlungsfähigkeit? Zwei Anhörungen über die Verhandlungsfähigkeit ihres Mandanten wurden bereits auf Staatskosten durchgeführt. Beide Male hat man ihn für verhandlungsfähig erklärt.«
»Er will und er kann nicht mit mir reden, Herr Richter. Wie kann er mich dann bei meiner Verteidigung unterstützen? Und das ist die eigentliche Definition von Verhandlungsunfähigkeit. Keine der vor Ihnen erschienenen Parteien glaubt nicht daran, dass er verhandlungsunfähig …«
»Herr Anwalt, Ihr Mandant will nicht mit dem staatlichen Sachverständigen reden. Deswegen ist er noch lange nicht verhandlungsunfähig. Sie scheinen ja durchaus Dinge von ihm erfahren zu haben, auch wenn Sie diese vor Gericht nicht preisgeben wolle. Es wird keine dritte Anhörung über seine Verhandlungsfähigkeit geben, und damit Schluss.«
»Euer Ehren …«
»Der Punkt ist erledigt, Herr Anwalt. Endgültig.«
»Dann werde ich einen Verhandlungsaufschub beantragen«, sagte ich mit einem leichten Gefühl der Panik. Ich hatte erwartet, mit Plan B durchzukommen. Dies war jetzt Plan C. »Sie haben acht Tage vor Prozessbeginn unsere Verteidigungsstrategie ausgeschlossen. Wir brauchen Zeit, um uns neu zu orientieren und eine andere Strategie auf die Beine zu stellen.«
Der Richter schien nicht im Mindesten davon berührt. »Sie hatten Monate, um sich vorzubereiten, Herr Anwalt.«
»Um eine Schuldunfähigkeitsverteidigung vorzubereiten, Herr Richter. Und nicht eine, die auf begründetem Zweifel basiert. Ich brauche ein Minimum von neunzig Tagen …«
»Mr. Kolarich, Sie kannten die Risiken. Sie wussten, dass der Angeklagte nicht kooperiert und sich nicht an das Verbrechen erinnert. Und Ihnen war klar, dass Ms. Kotowski diesen Antrag stellen würde. Das kommt ja wohl alles andere als überraschend für Sie.«
»Nein«, sagte ich. »Nein, Herr Richter. Die Staatsanwaltschaft hat zu lange mit diesem Antrag gewartet. Sie hätte ihn bereits vor Monaten einreichen können. Sie hat damit gewartet, bis …«
»Der Staat hat versucht, Ihren Mandanten zur Kooperation zu bewegen, Mr. Kolarich. Aber er hat sich geweigert. Das ist nicht der Fehler der Anklage. Ich habe eine Entscheidung getroffen und wünsche keine weitere Diskussion.«
»Ich verstehe Ihre Entscheidung den Antrag der Staatanwaltschaft betreffend. Aber angesichts dessen muss ich mehr Vorbereitungszeit verlangen. Sie können unmöglich von mir erwarten, in acht Tagen eine auf begründetem Zweifel basierende Verteidigung auf die Beine zu stellen.«
»Herr Anwalt«, sagte er und hob drohend den Finger, »ich habe Ihnen bereits erklärt …«
»Das ist ein Überfall aus dem Hinterhalt, Euer Ehren. Damit stehe ich völlig …«
»Herr Anwalt, unterbrechen Sie niemals das Gericht. Niemals.«
Ich hatte gegen die oberste Regel in Richter Nashs Gerichtssaal verstoßen. Und jeder wusste, dass man sich in diesem Fall besser entschuldigte, oder es wurde nur noch schlimmer.
»Ihr Antrag wird abgewiesen. Der Prozess beginnt wie geplant am ersten Dezember. Der Gerichtsdiener wird jetzt den nächsten Fall …«
»Herr Richter, das können Sie nicht tun. Wenn Sie …«
»Mr. Kolarich, Sie unterbrechen mich jetzt zum zweiten Mal. Ein weiteres Wort von Ihnen, und Sie können Ihrem Mandanten in der Zelle Gesellschaft leisten.« Der Richter legte eine Pause ein, als wollte er mich herausfordern. Ich starrte ihm unverwandt in die Augen, sagte aber kein Wort. Er konnte mein Starren schlecht als Missachtung des Gerichts deuten.
»Der Gerichtsdiener … wird jetzt … den nächsten Fall aufrufen«, sagte er.
Der Albtraum eines Prozessanwalts ist nicht so sehr, er könnte einen Fall verlieren, ja, nicht einmal, ein unschuldiger Mensch könnte wegen ihm ins Gefängnis wandern. Vielmehr plagt ihn die Angst, einen Fehler zu machen, einer groben Fehleinschätzung zu erliegen, die ihm die alleinige Schuld aufbürdet am Verlust der Freiheit seines Mandanten.
Die Ablehnung einer Schuldunfähigkeitsverteidigung war das geringere Problem in diesem Fall. Höchstwahrscheinlich hätte ich ohnehin keinen Gebrauch davon gemacht. Aber in diesem Augenblick wurde mir erst so richtig klar, wie sehr ich auf Toms Verhandlungsunfähigkeit oder einen Verhandlungsaufschub gesetzt hatte, die Richter Nash mir gewissermaßen als Trostpreis gewähren würde. Leider hatte ich mich getäuscht. Meiner Ansicht nach hatte der Richter einen groben Fehler gemacht, doch seit wann konnte man sich auf die Unfehlbarkeit eines Richters verlassen?
Ich blickte hinüber zu meinem Mandanten. Tom starrte immer noch zu Boden, er schien gleichgültig gegenüber den Ereignissen und vollauf mit seinen Ticks beschäftigt. Für einen Moment fing ich seinen Blick auf, bevor der Justizbeamte ihn aus dem Saal führte.
»Was bedeutet das?« Tante Deidre packte mich bei den Armen, während sich das Gericht den nächsten Fall vornahm.
»Wir finden eine Lösung«, versicherte ich ihr und schob sie in Richtung Ausgang. »Wir finden bestimmt eine Lösung.«
Nie hatte ich Worte, von denen ich nicht überzeugt war, mit solcher Überzeugung geäußert. Ich hatte mich selbst ausgetrickst, indem ich die Unberechenbarkeit eines Richters nicht mit einkalkuliert hatte, und die Folgen dieser Fehleinschätzung würde nicht ich zu tragen haben.
38
Peter Ramini hielt den Kopf gesenkt, während er sich durch das Restaurant auf der West Side drängte. Möglicherweise waren unter den Stammgästen ein paar Bekannte, und er hatte keine Lust auf Small Talk. Er bewegte sich entlang der Bar, fern von den Tischen. Espressogeruch stieg ihm in die Nase und erzeugte einen fast körperlichen Schmerz. Seine Diagnose lag jetzt mehr als vier Jahre zurück, und Koffein war ihm absolut verboten. Er hatte koffeinfreien Kaffee probiert, doch der hatte wie Abwaschwasser geschmeckt. Da war es besser, man verzichtete gleich ganz.
Er vermied jede Begrüßung und betrat die Küche im hinteren Teil des Lokals. Dort rührte Donnie in einem Topf Tomatensoße und unterhielt das Personal. Jesus, wenn der Kerl nicht aß, dann kochte er.
Donnie fing Raminis Blick auf und kam zu ihm in die Ecke. Dort waren sie bei ihrem kurzen Gespräch ungestört genug.
»Immer die Hände in den Taschen«, sagte Donnie und musterte Ramini. »Du bist hier unter Freunden, Petey.«
Ramini runzelte die Stirn. »Wie auch immer«, sagte er.
»Ich hab wie verabredet mit Paulie gesprochen.« Das laute Klappern der Töpfe und Pfannen und die Rufe der Köche übertönten seine Worte, trotzdem kannte Donnie die Regel. Man konnte nie vorsichtig genug sein. Daher näherte er sich Ramini, so weit sein Leibesumfang es zuließ.
»Beseitige den Anwalt«, flüsterte er. »Und seine Freundin. Und komm nicht mit noch mehr Problemen zurück.« Donnie legte Ramini die Hände auf die Schultern. »Seine Worte, nicht meine, Petey.«
Ramini nickte. Sein Magen revoltierte. Aber es war die richtige Entscheidung. Es gab keinen Anlass für Debatten. Er verließ das Restaurant auf demselben Weg, auf dem er es betreten hatte.
39
Randall Manning saß in demselben Konferenzraum, in dem sich sein Anwalt Bruce McCabe letzte Woche mit Jason Kolarich getroffen hatte. Manning trug einen anthrazitfarbenen Anzug und eine hellgelbe Krawatte. Er blickte auf die Uhr. Es war schon fast neun. Er hatte heute noch viel in der Stadt zu erledigen.
Morgen war Thanksgiving. Früher hatte er das Wochenende geliebt, das Essen, die Footballspiele und vor allem die Zeit mit der Familie. Aber das war jetzt vorbei. Die Zeiten hatten sich geändert. Inzwischen fürchtete er diesen Tag.
Wenige Minuten nach neun kam Jason Kolarich ins Büro spaziert. Er war groß. Über ein Meter achtzig und kräftig. Vermutlich ein Sportler. Und mehr als das. Kantig. Als würde er eigentlich gar nicht in einen Anzug passen. Und als würde man ihm nicht gerne in einer dunklen Gasse begegnen und noch weniger in einem Gerichtssaal.
Sie gaben sich die Hand. Ein guter, kräftiger Griff. Kein Problem mit direktem Augenkontakt. Aber sein Gesicht verriet nicht viel. Jedenfalls keine Anzeichen von Wärme. Vermutlich schüchterte er eine ganze Menge Menschen ein. Aber nicht Manning. Darüber war er hinaus. Nichts konnte ihm an diesem Punkt noch Furcht einflößen.
Nachdem Kolarich sich gesetzt hatte, zog er einen Umschlag aus der Jackentasche. »Das ist eine Vorladung für Sie«, sagte er. »Ich habe noch nicht entschieden, ob ich davon Gebrauch machen werde.«
Manning antwortete nicht. Aber es war ein gelungener Eröffnungszug von Kolarich. Er erinnerte alle an sein Druckmittel. Spielt brav mit, oder ich schleife euch vor Gericht. Dieser Kolarich konnte zum Problem werden.
»Dann schießen Sie los«, sagte Manning. Er blickte hinüber zu Bruce McCabe, der mit einem Stift über einem gelbem Notizblock gebeugt dasaß.
»Sind Sie verheiratet, Mr. Manning?«
»Ich bin Witwer, Mr. Kolarich. Ebenso wie Sie.«
Aus dem Augenwinkel bemerkte Manning Bruce McCabes Stirnrunzeln. Manning sollte es eigentlich besser wissen. Es war pures Ego, ein Machtspielchen, Kolarich wissen zu lassen, dass sie ihn genauso unter die Lupe nahmen wie er sie. Tatsächlich, Manning wusste es besser. Aber er konnte sich einfach nicht beherrschen.
Kolarich zeigte keinerlei Reaktion. »Glo-Max-Dünger«, sagte er. »Hat Global Harvest Glo-Max 2.0 an eine Firma namens Summerset Farms verkauft?«
»Ich denke, ja.«
»Summerset Farms gehört zu hundert Prozent Global Harvest, ist das richtig?«
»Ja, wir haben die Mehrheit der Geschäftsanteile erworben.«
»Sie haben alle Geschäftsanteile erworben«, sagte Kolarich.
Manning zögerte einen Augenblick, als müsste er nachdenken. »Das könnte richtig sein.«
Kolarich hielt sich nicht mit der Mehrdeutigkeit dieser Antwort auf. Vermutlich weil er die wahre Antwort bereits kannte. Und sie waren nicht vor Gericht. Noch nicht.
»Erinnern Sie sich daran, von einer Firma namens LabelTek Industries verklagt worden zu sein?«
»Ja«, sagte Manning.
»Erinnern Sie sich daran, dass Ihnen von den LabelTek-Anwälten Anfragen zur schriftlichen Erwiderung zugeschickt wurden?«
Manning öffnete eine Hand – eine Geste der Ahnungslosigkeit.
»Schriftliche Anfragen«, sagte Kolarich. »Sie haben die Antworten mit Ihrer Unterschrift beeidet.«
»Wenn Sie das sagen.«
»LabelTek wollte unter anderem von Ihnen wissen, wer Glo-Max 2.0 von Ihnen gekauft hat. Und in Ihrer Antwort tauchte Summerset Farm nicht auf. Ich frage mich warum.«
»Das ist lächerlich«, sagte Bruce McCabe. »Sie können nicht von Mr. Manning erwarten, dass er sich an solche Details erinnert.«
Manning lächelte kurz. »Ich erinnere mich nicht daran.«
»Gut einstudiert«, sagte Kolarich zu McCabe. Und dann zu Manning gewandt: »Wussten Sie, dass Mr. McCabe ein externer Anwalt von Summerset Farms ist?«
Manning blickte zu McCabe. »Möglicherweise hab ich davon gewusst.«
Kolarich lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ihr Unternehmen besitzt über fünfundzwanzig Firmen in diesem Staat und im ganzen Land. Ist diese Schätzung in etwa richtig?«
»Ja, in etwa.«
»Und von all diesen Firmen vertrat Bruce McCabe nur Global Harvest und Summerset Farms. Stimmen Sie mir da zu?«
Kolarich hatte offensichtlich seine Hausaufgaben gemacht betreffend GHI und Tochtergesellschaften. »Ja«, sagte er.
»Nein«, sagte Kolarich. »Es gibt eine weitere Firma. SK Tool and Supply.«
»Mein Mandant muss keine Experte hinsichtlich der von mir vertretenen Firmen sein«, wandte McCabe ein.
Kolarich fixierte Manning unverwandt. Er hatte einen durchdringenden Blick. Vermutlich brachte er eine Menge Leute zum Reden, nur indem er sie anstarrte.
»Global Harvest kaufte die Summerset-Farms-Anteile im Juni 2009«, sagte Kolarich.
Manning nickte. »Das kann hinkommen.«
»Und im gleichen Monat kauften Sie auch SK Tool und Supply. Kann das ebenfalls hinkommen?«
Manning warf einen Blick zu McCabe. »Irgendwann zu der Zeit, ja.«
»Zwei Firmen innerhalb eines Monats.«
»Ja, Mr. Kolarich.«
»Und in den achtzehn Monaten vorher und nachher keine einzige.«
»Wollen Sie auf etwas Bestimmtes hinaus, Herr Anwalt?«, fragte McCabe.
»Sie haben die Rechtsstreitigkeit mit LabelTek durch eine Zahlung von über vier Millionen Dollar plus Anwaltskosten beigelegt«, sagte Kolarich. »Sie haben ihnen mehr gegeben als verlangt. Und das nur wenige Tage nachdem LabelTek eine schriftliche Anfrage an Summerset Farms geschickt hatte, deren Verträge mit Global Harvest betreffend.«
Manning drehte sich zu seinem Anwalt. »Wusste ich überhaupt von dem Vorgang?«, fragte er. Natürlich hatte er davon gewusst, aber nun war der richtige Zeitpunkt, den Unternehmenschef zu spielen, der sich nicht um jede Kleinigkeit kümmern konnte.
»Nein, das wussten Sie nicht«, sagte McCabe. »Ich bin mir nicht mal sicher, ob ich davon wusste.«
Natürlich hatte McCabe ebenfalls davon gewusst. Manning konnte sich noch gut an McCabes atemlosen Anruf erinnern, nachdem er von den Anfragen an Summerset Farms Wind bekommen hatte.
»Warum haben Sie dann einem Vergleich zugestimmt? Der Fall war noch in den Kinderschuhen, trotzdem haben Sie denen alles Geforderte und noch mehr gegeben. Sie sind ein erfolgreicher Geschäftsmann, Mr. Manning, und sicher ein geschickter Verhandlungsführer. Enden Ihre Abschlüsse immer damit, dass Sie Ihrem Widersacher die Forderungen zu über hundert Prozent erfüllen?« Kolarich schüttelte den Kopf. »Irgendetwas hat Ihnen Sorgen gemacht. War es die schriftliche Anfrage von LabelTek an das Landwirtschaftsministerium? War es das?«
»Das ist lächerlich. Absolut lächerlich.«
»Warum sollte niemand Einblick in die Unterlagen über die Verkäufe an Summerset Farms erhalten?«
»Das ist einfach nicht der Fall«, sagte Manning.
Kolarich seufzte. »Dann haben Sie sicher nichts dagegen, sie mir auszuhändigen.«
Kolarich schob Manning den Umschlag zu.
»Diese Vorladung betrifft auch die Geschäftsunterlagen. Beweisen Sie es mir, Mr. Manning. Jetzt und hier. Und dann verschwinde ich.«
Manning starrte auf den Umschlag. Kolarich bluffte vermutlich. Aber es war ein verdammt guter Bluff. »Wenn es Ihnen wirklich so wichtig ist, Mr. Kolarich, dann können wir einen Termin …«
»Nein«, sagte Kolarich. »Erledigen Sie es jetzt. Nehmen Sie den Telefonhörer und machen Sie den Anruf. Die sollen die Unterlagen faxen. Ich warte so lange.«
»Das ist absurd. Sie haben unser Entgegenkommen längst überstrapaziert.« Bruce McCabe erhob sich. »Sie werfen hier mit haltlosen Verdächtigungen um sich. Mr. Manning war mehr als großzügig mit seiner Zeit.«
»Ja, das war er.« Kolarich nickte Manning zu. »Machen Sie einfach den Anruf, Mr. Manning.«
»Sie sollten jetzt gehen«, sagte McCabe.
Ohne den Blick von Manning zu wenden, winkte Kolarich in McCabes Richtung. »Setzen Sie sich, Bruce. Machen Sie nicht so ein Theater. Ich bin gleich fertig.«
McCabe schaute zu seinem Mandanten. Manning nickte ihm zu. McCabe ließ sich in den Stuhl zurückplumpsen.
»Kennen Sie jemanden namens Lorenzo Fowler?«, fragte Kolarich.
Manning verneinte.
»Wie steht es um jemanden mit dem Spitznamen Gin Rummy?«
Manning kicherte. »Nein, hatte nie das Vergnügen.«
»Paul Capparelli?«
Mannings Miene gefror. »Paul Cap… der Mafioso?«
»Genau der. Kennen Sie ihn, Mr. Manning?«
»Natürlich nicht.« Manning rückte sich in seinem Sessel zurecht und verschränkte die Beine andersherum. Sofort wurde ihm klar, dass er damit seine Beunruhigung verraten hatte. Ein Fehler seinerseits.
Es war eindeutig, worauf das Ganze hinauslief. Kolarich wusste offensichtlich, dass sich hinter dem Mord an dieser Kathy Dingsbums mehr verbarg, als es zunächst den Anschein hatte. Er hatte – Gott allein wusste, wie – von der LabelTek-Klage erfahren, und die entsprechenden schriftlichen Anfragen dazu waren im Gerichtsarchiv für jeden einsehbar. Und jetzt nahm dieser Kolarich Manning direkt unter die Lupe und überlegte, ob er jemanden angeheuert hatte, um die Anwaltsgehilfin zum Schweigen zu bringen. Aber dass er sogar schon über Paul Capparelli im Bild war?
Dieser Anwalt wusste mehr, als Manning es sich je hätte träumen lassen.
»Greifen Sie zum Telefon und lassen Sie die Verkaufsunterlagen hierher faxen«, sagte Kolarich. »Die Verkäufe von Glo-Max 2.0 an Summerset Farms. Tun Sie’s, und ich gehe.«
Kolarich war clever. Er versuchte, Manning in die Ecke zu drängen. Zwar war diesen Dokumenten nicht wirklich viel zu entnehmen, sofern man nicht genau wusste, wonach man suchen musste. Doch wenn er jetzt nachgab, zeigte er Furcht, und das wäre für Kolarich möglicherweise verräterischer als die Unterlagen selbst.
McCabe schwieg, vermutlich weil er sich über die Absichten seines Mandanten im Unklaren war. Das hier war Mannings Auftritt, und er musste klar und widerspruchsfrei argumentieren.
Manning schüttelte amüsiert den Kopf. »Mr. Kolarich, so sehr ich unsere Unterhaltung genieße und so gerne ich jeder Ihrer Vorladungen Folge leisten werde, so wenig lasse ich mir von einem dahergelaufenen Anwalt vorschreiben, wen ich wann anrufe. So läuft das nicht, mein Sohn. Das werden Sie sicher verstehen.«
»Klar verstehe ich das«, erwiderte Kolarich mit falscher Freundlichkeit. »Übrigens, Mr. Manning. Mein Mandant wird beschuldigt, eine Anwaltsgehilfin aus Mr. McCabes Kanzlei getötet zu haben. Mein Mandant ist ein Armeeveteran, der sein Leben für dieses Land aufs Spiel gesetzt hat. Das hat ihn seelisch zerstört, und es geht ihm beschissener, als wir beide uns das vorstellen können. Darüber hinaus legt man ihm auch noch ein Verbrechen zur Last, das er nicht begangen hat. Irgendjemand hat diesem armen Kerl einen Mord in die Schuhe geschoben, und wer immer es war, er wird in der Hölle schmoren. Glauben Sie an Gott, Mr. Manning?«
»Kommen Sie mir nicht mit Gott«, fauchte Manning. »Und kommen Sie mir nicht mit der Hölle.«
»Wie Sie meinen. Ich gehe jetzt.« Kolarich erhob sich und nickte McCabe zu. »Aber Sie sind mich damit noch nicht los, Randy.«
Kolarich verließ den Raum. Manning blickte zu McCabe hinüber, dessen Gesicht etwas an Farbe eingebüßt zu haben schien.
»Wann beginnt dieser Prozess?«, fragte er.
»Am ersten Dezember«, antwortete McCabe. »Ein paar Tage nach dem Thanksgiving-Wochenende. Ein Mittwoch.«
»Wann wird er mich in den Zeugenstand rufen?«
McCabe schüttelte den Kopf. Er wusste es nicht. »Die Auswahl der Jury wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Dann wird zunächst die Anklage ihren Fall darstellen. Vermutlich wird die Juryauswahl einige Tage dauern. Möglicherweise beginnen die Eröffnungsplädoyers erst am darauffolgenden Montag, also am …«
»… sechsten Dezember«, sagte Manning. Diesen Teil des Kalenders kannte er auswendig. Seit achtzehn Monaten war er auf einen einzigen Tag fixiert: Dienstag, den 7. Dezember. Der Tag, der in den Vereinigten Staaten offiziell als Pearl Harbor Day bezeichnet wurde.
»Mit einem Wort, die Sache ist zu riskant«, sagte Manning.
»Ich frage mich, was unsere Freunde, die Capparellis, wohl dazu sagen«, bemerkte McCabe. »Sie haben ein ureigenes Interesse an dieser Geschichte.«
»Ich weiß nicht, ob ich den Capparellis trauen kann.« Manning hievte sich aus dem Stuhl und trat ans Fenster, das hinaus auf den Geschäftsbezirk ging. Nein, beschloss er, den Capparellis konnte er nicht trauen. Möglicherweise hatten sie gemeinsame Interessen, möglicherweise aber auch nicht. Wenn sie in Kolarich eine Gefahr sahen, würden sie ihn höchstwahrscheinlich eliminieren.
Aber möglicherweise würden sie dann auch gegen Manning vorgehen, um alle ihre Spuren zu verwischen. Es war klüger, er regelte diese Angelegenheit betriebsintern.
»Ich brauche meinen besten Mann dafür«, sagte er. »Ich brauche Patrick Cahill.«
40
Ich blickte im Konferenzraum in die Runde. Jeder aus meinem Team hatte seine Aufgaben und legte sich nach Kräften ins Zeug. Shauna hatte ihre sämtlichen Termine verschoben und sogar einigen Mandanten abgesagt, um beim Stoller-Fall helfen zu können. Bradley John konzentrierte sich auf nichts anderes. Joel Lightner, der eine Firma mit drei Angestellten hatte, engagierte sich nach seinen Möglichkeiten, obwohl ihm wenig oder gar keine Bezahlung winkte. Und Tori, von der ich mehr Hilfe erhalten hatte als erwartet, hatte sich ebenfalls ganz dem Fall verschrieben.
Zu meinen Zeiten als Staatsanwalt hatten wir einen Ausdruck für das, wie sich alle im Moment fühlten: Pferde im Galopp beschlagen. Alle waren hoch motiviert, bekamen aber kaum noch Schlaf ab, und so engagiert alle auch waren, das Gehirn funktionierte bei Schlafentzug weniger effektiv. Fehler waren die Folge.
»Shauna«, sagte ich.
»Wir haben drei Unternehmen im Visier«, sagte sie. »Global Harvest International, die eine Reihe von Landwirtschaftsprodukten herstellen. Und dann zwei Firmen, die GHI im Juni 2009 gekauft hat: SK Tool and Supply und Summerset Farms Incorporated. Aus der LabelTek-Klage und den schriftlichen Anfragen wissen wir, dass GHI Düngemittel – Glo-Max 2.0 – an Summerset Farms verkauft hat. Und offenbar ist das für GHI ein heikler Punkt und der Grund dafür, dass sie einem Vergleich zugestimmt haben, ehe die Vorladungen wirksam wurden.« Sie schüttelte den Kopf. »Den öffentlichen Unterlagen zufolge ist Summerset Farms lediglich eine kleine, lokale Firma, die Weizen anbaut und Frühstückflocken und Brot an lokale Supermärkte verkauft. Die haben keine Probleme mit dem FBI oder irgendeiner anderen Strafverfolgungsbehörde, keine Vorladungen, laufenden Rechtsstreitigkeiten oder Ähnliches. Ihr Handelsregisterauszug ist einwandfrei.«
»Also nichts Auffälliges«, sagte ich. »Außer dass GHI im Juni 2009 zwei Firmen gekauft hat.«
»Aber im Juni 2009 ist noch mehr passiert«, sagte sie. »In diesem Monat hat GHI auch einen Börsengang abgeblasen.«
Interessant. »Global Harvest befindet sich in Privatbesitz.«
Shauna nickte. »Das Unternehmen wurde von Oliver Manning an seinen Sohn Randall vererbt. Unter Randalls Führung ist es beträchtlich gewachsen. Aber er ist allein verantwortlich für ein Riesenunternehmen. Er hält sämtliche Unternehmensanteile. Dann sollte das Unternehmen an die Börse. Auf die Art wollte Randall zweistellige Millionenbeträge generieren. Doch im Juni 2009 hat er den Plan plötzlich fallen lassen.«
»Okay, und warum?«
»Wenn man an die Börse geht, hat man Aktionäre«, sagte Shauna. »Man hat einen Aufsichtsrat. Und wenn den Miteigentümern dein Management nicht gefällt, können sie dich auf die Straße setzen. Oder die Aktionäre können Klagen einreichen.«
»Man gibt die Kontrolle ab«, sagte ich.
»Richtig. Als Privatbesitzer hast du das alleinige Sagen. Niemand hinterfragt deine Entscheidungen.«
Gut. Das war wichtig zu wissen. Irgendetwas Entscheidendes war im Juni 2009 geschehen. Randall Manning hatte beschlossen, die alleinige Kontrolle über seine Firma zu behalten, und er hatte zwei weitere Firmen aufgekauft.
»Wenn da irgendwas ist, finde ich es«, sagte Shauna, als ich auf diese Punkte hinwies.
Ich warf meinen Football in die Luft und fing ihn wieder auf. »Noch irgendwas zu diesem Punkt, bevor wir fortfahren?«
»Ja, allerdings. Summerset Farms. Sie waren vor dem Kauf durch GHI gar keine wirkliche Firma. Summerset Farms gehörte einem Farmer, der seinen Weizen an weiterverarbeitende Unternehmen verkaufte.«
»Ich dachte, GHI hätte die Unternehmensanteile an einer existierenden Firma erworben.«
»Technisch gesehen schon, Jason … aber hör einfach zu. Der Farmer hatte einen Handelsregistereintrag, wie jede große Farm es haben sollte. Aber er hat keine Frühstücksflocken oder Brot produziert. Er hat einfach Weizen angebaut und ihn verkauft. Dann kam GHI und kaufte die Farm auf. Sie behielten den eingetragenen Namen Summerset Farms bei, machten aber eine ganz andere Art von Firma daraus. Sie weiteten die Geschäftsbereiche deutlich aus. Obendrein haben sie ein paar benachbarte Farmen dazugekauft. Jetzt besitzen sie im Süden von Fordham County etliche Quadratkilometer Land.«
Erneut warf ich meinen Football in die Höhe. »Aber wieso interessiert sich ein Konzern wie GHI für lokalen Getreideanbau und -verkauf?«
Shauna schüttelte den Kopf. »Oh, GHI besitzt jede Menge Tochtergesellschaften. Sie sind erstaunlich diversifiziert. Sie halten die Anteilsmehrheit einer Kette von Sportgeschäften drunten im Süden. Außerdem gehört ihnen eine Firma namens We-Hold-it, die Lagerraum an Privatleute vermietet. Ihnen gehört ein Herrenbekleidungshersteller im Osten, eine Plakatierungsfirma in Kalifornien – und so weiter.«
»Aber wenn sie ins lokale Lebensmittelgeschäft einsteigen wollten, warum haben sie dann nicht eine bereits existierende Firma in diesem Sektor gekauft? Stattdessen haben sie Summerset Farms quasi aus dem Nichts aufgebaut.«
»Ist das notwendigerweise merkwürdig?«, fragte Tori.
Eine gute Frage. Niemand hier im Raum hatte je für einen großen Konzern gearbeitet. Shauna war als Wirtschaftsanwältin tätig gewesen, und Lightner hatte Nachforschungen für große Unternehmen angestellt, aber keiner von uns wusste etwas über die Unternehmensstrategien internationaler Konzerne.
»Mit Düngemittelproduktion in großem Maßstab lässt sich vermutlich eine Menge Geld machen«, sagte Joel Lightner. »Und solche Summen verführen leicht zu illegalen Transaktionen. Vielleicht hat jemand bei Global Harvest oder Summerset Farms die Bücher frisiert. Oder dieser Randall Manning hat irgendwas veruntreut oder unterschlagen. Du hast gesagt, er wollte die Unterlagen über Verkäufe von GHI an Summerset nicht rausrücken?«
»Ja, da ist irgendwas im Busch«, sagte ich. »Ohne Zweifel. Dieser Kerl würde sich lieber einer Darmspiegelung unterziehen, als mit mir über Summerset Farms zu reden.« Ich nickte Shauna zu. »Wie steht’s mit dieser anderen Firma, die GHI zum gleichen Zeitpunkt gekauft hat – SK Tool and Supply?«
Shauna schob sich eine Haarlocke hinters Ohr und blickte auf ihre Notizen. »Ich hab noch nicht viel über sie. Allerdings existierten sie bereits als Firma. SK Tool and Supply gehörte einem gewissen Stanley Keane, daher das SK. Sie machen ausschließlich B-to-B …«
»Übersetzen bitte.«
»Sorry, Business-to-Business, das heißt, sie verkaufen nur an Geschäftskunden. SK vertreibt alle möglichen Maschinen und anderes Equipment an die Industrie.«
»Stanley Keane hat keine Vorstrafen«, fiel Joel Lightner ein. »Das ist alles, was ich bisher über ihn rausfinden konnte.«
»Und das ist auch alles, was ich bisher über die Firma rausfinden konnte«, sagte Shauna. »Keine Probleme mit den Bundesbehörden, ihr Handelsregistereintrag ist in Ordnung. Soweit ich feststellen kann, insgesamt nichts Ungewöhnliches.«
Ich deutete auf sie. »Hat SK Tool and Supply je irgendwas an Summerset Farms verkauft?«
»Weiß ich noch nicht. Es lässt sich nicht klären, an wen sie ihre Produkte verkaufen. Das sind grundsätzlich keine öffentlichen Informationen. Trotzdem habe ich heute dreimal dort angerufen – ohne Erfolg. Ich habe sogar ihren Anwalt Bruce McCabe kontaktiert, der bekanntermaßen nicht sehr auskunftsfreudig ist.«
»Nein, das ist er nicht. Hättest du nicht hinfahren und ihnen einen persönlichen Besuch abstatten können, Shauna?«
»Sie sind mehr als zwei Stunden weg, J. Außerdem haben wir gerade erst angefangen, uns mit ihnen zu beschäftigen. Ich hatte einfach nicht die Zeit.«
»Und morgen ist Thanksgiving. Das heißt, wir verlieren weitere vier Tage. Und danach bleiben uns nur noch drei Tage bis zum Prozess.« Ich stöhnte. »Bradley, SK Tool and Supply verkaufen keine Düngemittel, richtig?«
»Der Datenbank des Landwirtschaftsministeriums zufolge nicht, nein.«
»Also muss ihre Verbindung zu Summerset Farms eine andere sein. Aber wir wissen nicht welche, und es ist so gut wie unmöglich, das bis zum verdammten Prozessbeginn in einer Woche in Erfahrung zu bringen.«
Tori räusperte sich. »Darf ich eine Frage stellen?«
»Schieß los«, sagte ich. Toris Außenperspektive hatte mir stets zu einem neuen Fokus auf die Angelegenheit verholfen.
»Warum muss überhaupt notwendigerweise eine Verbindung zu Summerset Farms bestehen?«
»Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gibt«, gestand ich. »Aber GHI hat beide Firmen im Juni 2009 gekauft. Alle drei haben denselben Anwalt, Bruce McCabe. Und GHI war sehr heikel mit Unterlagen über ihre Geschäfte mit Summerset Farms. So heikel, dass sie lieber einen absurd großzügigen Vergleich mit LabelTek schlossen und, wenn meine Theorie stimmt, sogar eine Rechtsanwaltsgehilfin ermordeten, die zu viele Fragen stellte.«
Es tat gut, das laut auszusprechen. Es klang plausibel. Wenn ich ein paar Leerstellen füllen konnte, war es eine vor Gericht vertretbare Theorie. Das verlieh mir neuen Antrieb.
»War es das, Shauna? Oder haben wir noch was?«
»Tja, ich habe mit Dr. Baraniq gearbeitet. Aber ich schätze, das braucht es jetzt nicht mehr.«
»Unsinn. Bring ihn am Freitag mit.«
Sie verzog das Gesicht. »Richter Nash hat seine Aussage ausgeschlossen.«
»Er hat eine Schuldunfähigkeitsverteidigung ausgeschlossen«, stellte ich klar. »Aber er hat nichts darüber verlauten lassen, ob Dr. Sofian Baraniq aussagen kann oder nicht.«
»Das ergibt doch keinen Sinn, J. Wie soll uns Dr. Baraniq helfen?«
Ich hatte da so eine Idee. Aber ich wollte mich jetzt nicht in Details verzetteln. »Lass uns später darüber reden. Machen wir weiter. Bradley«, sagte ich.
»Ich hab die Vorladungen fertig gemacht fürs Landwirtschaftsministerium, SK Tool and Supply, Stanley Keane persönlich … Lass mich nachsehen … ja, Randall Manning und GHI hast du sie bereits überbracht. Soll ich noch weitere Vorladungen rausschicken?«
»Noch nicht«, sagte ich. »Sobald wir sie zustellen, müssen wir die Staatsanwaltschaft darüber informieren. Ich will nicht, dass sie mir jetzt schon in die Karten gucken.« Möglicherweise würde mir sogar kurzzeitig entfallen, dass ich Randall Manning bereits eine Vorladung zugestellt hatte. Ich würde ganz aus Versehen vergessen, die Anklage darüber zu informieren.
»Und was ist mit Richter Nash?«, fragte Shauna. »Du hast ihm noch nichts davon offengelegt, und der Stichtag ist längst vorüber. Wird er nicht einfach alles zurückweisen?«
Ich seufzte und warf den Football in die Luft. »An dem Problem wird sich nichts ändern, ob ich es nun diese oder nächste Woche offenbare. Aber ich habe was gut bei ihm. Er hat mir meine Schuldunfähigkeitsverteidigung vermasselt, er hat mir die Verhandlungsunfähigkeit vermasselt, und als ich mehr Zeit für eine neue Verteidigungsstrategie forderte, hat er mir das ebenfalls vermasselt. Er ist ein sturer alter Ziegenbock, aber er ist nicht dumm. Wenn er mir nicht ein bisschen was lässt, das ich der Jury zeigen kann, dann riskiert er eine Revision.«
»Aber du kannst nicht darauf bauen. Du hast selbst gesagt, bei Richter Nash kann man sich nie sicher sein …«
»Ich weiß, dass ich nicht darauf bauen kann, Shauna. Dieser alte Mistkerl hat mir mit einem verfluchten Verfahrensausschluss gedroht. Glaubst du, ich bin blöd?«
»Hey, langsam.« Shauna hob die Hände.
»Was hab ich für eine Wahl, Shauna? Wir folgen den Spuren in der Hoffnung, etwas zu finden, das so überzeugend ist, dass Richter Nash nicht nein sagen kann. Ich habe keine Reservepläne mehr in petto, okay? Das ist die einzige Hoffnung, die uns bleibt.«
»Okay, Leute, lasst uns wieder runterkommen.« Lightner tätschelte die Luft mit den Händen. »Alle tief durchatmen.«
»Und was hast du bisher Wertvolles beigetragen, Lightner?«, fragte ich.
»Ich versuche, den mysteriösen Gin Rummy zu finden, Kumpel. Jemand, den selbst das geschätzte FBI nicht …«
»Du bist so ein verdammtes Ass von einem Privatdetektiv. Du könntest nicht mal einem blutenden Elefanten durch den Schnee folgen. Du könntest in ganz Israel keinen Juden finden. Du könntest nicht mal Öl in Saudi-Arabien …«
Bradley John brach in Lachen aus. Damit war er als Nächster an der Reihe.
»Und was ist mit dir, Bradley? Mal abgesehen davon, dass du zwei Vornamen hast, Panic! at the Disco auf deinem iPad hörst und einen Justin-Bieber-Haarschnitt hast. Hast du sonst noch was für mich, Sportsfreund?«
Er hob die Hände und versuchte erfolglos, sich ein Lächeln zu verkneifen. »Wir haben heute die Anträge über die Zulässigkeit von Beweisen ausgetauscht«, sagte er.
»Toll. Das ist großartig! Dann erinnere mich doch noch mal daran, welche Anträge wir eingereicht haben, Kid Rock. Einen Antrag, nach Strich und Faden verarscht zu werden vor Gericht? Einen Antrag auf eine Matratze im Gerichtssaal, damit ich weich lande, nachdem der Richter sich mit seinen Tiefschlägen an mir ausgetobt hat wegen meiner verspäteten Beweisoffenlegung?«
Bradley zählte an den Finger ab. »Einen Antrag auf Ausschluss eines Zeugen …«
»Ich kenne unsere Anträge, Hip-Hop. Ich hab schon Prozessanträge eingereicht, da warst du noch im ersten Highschooljahr und hast im Klo an Betty Lou rumgefummelt. Ich brauche die Erwiderungen auf die Anträge der Staatsanwaltschaft bis Samstag.«
Ich schnappte mir das Dokument, das Ray Rubinkowski mir überlassen hatte, mit der handschriftlichen Notiz auf der Rückseite.
AN
NM
??
»Soweit ich weiß, war es dein Job rauszufinden, wer AN und NM sind.«
Jetzt hörte Bradley auf zu grinsen und blätterte eine Seite seines Notizblocks um. »Es gibt keinen Anwalt in Bruce McCabes Anwaltskanzlei mit diesen Initialen, also handelt es nicht um einen Arbeitskollegen von Kathy Rubinkowski. Keine der Firmen auf den Schriftsätzen, die Kathy erstellte, hat diese Initialen, noch irgendeines der Unternehmen in der Datenbank des Landwirtschaftsministeriums. Ich hab sogar die Personalliste von LabelTek auf diese Initialen hin überprüft. Ich bleibe weiter dran. Ich werde nicht nachlassen.«
»Äh, Entschuldigung.« Shauna hob die Hand wie ein höfliches Schulmädchen. »Ich denke, was du eigentlich sagen wolltest, ist: Du weißt es sehr zu schätzen, wie hart wir alle arbeiten und dass wir in dieser schwierigen Situation an deiner Seite stehen.«
Ich warf den Football in die Luft. »Genau das meinte ich«, seufzte ich. »Auch wenn es vielleicht anders rauskam.«
»Ein bisschen anders, ja.«
»Okay, hört zu, Leute«, sagte ich. »Ihr braucht alle etwas Ruhe. Nehmt sie euch heute Abend. Genießt einen netten Truthahn-Tag. Werdet wieder klar im Kopf, schlagt euch die Bäuche voll, schaut Football und kommt am Freitagmorgen hellwach, ausgeruht und bereit für den Endspurt zurück.«
Bradley und Lightner verließen den Raum, beide nicht sonderlich begeistert von mir. Shauna kam zu mir herüber und boxte mir leicht gegen den Arm. »Bist du sicher, dass du morgen nicht vorbeischauen willst?«, fragte sie. »Wir essen um drei. Meine Eltern würden dich sicher gerne darüber ausquetschen, warum ich immer noch nicht verheiratet bin.«
Ich streckte die Arme. »Nein danke«, sagte ich. »Tut mir leid wegen eben.«
Sie winkte ab. »Du selber könntest auch eine Pause gebrauchen, Herr Anwalt. Mal abschalten. Du wirst den Tag morgen doch hoffentlich nicht allein verbringen, oder?«
»Nein, nein. Alles bestens.«
Shauna warf einen Seitenblick auf Tori. Vermutlich ging sie davon aus, dass Tori mir Gesellschaft leisten würde. Ich hatte keine Ahnung, wie Shauna darüber dachte. Die beiden hatten sich erst vor Kurzem kennengelernt und kaum mehr als zwei Sätze miteinander gewechselt. Shauna war nicht wirklich stutenbissig, fühlte sich mir gegenüber aber in einer Art Beschützerrolle.
Sie zwang sich zu einem Lächeln und sagte: »Frohes Thanksgiving, Tori.«
Tori erwiderte ihre Wünsche entsprechend. Es war nicht gerade der herzlichste Austausch zwischen zwei Menschen, den ich je erlebt hatte. Die Tundra in Alaska produzierte mehr Wärme.
Dann ging Shauna, und ich war allein mit Tori, die mir aus der Ecke des Raums zugrinste.
»Ich bin nur froh, dass du nicht auch über mich hergefallen bist«, sagte sie.
»Bring mich nicht in Versuchung.« Ich fuhr mir mit den Fingern durchs Haar. »Komm, wir verschwinden«, sagte ich.
41
Ich fuhr Tori zu ihrem Apartment. Momentan war ich keine angenehme Gesellschaft. Ich war aus dem Gleichgewicht. Noch nie hatte ich mich als Anwalt so hilflos gefühlt. Ich musste einen Hügel besteigen, um einen weiteren Hügel zu besteigen, um dort ein Teleskop zu nutzen und meine Chancen auf einen Freispruch für Tom Stoller in weiter Ferne zu erspähen.
»Darf ich einen Vorschlag machen?«, sagte sie, während ich fuhr.
»Klar.«
»Nicht dass ich dir in deine Arbeit reinreden will.«
»Klingt ganz so, als hättest du es vor.«
»Genau das meine ich. Ich kann auch meinen Mund halten, wenn du möchtest. Wenn du mir erzählen würdest, wie ich Schülern Differenzialgleichungen beibringen soll, wäre ich auch genervt. Also habe ich vollstes Verständnis dafür …«
»Tori, schieß einfach los. Jedes Mal wenn du was beigetragen hast, war das hilfreich.«
Sie schwieg einen Moment. Vermutlich wusste sie meine Bemerkung zu schätzen.
»Okay«, sagte sie. »Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, dass du möglicherweise ein zu großes Netz auswirfst?«
Ich bremste vor einer roten Ampel und drehte mich zu ihr um. »Worauf willst du hinaus?«
Sie rutschte in ihrem Sitz herum, sodass sie mir ebenfalls zugewandt saß. »Du glaubst, bei diesem Kerl von Global Harvest und den anderen Firmen ist was faul. Und da du das ziemlich spät herausgefunden hast, ist die Zeit äußerst knapp, und jetzt lässt du Shauna und Bradley Anrufe bei diesen Firmen machen und übers Internet über sie recherchieren. Was natürlich gut ist – aber wäre dein Privatermittler für diese Aufgabe nicht geeigneter?«
»Klar, aber der ist mit anderen Dingen beschäftigt.«
»Genau. Du hast ihn auf diesen mysteriösen Auftragskiller Gin Rummy angesetzt. Ich frage mich, ob das sinnvoll investierte Zeit ist.«
Die Ampel sprang um, und ich fuhr wieder los, aber sie hatte mich zum Nachdenken gebracht.
»Einmal den günstigsten Fall angenommen«, fuhr sie fort. »Sagen wir, Joel ist besser als das FBI und findet raus, wer diese Person ist. Okay, was dann? Wirst du ihn in den Zeugenstand rufen?«
»Er streitet alles ab«, sagte ich. »Er nimmt den fünften Zusatzartikel für sich in Anspruch. Er verweigert die Aussage vor Gericht. Ich sehe, worauf du hinauswillst.«
»Was, wenn du vor allem Beweismaterial gegen diesen Typ von Global Harvest zusammenträgst – diesen Manning? Geht das nicht, ohne nachzuweisen, wer tatsächlich den Abzug gedrückt hat?«
Ich ging alles noch einmal durch. Ich wollte Gin Rummy finden, ihn in den Zeugenstand rufen und auf die Ähnlichkeiten zwischen den Morden an Lorenzo Fowler und Kathy Rubinkowski hinweisen. Ich vertraute auf meine Fähigkeit, ihn in Widersprüche zu verstricken und etwas aus ihm herauszuholen – kein perfektes Geständnis natürlich, nur genug, um die Jury zum Nachdenken zu bringen.
Aber abgesehen davon, dass ich diesen Mistkerl nicht aufspüren konnte, hatte ich es auch noch mit Richter Nash zu tun; und der würde eine ziemliche schlüssige Beweiskette von mir verlangen, bevor ich Zeugen vor der Jury aufmarschieren lassen durfte, die ich der Anklage nicht offenbart hatte. Es war ziemlich wahrscheinlich, dass er diesen Kerl nicht mal als Zeugen akzeptieren würde.
»Jesus, du hast recht, Tori«, sagte ich. »Bei der verbleibenden Zeit ist das ein wesentlich effektiveres Vorgehen. Scheiß auf Gin Rummy. Ich brauch ihn nicht. Ich zeige der Jury, dass Randall Manning oder Bruce McCabe oder beide etwas zu verbergen hatten, und dann werde ich Beweise dafür bringen, dass der Mord an Kathy Rubinkowski die Tat eines Profis war und kein verunglückter Amateurüberfall.«
»Das war schon alles, woran ich dachte«, sagte sie.
»Das war alles, woran du dachtest? Dann denk weiter, denn das ist sehr hilfreich. Wirklich, Tori. Ich könnte dich küssen.«
Ich zog mein Handy heraus und rief Joel Lightner an. »Hey«, sagte ich und schwieg eine Weile, während Joel etwas Dampf abließ. »Ich weiß, ich verdiene das, Joel. Ja, und das auch. Moment, das war jetzt ein bisschen überzogen. Hör zu, Joel, hör mit diesem Gin-Rummy-Mist auf. Konzentrier dich auf Randall Manning, Bruce McCabe und diesen anderen Typen von SK Tool and Supply. Keane, Stanley Keane. Grab alles aus, was du finden kannst. Und ich meine wirklich alles. Ja, ich weiß. Ich weiß, Joel. Ja, der blutende Elefant, das war unter der Gürtellinie. Nein, ich weiß, und nur um das klarzustellen, ich glaube durchaus, dass du einen Juden in Israel finden kannst. Ich bin sogar überzeugt davon.« Ich blickte zu Tori und verdrehte die Augen. »Ich verstehe, Joel. Du hast diese ganzen Informationen über Gin Rummy zusammengetragen. Okay, schick sie mir und dann nimm dir diese anderen Burschen vor. Sonst läuft uns die Zeit davon. Volle Kraft voraus, was diese drei Typen und ihre verdammten Firmen betrifft. Also, sind wir beide wieder beste Freunde? Ich sag dir was, wenn das vorüber ist, lad ich dich auf eine gemeinsame Maniküre und Pediküre ein. Ja, sie ist hier. Ich fahr sie heim. Warte, ich frag sie.« Ich drehte mich zu Tori. »Joel fragt, ob wir heute miteinander schlafen werden.«
»Nein«, sagte sie.
»Sie sagt, Nein.« Ich lauschte und blickte dann erneut zu Tori. »Er fragt, wenn ich nicht bei dir landen kann, ob er dann vielleicht einspringen soll?«
Tori lachte.
»Sie fand das lustig, Lightner. Bei der Vorstellung, mit dir zu schlafen, hat sie sogar gelacht. Okay, mach’s gut.«
Ich beendete das Gespräch. »Unter der rauen Schale steckt ein knuddeliger Teddybär«, sagte ich.
»Ich weiß. Ich mag Joel.«
»Ich meinte eigentlich mich.« Ich fuhr an den Straßenrand. Tori lebte in einem Hochhaus auf der Near North Side etwa zehn Blocks südöstlich von mir. Ihr Apartment, in dem ich nie gewesen war, befand sich im achtzehnten Stockwerk und bot vermutlich eine atemberaubende Aussicht und so viel Wohnfläche wie ein Schuhschrank.
Tori wandte sich erneut zu mir. »Oh, ich hab dich durchschaut, Kolarich.«
Ich stellte den Motor aus. »Inwiefern?«
»Du bist ein Gutmensch. Ein Kreuzritter.«
»Gott bewahre!«
»Gott bewahre? Du behauptest, du magst den Wettstreit. Die Herausforderung. Das hast du gesagt. Aber ich kaufe es dir nicht ab.« Sie deutete mit dem Zeigefinger auf mich. »Ich möchte dir eine Frage stellen. Wie viel kriegst du für diesen Fall bezahlt?«
»Einspruch«, sagte ich. »Irrelevant.«
»Irrelevant. Du kriegst keinen müden Dollar, richtig?«
Diese Lady blickte viel zu tief. Langsam wurde es gefährlich.
»Tante Deidre hat im Moment selbst genug Probleme«, sagte ich. »Ihr Mann ist behindert. Sie kann kaum die monatlichen Raten fürs Auto zusammenkratzen. Und Tom hat auch nicht gerade ein Händchen für Geld.«
»Hey, das sollte keine Kritik sein. Ich finde das sehr nobel. Du mobilisierst all diese Ressourcen und kriegst nichts dafür zurück. Du reißt dir für einen Klienten den Arsch auf, der dich nicht bezahlt. Stattdessen verlierst du sogar noch Geld – und deinen Verstand obendrein.«
Ich seufzte. »Bleibt mir immer noch meine Gesundheit.«
Aber sie ließ sich nicht mit klugscheißerischen Repliken abspeisen, diesmal nicht. Sie fixierte mich unverwandt. Bei dem gequälten Ausdruck auf ihrem Gesicht rechnete ich jeden Augenblick mit Tränen. Aber Tränen waren nicht Toris Ding, zumindest soweit ich das bisher beurteilen konnte. Sie hatte eine undurchdringliche Mauer zwischen sich und dem Schmerz errichtet, woher auch immer dieser Schmerz stammen mochte.
Trotzdem nahm sie Anteil an der inneren Spannung in mir. Diese Mathematikstudentin, die sich den ganzen Tag mit unpersönlichen Zahlen, Gleichungen und Axiomen beschäftigte, hatte eine gewisse Leidenschaft für diesen Kriminalfall entwickelt. Und langsam gewann ich den Eindruck, dass sie vielleicht auch eine gewisse Leidenschaft für mich entwickelte.
»Du bist anders, als ich erwartet hatte«, sagte sie.
Darauf hatte ich diverse clevere Antworten in petto. Das war mein Markenzeichen, richtig? Alles ist ein Witz. Aber ich wollte ihr aufrichtig antworten. Ich wollte mit ihr reden. Ich wollte herausfinden, warum sie erst mit siebenundzwanzig ans College gegangen und was vorher geschehen war. Was hatte für den Neuanfang in ihrem Leben gesorgt, und welche Hoffnung trieb sie an unter dieser verschlossenen Fassade?
Doch bevor ich etwas sagen konnte, stieß sie die Tür auf und stieg aus.
***
Peter Ramini beobachtete das Ganze von seinem Wagen aus, der gegenüber dem Hochhaus geparkt war. Er hatte Kolarich heute Abend nicht verfolgen müssen. Er wusste, wo die junge Frau wohnte – kannte ihre Adresse und ihre Apartmentnummer, 1806 –, und er war davon ausgegangen, dass Kolarich heute mit ihr dort landen würde.
Aber Kolarich ging nicht mit hinein. Sie stieg alleine aus dem Wagen und lief die Rampe zu ihrem Apartmenthaus hinauf. Kolarichs SUV fuhr hinaus in die Nacht.
Ramini hustete und räusperte sich. Er war nicht scharf auf das, was jetzt kommen würde. Aber die Instruktionen, die er von Paulie via Donnie erhalten hatte, waren eindeutig.
Warum war das alles nur so kompliziert geworden?
42
Tom Stoller verschlang glücklich eine große Portion Truthahn mit Kartoffelbrei, Erbsenpüree und brauner Soße. Tante Deidre schenkte ihrem Essen kaum Beachtung, ihr Vergnügen resultierte hauptsächlich aus dem Toms.
Wir saßen im Besucherraum. Deidre hatte die Wachleute während des elfmonatigen Aufenthalt Toms beständig bezirzt, und als sie die zu erwartenden üppigen Reste ihres selbst gekochten Festessen erwähnte, die sie nicht wieder mit nach Hause schleppen wollte, waren die Vollzugsbeamten Wachs in ihren Händen gewesen. Ich fand, Deidre war ziemlich gut darin, ihren Willen durchzusetzen.
Es gab nur Pappteller und Plastikbesteck, aber der Freude meines Mandanten nach zu urteilen, hätten wir ebenso gut am Familienküchentisch sitzen können. Mir war bekannt, dass Tom keine allzu hohe Meinung von der Cuisine im Boyd Center hatte, denn es war fast das einzige Thema, zu dem er sich freiwillig äußerte.
Aufgrund der Umstände war die Stimmung natürlich nicht gerade überschwänglich. In mancher Hinsicht war dies eine Art Henkersmahlzeit für Tom. Aber, Herr im Himmel, warum sollten sie nicht diese ein, zwei Stunden nach Möglichkeit genießen?
Ich wünschte, ich hätte mein Handy dabeigehabt. Ich hätte mich gerne mit Tori abgesprochen, die ich in einer Stunde abholen wollte. Wir hatten eine Exkursion geplant.
Deidre überließ Tom seinem eifrigen Schlingen und zog mich in eine Ecke des Raumes. »Müssen Sie fort, Jason? Das ist in Ordnung. Schließlich haben wir Thanksgiving.«
»Ich muss bald los, ja.«
»Besuchen Sie Ihre Eltern?«
Ich lachte laut. »Nein, Ma’am. Meine Mutter ist tot, und mein Vater lebt nicht hier.«
Sie neigte den Kopf zur Seite. »Sie sind allein an Thanksgiving?«
»Nein, gar nicht. Ich bin bei Ihnen und Tom. Das reicht mir. Es ist schön zu beobachten, wie Tom mal was genießt.«
»Ja, das ist es. Sie hätten ihn als kleinen Jungen sehen sollen. Seine Mutter konnte nie genug Lebensmittel im Haus haben.«
Dann schwieg Tante Deidre. Sie starrte mich lange an. Es brauchte keine Worte. Ich wusste auch so, was sie wollte.
»Deidre, wir haben eine harte Zeit vor uns. Ich denke, Sie wissen das.«
Endlich unterbrach sie den Augenkontakt. Ihr Verstand hatte es gewusst. Trotzdem hatte ihr Herz gewagt, etwas anderes zu hoffen.
»Ich werfe jede Menge Darts auf die Scheibe und hoffe, dass ein paar davon hängen bleiben«, fuhr ich fort. »Ich habe die Hoffnung noch nicht aufgegeben. Und im schlimmsten Fall haben wir ziemlich gute Aussichten auf eine Berufung, da der Richter unsere Schuldunfähigkeitsverteidigung ausschließt, ohne mir mehr Zeit zu geben. Die meisten Richter sind nicht annähernd so streng, was die Offenlegungstermine betrifft. In einer höheren Instanz werden wir möglicherweise auf mehr Verständnis stoßen.«
Sie nickte, um es mir leichter zu machen. Aber das Gegenteil war der Fall. Sie machte es noch schlimmer.
»Die Staatsanwaltschaft verlässt sich auf Indizienbeweise«, sagte ich. »Ich kann vielleicht einige davon entkräften. Geben Sie nicht auf.«
Sie blickte mich nicht an, legte mir aber die Hand auf den Arm. »Was auch immer passiert, wie auch immer es am Ende ausgeht, er ist besser mit Ihnen dran als mit irgendjemand anderem. Da bin ich mir sicher, Jason.«
Sie setzte ungerechtfertigte Hoffnungen in mich. Sie erwartete etwas, das ich kaum liefern konnte. Das Gewicht dieses Falles überstieg meine Kapazitäten bei Weitem. Ich war mir nicht sicher, wie ich eine Niederlage verdauen würde.
Ich verabschiedete mich von Tom, der nur kurz aufschaute, das Kinn mit Kartoffelbrei und Soße verschmiert, bevor er sich erneut auf sein Festmahl stürzte. Eigentlich hatte ich ihn daran erinnern wollen, dass ich morgen wiederkommen würde, um einige Punkte mit ihm durchzugehen, aber ich mochte ihm dieses kleine Vergnügen nicht ruinieren.
Wenn es so weiterlief, war es wohl das letzte hausgemachte Essen, das er je zu sich nehmen würde.
43
Der Truck fuhr bis zu einer roten Flagge und hielt auf dem unbefestigten Weg. » Nummer eins in der Rovner Street. Warteposition für Fünf-Minuten-Ladung.«
Randall Manning verfolgte den Vorgang durch ein Fernglas und seinen Ohrhörer.
» Grüne Ampel in der Rovner, Zündung der Fünf-Minuten-Ladung«, kratzte die Stimme in seinem Ohrhörer.
Der Truck setzte sich wieder in Bewegung. Manning folgte ihm mit seinem Fernglas. Gut so weit. Immer auf das grüne Licht warten.
» Nummer zwei in der Rovner Street.«
Gut. Ziemlich exakt. Mannings Puls war gleichmäßig. Sie probten das nicht zum erstem Mal. Es war bereits der zwanzigste Durchlauf.
» Nummer eins in der Dodd Street, Warteposition für Zwei-Minuten-Ladung.«
Manning schwenkte das Fernglas zu der zweiten roten Flagge, zweihundert Meter südlich. Hier konnten sie nur Annäherungen an das Originaltiming erzielen. Mehr war auch nicht erforderlich. Schließlich befanden sie sich momentan nicht in der Innenstadt und weit weg von der Rovner oder der Dodd Street. Sie waren draußen auf dem Land – in der »Pampa«, wie mancher sagen würde. Dies war Fordham County, umgeben von Farmland, das Summerset Farms nach seiner Übernahme durch Global Harvest aufgekauft hatte.
» Grünes Licht in der Dodd. Zündung Zwei-Minuten-Ladung.«
Manning war die echte Route mehr als ein Dutzend Mal gefahren. Die Dodd Street war in Wahrheit wesentlich weniger als zwei Minuten vom Ziel entfernt, aber Manning hatte wegen des unberechenbaren Verkehrsaufkommens ein Zeitpolster eingebaut.
Der Laster rollte weiter in südlicher Richtung, direkt auf Manning zu. Manning stand in einer kuppelartigen Halle, die er vor über einem Jahr eigens zu diesem Zweck hatte errichten lassen. Noch vor ein paar Stunden hatten in dieser Halle landwirtschaftliche Geräte gestanden – Traktoren, Pflüge, Bagger –, die nun alle für diese Übung hinausgeräumt worden waren.
Er spähte vom verglasten Balkon im zweiten Stock der Kuppel, als der Laster durch die geöffneten Doppeltüren in die gewaltige Halle einfuhr. Manning drehte sich zum Inneren der Kuppel und verfolgte, wie der Laster beschleunigte und auf eine Gebäudeattrappe zuhielt, die nur aus einer Fassade und einer Tür bestand.
» Rote Ampel auf der Dayton, drauf geschissen!«
Der Truck behielt ein Tempo von etwa fünfzig Stundenkilometern bei und bremste scharf vor der Tür des Gebäudes.
Die Hecktür flog auf, und Patrick Cahill sprang heraus. Ihm folgte der Fahrer Ernie Dwyer. Beide trugen hochmoderne Schutzwesten und einen Helm mit Visier. Sie brachten ihre AKM-Sturmgewehre in Anschlag und entfernten sich von dem Gebäude.
»Hoch mit den Zielen«, sagte Manning.
Das war taktisches Training, eine Disziplin, über die Manning vor achtzehn Monaten absolut nichts gewusst hatte. Inzwischen hatte er das eine oder andere dazugelernt.
An diversen Orten rund um die Fassade klappten Pappfiguren aus dem Boden wie in einem Kinderbuch. Aus der von Manning befohlenen Entfernung feuerten Cahill und Dwyer ihre Sturmgewehre auf die Ziele ab und mähten sie nieder. Sollten die beiden ihre Ziele verfehlen – Manning bezweifelte, dass einer der beiden das je getan hatte –, trafen ihre Kugeln die schussfeste Abdeckplane, die hinter der Fassade vom Boden bis zur Decke reichte.
Randall Manning blickte auf seine Stoppuhr.
»Gut«, verkündete er. »Ausgezeichnet gemacht. Jetzt räumt auf. Dann essen wir, und anschließend geht’s auf den Schießstand.«
In der ersten Phase der Aufräumarbeiten wurde die Munition beseitigt. Jede einzelne Patronenhülse wurde aufgelesen. Die schussfeste Plane wurde herabgelassen und abgekratzt. Anschließend wurde die Dachkuppel geöffnet, damit der Pulverdampf abziehen konnte. Zuletzt wurden die Traktoren und das übrige Gerät wieder hereingefahren.
Innerhalb einer Stunde sah dieser Ort wieder aus wie eine ganz normale Lagerhalle für landwirtschaftliche Maschinen.
Manning blickte zu Bruce McCabe, der neben ihm stand und einen abwesenden Eindruck machte.
»Was beschäftigt Sie, Bruce?«, fragte er.
44
Ich fuhr in der Kanzlei vorbei, um mir Joels Dossier über den legendären Gin Rummy zu holen. Joel war ohnehin sauer, weil ich ihn von diesem Auftrag abgezogen hatte – oder vielmehr deshalb, weil er diesen Typ nicht gefunden hatte –, und wenn er am Freitag in aller Herrgottsfrühe in mein Büro kam und die Akte an derselben Stelle auf meinem Schreitisch fände, hätte er das Gefühl, ich würde seine Arbeit missachten. Er hatte ein ziemlich dickes Fell, konnte aber sehr empfindlich reagieren, wenn es um seine Berufsehre ging.
Dann holte ich Tori vor ihrem Apartment ab. Ein kalter Wind fegte in meinen Wagen, und sie schloss rasch die Tür, um ihn draußen zu halten. Die Temperaturen fielen. Es würde zwar kein weißes Thanksgiving werden, aber definitiv ein kaltes.
Sie trug ihr Markenzeichen, den langen weißen Mantel, und dazu elegante Stiefel, aber das war auch schon das Einzige, was an ihr normal aussah. Ihre Augen lagen tief in den Höhlen, und ihr Gesicht war zerknittert. Sie wirkte, als hätte sie nicht gut geschlafen.
»Hab ich auch nicht«, sagte sie, als ich sie darauf ansprach. »Und danke, dass du es bemerkt hast.«
»Steht ein großer Mathetest an?«, fragte ich, obwohl ich wusste, dass sie vor ein paar Tagen ihre letzten Prüfungen abgeschlossen hatte. Bis Mitte Januar waren Semesterferien.
Sie blickte mich an. »Machst du dich jetzt lustig über mich? Hast du irgendwas gegen Mathematik?«
»Nein, hey – ich liebe Mathematik. Mathe ist das Tollste seit … der Erfindung der Wissenschaft.«
»Weil das nämlich ein bisschen herablassend klang. Und das ist so ziemlich das Einzige, was ich nicht ertragen kann.«
Ich hatte offensichtlich an einen empfindlichen Punkt gerührt, von dem ich nichts geahnt hatte. »Tori, es tut mir leid. So hab ich das nicht gemeint.«
Es war das erste Mal, dass sie sich über irgendetwas aufregte. Normalerweise war sie ein cooles Mädchen, schien die meiste Zeit distanziert und äußerst kontrolliert. Irgendetwas machte sie nervös.
Unsere Beziehung war merkwürdig. Ich wusste nicht allzu viel über sie, und sie wusste kaum etwas über mich. Wir redeten nicht viel über private Dinge. Wir hielten einander auf Abstand. Trotzdem, je mehr Zeit ich mit ihr verbrachte, desto mehr Zeit wollte ich mit ihr verbringen. Vielleicht lag es an ihrer Distanziertheit. Durchaus möglich. Ich hatte noch nie eine Beziehung, in der ich der Werbende gewesen war. In der Schule war ich eine Sportskanone, und der Erfolg bei Mädchen ging mit sportlichen Erfolgen quasi automatisch einher. Nicht notwendigerweise waren das die Mädchen, mit denen man eine feste Beziehung eingehen wollte, aber wer zum Teufel wollte schon eine feste Beziehung eingehen?
Dann war da Shauna; wir waren zunächst Freunde gewesen und hatten eine kurze leidenschaftliche Beziehung gehabt, bevor wir beschlossen, dass unsere Freundschaft besser funktioniert hatte als unsere Romanze. Und dann war da Talia. Aber selbst Talia hatte bei mir den ersten Schritt unternommen.
Ich hatte nie das Gefühl gehabt, interessierter zu sein als die Dame meines Herzens. Bis jetzt.
Tori sagte: »Ich hab an deinem Fall gearbeitet, falls du wissen willst, womit ich mich beschäftigt habe. Und ich habe was rausgefunden.«
»Okay, großartig. Und was?«
»Kathy Rubinkowski war auf Facebook.«
»Oh, okay. Facebook. Okay. Bist du dort auf was gestoßen?«
»Nein, denn wir waren keine ›Freunde‹.«
»Tja, ganz offensichtlich wart ihr keine Freunde.« Ich blickte zu ihr hinüber, während ich fuhr.
»Weißt du irgendwas über Facebook?«, fragte sie.
»Klar. Irgendein Blödmann hat die Idee von zwei anderen Blödmännern geklaut oder so ähnlich. Und es gab einen Film darüber, in dem alle unglaublich intelligente, flüssige Sätze von sich gaben.«
»Du bist ein hoffnungsloser Fall. Sie muss mich auf ihre Seite einladen, und das kann sie jetzt natürlich nicht mehr. Aber wenn jemand einen Zugang bekommt, könnte ich dort auf ihrer Infoseite sicher ihre E-Mail-Adresse finden.«
»Ah, E-Mail. E-Mail kenne ich. Okay, ich hab verstanden. Mithilfe ihrer E-Mail-Adresse können wir uns in ihr Postfach reinhacken und rausfinden, ob sie irgendwas vorhatte.«
»Genau das war meine Idee. Glaubst du, Joel kann so was?«
Interessante Frage. Möglicherweise konnte er das tatsächlich. »Gibt es da nicht gewisse ethische Bedenken?«
»Theoretisch«, gab sie zu.
»Theoretisch? Tori, ich entdecke da ganz neue Seiten an dir.«
»Du siehst eine Seite, die nicht will, dass man einen armen, kranken jungen Mann für etwas hinhängt, das er nicht getan hat. Diese Seite siehst du. In diesem Sport wird mit harten Bandagen gekämpft – sagst du das nicht immer?«
Richtig. Aber ich hasste es, wenn Menschen meine Sprüche gegen mich verwendeten.
»Mist, wo sind diese Mapquest-Ausdrucke?« Ich tastete auf den Sitzpolstern herum und spähte in den Fußraum. »Schau mal auf der Rückbank nach«, sagte ich.
Sie drehte sich nach hinten. »Ich seh sie nirgends. Da ist nur ein großer Ordner.«
»Das ist Joels Gin-Rummy-Dossier.«
»Verwendest du immer noch Zeit darauf?«, fragte sie.
»Nein«, sagte ich. »Du hattest recht. Es ist Zeitvergeudung. Selbst wenn wir Gin Rummy finden würden, würde er sich zu nichts bekennen. Aber Joel hat sich so viel Mühe gemacht, und ich bezahle ihn nicht mal für diesen Mist. Also versuch ich, es wenigstens irgendwann zu lesen. Ich meine, es enthält Lebensläufe und Hintergrundmaterial. Es ist wie eine Enzyklopädie. Irgendwann finde ich schon Zeit dafür.«
»Wie auch immer«, sagte sie. »Ich such die Strecke auf meinem iPhone.«
»So was geht?«
»Du bist echt ein Dinosaurier, oder?«
»Ich ziehe ›old school‹ vor, Tori. Du hast einen Routenplaner auf diesem Ding?«
»Klar. Ich muss nur den Namen und die Adresse eintippen und dann das GPS die Arbeit machen lassen.«
»Klasse«, sagte ich. »Dann tipp mal Summerset Farms ein.«
45
»Sprechen Sie ganz offen, Bruce«, sagte Randall Manning.
»Alles bestens.« McCabe zuckte mit den Achseln. »Ich schätze, es sind nur die Nerven.«
»Was genau beschäftigt Sie, Bruce? Gehen Sie ins Detail.«
Unter ihnen in der Kuppelhalle waren die Aufräumarbeiten im Gange. Patronenhülsen wurden eingesammelt, Dreck wurde weggekehrt, die kugelsichere Plane herabgelassen.
McCabe blickte zu Manning. »Es ist dieser Anwalt, Kolarich.«
Manning nickte. »Er wird niemals rechtzeitig dahinterkommen, Bruce.«
»Aber irgendwann wird er es herausfinden. Er wird uns damit in Verbindung bringen. Und wenn wir ihn beseitigen, winken wir da nicht mit einer roten Signalflagge? Er ist uns auf der Spur – und plötzlich ist er tot? Wir dachten, wir wären vollständig anonym, Randy. Es schien unmöglich, eine Verbindung zu uns herzustellen.«
Davon war Manning nie ausgegangen. Er hatte das Ganze gründlich geplant und seine Leute gut ausgesucht, aber er gab sich keinen Illusionen hin. Die Chancen standen nicht schlecht, dass er selbst geschnappt wurde. Er hatte von seinen Männern immer die Bereitschaft gefordert, für diese Mission zu sterben. Er hatte ihnen Opferbereitschaft gepredigt. Natürlich war McCabe Teil des Zirkels, aber er war keiner der Ausführenden. Er hatte lediglich die notwendigen juristischen Voraussetzungen für die Mission geschaffen.
Und jetzt kamen die Dinge ins Rollen. Es war nicht mehr nur eine bloße Idee. Es ereignete sich tatsächlich.
»Sie werden uns schon nicht erwischen«, sagte Manning. »Und anschließend tauchen wir unter und warten auf eine weitere Gelegenheit. Aber natürlich gibt es Risiken, Bruce. Das dürfte Ihnen doch nicht neu sein, oder?«
McCabe war nicht dumm. Natürlich hatte er die Risiken gesehen. Aber er hatte Manning vertraut, mehr, als diesem bewusst gewesen war. Und er hatte sich die Hände nicht schmutzig machen müssen. Er würde sein Leben nicht aufs Spiel setzen am 7. Dezember. Vielleicht dämmerte ihm jetzt erst so richtig, was sie vorhatten.
Vielleicht war es ein Fehler gewesen, Bruce heute zu diesem Probedurchlauf der Operation mitzunehmen.
Doch möglicherweise war es am Ende gar nicht so schlecht. Denn wenn McCabe aussteigen wollte, war es besser, Manning erfuhr gleich davon und nicht erst, wenn es zu spät war.
»Ich denke, wir sollten die Operation abbrechen«, sagte McCabe.
Manning legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Wir sollten was essen, Bruce. Wir sind all müde, gestresst und hungrig. Gönnen Sie sich ein wenig Truthahn und denken Sie in aller Ruhe drüber nach. Gehen Sie schon mal vor. Ich bin in einer Minute bei Ihnen.«
Manning wartete, bis sein Anwalt aus der Tür war. Dann wählte er eine Nummer auf seinem Handy.
»Patrick«, sagte er, »warten Sie fünf Minuten, und dann kommen Sie zu mir hoch.«
46
So etwas wie Verkehr gab es an diesem Thanksgiving-Nachmittag praktisch nicht. Wir verließen die Interstate und folgten den Landstraßen. Die Siedlungen hier waren weit verstreut und bescheiden, es gab kaum Geschäfte, abgesehen von den Tankstellen, Läden für Anglerbedarf und gelegentlichen Diners. Nichts davon hatte heute geöffnet.
Wir fanden die gesuchte Straße, indem wir einem kleinen Schild mit der Aufschrift SUMMERSET FARMS folgten, das nach rechts wies. Ich bog ab und fuhr eine gepflasterte Straße entlang. Irgendwann erreichten wir ein Metallgatter, das die Straße versperrte. Ein Schild verkündete: SUMMERSET FARMS IST GESCHLOSSEN.
Wir stiegen aus dem SUV, allein schon um nach einer zweistündigen Fahrt die Beine zu strecken, dann schlenderten wir auf das Gatter zu. Ein Stück weiter die Straße hinunter standen ein lang gestrecktes Haus im Ranch-Stil und eine riesige Scheune, beide rot angestrichen. Hinter den Gebäuden erstreckte sich Farmland, so weit das Auge reichte. Shauna hatte erwähnt, dass Global Harvest zugleich mit der Farm auch benachbartes Farmland gekauft hatte.
»Du hast doch wohl nicht erwartet, dass die Farm heute aufhat, oder?«, fragte Tori.
Tori wirkte wie ein Fisch auf dem Trockenen, eine gut gekleidete Metropolenbewohnerin inmitten von Farmland. Vermutlich machte ich keine wesentlich bessere Figur.
Und nein, ich hatte nicht erwartet, dass Summerset Farms an Thanksgiving geöffnet hatte.
»Warum das Gatter?«, fragte ich.
»Wer weiß? Vielleicht gegen Vandalen oder Räuber?«
»Ja, vielleicht.« Das Gatter war an einem Pfosten eingehängt. Es schien nicht hydraulisch zu funktionieren. Ich stieß dagegen, und es bewegte sich. Also schob ich es weiter auf, bis ich ausreichend Platz für meinen Wagen geschaffen hatte.
»Ich bin ja nicht der Anwalt hier«, sagte Tori, »aber möglicherweise handelt es sich dabei um widerrechtliches Betreten eines Grundstücks.«
»Mit harten Bandagen«, erinnerte ich sie. »Aber du musst nicht mitkommen. Warum machst du nicht eine Spazierfahrt und bist in einer Stunde zurück?«
Sie fand das amüsant. »Ich komme mit. Es ist sicher nicht das Schlimmste, was ich je getan habe.«
Nun, da das Gatter aus dem Weg geräumt war, kehrten wir zu dem SUV zurück und rollten auf den kleinen Parkplatz. Wir stiegen aus und liefen zum Haus. Wie zu erwarten war die Eingangstür verschlossen. Es gab ein Fenster, und ich spähte hindurch. Drinnen gab es nicht viel Interessantes zu sehen. Hinter einem Empfangsbereich schien so etwas wie ein Büroraum zu liegen. Vermutlich verkauften sie ihre Produkte nicht an Laufkundschaft, oder wenn sie es taten, dann nicht hier.
Wir marschierten hinüber zu der Scheune. Das Haupttor war höher als ich und mit einem gigantischen Vorhängeschloss gesichert. Es gab keine weiteren Fenster.
»Tja, das hatte ich mir gedacht«, sagte ich.
Tori blinzelte gegen das Sonnenlicht zu mir auf. »Und dafür haben wir dann den ganzen weiten Weg gemacht? Du stellst fest, dass die Farm über Thanksgiving geschlossen ist, rüttelst an der Tür, spähst in ein Fenster, und das war’s …«
»Nein, das war’s noch nicht«, sagte ich. »Aber hier sind wir fertig.«
Wir stiegen wieder in den SUV und rollten zum Gatter zurück. Nachdem ich es geschlossen hatte, fuhren wir auf der Straße an der Grundstücksumzäunung entlang. Auf der anderen Seite des Zauns wuchs ein in meinen Augen ziemlich dürftig aussehender Weizen mit kurzen, stoppeligen Ähren, aber natürlich wusste ich über Weizenanbau in etwa so viel wie über Astrophysik.
Die Gegend hier war ziemlich flach. Schließlich entdeckte ich zu meiner Linken eine kleine Erhebung. Ich folgte einem schlammigen Weg, der den Hügel hinaufführte, und hielt dort an.
»Handschuhfach«, sagte ich zu Tori.
Sie öffnete es, holte die teure Kamera heraus, die ich mir von Joel Lightner geborgt hatte, und reichte sie mir.
Ich sprang aus dem Wagen und stieg auf die Kühlerhaube. Dann half ich Tori hoch, und gemeinsam kletterten wir auf das Wagendach.
»Das ist … ungewöhnlich«, stellte sie fest.
Die Kamera war mit einem starken Teleobjektiv ausgerüstet, das Lightner als Privatermittler für seine Arbeit benötigte, und man konnte damit halbwegs scharfe Bilder über einen Kilometer hinweg schießen.
Durch die Kamera studierte ich die Äcker rund um Summerset Farms. Das Getreide war überall karg, stoppelig und bräunlich-grün wie ein vernachlässigter Sommerrasen. Als ich die Kamera über die Farmgrenzen hinausschwenkte, wurde das Getreide sogar noch spärlicher, und schließlich verschwand es ganz. Selbst das Teleobjektiv konnte mir dort draußen nichts als nackte Erde zeigen.
»Viel von dem Grund, den Global Harvest gekauft hat, wird ganz offensichtlich nicht für Getreideanbau verwendet«, sagte ich.
»Lass mich mal schauen«, sagte Tori.
»Warte.« Weiter hinten hatte ich ein Gebäude mit Metallwänden und einem kuppelartigen Dach erspäht. Irgendeine Art Lagerhaus oder Silo.
Und dann bemerkte ich etwas, das überhaupt nicht nach Landwirtschaft aussah.
Vielmehr nach einer Gruppe von Männern, die Sturmgewehre auf Zielscheiben abfeuerten. Die Entfernung war so groß, dass die Schüsse kaum zu hören waren, aber meine Augen trogen mich nicht.
»Schau dir das an.« Ich hielt die Kamera in Position und winkte Tori heran. Die Kamera wackelte ein bisschen, als Tori sie übernahm, trotzdem brauchte sie nicht lange, bis sie dasselbe entdeckte wie ich.
»O mein Gott«, sagte sie. »Was machen die da? Ich meine, mir ist schon klar, was die machen, aber …«
Aus dem Augenwinkel sah ich auf der Straße einen Pick-up mit einem gelben Blicklicht auf dem Dach herandonnern. Der Truck kam rutschend am Fuß des Hügels zum Stehen. Auf der Flanke des Fahrzeugs prangte die Aufschrift SUMMERSET FARMS SECURITY.
Der Mann, der aus dem Wagen sprang, trug eine grüne Uniform und darüber eine braune Lederjacke. An seinem Gürtel hing ein Pistolenhalfter.
»Darf ich fragen, was Sie da machen?«, sagte er.
»Klar«, antwortete ich.
Er starrte mich an. Ich starrte ihn an. Wir starrten uns gegenseitig an.
»Also, was machen Sie da?«
»Geht Sie nichts an.«
»Das geht mich sehr wohl was an.«
»Ich mache vom ersten Zusatzartikel der Verfassung Gebrauch«, verkündete ich. So wie er ganz offensichtlich vom zweiten Zusatzartikel Gebrauch machte, aber das sagte ich ihm natürlich nicht.
Er fand das nicht sonderlich komisch. Er war gebaut wie ein Panzer, außerdem trug er eine Waffe.
»Ich möchte einen Ausweis sehen«, sagte er.
»Und ich möchte, dass sie im Nahen Osten endlich Frieden schließen, aber keines von beidem wird heute noch geschehen.«
»Kommen Sie da runter, Sir, und steigen Sie in meinen Wagen.«
»So verlockend das klingt, ich muss leider darauf verzichten«, sagte ich.
Mit einer geübten Bewegung zog der Wachmann seine Waffe und richtete sie auf mich.
»Himmel, Jason«, flüsterte Tori. »Lass uns runtersteigen.«
Vermutlich hatte sie recht. Der Kerl mit der Pistole wollte, dass wir runterstiegen, also stiegen wir runter. Wir kletterten auf die Kühlerhaube, dann sprang ich zu Boden und half Tori.
»Setz dich hinters Steuer«, flüsterte ich ihr zu.
»Und jetzt steigen Sie in meinen Wagen, Sie beide.« Der Wachmann zückte mit der freien Hand sein Handy und schoss ein Foto von uns.
Ich ging auf ihn zu, zeigte ihm meine offene rechte Hand (die Kamera hielt ich mit der linken), damit er sah, dass ich keine Gefahr darstellte. Auf die Art schob ich mich zwischen seine Waffe und Tori. Hinter mir wurde die Tür des SUV geöffnet und fiel wieder zu. Gut. Tori war eingestiegen. Der Motor des Wagens lief noch, also hätte sie lediglich einen Gang einlegen und losfahren müssen. An ihrer Stelle wäre ich durchaus versucht gewesen.
»Die Frau rührt sich nicht von der Stelle«, sagte der Wachmann. »Keiner von Ihnen.«
»Immer mit der Ruhe, Deputy Fife«, sagte ich. »Bevor Sie noch jemanden mit Ihrer Pistole treffen.«
»Geben Sie mir die Kamera und steigen Sie in meinen Wagen.« Der Wachmann begriff langsam, dass ich nicht in kooperativer Stimmung war.
»Ich bin Anwalt«, sagte ich. »Ich bin ein offizieller Vertreter des Gerichts, der eine Vorladung zuzustellen versucht. Sie verstoßen gegen das Gesetz, wenn Sie mich daran zu hindern versuchen.«
»Eine verdammt merkwürdige Art, eine Vorladung zuzustellen, vom Dach eines Autos aus.«
»Ich bin einfach kreativ.« Ich kehrte dem Mann den Rücken zu. »Ich steige jetzt in meinen Wagen, und Sie müssen mich in den Rücken schießen, um mich aufzuhalten.«
Ich bewegte mich langsam, aber ohne zu zögern. Es waren die zehn längsten Schritte meines Lebens. Aber was konnte dieser Typ schon machen? Wie sollte er die Kugel in meinem Rücken rechtfertigen?
»Sie fahren nicht weg!«, brüllte er. »Sie werden nicht mit dieser Kamera verschwinden.« Wenn er gewusst hätte, was ich wusste. Ich hatte es vermasselt. Ich hatte kein einziges Foto geschossen. Stattdessen hatte ich die Kamera an Tori weitergereicht, und dann war Deputy Dwag hier aufgetaucht. Das war ein Versäumnis meinerseits. Ein großes Versäumnis. Schlafmangel – das hieß programmierte Fehler.
Aber immerhin saß ich in meinem Wagen.
»Fahr los«, wies ich Tori an.
Und das tat sie. Sie hatte Zeit gehabt, sich den Sitz richtig einzustellen, sodass sie die Pedale erreichen konnte. Zumindest das Gaspedal funktionierte ausgezeichnet. Eine Sekunde später jagten wir mit Vollgas nach vorn über den Hügel. Clever gemacht, Tori. Sie stieß nicht zurück und riskierte es, an diesem Kerl vorbeizufahren. Stattdessen schossen wir auf der anderen Hügelseite hinunter und waren rasch außer Sichtweite.
»Schien ein richtig netter Kerl zu sein«, sagte ich zu Tori, während wir zurück in Richtung Interstate fuhren.
Tori spähte in den Rückspiegel. Ich drehte mich auf meinem Sitz nach hinten. Niemand folgte uns. Und sobald wir auf die Interstate gelangten, hörte Tori auf, nach Verfolgern Ausschau zu halten.
»Du wolltest heute dorthin, weil du gemeint hast, du könntest dich in aller Ruhe umschauen«, folgerte sie. »Du dachtest, wenn dort irgendwas Illegales vor sich geht, dann ist heute der perfekte Tag dafür.«
»Außerdem schien es ein guter Tag für einen Ausflug, oder?«, sagte ich. »Nein, du hast recht. Vielleicht wissen wir jetzt, warum Randall Manning so heikel ist mit seinen Verkäufen an Summerset Farms. Vielleicht wurden nicht nur Düngemittel von Global Harvest International an Summerset geliefert. Vielleicht handeln sie mit Waffen.«
»Handeln sie nur damit?«, fragte sie. »Dann müssten sie ja nicht gleich damit schießen.«
»Vielleicht testen sie die Qualität ihrer Ware. Stellen sicher, dass die Waffen gut funktionieren.«
Sie blickte mich an. »Glaubst du das wirklich?«
Ich versuchte herunterzuspielen, was wir gerade beobachtet hatten. Aber es funktionierte nicht. Tori wusste Bescheid.
»Nein«, gab ich zu. »Es sah aus, als würden sie für irgendetwas trainieren.«
47
Randall Manning und Bruce McCabe liefen unten durch das Kuppelgewölbe. Alles war wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt worden; die Patronenhülsen waren aufgesammelt, und die Landwirtschaftsgeräte standen wieder an ihrem angestammten Platz. Die Männer draußen beendeten ihr Schießtraining.
Manning hatte ursprünglich erwogen, das Scheibenschießen aus Sicherheitsgründen nach innen zu verlegen, sich dann aber dagegen entschieden. Die Operation würde im Freien stattfinden, und die Männer sollten sich an Wind und Wetter gewöhnen. Wenn es bei der Operation sonnig war, mussten sie mit blendendem Sonnenlicht umgehen können. Wenn es regnete, mussten sie auch darauf vorbereitet sein. Heute war der Himmel klar, und die Sonne schien. Vor drei Wochen hatten sie bei Wind und Schnee trainiert.
Alle hatten gegessen. Manning hatte einen richtigen Thanksgiving-Festschmaus auffahren lassen. Ebenso wie Manning wurde keiner der Männer irgendwo erwartet. Niemand von ihnen hatte eine richtige Familie. Das war kein Zufall. Genau aus diesem Grund hatte er sie ausgewählt. Es hatte eine lange methodische Suche über Monate hinweg erfordert, um die richtigen Kandidaten zu finden – unzufriedene, wütende, gewaltbereite Männer ohne familiäre Bindungen und mit einer nationalistischen oder ausgeprägt rassistischen Weltanschauung. Und es hatte ihn ebenso viel Zeit gekostet, unter dieser Vorauswahl noch einmal die besten herauszupicken.
»Sie sollten meine Bedenken ernst nehmen«, sagte McCabe, der sich nach ein paar Gläsern Wein etwas entspannt hatte. Die Soldaten hatten im Gegensatz zu McCabe und Manning keinen Alkohol angerührt.
»Ich nehme sie sehr ernst, Bruce.«
»Wir haben eine Chance, das Ganze reibungslos durchzuziehen, aber dieser Anwalt ist eine Gefahr.«
»Dann beseitigen wir diese Gefahr.«
»Wir beseitigen die Gefahr, aber dann warten wir, bis Gras über die Sache gewachsen ist«, beharrte McCabe. »Wir können ihn nicht ausschalten und dann sofort die Operation starten, als wäre nichts gewesen.«
»Wir haben uns diesen Zeitpunkt nicht ausgesucht, Bruce.«
»Doch, das haben wir, Randy. Natürlich hat der siebte Dezember symbolischen Charakter. Aber es gibt andere Tage mit ähnlicher Bedeutung. Wir sollten die Sache verschieben.« McCabe blieb stehen und wartete, bis Manning seinem Beispiel folgte. Manning drehte sich zu ihm um.
»Es ist mir absolut ernst, Randy.«
»Was ist mit Ihrer Frau, Bruce? Wie steht es mit ihr?«
McCabe runzelte die Stirn. Sein Gesicht verfärbte sich. »Lassen Sie meine Frau aus dem Spiel. Ich sage ja nicht, dass wir es gar nicht tun sollen. Ich sage nur nicht jetzt.«
Manning registrierte eine Bewegung hinter McCabes Rücken. Patrick Cahill schlüpfte hinter einem großen Traktor hervor.
»In Ordnung«, sagte Manning. »Einverstanden, Bruce.«
»Wirklich? Sie sind einverstanden?« McCabe atmete tief durch. Seine Haltung entspannte sich.
In dem Moment setzte sich Patrick Cahill in Bewegung. Er verwendete ein Seil, das er in einer flüssigen Bewegung über McCabes Kopf warf und um seine Kehle schlang. Manning hörte ein Übelkeit erregendes Knirschen und dann McCabes verzweifeltes, gurgelndes Stöhnen. McCabe kämpfte um sein Leben, zuerst grapschten seine Hände nach dem Seil, dann schlugen sie erfolglos nach hinten aus. Aber er war Patrick Cahill nicht gewachsen, der McCabe jetzt in die Luft hob, während er das Leben aus ihm herauspresste.
Manning verfolgte den Vorgang bis zum letzten Zucken von McCabes Beinen, bis sein Körper endgültig erschlaffte und Cahill ihn wegschleppte. Das Gefühl innerer Teilnahmslosigkeit überraschte ihn. Schließlich war Bruce ein Freund gewesen. Ein Freund, der erst einen Eid auf die Sache geschworen und ihr dann den Rücken gekehrt hatte, aber trotzdem ein Freund.
Manning war in den letzten achtzehn Monaten einen weiten Weg gegangen.
Dann klingelte sein Handy, und er nahm den Anruf entgegen.
»Mr. Manning«, sagte sein Security-Chef. »Wir hatten heute Besuch.«
48
Tori und ich fuhren zurück zu meiner Kanzlei und verbrachten den restlichen Abend mit Arbeit. Sie recherchierte online, während ich die Zeugenaussagen durchging und mein Abschlussplädoyer entwarf. Ein Prozessanwalt beginnt nach dem Sichten der Beweise seine Verhandlungsvorbereitungen immer mit dem Abschlussplädoyer. Es ist das, was er der Jury am Ende mit auf den Weg gibt, das finale Statement, und er will alles Wichtige hineinpacken. Von dort aus arbeitet er dann rückwärts und stellt sicher, dass er die nötigen Beweise für seine Schlussfolgerungen liefert, die Bausteine für das fertige Haus, das er am Ende den Geschworenen zeigt.
Meine Abschlussargumentation hatte sich dramatisch verändert. Dies war keine Schuldunfähigkeitsbeweisführung mehr. Es war eine Unschuldsbeweisführung. Und es würde sich dabei zumeist um Vorgänge und Menschen drehen, die nicht das Geringste mit First Lieutenant Thomas Stoller zu tun hatten. Dummerweise waren die meisten dieser Beweise mir selbst noch unbekannt. Also stand ich am Ende meiner Versuche, ein Plädoyer zu schreiben, mit mehr Fragen als Antworten da.
Und so war ich am Ende des Tages wieder einmal enttäuscht und schlecht gelaunt.
»Ich brauche mehr Zeit«, sagte ich zu Tori, während ich sie nach Hause fuhr. »Da ist irgendwo was verborgen, aber ich hab nicht die Zeit, es rauszufinden. Ich lasse Tom einfach hängen.«
»Nein, das tust du nicht. Du kämpfst mit aller Kraft für ihn, Jason.«
»Das ist nicht genug. Nicht mal annähernd.«
Sie antwortete nicht sofort, aber ich spürte, dass sie mich musterte.
»Was?«, sagte ich, ohne meine Irritation zu verbergen.
»Ein Anwalt hat mir mal gesagt, dass man immer sein Bestes für seinen Mandanten gibt, aber nachts schläft man ruhig, weil man eben nicht mehr als sein Bestes geben kann. Und am Ende ist es der Klient und nicht man selbst, der im Gefängnis landet.«
»Keine Ahnung, was für ein Blödmann das gesagt hat.« Erneut hatte sie meine eigenen Worte zitiert. »Ich weiß nicht mehr weiter, Tori. Ich habe einen Klienten, der ins Gefängnis gehen will und bestraft werden möchte, allerdings nicht für den Mord an Kathy Rubinkowski, sondern weil er in diesem Tunnel in Mosul ein Mädchen erschossen hat. Er kann mir nicht helfen. Er erinnert sich nicht an die Tatnacht. Daher muss ich die Geschworenen von etwas überzeugen, das nicht mal mein eigener Mandant aussagen wird, nämlich dass jemand anderer diesen Mord begangen und ihm in die Schuhe geschoben hat. Ist das nicht toll? Mein Mandant wurde Opfer eines falschen Spiels, weigert sich aber, das vor Gericht zu bestätigen. Und ich selbst habe so gut wie keinen Beweis dafür. Ich habe Fragen, ich habe Theorien, aber solange ich die nicht in einen halbwegs schlüssigen Zusammenhang bringen kann, wird Richter Nash dafür sorgen, dass die Jury nie davon erfährt …«
»Jason, jetzt mach mal halblang. Du lässt dich von negativen Gefühlen mitreißen.« Tori berührte meinen Arm. »Es bleibt noch Zeit. Es gibt immer noch Hoffnung.«
Ich holte tief Luft und versuchte, mich zu entspannen. Sie hatte recht. Die Situation wuchs mir über den Kopf. Das war eigentlich nicht meine Art. Normalerweise entfaltete ich in solchen Momenten erst meine wahren Fähigkeiten.
In den verlassenen Straßen kamen wir rasch vorwärts. Ich hielt vor ihrem Apartmenthaus. Dann ließ ich den Kopf auf das Lenkrad sinken und schloss die Augen. Es musste da irgendetwas geben, das ich übersah.
Tori nahm meine Hand und hielt sie. Ihre Hand war klein und warm, und es fühlte sich gut an. Wir saßen vielleicht zehn oder fünfzehn Minuten so nebeneinander. Ich war tief erschöpft und aufgewühlt zugleich. Ich brauchte dringend Schlaf, aber dieser Fall ließ mir keinen Frieden. Vor mir lagen unruhige Nächte, in denen ich plötzlich mitten in der Nacht die Augen aufschlagen und mich ruhelos herumwälzen würde.
»Ich war mal verheiratet«, sagte Tori.
Ich erwachte aus meinem Brüten und blickte sie an. Ich war mir nicht sicher, warum sie mir das ausgerechnet jetzt erzählte. Vermutlich war es eine Art intimer Moment.
»Wann ging es zu Ende?«, fragte ich.
»Vor fünf Jahren«, sagte sie. »Auf den Tag genau vor fünf Jahren. Am fünfundzwanzigsten November 2005. Damals war dieser Tag ein Freitag. Der Tag nach Thanksgiving.«
Komisch, dass sie das Datum noch so genau wusste. Vermutlich weil es mit einem Feiertag verbunden war.
Aber eine Ehe endete mit einem Scheidungsurteil. Und man fand schwerlich ein Gericht, das an dem Feiertag nach Thanksgiving geöffnet hatte.
Tori ließ meine Hand los und starrte aus dem Fenster.
»An dem Tag habe ich ihn getötet«, erklärte sie mir.
Ich war mir nicht sicher, ob ich sie richtig verstanden hatte. Sie hatte mir nie etwas von ihrer Familie erzählt, abgesehen davon, dass ihr Vater gestorben war. Und jetzt offenbarte sie mir …
Hatte sie gerade erklärt, dass sie ihren Mann getötet hatte?
»Er war gewalttätig«, sagte sie mechanisch. »Er hat mich jahrelang geschlagen. Eines Tages konnte ich es nicht mehr ertragen. Ich habe nicht versucht, ihn zu verlassen. Ich versuchte es nicht übers Gericht. Ich kaufte einfach eine Waffe und erschoss ihn. Er hatte mich in den Nächten davor ein paarmal geschlagen. An Thanksgiving hatte er sich bei einem Essen mit seiner Familie betrunken, und als wir nach Hause kamen, benutzte er mich als Punchingball. Am nächsten Morgen bin ich mit Platzwunden und blauen Flecken übersät aufgewacht und bekam kaum noch Luft. Ich fühlte mich wie in einer Falle. Er hatte sich immer wieder mal bei mir entschuldigt und mir versichert, er würde sich ändern, aber das waren alles leere Versprechungen gewesen, und der Kreislauf hatte von vorne begonnen. Ich konnte es einfach nicht mehr ertragen. Irgendwas ist in mir zerrissen. Ich holte meine Pistole aus dem Schrank und ging runter in die Küche. Er schrie mich an, weil ich ihm keinen Kaffee gemacht hatte. Ich schoss ihm in die Brust. Er ist vor mir auf dem Küchenboden verblutet.«
Ich war mir nicht sicher, wo ich anfangen sollte, oder ob ich überhaupt etwas sagen sollte. Ich erinnerte mich an unsere erste Begegnung, als die beiden Schlägertypen sie belästigt hatten und der eine vor der Tür ihren Arm packte. Und mir fiel ein, wie sie reagiert hatte, als ich erwähnte, dass einer meiner Mandanten wegen Mordes an einer Frau angeklagt war.
»Wenn ich gleich den Krankenwagen gerufen hätte, hätten sie ihn vielleicht noch retten können. Aber ich tat es nicht. Ich wollte nicht, dass er lebte. Er sollte sterben.«
»Tori …«
»Als die Polizei eintraf, sahen sie mich dahocken, kläglich und klein, und diesen Schläger von einem Ehemann, und ich glaube, sie wollten mir helfen. Sie ließen einen weiblichen Detective mit mir reden. Sie fragte mich immer wieder, was vor dem Schuss geschehen war. Ich erzählte ihr die Wahrheit. Dass er mich wegen des Kaffees beschimpft hatte. Und sie sagte: ›Und dann hat er Sie geschlagen?‹ Und ich begann ihr zu erklären, nein, er hat mich am Abend zuvor geschlagen. Aber dann wurde mir klar, dass niemand das verstehen würde. Ich würde nur damit durchkommen, wenn sie dachten, er hätte mich in diesem Moment geschlagen. Also log ich. Ich hab behauptet, er hätte mich an diesem Morgen verprügelt und ich hätte Angst um mein Leben gehabt. Ich log, weil ich Angst hatte, sie würden mich sonst ins Gefängnis stecken.«
Langsam drehte sie den Kopf und sah mir in die Augen.
»Du wolltest mehr über mich wissen, Jason. Jetzt weißt du mehr. Schön, dich kennengelernt zu haben. Die meisten Männer mit ein bisschen Verstand würden sich jetzt umdrehen und die Flucht ergreifen.«
»Willst du das denn? Dass ich mich umdrehe und die Flucht ergreife?«
Sie starrte mich an, die Kiefer wütend zusammengebissen, aber in ihren Augen bildeten sich Tränen. Es war der erste Riss in ihrem Panzer. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Vielleicht.«
»Dann musst du mich schon wegstoßen«, sagte ich. »Von selbst renne ich nicht weg.«
Ich nahm ihre Hand und hielt sie lange Zeit in meiner. Ich näherte mich ihr nicht. Und sie bewegte sich nicht auf mich zu. Sie begann, sich mir zu öffnen, aber es würde nur in kleinen Schritten vorangehen. Das war in Ordnung. Ich konnte warten. In vielerlei Hinsicht war es eine furchtbar ungünstige Zeit für diese Offenbarung, wenn ich an die vor mir liegende Aufgabe und die Zeitnot dachte. Aber für sie war es eine Art Jahrestag, und es beschäftigte sie. Außerdem hatte sie mich wie einen kleinen Jungen jammern und klagen sehen, und das hatte sie wohl ermutigt.
Wir haben noch viel Zeit, dachte ich. Sobald dieser Prozess vorüber war, hatten Tori und ich jede Menge Zeit.
Und dann dachte ich bei mir, scheiß drauf, und sagte: »Ich komm mit dir nach oben«, und sie sagte: »Okay«.
49
Vermutlich hätte ich Toris Apartment hübsch gefunden, wenn ich mehr davon zu sehen bekommen hätte. Doch kaum waren wir durch die Tür, da begannen wir uns schon gegenseitig auszuziehen. Viele Stunden hatte ich davon geträumt, diesen langen weißen Mantel aufzuknöpfen und meine Hände darunter zu schieben. Viele Stunden hatte ich sie mir nackt vorgestellt, nackt bis auf diese schwarzen, kniehohen Stiefel, aber auch die streifte sie ab, während wir gemeinsam rückwärts stolperten.
Ich übernahm die Führung. Ich mag das Vorspiel. Es gefiel mir, ihr dabei zuzusehen, wie sich ihre Erregung langsam steigerte. Es gefiel mir, neben ihr auf dem Bett zu liegen, ohne dass sie mich berühren durfte, und sie mit meinen Händen zu streicheln. Es gefiel mir, die Innenseite ihrer Schenkel zu liebkosen, während sie erwartungsvoll stöhnte, sie fast zu kitzeln, bevor meine Finger in sie eindrangen. Es gefiel mir, wie sie sich befreite, wie tief in ihr etwas Wildes entfesselt wurde und ihre coole Fassade durchbrach. Es gefiel mir, wie sich ihre Wangen rot färbten, wie sie sich auf die Unterlippe biss und die Augen schloss. Mir gefiel ihr fest zupackender Griff in meinem Haar, als ich meine Finger herauszog und sie durch meine Zunge ersetzte.
Sie war so leicht. Sie hatte einen zierlichen, aber festen Körper. Ich hob sie hoch, setzte sie auf mich, unsere Blicke begegneten sich, und wir sahen uns für einen Augenblick in die weit geöffneten Augen, bevor sie die ihren wieder schloss. Sie ließ ihre Hände über meinen Rücken gleiten, während wir uns auf und nieder bewegten. Ihr Atem ging stoßweise, sie stieß kleine hohe Laute aus, die in gewisser Weise Schluchzern ähnelten. Normalerweise bin ich eher still, aber ich hörte mich selbst stöhnen, und ich wusste, es würde nicht allzu lange dauern.
Dauerte es auch nicht. Trotzdem war es wunderbar.
Sie stieg von mir herunter und fiel aufs Bett. Jetzt öffnete sie die Augen wieder und betrachtete mich mit einem fast klinischen Blick, als wollte sie herausfinden, was oder wer ich war. Vielleicht wunderte sie sich aber auch über sich selbst.
Und dann traten ihr plötzlich Tränen in die Augen. Sie kämpfte still dagegen an und unterbrach den Blickkontakt. Nach einem Moment fuhr sie sich mit dem Handrücken über die Augen.
»Es tut mir leid«, sagte sie.
»Das ist okay. Viele Frauen weinen, nachdem sie mit mir geschlafen haben.«
Sie erlaubte sich ein Lachen, dann entwischte ihr eine Träne und lief ihre Nase herab.
»Das hier muss nicht viel bedeuten«, versicherte ich ihr. »Ich werde dir keinen Heiratsantrag machen.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Offensichtlich wusste sie nicht, wie sie mit mir oder der ganzen Situation umgehen sollte.
»Okay«, sagte sie leise.