50
Am Freitagmorgen nach Thanksgiving dehnte Patrick Cahill seine Waden- und Oberschenkelmuskulatur, lockerte seine Fußgelenke und trabte auf der Stelle, um warm zu bleiben. Zu seiner Rechten leuchtete der Himmel über dem See in einem intensiven Pink, das die aufgehende Sonne ankündigte. Sein Atem hing vor ihm in der Luft. Die Temperatur lag nur knapp über dem Gefrierpunkt.
Er stand an einer Kreuzung, den Blick auf das sechste Haus in der Straße geheftet. Er wünschte, er hätte unauffälliger vorgehen können, aber er hatte keine Wahl. Seine Informationen waren zu dürftig gewesen.
Er joggt, hatte man ihm erklärt. Jason Kolarich rennt jeden Morgen am See entlang, bei gutem wie bei schlechtem Wetter.
Da er sich nicht sonderlich gut in der Stadt auskannte, hatte Cahill gestern die Karte studiert. Er hatte Kolarichs Adresse. Das war Punkt A. Aber das Seeufer – Punkt B – war eine andere Geschichte. Der See erstreckte sich entlang der gesamten Ostgrenze der City. Und es gab ein Dutzend unterschiedlicher Wege, auf denen Kolarich den See erreichen konnte. Von seinem Haus aus waren es etwa drei Blocks bis dorthin. So viel war klar. Allerdings konnte er dabei entweder in nördliche oder in südliche Richtung laufen und den Park oder eine der Hauptverkehrsadern nutzen. Hätte Cahill den Ort vorhersagen können, an dem Kolarich das Seeufer erreichte, hätte er ihm leicht dort auflauern können. Doch da dies unmöglich war, musste er ihm von seinem Haus aus folgen.
Jetzt. Kolarich verließ sein Stadthaus gegen Viertel nach sieben. Er trug ein Sweatshirt und Laufshorts. Er war groß, größer, als sein Foto verriet. Er sprang die fünf Stufen nach unten, öffnete die Pforte, wandte sich nach links in Richtung Osten und schoss los, wie aus einer Kanone abgefeuert.
Natürlich musste ihm Cahill einen gewissen Vorsprung lassen. Er zog sich in den Schatten des Hauses am Anfang der Straße zurück. Kolarich schenkte ihm keinerlei Beachtung, blickte nicht mal in seine Richtung. Er überquerte die Straße und rannte dann nach Norden.
Gut. Vermutlich hielt er auf die Ash zu. Das war die naheliegendste Route: eine große Ost-West-Verkehrsader, die direkt zum See führte.
Es war gut, dass er jetzt Kolarichs Weg kannte, denn er hatte ziemliche Probleme damit, ihm zu folgen. Dieser Kerl sprintete förmlich. Cahill war gut in Form und hätte es jederzeit Mann gegen Mann mit Kolarich aufgenommen – oder noch besser: zwei Männer gegen einen –, aber er konnte unmöglich so schnell rennen.
»Ich glaube, er läuft die Ash runter«, sagte er in das unter seinem Hemdkragen befestigte Mikro. »Verblichenes rotes Sweatshirt, schwarze Shorts. Kopfhörer im Ohr und iPod am Gürtel.«
Durch seinen Kopfhörer tönte es: » Du GLAUBST , er läuft die Ash runter?«
»Er ist scheißschnell. Ich komm nicht hinterher«, brachte Cahill zwischen keuchenden Atemstößen hervor, während er Kolarich hinterhetzte.
Der Weg führte zwei Blocks nach Norden, dann drei nach Osten. Cahill verlor Kolarich aus den Augen und verspürte einen Anflug von Panik, bis aus seinem Ohrhörer die erlösenden Worte drangen.
» Ich hab ihn. Er biegt gerade auf den Seepfad in südliche Richtung ein. Du hast recht, er ist scheißschnell.«
Cahill beruhigte sich ein wenig. Er näherte sich dem Seeufer auf der Ash, die in einem Tunnel unter dem parallel zum See verlaufenden Highway hindurchführte. Während er die Rampe hinunterrannte, kam er wieder zu Atem. Die Sonne ging jetzt über dem See auf und warf einen fluoreszierenden pink- und orangefarbenen Lichtschein auf die Skyline.
Dann tauchte er in das Dunkel des Tunnels ein. Dieser unterquerte den vierspurigen Highway in gesamter Breite und führte noch ein Stück weiter. Der Boden bestand aus nacktem Beton. Überall waren Pfützen und sogar ein bisschen Eis. Der Tunnel hatte die typische Röhrenform und war etwa drei bis vier Meter hoch. An der Decke waren Neonröhren angebracht, doch diese waren außer Funktion. Zwei Obdachlose schliefen auf einer Seite, vergraben unter Decken und dicken Schichten von Kleidern, den Einkaufswagen mit ihren Habseligkeiten neben sich. Die Kälte dämpfte den Geruch ein wenig, dennoch stank es scharf nach Urin.
Als Cahill das Ende des Tunnels erreichte, gabelte sich ein Schotterpfad links in nördliche Richtung und rechts nach Süden. Ging man weiter geradeaus, gelangte man nach zehn Schritten auf den Strand direkt am Seeufer.
Auf der rechten Seite führte eine steile Böschung hinauf zu den Begrenzungszäunen des Highways. Sie war mit dichten Büschen bestanden. Ein perfekter Ort für einen Hinterhalt. Wenn Kolarich aus diesem Tunnel kam und dem Schotterweg nach rechts folgte, würde er wohl kaum den Kopf nach rechts oben zur Böschung drehen.
Sein Partner Dwyer war offensichtlich bereits auf dieselbe Idee verfallen. Er stand auf halber Höhe der Böschung und sondierte die unterschiedlichen Blickwinkel zum Tunnelausgang. Er nickte Cahill zu.
Dwyer war ebenfalls Mitglied des Zirkels. Er war Ex-Soldat wie Cahill, wenn auch unehrenhaft entlassen, nachdem er fünf Jahre wegen sexueller Nötigung im Militärgefängnis gesessen hatte. Dwyer war kein angenehmer Zeitgenosse, bewies jedoch bei der Ausführung von Aufträgen eine eiserne Disziplin.
Cahill hatte für diesen Job einen Partner verlangt. Wenn man jemanden beim Rennen in einen Hinterhalt locken wollte, brauchte man dafür zwei Leute.
»Er ist nach Süden gelaufen«, sagte Dwyer, der jetzt langsam die Böschung herunterstapfte. »Hatte ein ziemliches Tempo drauf.«
Cahill musterte erneut die Anhöhe. »Ist wahrscheinlich nicht leicht, ihn von der Böschung aus zu treffen.«
»Ich kann ein menschliches Ziel aus fünf Metern Entfernung treffen, egal wie schnell es unterwegs ist«, sagte Dwyer. »Und du auch.«
»Aber es soll ja gerade nicht wie die Arbeit eines Scharfschützen aussehen«, sagte Cahill und blickte sich um. »Manning meinte, dass die misstrauisch werden, wenn es den Anwalt erwischt. Es muss wie ein Raubüberfall wirken. Überzeugend.«
»Wer überfällt schon einen Kerl beim Joggen?«
Cahill seufzte. Das war tatsächlich ein Problem. Natürlich waren Leute schon für weniger als einen iPod und ein paar teure Laufschuhe getötet worden. Allerdings normalerweise nicht mit einer Schusswaffe. Eher bei einer Schlägerei. Mit einem Messer vielleicht. Bei Bruce McCabe hatte Cahill eine Würgeschnur verwendet, doch das war eine andere Situation. Trotzdem, eine gute altmodische Strangulation oder ein Schlag auf den Kopf waren der beste Weg. Es sollte der Eindruck entstehen, als wäre ein Raubüberfall schiefgelaufen, ein Streit ausgebrochen, der in einem Kampf mit tödlichem Ausgang endete. Theoretisch war das klar. Aber dieser Kolarich? Er würde sich wohl nicht so einfach überwältigen lassen.
»Wir können ihn verschwinden lassen«, schlug Dwyer vor. »Ihn erschießen und dann fortschaffen. Du fährst mit dem Auto die Rampe hoch. Zwei Minuten, und die Sache ist erledigt. Und wir haben den dunklen Tunnel als Schutz.«
Nur würde das nicht im Entferntesten nach Raubüberfall aussehen. Außerdem brauchten sie dafür mindestens fünf Minuten totale Ungestörtheit – nicht zwei, wie Dwyer meinte –, und das auf öffentlichem Gelände.
Ein weiterer Jogger, ein älterer Mann, lief langsam an ihnen vorüber. Auch ein paar Radfahrer schossen vorbei. Die Sonne war aufgegangen, und die Männer blinzelten beim Sondieren der Umgebung dagegen an.
Das Seeufer war nicht übermäßig bevölkert, jetzt mitten im Winter, aber es war auch nicht gänzlich verlassen. Und wenn sie Kolarich aus dem Hinterhalt erledigen wollten, mussten sie dabei völlig unbeobachtet sein.
Nun, alle Optionen bargen ein Risiko. Einige würden mehr wie ein Raubüberfall wirken als andere. Aber letztendlich hatte Manning Cahill ihn mit der abschließenden Instruktion entlassen: Vermasseln Sie es nicht. Er muss unbedingt sterben.
»Wir sehen uns morgen früh, Kolarich«, sagte Cahill.
51
Peter Ramini stieg hinten in die Limousine, ohne Donnie anzublicken. Aber er konnte ihn riechen. Der ganze hintere Teil des Wagens stank nach frittiertem Essen. Eine McMuffin-Verpackung und jede Menge Krümel lagen auf dem Boden zu Donnies Füßen. Ein Becher Kaffee steckte in der Halterung neben Raminis Beinen. Er vermisste Kaffee schmerzlich.
»Ich brauch dir den Anlass für dieses Treffen ja wohl nicht zu erklären«, sagte Donnie.
Ramini warf einen Blick auf den Fahrer, Donnies Bruder Mooch, der Ramini im Rückspiegel beobachtete.
»Nein, nicht nötig.«
»Paulie lässt dich fragen: War irgendwas nicht klar an seiner Instruktion?«
»Darum geht es nicht, Don. Der Kerl arbeitet im Moment quasi rund um die Uhr. Er bereitet diesen Prozess vor. Und man kann ihn ja wohl schlecht in seiner Kanzlei erledigen.«
»Geht er nachts nicht nach Hause?«
»Doch, er geht nach Hause.« Raminis Ärger wuchs. Und seine Furcht ebenso. Wenn Instruktionen nicht befolgt wurden, hatte das Konsequenzen. Er wusste, dass Paulie Capparelli in dieser Sache mit seiner Geduld am Ende war.
»Hey, du weißt, wie’s läuft«, sagte Donnie in deutlich weniger freundschaftlichem Ton als sonst. Er überbrachte eine knallharte Botschaft, und sie beide wussten das. »Paulie hat klargestellt, dass jemand sterben muss. Entweder dieser Jason Kolarich oder Gin Rummy.« Donnie musterte Ramini.
Bei der Erwähnung des Spitznamens stellten sich Raminis Nackenhaare auf. »Die Sache wird unverzüglich erledigt«, sagte er. »Keine weiteren Verzögerungen mehr. Paulie hat mein Wort.«
Donnie legte eine fettige Hand auf Raminis Arm. Raminis Hände waren wie üblich in seinen Taschen vergraben. »Ich hab echte Sympathien für deine Familie, alter Mann, das weißt du. Ich hab zu Paulie gesagt: ›Gin Rummy wird sich um alles kümmern‹. Mach mich nicht zum Lügner, mein Freund.«
Ramini schlüpfte hinaus und sah dem davonfahrenden Wagen hinterher. Nächstes Mal würde Paulie Capparelli es nicht bei einer Warnung bewenden lassen.
Jason Kolarich musste sterben. Sofort.
52
Nach dem Joggen frühstückte ich ein paar Eier und traf um 8.30 Uhr in der Kanzlei ein. Alles in allem fühlte ich mich ziemlich gut nach der letzten Nacht mit Tori. Sie hatte danach etwas zerknirscht gewirkt, aber ich gewöhnte mich an das langsame schrittweise Vorgehen bei ihr; das war in Ordnung so. Nicht zuletzt weil der Mordprozess meine volle Aufmerksamkeit erforderte.
Es war der Tag nach Thanksgiving, trotzdem waren Bradley, Shauna und Marie gegen 9.30 Uhr da, und ich hatte schon mehrfach mit Joel Lightner in seinem Büro telefoniert. Um halb vier am Nachmittag stellte sich dann noch Dr. Sofian Baraniq ein, mein Sachverständiger für posttraumatische Belastungsstörungen.
Ursprünglich war Dr. Baraniq Dreh- und Angelpunkt meiner Verteidigungsstrategie gewesen. Beim Plädieren auf Schuldunfähigkeit hätte der Ausgang des Prozesses allein von Dr. Baraniqs Glaubwürdigkeit vor der Jury abgehangen. Da diese Argumentation inzwischen jedoch ausgeschlossen war, erschien manchen Beteiligten Dr. Baraniq nicht mehr wichtig für den Prozess. Doch das war er. Ich plante nach wie vor, ihn einzusetzen. Und obwohl meine Verteidigung nun nicht mehr allein auf seiner Aussage basierte, war er immer noch ein entscheidendes Element.
Er saß mit Shauna in einem Konferenzraum. Ich warf kurz einen Blick hinein, um Hallo zu sagen. Ich mochte den Mann. Er hatte ein jungenhaftes Gesicht, aber mit seiner Brille, seinem gestutzten Bart und seiner gewählten Ausdrucksweise zugleich auch etwas Gelehrtes. Er besaß Sinn für Humor und Selbstironie, was ihn vor der Jury glaubwürdig und unprätentiös erscheinen lassen würde. Und vor allem konnte er seine Expertenmeinung in eine Sprache fassen, die für die Laien aus der Jury nachvollziehbar war. Ein guter Experte war immer auch ein Lehrer, und Baraniq verbrachte die meiste Zeit mit dem Unterrichten von Studenten höherer Semester.
»Schön, Sie zu sehen, Doktor.«
Er telefonierte gerade mit seinem Handy, legte aber rasch auf. Er reichte mir die Hand. »Hallo, Mr. Kolarich.«
»Nennen Sie mich doch einfach Jason.«
»Ich habe gehört, das Gericht hat eine Entscheidung bezüglich meiner Aussage getroffen.«
»Richtig, die Schuldunfähigkeitsverteidigung wurde ausgeschlossen. Aber wir haben andere Pläne mit Ihnen. Shauna wird sie Ihnen erläutern.« Ich rieb mir die Hände und spürte den vertrauten Adrenalinschub, während ich die ersten Schritte unserer Verteidigung darlegte. »Sie werden unser erster Zeuge sein, Doktor. Zumindest gehe ich im Moment davon aus. Der Prozess beginnt nächsten Mittwoch, am ersten Dezember. Sie kommen gleich als Erster dran, sobald die Staatsanwaltschaft ihre Beweisführung abgeschlossen hat. Also brauchen wir Sie vermutlich Anfang der darauffolgenden Woche – am Dienstag oder Mittwoch.«
Dr. Baraniq hob den Zeigefinger. »Ich möchte Sie daran erinnern, dass ich am Dienstag nach Beginn des Prozesses eine terminliche Verpflichtung habe. Ich hatte das bereits erwähnt.«
Ich stutzte. Das hatte ich tatsächlich vergessen. »Irgendwas, das Sie nicht absagen können«, erinnerte ich mich.
»Eine religiöse Verpflichtung.«
Mist. Sofern wir bis dahin keine entscheidenden neuen Erkenntnisse gewannen, war Dr. Baraniq einer unserer beiden einzigen Zeugen, und er musste unbedingt als Erster aussagen. Diese Reihenfolge war bedeutsam. Wenn die Anklage die Beweisaufnahme am Dienstagabend oder sogar schon am Dienstagmittag abschloss, musste Dr. Baraniq bereitstehen.
»Es tut mir leid, aber ich hatte Sie mehrfach darauf hingewiesen«, wiederholte er.
Meine Enttäuschung war mir ganz offensichtlich anzusehen. Ich hob kurz die Arme und ließ sie wieder fallen. »Tja, wenn Sie Dienstag nicht können, dann können Sie eben Dienstag nicht.«
Mist – es ließ sich nicht anders sagen. Aber es brachte mich auf etwas. Ich entschuldigte mich und zog Shauna mit mir aus dem Raum. Im Flur steckten wir die Köpfe zusammen.
»Er hat uns bereits bei unserem ersten Treffen von seinen Verpflichtungen erzählt, Jason. Aber vielleicht haut es ja terminlich …«
»Ja, ja, schon gut«, sagte ich. »Hör zu. Finde einen Weg, seine Religion ins Spiel zu bringen.«
Sie wich zurück. »Er soll aussagen, dass er muslimischen Glaubens ist?«
»Ganz genau. Das trägt zu seiner Glaubwürdigkeit bei.«
Das schien ihr keineswegs einzuleuchten. »Zunächst einmal«, konterte sie, »hat das überhaupt nichts mit dem Fall zu tun. Und zweitens könnte jemand in der Jury sitzen, der keine Muslime mag. Wie du vielleicht selbst festgestellt hast, gibt es religiöse Fanatiker hier in der Stadt. Wir beide sind mit einigen davon aufgewachsen.«
Natürlich hatte sie recht. Doch sie hatte das Wesentliche nicht begriffen. Ich schüttelte den Kopf. »Alle, die eine Abneigung gegen Muslime haben, werden Tom umso mehr mögen, weil er als amerikanischer Soldat im Irak gekämpft hat. Sie werden ihm helfen wollen. Das bereitet mir also keine Sorgen. Was hingegen viel wichtiger ist: Es betont die starke fachliche Überzeugung von Dr. Baraniq. Denn warum sonst sollte ein gläubiger Muslim einem Soldaten einer Armee helfen wollen, die ein muslimisches Land besetzt hat?«
Shauna dachte darüber nach. »Dr. Baraniq muss demnach wirklich fest an das glauben, was er sagt. Willst du darauf hinaus?«
»Genau darauf will ich hinaus.«
»Und ich will darauf hinaus, dass die Jury sich von oben herab behandelt fühlen könnte. Dass sie es als Beleidigung auffassen könnte. Wenn wir diesen Aspekt zu stark herausstreichen …«
»Dann sorg dafür, dass das nicht passiert. Er ist dein Zeuge, Shauna. Fädle es clever ein. Verdammt, benutze diesen Dienstagstermin als Vorwand. Frag ihn, warum er am Dienstag nicht bei uns sein konnte, und dann kann er es dir erzählen. Oder finde einen anderen Weg, subtil die Sprache darauf zu bringen.«
Sie ließ es sich erneut durch den Kopf gehen und landete bei demselben Ergebnis. »Es gefällt mir nicht.«
»Uns bleibt keine andere Wahl.«
»Jason!« Marie stand vorne im Eingangsbereich.
»Ich bin dagegen«, sagte Shauna. »Ich möchte das nicht tun.«
Ich näherte mich ihr, sodass Marie mich nicht hören konnte. »Shauna, ich habe jetzt keine Zeit für eine Vorlesung über politische Korrektheit oder Vorurteile oder Weltverbesserung im Allgemeinen, okay? Es geht hier um das Leben meines Mandanten. Das ist ein verdammter Mordprozess. Also steh deinen Mann und pack es an. Wenn du es nicht schaffst, mach ich es selbst.«
» Meinen Mann stehen?«
Ich wollte keine Diskussionen. Ich hatte keine Zeit dafür. Aber entgegen dem, was ich als Letztes gesagt hatte, würde Shauna den Zeugen in jedem Fall übernehmen müssen. Und ich kannte sie gut genug, um voraussagen zu können, dass sie nur das tun würde, was sie wollte.
»Was gibt’s, Marie?«, fragte ich, während ich mich von Shauna entfernte.
»Du hast einen Anruf«, sagte sie. »Jemand namens Sasha.«
Der Name sagte mir nichts.
»Sie meinte, sie sei Lorenzo Fowlers Freundin«, führte Marie aus. »Und es ist dringend.«
53
Ich nahm den Anruf in meinem Büro entgegen. »Hier Jason Kolarich«, sagte ich.
»Mr. Kolarich.« Es war eine weibliche Stimme mit einem starken osteuropäischen Akzent. Russisch oder etwas Ähnliches. Miester Kohlariiech.
»Mein Name ist Sasha Maldonov. Wissen Sie, wer ich bin?«
Ich wusste nur, was Marie mir gesagt hatte. »Sie kannten Lorenzo Fowler.«
»Ja. Ich habe ihn geliebt. Als er … als er erschossen wurde, kam er aus meinem Apartment.«
Das hatte ich nicht gewusst. Die Polizei hatte mir nicht verraten wollen, weswegen sich Lorenzo am Abend seines Todes in West Arondale aufgehalten hatte.
»Fahren Sie fort«, sagte ich.
»Ich bin in Gefahr. Das weiß ich. Ich kann nicht zu Hause bleiben. Die glauben, dass Lorenzo mir was verraten hat. Dinge, die ich … die ich nicht wissen sollte.« Im Hintergrund waren Verkehrsgeräusche zu hören. Entweder telefonierte sie mit dem Handy oder von einer Telefonzelle aus, wenn es überhaupt noch Telefonzellen gab.
» Hat er Ihnen denn was verraten?«, fragte ich, und mein Puls beschleunigte sich.
Sie zögerte. »Können Sie … können Sie mich schützen?«
»Ich werde Sie beschützen«, versprach ich, was ein bisschen gewagt von mir war. »Sagen Sie mir, was Sie wissen.«
»Ich weiß viele Dinge. Lorenzo war klar, dass ich nichts verraten würde. Er hat mir vertraut. Aber jetzt …« Eine weitere lange Pause folgte. Autos hupten.
»Sie fürchten, man könnte Sie aus den gleichen Gründen ermorden wie Lorenzo«, folgerte ich. »Daher ist es das Beste für Sie, Sie sagen für mich aus. Sobald es öffentlich ausgesprochen ist, gibt es keinen Grund mehr, Sie zu töten.«
Offensichtlich war sie zu demselben Schluss gekommen. »Können wir uns treffen?«, fragte sie.
»Ja. Jederzeit«, sagte ich. »Sofort, wenn Sie wollen.«
Eine weitere Pause. Ich brauchte selbst eine kurze Bedenkzeit. Ich musste sicherstellen, dass ich der Frau trauen konnte. »Beweisen Sie mir, dass Sie wirklich die Person sind, die Sie zu sein behaupten«, sagte ich.
»Es Ihnen beweisen? Lorenzo hat Ihnen nichts von mir erzählt?«
»Nein.«
»Ah. Dann …«
»Warum rufen Sie mich an?«, fragte ich.
»Weil Lorenzo sich an Sie gewandt hat. Er wollte nicht mit seinen üblichen Anwälten sprechen. Er wollte jemanden, der keine Verbindungen hat zur … Familie.«
Das entsprach der Wahrheit. »Worüber haben wir gesprochen?«
»Er hat Ihnen erzählt, dass er die Identität von jemandem liefern kann. Er wollte Schutz.«
»Wessen Identität?«
Eine weitere Pause. »Nicht am Telefon«, sagte sie.
Aus ihrer Sicht war das verständlich. Und eigentlich wollte ich sie nicht zu sehr unter Druck setzen. Doch ich hatte keine Ahnung, wo sie sich aufhielt, und sie konnte jederzeit auflegen und auf Nimmerwiedersehen verschwinden. Es war ein Balanceakt. Sie brauchte mich, aber ich brauchte sie noch mehr.
»Gin Rummy«, sagte sie. »Und Lorenzo hat Ihnen erzählt, dass er Beweise hat.«
Ich schloss die Augen. Dieselben Worte hatte Lorenzo Fowler mir gegenüber verwendet – er hatte Beweise.
»Sind Sie jetzt zufrieden?«, fragte sie mich.
»Sagen Sie mir, wo Sie sind«, forderte ich sie auf. »Ich fahre gleich los.«
54
Wegen des Brückentags nach Thanksgiving herrschte auf meiner Seite des Geschäftsviertels nur wenig Verkehr, außerdem war es erst vier Uhr nachmittags. Die Sonne war kurz vorm Untergehen, aber zwischen den Hochhäusern der City war es praktisch schon dunkel. Ich umfuhr die North und die East Side, wo die Läden jetzt vermutlich von Weihnachtseinkäufern überquollen. Ich dachte nicht gerne an Weihnachten. Es erinnerte mich zu sehr an meine Frau und meine Tochter.
Ich vermied den Expressway an der Westgrenze des Geschäftsviertels und nahm Seitenstraßen in südlicher Richtung. Sasha Maldonov hatte mir nicht verraten, wo sie sich aufhielt, aber sie hatte mir einen Treffpunkt genannt. Sie wollte mich an einem öffentlichen Ort sehen, der dennoch nicht zu überlaufen war.
Die Straße war Teil eines Geschäftsviertels, doch die Läden hier würden keine frühe Weihnachtseinkäufer anlocken. Hier im Südwesten der Stadt existierten keine Filialen von Nordstrom, Neiman Marcus oder Macy’s. An dieser Straße lagen Gebrauchtwarenläden, Kreditinstitute und Billigdiscounter.
Ich fuhr meinen SUV auf den Parkplatz eines mit Brettern vernagelten Restaurants am südöstlichen Ende der Straße. Es gab keine Beleuchtung, und jetzt nach Sonnenuntergang war es ziemlich finster. Östlich des Lokals befand sich ein Laden, der mit Übergrößen und Second-Hand-Mode warb; südlich davon lag ein weiteres verlassenes Gebäude, offensichtlich ein ehemaliges Schuhgeschäft. Zwischen den beiden verwaisten Läden öffnete sich eine schmale Gasse in Ost-West-Richtung.
Neben der Einfahrt zur Gasse stand eine Frau in einem langen schwarzen Mantel mit einer Baseballkappe. Sasha Maldonov. Groß, attraktiv, langes schwarzes Haar, das unter der Kappe hervorquoll. Sie hatte erklärt, sie würde einen dunklen Mantel und eine rote Baseballkappe tragen. Die Farbe der Kappe konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen, aber es handelte sich ohne Zweifel um die richtige Person.
Ich nickte ihr zu. Sie nickte zurück, drehte sich um und verschwand in der Gasse.
Vorsichtig näherte ich mich der kleinen Straße und warf einen längeren prüfenden Blick hinein, bevor ich sie betrat. Es war eine Sackgasse, die nach etwa dreißig Metern endete. Auf der rechten Seite und an der rückwärtigen Mauer standen Mülltonnen. Von einer Straßenlaterne auf der gegenüberliegenden Straßenseite fiel spärliches Licht herein, das war alles. Sasha stand neben einer Tür, die zu dem verlassenen Restaurant gehörte. Mit einem kurzen Winken forderte sie mich auf, mich weiter hineinzuwagen.
Ich blieb wachsam. In meiner Tasche trug ich ein Aufzeichnungsgerät. Ich hatte keine Waffe bei mir. Das Tragen von Waffen war ich nicht gewohnt und besaß auch keine entsprechende Erlaubnis. Vermutlich hätte ich auf dem Weg hierher noch zu Hause vorbeifahren und meine Pistole holen sollen, doch jetzt war es zu spät.
Ich ging an den Mülltonnen vorbei und näherte mich ihr bis auf etwa fünfzehn Schritte. Sie wirkte ängstlich, und ich wollte nichts überstürzen.
»Miester Kohlariiech«, sagte sie mit ihrem starken Akzent, während ich herankam. »Sind Sie sicher, dass Ihnen niemand gefolgt ist?«
»Ich wurde nicht verfolgt«, sagte ich, obwohl ich mir da keineswegs sicher war. Beruhigend hob ich die Hände. »Sagen Sie mir, wie Sie vorgehen wollen.« Dann machte ich einen weiteren Schritt.
In diesem Moment flog neben ihr die Tür auf. Ein Mann in Lederjacke und Rollkragenpullover trat heraus, und Sasha – oder wie auch immer ihr Name war – schlüpfte hinein und verschwand. Auf einmal war ich mit diesem Typen allein in der Gasse.
Und die Beretta in seiner rechten Hand war direkt auf mich gerichtet.
Dann hörte ich hinter mir ein Geräusch. Ein weiterer Mann von ähnlicher Statur und ähnlichem Aussehen hatte sich hinter den Müllcontainern versteckt. Auch er trug eine Waffe. Er näherte sich meinem Rücken. Einer vor mir, einer hinter mir.
Ich blickte von einem zum anderen, und dann kapierte ich es: Das waren die beiden Kerle aus dem Vic’s, die Tori am Abend unserer ersten Begegnung belästigt hatten. Der Kerl vor mir war der, den ich draußen vor dem Lokal aufs Eis geschickt hatte.
»So sieht man sich wieder«, sagte er und schenkte mir ein breites Lächeln.
Das Ganze ergab keinen Sinn. Aber jetzt war nicht die Zeit für logische Erwägungen. Ich musste etwas unternehmen und zwar rasch. Der Kerl stand zu weit weg, als dass ich nach ihm treten oder mich auf ihn hätte stürzen können. Dennoch war das meine einzige Chance. Umdrehen und weglaufen ging nicht, denn der zweite Mann hatte mir den Fluchtweg abgeschnitten. Meine einzige Option bestand darin, mich auf den ersten Kerl zu werfen, in der Hoffnung, dass sein Partner schoss, mich verfehlte und stattdessen ihn traf. Allerdings war diese Wahrscheinlichkeit in etwa so hoch, als würde ein tödlicher Blitz gleichzeitig in beide einschlagen.
Diese Gedanken durchzuckten mein Gehirn innerhalb von Sekunden. Viel mehr Zeit würde mir auch nicht bleiben.
»Wie geht’s der Schulter«, fragte ich, um ihn zur Suche nach einer schlauen Antwort zu verführen und etwas Zeit für meinen Vorstoß zu gewinnen.
»Oh«, erwiderte er, »der geht’s schon viel … was zum Teufel …«
Ich stürzte auf ihn los, doch merkwürdigerweise hatte sich sein Blick auf etwas in meinem Rücken gerichtet, und schon im nächsten Moment riss eine Explosion seine rechte Schulter nach hinten, gefolgt von einem zweiten Schuss direkt in seine Brust, der mich mit seinem Blut bespritzte. Der Schultertreffer ließ die Waffe aus seiner Hand fallen. Und der Brusttreffer ließ seinen Körper kollabieren.
Instinktiv brach ich meinen Vorstoß ab und warf mich stattdessen nach links. Ich schlug hart auf dem Boden auf, ein stechender Schmerz durchzuckte mein Knie, und in meinem Kopf herrschte absolute Verwirrung. Das ergab doch keinen Sinn! Der zweite Schläger erschoss seinen Partner?
Ein weiterer Schuss ertönte, und dann hörte ich auch den Kerl hinter mir zusammenbrechen.
Ich wartete ein paar Sekunden, bevor ich den Kopf hob. Beide Männer lagen ausgestreckt am Boden. Keiner regte sich mehr. Ich rappelte mich auf, wobei mir klar wurde, dass ich mir bei meinem Hechtsprung das linke Knie übel lädiert hatte. Ich humpelte zu dem ersten Schläger. Er war ohne jeden Zweifel tot, trotzdem kickte ich seine Waffe weit weg. Dann schleppte ich mich hinüber zu dem Kerl, der in meinem Rücken gestanden hatte. Die Kugel war in seine linke Schläfe eingedrungen. Vermutlich hatte er den Kopf in Richtung Straße gewandt, und es hatte ihn erwischt, bevor er herumwirbeln und selbst feuern konnte. Seine Pistole war hinter ihn gefallen, und auch diese kickte ich beiseite.
Nun drängten sich mir mehr Fragen auf als je zuvor. Fest stand nur: Ich hatte unvorstellbares Glück gehabt, so merkwürdig die Umstände auch sein mochten. Und angesichts meines verletzten Knies beschloss ich, mein Glück nicht weiter zu strapazieren und schleunigst von hier zu verschwinden.
55
»Lightner«, keuchte ich in mein Handy, sobald ich im Wagen saß. »Fahr sofort rüber in die Kanzlei. Jemand hat gerade versucht, mich umzubringen. Shauna, Bradley und Marie sind dort leichte Beute.«
»Jesus, was ist passiert?«
»Ich kann jetzt nicht reden. Fahr einfach hin. Bis gleich.«
Ich beendete das Gespräch und rief Tori auf dem Handy an.
»Hallo?«
»Tori, hier ist Jason. Wo bist du?«
»In meiner Wohnung. Ich arbeite an der Internetrecherche …«
»Hör zu, hast du noch die Waffe, die du vor fünf Jahren benutzt hast?«
Sie schwieg einen Moment. »Was für eine Art Frage ist das de…«
»Möglicherweise schwebst du in Lebensgefahr«, sagte ich. »Sperr deine Eingangstür ab und lass niemanden rein. Die haben dich gestern mit mir bei Summerset Farms gesehen. Gerade hat jemand versucht, mich umzubringen, und du könntest die Nächste sein. In weniger als einer halben Stunde bin ich bei dir. Okay?«
»Okay, klar. Bist du in Ordnung?«
»Ja, bin ich«, sagte ich.
»Und was ist mit den anderen? Shauna und die Übrigen?«
»Ich hab gerade mit ihnen gesprochen. Sie sind noch in der Kanzlei. Joel ist unterwegs zu ihnen.«
»Vielleicht sollte ich auch dorthin.«
Das war gar keine dumme Idee. Am besten, wir blieben alle zusammen. »Kommst du gut zu deinem Wagen?«
»Klar. Mein Apartmenthaus ist sicher. Wir haben einen Türsteher und eine Tiefgarage. Zutritt hat man nur durch die Lobby.«
»Das klingt nicht gerade vertrauenerweckend, Tori.«
»Das ist schon okay«, versprach sie. »Ich gehe gleich los und fahre direkt zur Kanzlei.«
»Ich weiß nicht …«
»Ich glaube, du bist ein wenig paranoid«, sagte sie. »Warum sollte mich jemand umbringen wollen?«
56
Ich saß in einem Sessel im Konferenzraum und starrte an die Decke.
»Also, das ist einfach Irrsinn«, sagte Shauna. »Wir müssen mit dem Richter sprechen. Wir müssen ihm erklären, dass wir da ganz offensichtlich auf etwas gestoßen sind und deswegen in Lebensgefahr schweben. Der Prozess muss verschoben werden, und wir benötigen Polizeischutz.«
Bradley und Joel Lightner waren ebenfalls anwesend. Auch Tori war eingetroffen und hatte sich zu uns gesetzt. Alle standen unter großer Anspannung. Das war eine Wendung, mit der niemand gerechnet hatte.
»Du vergisst etwas«, sagte ich. »Nämlich, dass ich vom Tatort verschwunden bin. Dort liegen zwei Leichen, und ich bin nirgendwo in der Nähe. Verdammt, ich könnte ein Verdächtiger sein.«
Rückblickend war meine Flucht womöglich eine Dummheit. Doch es war eine reine Instinkthandlung gewesen. Jemand hatte mich zu töten versucht, und mich so schnell und so weit wie möglich von dort zu entfernen, war mir zu jenem Zeitpunkt ziemlich clever erschienen.
»Es ist nur eine Stunde her«, sagte Shauna. »Lass uns die Cops anrufen und aufs Revier gehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Die würden mich vermutlich für ein paar Tage festhalten. Die Zeit hab ich nicht. Mein Mandant ist darauf angewiesen, dass ich mich auf den Prozess konzentriere.«
»Aber denk doch mal nach, Jason. Wenn du dem Richter von dem Vorfall erzählst, muss er den Prozess verlegen. Selbst Wendy Kotowski wird dem möglicherweise zustimmen.«
Möglicherweise würde sie das sogar. Aber Richter Nash konnte ich nicht vertrauen. Er war unberechenbar, außerdem hatte er mich auf dem Kieker. Und meine Geschichte wirkte auf den ersten Blick nicht sonderlich glaubwürdig: Mafiakiller hatten einen Anschlag auf mich verübt, weil ich einem Komplott zwischen der Mafia und einem Unternehmer zur Beseitigung Kathy Rubinkowskis auf die Schliche gekommen war, doch war ich dem Hinterhalt durch eine wundersame Rettung entronnen. Ja, das klang echt überzeugend. Solange ich keine handfesten Beweise dafür hatte, würde ich mich wie ein paranoider Spinner anhören. Auf keinen Fall konnte ich mich auf die Hilfe unseres Richters verlassen.
Tori fragte: »Bist du sicher, dass es dieselben Typen waren, die mich an diesem Abend im Vic’s belästigt haben?«
Mein Abschied von Tori war ein wenig merkwürdig gewesen, nachdem wir Thanksgiving miteinander geschlafen hatten. Ich war mir nicht sicher gewesen, wie es mit uns beiden weitergehen würde. Aber durch die Ereignisse des heutigen Abends war jede Peinlichkeit ausgeräumt.
Ich nickte. »Ganz bestimmt. Der eine Kerl sagte: ›So sieht man sich wieder‹. Und als ich ihn nach seiner Schulter fragte, wollte er mir gerade antworten. Gleich darauf wurde er dann erschossen.«
Tori schüttelte den Kopf. Niemand hatte eine passende Erklärung parat.
»Sie müssen mich die ganze Zeit beschattet haben«, sagte ich. »Der Mob. Die Capparellis. Seit damals, als das alles anfing. Als Lorenzo Fowler zu mir kam. Sie müssen davon gewusst haben. Sie befürchteten, dass er mir was verraten würde. Also behielten sie mich im Auge.« Ich warf die Hände in die Luft. »Mehr kann ich mir nicht zusammenreimen.«
»Aber wenn die Capparellis dich töten wollten«, sagte Joel, »wer ist dann heute Abend zu deiner Rettung geeilt?«
Ich hatte keine Ahnung. »Jedenfalls war es ein verdammt guter Schütze«, sagte ich. »Ich weiß, Joel, ich weiß. Du glaubst, es war der berüchtigte Gin Rummy. Aber Gin Rummy arbeitet für die Capparellis. Wenn jemand mich tot sehen will, dann steht Gin Rummy an erster Stelle. Er würde mich wohl kaum zu retten versuchen.«
Niemand wusste etwas darauf zu sagen. Inzwischen war es ein Kinderspiel, eine Liste von Leuten zusammenzustellen, die mich tot sehen wollten. Weniger einfach dagegen war es, jemanden zu finden, der mich beschützen wollte.
»Okay, hört zu«, sagte ich, richtete mich auf und blickte in die Runde. »Von jetzt an hat jeder von euch die Erlaubnis, aus dem Fall auszusteigen.«
»Brauche ich da eigens deine Erlaubnis dazu?«, fragte Lightner.
Ich ignorierte ihn. »Fahrt in Urlaub oder irgendwas in der Art. Ich kenne unsere Zeugen, und ich kenne die Zeugen der Gegenseite. Ich komme gut allein zurecht. Ich möchte nicht für irgendjemandes Tod verantwortlich sein. Das ist kein Scherz, Leute. Das hier ist mein Problem, nicht eures.«
Stille machte sich breit. Vermutlich dachten sie darüber nach. Das sollten sie auch. Es war mir ernst. Sie hatten genug Vorarbeit für mich geleistet. Ich konnte allein vor Gericht ziehen. Ich wollte mir nicht den Kopf über die Gesundheit und die Sicherheit von zwei Anwälten, einem Privatermittler und Tori zerbrechen müssen.
»Ich bleibe hier«, sagte Shauna.
»Ich auch«, schloss Bradley sich an.
»Sechs Wochen Arbeit ohne Bezahlung, und jetzt hat es auch noch jemand auf mein Leben abgesehen! Du kannst auf mich zählen!« Lightners Versuch, das Ganze mit Humor zu überspielen.
Tori zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht, ob ich eine große Hilfe bin, aber ich möchte mit dabei sein.«
»Okay, also beweisen wir alle unseren Mumm«, sagte ich. »Am besten, wir bleiben ab jetzt in Gruppen zusammen.«
»Richtig«, sagte Lightner. »Auf die Art sparen sie Zeit, weil sie immer gleich mehrere auf einmal erwischen.«
Shauna sagte: »Geh zur Polizei damit, Jason. Wenn du die Mafia öffentlich eines Mordanschlags bezichtigst, wird ein zweiter Anschlag schwieriger für sie.«
Ich erwog es kurz. Doch diese Kerle schienen sich nicht besonders leicht einschüchtern zu lassen. Wenn sie wollten, konnten sie Leute beseitigen, ohne Spuren zu hinterlassen. Und wie gesagt, meine Geschichte klang ziemlich weit hergeholt.
Außerdem – so sehr ich einen Verhandlungsaufschub aus strategischen Gründen befürwortete, fragte ich mich inzwischen tatsächlich, ob wir mit einem Prozessbeginn in wenigen Tagen nicht besser dran waren.
»Keine Cops«, sagte ich. »Wir erledigen das auf eigene Faust. Und wir beginnen mit der Frage, wer zum Teufel mir heute Abend den Arsch gerettet hat.«
57
Patrick Cahill beobachtete am Samstagmorgen den majestätischen Sonnenaufgang über dem See, während seine Hand die Waffe umklammerte, mit der er Jason Kolarich ausschalten würde.
Er stand nahe der Böschung entlang des Highways, atmete gleichmäßig und wartete auf den Hinweis in seinem Ohrhörer. Immer wieder hatte er sich gedehnt und gestreckt. Nun war er in höchster Alarmbereitschaft, denn sobald der Hinweis erfolgte, dass Jason Kolarich die Rampe hinunter und durch den Tunnel lief, blieben ihm maximal dreißig bis vierzig Sekunden.
Sein Partner Dwyer fungierte als Wachposten. Er parkte auf der Ash einen halben Block von der Rampe entfernt. Dwyer würde Cahill informieren, sobald Kolarich auf dem Weg über die Rampe war.
Es würde im Tunnel selbst geschehen. Der Schutz der Dunkelheit und die völlige Anonymität machten ihn zum perfekten Ort. Cahill würde von der entgegengesetzten Richtung in den Tunnel joggen, er wollte vermeiden, dass Kolarich misstrauisch wurde, wenn er ihn einfach nur dort stehen sah. Ein weiterer Jogger, der ihm im Tunnel entgegenkam, würde ihm völlig normal erscheinen.
Cahill sprang auf der Stelle und riss die Knie hoch zur Brust, um seine Nerven zu beruhigen. Er blickte auf seine Uhr. Es war jetzt kurz nach sieben. Der Sonnenball tauchte aus dem See auf, badete ihn in warmem Licht, und der Himmel erstrahlte am Horizont in einem knalligen Orange, das nach oben hin in blassen Rosa- und Rottönen auslief.
Um 7.15 Uhr war die Sonne vollständig über dem Wasser aufgegangen. Gegen 7.30 Uhr erinnerte der Himmel an ein Regenbogen-Sorbet. Aber wo zum Teufel steckte Kolarich?
»Schläft er samstags aus?«, fragte Cahill ins Telefon.
» Vielleicht.«
Gegen acht Uhr ging der Sonnenaufgang Cahill gründlich am Arsch vorbei. Um 8.30 Uhr wusste er nicht mehr, was er tun sollte, denn das Seeufer begann sich mit Joggern, Bikern, Skatern und Walkern zu bevölkern. Merkten diese Leute etwa nicht, dass es hier draußen unter null Grad hatte?
»Scheiße, die Sache ist gelaufen.«
» Soll ich zu seinem Haus fahren?«
»Wozu soll das gut sein?«
» Okay. Also, was ist Plan B?«
»Es gibt keinen beschissenen Plan B. Man hat mir gesagt, man kann nach dem Kerl seine Uhr stellen, er läuft jeden Morgen bei Sonnenaufgang am See. Glaubst du, er hat eine andere Route gewählt?«
» Keine Ahnung. Vielleicht sollten wir doch noch etwas warten.«
Cahill blickte sich um. Abgesehen von den Joggern, Bikern, Skatern und Walkern war der Tunnel immer noch dunkel und hoffentlich auch leer, also nach wie vor ein möglicher Ort, um zuzuschlagen. Im Ernstfall würde er eben improvisieren müssen. Sobald ihn Dwyer über Kolarichs Ankunft informierte, würde er blitzschnell die Situation einschätzen und eine Entscheidung treffen.
Um neun sagte Dwyer in Cahills Ohrhörer: » Da kommt eine Politesse und verteilt Strafzettel. Ich muss den Platz wechseln. Hier darf man nur dreißig Minuten parken.«
»Na großartig.«
» Ich dreh eine Runde und komm zurück.«
Ja, dachte Cahill, und hoffen wir, dass Kolarich nicht genau in dem Moment die Ash runter und durch den Tunnel rast.
Um 9.30 rollte ein Streifenwagen gemächlich am Seeufer entlang und in etwa fünfzehn Metern Entfernung an Cahill vorbei. Cahill streckte und dehnte sich demonstrativ, um keine Aufmerksamkeit zu erregen.
»Genug«, sagte er. »Hol mich hier ab, Dwyer. Es ist Zeit, dass wir uns einen Plan B ausdenken.«
58
»Hi«, sagte Tori, als sie das Telefon abnahm. Vermutlich hatte sie auf ihrem Display meine Nummer erkannt.
»Ich wollte nur mal kontrollieren, ob du noch am Leben bist«, sagte ich. »Bist du noch am Leben?«
»Bin ich. Und du?«
»Ich glaub schon.«
»Wie geht’s deinem Knie?«
»Dem ging’s schon mal besser.« Ich hatte mein linkes Bein auf einen Bürostuhl gelegt. Die gerade Haltung verhinderte, dass es steif wurde. Heute Morgen beim Aufstehen hatte ich es nicht belasten können. Einbeinig musste ich zur Dusche hüpfen. Keine Ahnung, wie ich es mir verletzt hatte – ich war zu sehr mit vorbeifliegenden Kugeln und Deckungssuche beschäftigt gewesen –, aber hoffentlich war es nur eine Prellung und kein Sehnenriss oder Ähnliches.
Ich hasste Unbeweglichkeit. Als Erstsemester an der State hatte ich mir mal einen Oberschenkelmuskel gezerrt, konnte ein paar Tage kaum laufen und wurde fast verrückt deswegen. Heute hatte ich zum ersten Mal seit Wochen meinen morgendlichen Lauf versäumt, aber was noch schlimmer war, ich konnte nicht einmal auf und ab marschieren, was mir sonst enorm beim Denken half.
Tori sagte: »Und du bist sicher, dass die beiden Kerle gestern Abend dieselben waren, die mir Drinks spendiert und mich im Vics angegrabscht haben?«
»Ich bin mir absolut sicher, Tori.«
»Das ist so verrückt.«
»Nicht wirklich. Genau das verrät mir, dass die Capparellis mich beobachten lassen. Ich habe meinen Terminkalender überprüft. Zu dieser netten Begegnung im Vic’s kam es, kurz nachdem Lorenzo Fowler wegen eines Treffens angerufen hatte. Es war zwar noch vor diesem Treffen, aber bereits nachdem er einen Termin mit meiner Sekretärin vereinbart hatte. Also wussten seine Leute, dass er Kontakt mit mir aufnehmen wollte, und beschatteten mich. Demnach folgten sie mir bereits die ganze Zeit.«
»Das klingt einleuchtend«, sagte sie.
Das tat es, trotzdem war irgendwas daran nicht ganz stimmig. Ich wusste nur noch nicht, was.
»Sei vorsichtig«, sagte ich. »Wir sind alle hier in der Kanzlei, wenn du zu uns stoßen willst.«
Ich legte auf und wandte meine Aufmerksamkeit wieder den vorgerichtlichen Anträgen der Staatsanwaltschaft zu. So sehr ich diesen Papierkrieg hasste und das lebendige Geben und Nehmen bei Zeugenaussagen vorzog, so konnten diese Anträge doch eine vernichtende Wirkung auf den Prozess haben. Man bereitete sich Monate oder gar Jahre auf einen Prozess vor, und in den allerletzten Tagen davor versuchte die Gegenseite, das eigene Hauptbeweismittel oder Hauptargument abzuschießen; in solchen Fällen hielt man einfach den Atem an und betete für einen günstigen Ausgang. Denn ein ungünstiges Ergebnis konnte die eigene Verteidigungsstrategie am Vorabend der Verhandlung komplett zunichtemachen.
Wendy Kotowski hatte eine Bombe platzen lassen, als sie den Richter ersuchte, Tom Stollers heroischen militärischen Hintergrund von der Beweisaufnahme auszuschließen – und damit auch die Aussage seines Freundes Sergeant Bobby Hilton. Da eine auf PTBS basierende Verteidigung jetzt nicht mehr möglich war, so argumentierte sie, hätte Toms militärische Vorgeschichte keine Relevanz mehr für den Mord an Kathy Rubinkowski.
Sie hatte recht. Aber die Sympathien der Jury für einen Kriegshelden zu wecken, der bei seiner Heimkehr alles verloren hatte, war einer der letzten Pfeile in meinem Köcher gewesen. Also mussten wir alles daransetzen und den Richter davon überzeugen, diese Aussage trotzdem zuzulassen; doch Bradley Johns erster Entwurf der am Montag fälligen Antragserwiderung war in meinen Augen nicht befriedigend.
Sofern Richter Nash ein normales menschliches Wesen war, sollte er eigentlich das Gefühl haben, mir etwas schuldig zu sein. Zumindest gingen die meisten Richter so vor – wenn sie dem Antrag einer Partei entsprachen, versuchten sie, das Gleichgewicht wieder herzustellen, indem sie bei anderer Gelegenheit einen für die Gegenpartei vorteilhaften Beschluss fällten. Schließlich wollten sie den Prozess in dem Gefühl beenden, beide Seiten in gleichem Maße über den Tisch gezogen zu haben.
Alles in allem hatte Wendy nicht weniger als sechzehn vorgerichtliche Anträge eingereicht. Das war eine Routinetaktik, um in den letzten Tagen vor dem Prozess die andere Seite mit Papierkram und juristischen Recherchen auf Trab zu halten. Eine Taktik, die ich nicht sonderlich schätzte. Vielmehr lehnte ich sie entschieden ab. Das kontradiktorische System der Strafjustiz sollte nicht auf ein fintenreiches Kräftemessen hinauslaufen, sondern einer ernsthaften Suche nach der Wahrheit dienen.
Weswegen ich von unserer Seite aus nur fünfzehn Anträge stellte.
Wie auch immer, es würde ein langes Wochenende werden.
Auf meinem Schreibtisch klingelte der Anschluss, dessen Nummer fast niemand kannte.
»Ja, hallo?«
»Ja, hallo«, gab Joel Lightner zurück. Er war wieder in seinem Büro, wo er versuchte, etwas über Randall Manning und Konsorten auszugraben. Ein weiterer Ermittler half ihm dabei. Joel hatte mich gewarnt, dass er frühestens Montag, wenn alle von ihrem verlängerten Wochenende zurückkehrten, neue Informationen für mich hätte, daher hatte ich keine allzu großen Erwartungen.
»Gehst du nicht mehr an dein Handy?«, beschwerte er sich.
»Oh, tut mir leid.« Ich saß an meinem Schreibtisch, hatte aber offenbar das Summen überhört.
»Ich hab was rausgefunden.«
»Über diese eine Sache?«
»Nein, über die andere Sache.«
Seit irgendjemand mich gestern Abend auszuknipsen versucht hatte, war ich ziemlich paranoid geworden und ging einfach vom Schlimmsten aus – unter anderem, dass meine Telefone abgehört wurden. Daher der Code.
»Die neue Sache?«, sagte ich.
»Richtig«, sagte er.
Die neue Sache. Mein Herz machte einen Sprung.
»Wollen wir uns zum Mittagessen treffen?«, fragte ich.
»Genau daran hatte ich gedacht.«
59
Patrick Cahill und sein Partner Dwyer hatten die letzte Stunde im Wesentlichen damit verbracht, Jason Kolarichs Stadthaus zu umrunden. Der Anwalt lebte in der Nähe des Sees in einer relativ ruhigen Wohngegend, und bei Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt war ohnehin nicht viel los auf den Gehwegen, sodass es zu auffällig gewesen wäre, einfach nur dazustehen und das Haus zu beobachten.
Eine bessere Idee hatte es nicht gegeben. Kolarich war heute Morgen nicht gerannt, und Cahill hatte keine Ahnung, warum. Vielleicht war es eine einmalige Ausnahme, und er nahm schon morgen seine Routine wieder auf. Vielleicht konnte Cahill den einen Tag abwarten.
Trotzdem brauchte er einen Plan B. Und er hatte keinen in petto. Schließlich hatte er sich nicht wochenlang auf diese Aktion vorbereiten können. Alles war so verdammt schnell gegangen: Dieser Typ hatte rumgeschnüffelt, er musste beseitigt werden; sie wussten von seinen Läufen am See – also, Patrick, mach den Kerl unschädlich. Okay, gut, dann musste Patrick jetzt eben improvisieren.
Er kannte die Adresse von Kolarichs Büro, aber das befand sich in einem Hochhaus in der Innenstadt, und jemanden in so einem Gebäude zu erledigen, war sicher nicht die einfachste oder sauberste Art. Da gab es Kameras, verschlossene Türen, Wachleute und eine Menge Menschen auf engstem Raum. So etwas würde viel Planung und Vorbereitung erfordern, und für beides hatte Cahill keine Zeit.
Aber irgendwann am Abend würde Kolarich nach Hause kommen müssen. Jetzt war es erst Mittag, also waren es bis dahin vermutlich noch etliche Stunden, besonders bei einem mitten in seinen Prozessvorbereitungen steckenden Anwalt. Möglicherweise schaffte er es sogar erst gegen zwei Uhr morgens nach Hause. Doch kommen würde er in jedem Fall. Und sie mussten darauf vorbereitet sein.
»Die Garage«, sagte Cahill. Neben dem Ziegelhaus mit den weißen Stuckverzierungen stand eine ebenso verzierte Ziegelgarage. Es war eine Einzelgarage, aber vermutlich hatte man im Inneren etwas Bewegungsspielraum.
»Zwei Möglichkeiten«, sagte er. »Entweder wir brechen in die Garage ein und warten dort auf ihn. Allerdings hab ich keine Ahnung, wie wir da reinkommen. Es gibt kein Fenster. Und das Tor funktioniert automatisch, also lässt es sich nicht von Hand heben. Daher ist es vermutlich besser, wir warten draußen auf ihn. Er fährt die Einfahrt hoch, öffnet die Garagentür, und während er reinrollt, schlüpfen wir unter dem sich schließenden Garagentor durch.«
»Und erledigen ihn in der geschlossenen Garage. Das ist gut«, stimmte Dwyer zu. »Wo warten wir?«
Die Antwort lag auf der Hand. Cahill deutete auf einen schmalen Fußpfad zwischen Kolarichs Stadthaus und dem Nachbarhaus im Osten. Der Weg gehörte zum Nachbargrundstück, verlief entlang der beiden Stadthäuser und endete an der Pforte zum hinteren Garten des Nachbarn. Gott, diese Stadtleute hatten echt winzige Grundstücke. Cahill hätte sich auf diesen Weg stellen, die Arme ausbreiten und beide Häuser gleichzeitig berühren können.
»Dort können wir uns verstecken«, sagte er. »Wir suchen uns eine Stelle, von der aus wir die Garageneinfahrt im Auge haben, aber er uns nicht sehen kann. Wobei er wohl kaum nach uns Ausschau halten wird.«
»Richtig.«
»Dann schleichen wir uns nach vorn, und sobald er den Wagen in die Garage fährt, schlüpfen wir mit rein. Er drückt, ohne nachzudenken, auf die Fernbedienung, das Tor schließt sich, und wir schlagen zu.«
»Aber das Ganze soll trotzdem noch wie ein Raubüberfall wirken?«
»Vergiss es.« Cahill schüttelte den Kopf. »Mr. Manning hat gesagt, Hauptsache, der Kerl ist tot. Wir ärgern uns schon lange genug mit diesem Blödmann rum. Eigentlich sollten wir zu Hause trainieren, stattdessen verschwenden wir hier einen ganzen Tag auf diesen Anwalt. Ich werde mehr Löcher in diesen Kerl stanzen als in ein Sieb.«
»Gut. Klingt gut.«
Cahill blickte auf seine Uhr. »Hat keinen Sinn, noch länger hier rumzusitzen und sich den Arsch abzufrieren. Er kommt sicher nicht so bald nach Hause.«
Cahill und Dwyer liefen den Block hinunter zu ihrem blauen Ford Explorer. Sie stiegen ein und fuhren los. Cahill brauchte dringend was zu essen und ein paar Stunden Schlaf; außerdem wollte er sich für die aller Voraussicht nach lange Nacht mit warmer Unterwäsche, einer Extraschicht Kleider und einer Thermoskanne Kaffee ausstatten. Es fühlte sich gut an, so wie früher, als er noch beim Militär gewesen war.
Und es würde sich sogar noch besser anfühlen, wenn er Mr. Manning melden konnte, dass das Problem gelöst war.
60
»Okay«, sagte Bradley John, der unsere letzten Antragserwiderungen durchging. »Ich verstehe jetzt, was bei meinen ersten Entwürfen gefehlt hat.«
»Strukturell hast du gut gearbeitet«, sagte ich. »Wirklich. Du hast die Präzedenzfälle zitiert, du hast juristisch stichhaltig argumentiert. Aber es hatte kein Herz.«
»Herz?«
»Das ist ein Mordprozess, Bradley. Jemand ist getötet worden, und das Leben von jemand anderem steht auf dem Spiel bei diesem Prozess. Die Einsätze sind hoch. Es geht um starke Gefühle. Richter sind dagegen nicht immun. Klar, einige dieser Anträge sind reine Routinesache. Aber der mit der militärischen Vorgeschichte, der ist absolut entscheidend für uns, richtig? Also muss der Richter bereits in unserer Erwiderung etwas über Toms militärischen Hintergrund zu lesen kriegen. Es darf ihm nicht leichtfallen, die entsprechende Aussage auszuschließen. Da setzen wir mit dem psychologischen Aspekt an. Nicht zu massiv, sonst wirkt es aufdringlich, aber genug, um seine Sympathien zu gewinnen – hoffentlich.«
»Okay.«
Es war eine wichtige Lektion, die viele Anwälte ignorierten und viele junge Juristen nicht zu schätzen wussten. Richter sind Menschen. Natürlich ist das Gesetz – die Statuten, die ganzen Präzendenzfälle – von großer Bedeutung, aber wenn die Fakten zu deinen Gunsten sprechen, dann wird auch ihr Gehirn in diese Richtung arbeiten. Sie wollen überzeugt davon sein, dass du im Recht bist. Dann werden sie auch einen Weg finden, zu deinen Gunsten zu entscheiden, selbst wenn es ihnen nicht bewusst ist. Nicht dass man deshalb mit jedem Argument durchkommt. Wenn man grob danebenliegt, wird man trotzdem verlieren. Aber in einem Kopf-an-Kopf-Rennen, wenn der Ausgang in beide Richtungen offen ist, wollen sich die Richter mit ihrer Entscheidung gut fühlen können. Sie wollen das Gefühl haben, das Richtige zu tun. Sogar ein Richter Nash – so hoffte ich jedenfalls.
Und sobald sie auf deiner Seite sind, gibst du ihnen den Präzedenzfall an die Hand, um deine Position zu untermauern und ihnen den Eindruck zu vermitteln, dass sie das Richtige tun. Du sagst ihnen: Hier ist die äußere Absicherung für deine innere Stimme. Hier ist die juristische Bestätigung für die Richtung, in die dein Herz dich drängt.
Nachdem ich ihm all das erklärt hatte, schaute Bradley zu mir auf. »Ich verstehe das jetzt besser. Danke, Jason. Das ist wirklich hilfreich.«
Ich hob den Zeigefinger. »Vergiss nie die menschliche Seite des Ganzen, junger Mann.« Ich blickte auf die Uhr. »Es ist fast Mitternacht. Vermutlich machen wir jetzt besser Schluss. Den Rest können wir morgen erledigen. Lass mich nur noch schnell ein paar Dinge überprüfen.«
Ich warf einen raschen Blick auf den Zeitungsartikel über die beiden Männer, die tot in einer Gasse auf der Southwest Side gefunden worden waren, und bei denen es sich um einschlägig bekannte Soldaten des Capparelli-Clans handelte. Das machte bereits drei tote Capparellis, wenn man Lorenzo Fowler mit hinzurechnete, und der Artikel spekulierte über einen drohenden Krieg zwischen den Capparellis und den Morettis.
Ich rief Lightner auf dem Handy an. »Wie steht’s?«, fragte ich.
»Gut«, sagte er. »Keine Veränderung.«
»In Ordnung. Ich fahr jetzt los.«
Ich legte auf und rief meinen Freund Ross Vander Way an.
»Hey, Ross, hier ist Jason.«
»Hallo, Mann.«
»Immer noch alles okay?«
»Klar doch.«
»Schön. Ich mach mich jetzt auf den Weg.«
Ich ging den Flur hinunter zu Shaunas Büro. Sie tippte die Vorlage für ein Kreuzverhör in ihren Computer. Sie trug ihre Lesebrille, was ich ziemlich scharf fand. Was ich allerdings wiederum ziemlich merkwürdig fand, weil sie für mich so etwas wie eine Schwester war. Was andererseits bizarr war, weil ich früher mal mit ihr geschlafen hatte. Na ja, wie auch immer.
»Bereit zu gehen, Süße?«
Sie streckte die Arme. »Klar, vermutlich eine gute Idee. Schließlich ist das Ganze ja ein Marathon und kein Sprint.«
»Richtig, außerdem, du weißt schon … wir sollten zusammenbleiben.«
Sie nickte grimmig. Der einfache Gang von der Kanzlei zu unseren Autos war zu einer lebensbedrohlichen Angelegenheit geworden. Ich trug meine Pistole bei mir, für den Fall der Fälle, war allerdings kein sonderlich guter Schütze.
Egal, im Moment waren wir für mein Gefühl noch relativ sicher.
Bradley, Shauna und ich – die Anwälte der Kanzlei Tasker & Kolarich – fuhren mit dem Aufzug hinunter zu meinem Wagen.
61
Patrick Cahill und sein Partner Dwyer hielten sich auf dem schmalen Gehweg zwischen Jason Kolarichs Stadthaus und dem Nachbaranwesen verborgen. Es war jetzt kurz nach ein Uhr nachts, und sie waren müde und froren, nachdem sie fast sieben volle Stunden hier ausgeharrt hatten. Aber je später es wurde, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass Kolarich jeden Moment auftauchen würde.
Sie hatten Glück gehabt. Der Weg war ein geradezu perfektes Versteck. Er lag direkt neben der Garage, war nur schwach beleuchtet und so schmal – kaum eineinhalb Meter breit –, dass Kolarich dort wohl kaum nach ihnen Ausschau halten würde.
Und der Nachbar hatte kein Fenster im Erdgeschoss oder im ersten Stock, von dem aus er den Weg hätte überblicken können. Zwar gab es ein Fenster im zweiten Stock, aber der Nachbar hätte sich weit hinausbeugen müssen, um auf den Weg hinabzuspähen, und selbst dann hätte er bei der herrschenden Dunkelheit wohl kaum etwas erkannt.
Sie hatten sich extra Thermounterwäsche, schwarze Kapuzenshirts und dicke Socken besorgt, die sie nun trugen. Trotzdem war es kalt. Die Temperatur lag jetzt bei minus zehn Grad. Aber damit kamen sie einigermaßen zurecht. Das größte Problem waren ihre Beine, die sich verkrampften. Alle halbe Stunde ging einer von ihnen den Weg zwischen den Häusern auf und ab, um sie zu lockern.
Über sich konnten sie jetzt zum ersten Mal die Nachbarn hören. Gedämpfte Stimmen, die vermutlich im zweiten Stock aus dem Fenster drangen. Dwyer stieß Cahill an, und sie lauschten.
»Ekelhaft. Das ist einfach ekelhaft!«
Es war eine Frau, die schrie.
»Du übertreibst!«, rief eine Männerstimme.
Sie hörten das Knirschen von Holz, das unverkennbare Geräusch eines sich öffnenden Fensters direkt über ihnen. Cahill und Dwyer duckten sich, zogen das Kinn an die Brust, erstarrten in ihrer hockenden Haltung, taten ihr Bestes, um unentdeckt zu bleiben. Aber vermutlich bestand keine allzu große Gefahr, dachte Cahill. Diese Leute stritten sich einfach nur. Sie mussten schon aus dem Fenster gelehnt direkt nach unten ins Dunkel spähen, um dort die gebückten Gestalten zu entdecken.
»Ist doch nicht so schlimm«, rief der Mann. »Beruhig dich wieder.«
»Ich soll mich beruhigen? Ich beruhig mich erst wieder, wenn das Zeug aus dem Haus ist.«
»Schatz, hör zu!«
»Nein!«
Dann ein weiteres Geräusch in der Nähe des Fensters. Cahill blickte gerade rechtzeitig nach oben, um außerhalb des Fensters einen dunklen Schemen zu erspähen, vielleicht ein – einen Eimer?
Es traf sie mit einem plötzlichen, schweren Klatschen, so heftig, dass sie erst gegeneinander und dann auf den Boden stürzten.
»Scheiße, was …«, entfuhr es Dwyer, aber Cahill drückte seinen Arm.
» Schnauze!«, fauchte er Dwyer an. »Wenn du sie hören kannst, können sie dich auch hören.«
»Meinst du, das war Absicht?«, flüsterte der andere zurück.
Cahill hatte keine Ahnung. Geklungen hatte es wie ein häuslicher Streit.
»So!«, ertönte die Stimme der Frau im Fenster. »Jetzt ist es weg!«
»Du hast es rausgeschüttet?«
»Ganz richtig. Und ich will dieses Zeug nie wieder in meinem Haus sehen!«
Was war das – etwa Öl? Er konnte kaum die Hand vor Augen sehen, und er wagte nicht, das Zeug zu probieren – aber dieser Geruch …
» Es ist beschissenes Motoröl«, zischte Dwyer.
»Sprich leise, gottverdammt.«
Es war tatsächlich Öl. Die Frau hatte gerade einen Eimer Motoröl über ihnen ausgekippt.
»Was zur Hölle geht hier vor?«, flüsterte Dwyer. »Warum hat sie das verfluchte Motoröl …«
»Pst. Ich hab keine Ahnung. Und halt jetzt endlich die Klappe.«
Über ihnen setzten der Mann und die Frau ihren Streit fort.
»Warum mischst du dich immer in meine Angelegenheiten ein?«
»Und warum machst du im Haus immer so einen Saustall?«
In das Geschrei über ihnen mischte sich plötzlich das Jaulen eines Elektromotors und das Knirschen von Metallgestänge, als sich Kolarichs Garagentor zu öffnen begann. Cahill packte Dwyer und machte ihm ein Zeichen. Jetzt hörten sie es beide. Sie pressten sich an die Ziegelmauer von Kolarichs Garage und starrten in die hüpfenden Lichter eines Geländewagens, der von der Straße auf Kolarichs Einfahrt bog.
Cahill war immer noch perplex, und nun geschah alles auf einmal. Ihm blieb keine Zeit mehr, über das Öl auf Kopf und Schultern nachzudenken. Jason Kolarich war zu Hause eingetroffen.
»Es geht los.«
Aber der SUV fuhr die Auffahrt nicht weiter hoch. Er blieb in der Nähe der Straße stehen, die Scheinwerfer auf die Garage gerichtet.
Warum?
Cahill und Dwyer bewegten sich nicht und wagten kaum zu atmen.
»Glaubst du, er hat uns entdeckt?«, flüsterte Dwyer schließlich.
»Weiß nicht.« Cahill war immer noch verwirrt wegen des verdammten Öls. Er war sich nicht sicher, was zur Hölle hier eigentlich ablief. Hatte die Frau das Zeug doch absichtlich über sie geschüttet?
Der SUV verharrte weiter mit laufendem Motor in Kolarichs Einfahrt, aber jetzt öffnete sich die Fahrertür, der Fahrer sprang heraus und raste auf dem Gehweg in westliche Richtung davon, sodass sie ihn rasch aus den Augen verloren.
»Was zum …«
Und dann hörte Cahill ein weiteres Geräusch von oben. Er blickte auf, und in dem Moment traf ihn ein schweres, körniges Pulver mitten ins Gesicht, drang ihm in Mund und Nase und ließ ihn sofort würgen.
Er stürzte zurück gegen die Wand, und Dwyer fiel über ihn.
Sand, dachte er hustend.
Die Frau hatte gerade einen Eimer Sand auf sie geschüttet.
»Scheiße!«, rief Dwyer. »Was zum Henker!« Er sprang auf. »Schnappen wir uns dieses Arschloch!«, rief er. Er richtete die Pistole auf das Fenster, zögerte aber, unsicher, gegen wen er seine Wut richten sollte. Dann drehte er sich um und stürmte auf Kolarichs Einfahrt zu.
Cahill hatte keinen Schimmer, was zum Teufel hier vor sich ging. Er war zur Hälfte mit Motoröl bedeckt, und daran klebten nun auch noch Sandkörner.
Dwyer war schon bei der Einfahrt und Kolarich auf den Fersen. Eigentlich hätte er es besser wissen sollen. Schließlich hatten sie beide Kolarich joggen sehen. Sie hatten nicht die geringste Chance, ihn einzuholen, wo auch immer er hinrannte. Cahill hustete erneut, spuckte aus und rappelte sich auf.
Was zum Teufel war gerade passiert? Steckten diese Nachbarn mit Kolarich unter einer Decke?
Der Wagen, dachte er. Sie konnten Kolarichs Wagen nehmen, der mit laufendem Motor in der Einfahrt stand, und ihn damit verfolgen.
Als Cahill hinaus auf die Einfahrt stolperte, entdeckte er Dwyer, der mit gezückter Pistole auf den Wagen starrte.
Dwyer sah absolut lächerlich aus, über und über mit klebrigem, schwarzem Öl übergossen und mit einer ordentlichen Schicht Sand bestreut. Vermutlich sah er selbst kaum weniger bescheuert aus. Aber wo steckte Kolarich?
Wortlos deutete Dwyer auf den Wagen. Und erst da bemerkte Cahill, dass dies gar nicht Jason Kolarichs SUV war.
Es war ihr eigener Ford Explorer.
»Ach du Scheiße«, murmelte er, während er sich dem Wagen näherte.
Sämtliche Fenster waren komplett zertrümmert worden. Den Lack hatte man übel zerkratzt. Es schien fast, als hätte jemand Worte hineingeritzt, die jedoch wegen der Dunkelheit nicht zu entziffern waren.
»Was zur verfickten Hölle geht hier ab?«, fluchte Dwyer.
Keiner von beiden konnte sich auch nur halbwegs einen Reim darauf machen. Cahill blickte zurück zu dem benachbarten Stadthaus. Kaum vorstellbar, dass die Sache mit dem Öl und dem Sand nur ein Zufall war, was wohl bedeutete, dass man sie entdeckt hatte, was wiederum bedeutete …
Dwyer begann auf das Nachbarhaus zuzumarschieren. Cahill packte ihn am Arm. »Wir müssen sofort von hier verschwinden, Dwyer.«
»Die sind da drin. Ich weiß es, verdammt, und ich werd sie mir jetzt schnappen …«
»Die haben längst die Cops verständigt, du Schwachkopf. Wir müssen hier weg.«
Dagegen konnte Dwyer nicht viel einwenden. Die Aktion war bisher nicht sonderlich gut verlaufen, und ob sich ihr Glück durch längeres Verweilen an Ort und Stelle wenden würde, war zweifelhaft.
Cahill kletterte hinters Steuer und Dwyer auf den Beifahrersitz. Wobei Dwyer schmerzhaft feststellen musste, dass er auf einem Glasscherbenhaufen saß. Cahill erging es nicht besser, doch hatte er nicht vor, deswegen ihren Aufbruch zu verzögern.
»Okay, Kolarich, ein Punkt für dich«, murmelte er. »Aber ich finde dich, und dann hack ich dir deinen beschissenen Kopf ab.«
Er legte den Rückwärtsgang ein, stieß aus der Einfahrt und fuhr nach Westen. Womöglich wandte sich das Glück ja zu ihren Gunsten, und sie entdeckten den flüchtenden Kolarich …
Die Scheinwerfer des Wagens hinter ihnen blendeten auf, und dann blinkte das Blaulicht auf dem Dach.
Ein Streifenwagen. Ein beschissener Streifenwagen.
»Dieser verfluchte Kolarich«, fluchte Cahill. »Ich reiß ihm die Augen raus und piss ihm ins Hirn.«
»Hältst du an?«, fragte Dwyer.
»Sollen wir ’ne Flucht riskieren?«, überlegte Cahill. Er musste eine schnelle Entscheidung treffen. Er spähte hinüber zu Dwyer, der mit schwarzer Ölsoße überzogen und braunem Sand bestreut war. Er sah aus wie ein beschissener Sundae-Eisbecher.
»Tun wir’s«, beschloss er. Er trat das Gaspedal durch und jagte die Straße in westlicher Richtung hinunter.
Fast gleichzeitig bog ein weiterer Streifenwagen mit Blaulicht vor ihnen in die Straße ein und kam direkt auf sie zu.
»Scheiße.« Cahill trat auf die Bremse und drosch den Schaltknüppel wütend in Parkstellung. Es war eine schmale Straße mit parkenden Autos zu beiden Seiten, und er hatte einen Streifenwagen vor sich und einen hinter sich. Konnten er und Dwyer die Cops bei einer Schießerei besiegen? Durchaus möglich. Sie waren bessere Schützen als diese uniformierten Dumpfbacken. Aber die Cops würden über Funk Verstärkung anfordern, die Nachbarn würden die Notrufnummer wählen, und selbst wenn sie die vier Beamten ausschalteten, gab es keine praktikable Möglichkeit, ihren Wagen wieder freizukriegen und damit zu verschwinden. Sie würden ihn zurücklassen müssen und wären dann die meistgesuchten Männer des Staates. Sie würden jede Menge Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und, was noch schlimmer war, auf den Zirkel.
Er musste das große Ziel im Auge behalten. In einer Woche wurde er dringend gebraucht. Er hatte mehr als ein Jahr für diesen Einsatz trainiert, und er würde ihn nicht verpassen.
»Scheiße«, wiederholte er.
Beide Streifenwagen schalteten ihre Suchlichter ein und durchleuchteten das Innere seines Wagens.
» Schalten Sie den Motor aus und legen Sie die Hände auf den Kopf«, rief einer der Cops über Lautsprecher.
»Tu es«, sagte Cahill und knirschte so heftig mit den Zähnen, dass er einen stechenden Schmerz spürte. Er würgte den Motor ab und verschränkte die Hände auf seinem schmierigen, versandeten Kopf.
Er blickte rüber zu Dwyer, der jetzt wieder seine Waffe umklammerte.
»Mach keinen Scheiß, Dwyer. Wir haben am siebten Dezember einen Job. Lass das hier einfach über dich ergehen, und Manning holt uns auf Kaution raus.«
Dwyer dachte einen Moment nach, dann gehorchte er. Er legte seine Waffe unten in den Fußraum, so wie Cahill, als er sich vorhin hinters Steuer gesetzt hatte.
Aus beiden Richtungen kamen je zwei Cops auf den Wagen zu, Pistolen im Anschlag und ihre Maglites auf das Wageninnere gerichtet. Sie nahmen sich Zeit und umrundeten zunächst das Fahrzeug, bevor sie an die Seiten traten.
»Haben Sie Schusswaffen im Fahrzeug?«, rief einer der Cops, die eigene Waffe auf Cahill gerichtet. »Haben Sie Schusswaffen im Fahrzeug?«
»Warum die Frage, Officer?«, sagte Cahill in wenig respektvollem Ton. Cahill war kein großer Freund der Strafverfolgungsbehörden oder der Regierung ganz allgemein.
»Nun, zum Beispiel weil es auf dem Heck Ihres Wagens steht. Da hat jemand reingekratzt: ›Wir haben Waffen hier drin‹. Und zwar direkt vor: ›Ihr Scheiß-Cops‹.«
Cahill schloss die Augen. Dieser beschissene Kolarich. Cahill würde ihm die Zunge rausreißen und ihn dann damit füttern.
»Sie behalten die Hände auf dem Kopf und steigen jetzt langsam aus dem Wagen.« Ein Beamter auf jeder Seite öffnete die Wagentüren. »Sofort aussteigen. Sie beide.«
Sie gehorchten, auch wenn das mit den Händen auf dem Kopf nicht ganz einfach war.
»Womit sind Sie da verschmiert?«, fragte der Cop angewidert. »Was zum Teufel haben Sie beide getrieben?«
Cahill legte die Hände gegen den Wagen und spreizte die Beine.
»Sightseeing«, sagte er. »Ich liebe diese Stadt.«
Nun, da der Wagen aus jeder beschissenen Richtung angestrahlt wurde, konnte Cahill auch lesen, was in die Fahrerseite des Wagens gekratzt war: Wir sind Killer.
»Schusswaffe im Fußraum der Fahrerseite«, meldete einer der Cops.
»Eine weitere Waffe im Beifahrerfußraum«, sagte ein anderer.
Ein Beamter zog Cahill die Hände hinter den Rücken und verpasste ihm Handschellen.
»Sieht aus, als hätte Sie jemand geteert und gefedert«, sagte einer der Beamten.
»Ihr seht aus wie irgendwas aus einem Bugs-Bunny-Cartoon«, meinte ein weiterer. Jetzt wo die beiden Verdächtigen in Handschellen steckten und keine Bedrohung mehr darstellten, begannen die Cops die Situation zu genießen.
»›Tod … allen … Bullenschweinen‹. ›Cops … sind … Schwanzlutscher‹.« Einer der Cops drehte mit der Taschenlampe eine Runde um den Wagen und las laut die Botschaften im Lack des Explorers vor.
»Jemand hat den Wagen gestohlen«, sagte Cahill.
»Und hat ihn wieder zurückgegeben? Das müssen aber nette Autodiebe gewesen sein.«
Sie ließen das Heck des Wagens aufschnappen. Cahill wusste, was sie darin finden würden. Dort lagen Gewehre, Messer, Seile und ein Leichensack.
Einer der Cops näherte sich Cahills Ohr. »Was auch immer Sie vorhatten«, zischte er, »jetzt haben Sie eine Menge Ärger am Hals.«
62
Wir hatten alles von einem Fenster im zweiten Stock von Ross Vander Ways Stadthaus aus verfolgt.
»Noch mal tausend Dank«, sagte ich zu Ross.
»Kein Problem, Mann. Die ganze Aktion war echt wahnsinnig abgefahren.«
Und ich war mir wahnsinnig sicher, dass Ross wahnsinnig bekifft war.
Ross war von Beruf Sohn. Seine Eltern waren Eigentümer einer Kreuzfahrtlinie, und Ross hatte in seinem ganzen Leben noch keinen Tag gearbeitet. Offiziell studierte er Betriebswirtschaft, doch die meiste Zeit verbrachte er auf Partys, und er hatte dieses Stadthaus in die schickste Junggesellenbude verwandelt, die ich je gesehen hatte.
Lightner telefonierte mit demjenigen seiner Angestellten, der nach dem ersten Anschlag auf mein Leben heimlich mein Haus observiert hatte. Es war Joels Idee gewesen und rückblickend eine ziemliche naheliegende Sicherheitsmaßnahme, die sich ausgezahlt hatte. Joels Mitarbeiter hatte beobachtet, wie diese beiden Typen am Vormittag mein Haus gründlich studiert hatten, dann zu ihrem Ford Explorer zurückgekehrt und für ein paar Stunden verschwunden waren, um schließlich gegen sieben Uhr abends zurückzukehren, ihr Lager neben meiner Garage aufzuschlagen und auf mich zu warten.
Zunächst hatte ich überlegt, einfach nur die Polizei zu verständigen, doch die Cops hätten die beiden sofort wieder laufen lassen. Also hatten Lightner und ich uns während des Mittagessens etwas einfallen lassen, und er war losgezogen, hatte Motoröl und ein Kilo Sand besorgt. Wir wollten ihnen die Flucht nicht allzu leicht machen, daher hatten wir, zusätzlich zu dem Öl und dem Sand, ihren Explorer mit ein paar Schraubenziehern noch ein wenig modifiziert.
Bradley hatte sich freiwillig gemeldet und den Wagen in meine Einfahrt gefahren. Das war ziemlich nett von ihm. Normalerweise hätte ich darauf bestanden, es selbst zu tun – es war schließlich nicht ganz ungefährlich –, aber mit meinem verletzten Knie konnte ich im Moment nicht gut um mein Leben rennen.
»Shauna, du warst großartig als nörgelnde Ehefrau«, sagte ich.
»Und du als fieser Ehemann.«
Erneut dankte ich Ross, und dann verließen Joel, Shauna und ich sein Haus auf demselben Weg, auf dem wir gekommen waren – wir schlüpften unbemerkt durch die Hintertür. Wir gingen zu meinem Wagen und sammelten Bradley John an der Ecke auf.
»Vor Montag werden die beiden auf keinen Fall dem Richter vorgeführt«, sagte ich. »Und ich wette, man wird sie aufgrund ihrer Flucht wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte anklagen. Und dann noch die Gewehre und der Leichensack? Das wird eine interessante Kautionsverhandlung.«
Wir plauderten angeregt über die Ereignisse. Es war ohne Zweifel ein großer Spaß und eine willkommene Abwechslung zu den endlosen Arbeitsstunden gewesen. Gleichzeitig war uns allen klar, dass irgendwer dem Fall genug Gewicht beimaß, um innerhalb von zwei Tagen zwei Mordanschläge auf mich zu verüben.
»Okay, scheiß drauf«, sagte ich. »Von jetzt an bis zum Ende des Prozesses werden wir unseren Wohnungen fernbleiben. Und wir heuern Bodyguards an. Shauna, Bradley – ihr fahrt nach Hause und packt. Wir werden uns nicht zu leichten Zielscheiben für sie machen. Joel, kennst du jemanden, der unseren Schutz übernehmen kann?«
Er kannte jemanden. Seine Firma hatte selbst schon derartige Aufträge erledigt.
»Wir verteilen uns auf unterschiedliche Hotels und bewegen uns nur mit Sicherheitseskorte. Okay, ihr beiden? Ihr könnt ablehnen, aber dann seid ihr raus aus dem Fall. Ohne Scherz.«
Shauna fragte: »Und wer kommt für all das auf, Herr Anwalt. Soweit ich weiß, haben wir einen Mandanten, der nicht zahlt.«
»Ich«, sagte ich. Aus meiner Zeit als Anwalt bei einer großen Kanzlei hatte ich immer noch ein bisschen Geld auf der hohen Kante. Meine Frau und ich hatten jeden Penny für ein Einfamilienhaus gespart, das ich nun nicht mehr brauchte.
»Ich komme, Ritz-Carlton«, trällerte Shauna.
»Ich mache gleich ein paar Anrufe«, sagte Joel.
Shauna hielt einen Finger hoch. »Da wäre noch eine Frage. Wenn wir mit einem möglichen zweiten Mordanschlag auf dich gerechnet haben, warum haben sie dann nicht damit gerechnet, dass wir uns möglicherweise davor schützen würden?«
Ich nickte. Dieselbe Frage hatte ich mir auch schon gestellt. Und ich glaubte, die Antwort zu kennen.
»Sie wussten schlicht nichts vom ersten Anschlag«, sagte ich. »Der ging aufs Konto der Capparellis. Die Leute, die Kathy Rubinkowski auf dem Gewissen haben. Aber diese Kerle heute Abend? Zehn zu eins, dass sie zu Manning gehören. Sie sehen nicht aus wie Mafiosi. Auf mich wirken sie eher wie rechtsgewickelte weiße Rassisten.«
»Jetzt hast du schon zwei Gruppierungen am Hals, die dich tot sehen wollen«, sagte Lightner und nickte bedächtig. »Das ist selbst für deine Verhältnisse eine Menge, Kolarich.«
63
Peter Ramini lauschte respektvoll Pater DiGuardis wortreicher Predigt. Dieser Mann konnte wirklich reden. Er war ein guter Priester und Beichtvater und hatte in all den Jahren schon so einiges von Ramini zu hören bekommen – nicht alles und nicht im Detail, aber doch vieles. Seine Predigten allerdings waren wirklich ausschweifend.
»Unsere heutige Lesung macht uns auf ein großes Geschehen aufmerksam, das sich ankündigt«, erklärte er der voll besetzten Kirche. »Die Nacht endet. Die Dämmerung bricht an. Bleibt wach. Legt die Waffen des Lichts an. Lasst uns heute beginnen und in freudiger Erwartung auf das Kommen unseres Erlösers hoffen.«
Raminis Blick wanderte zu seinem Nachbarn, zu Donnie. Es war das erste Mal, dass er Donnie in einer Kirche sah. Ramini ging fast jeden Sonntag. Er hatte sich nie ernsthaft gefragt, warum.
Donnie wirkte nicht glücklich. Warum auch? Zwei von Paulie Capparellis besten Männern, Sal und Augie, waren bei dem Versuch, Kolarich zu erledigen, in dieser Gasse gestorben.
»In der Adventszeit sollten wir uns selbst Fragen stellen«, fuhr Pater DiGuardi fort. »Hören wir wirklich zu? Sind wir wach und aufmerksam? Blicken wir auf das, was sein wird – oder sind wir bereits dort?«
Die Zeit zwischen der Predigt und der heiligen Kommunion dehnte sich wie die Wanderung von Mose und den Israeliten durch die Wüste Sinai. Aber irgendwann standen die Kirchgänger aufgereiht da und schlurften nach vorne, um Brot und Wein zu empfangen.
Weder Ramini noch Donnie hatten sich erhoben. Sie saßen in der letzten Bank, niemand hinter ihnen und im Augenblick auch niemand vor ihnen.
Donnie zog einen Schokoriegel aus seiner Jacketttasche, wickelte ihn aus und biss hinein.
»Don, um Himmels willen. Wir sind hier in einem Gotteshaus.«
Was Donnie nicht weiter zu kümmern schien. Er beugte sich zu Ramini hinüber. »Du willst noch abwarten mit Kolarich?«, fragte Donnie. »Paulie sagt, das ist okay. Für den Augenblick warten wir ab.«
Ramini nickte.
»Für den Augenblick«, wiederholte Donnie. »Bist du sicher, dass Kolarich Sal und Augie selbst getötet hat?«
»Ganz sicher«, sagte Ramini. »Wer soll es sonst getan haben?« Er blickte zu Donnie. »Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen, Don.«
Ramini musste dem Boss irgendeine halbwegs glaubwürdige Geschichte auftischen. Die Wahrheit zu erzählen, kam nicht infrage. Natürlich würde Paulie sich skeptisch zeigen – schließlich war Kolarich nur irgendein Anwalt, kein trainierter Killer, der mühelos zwei Angreifer ausschaltete –, aber letztendlich würde Raminis Vertrauensbonus bei Paulie überwiegen. Ramini hatte sich Respekt verdient. Allerdings wusste er, sein Konto war bald überzogen.
»Für den Augenblick warten wir«, sagte Donnie. »Aber zwei Punkte, Petey. Okay?«
»Okay, zwei Punkte.«
»Erstens: Wenn du das Gefühl hast, der Anwalt rückt uns zu sehr auf die Pelle, kein Abwarten mehr. Und selbst wenn du ihn im beschissenen Gerichtssaal erschießen musst, dann tust du’s. Klar?«
»Klar. Und zweitens?«
»Zweitens«, sagte Donnie. »Wenn die ganze Sache vorüber ist, der Prozess und was weiß ich, ist immer noch eine Rechnung offen. Paulie ist nicht wirklich zufrieden, verstehst du? Sal und Augie waren gute Verdiener. Niemand tötet zwei unserer Jungs und kommt ungeschoren davon. Das dürfen wir nicht dulden. Klar?«
Donnie vertilgte den letzten Bissen seines Schokoriegels und zerknüllte die Verpackung in seiner Hand. Die Gläubigen kehrten zu den Bänken vor ihnen zurück, daher mussten sie ihr Gespräch beenden.
Ein letztes Mal beugte Donnie sich zu Ramini hinüber. » Was passiert, wenn der Prozess vorbei ist, Pete?«
Ramini seufzte. »Kolarich stirbt«, sagte er.
»Und wenn er nicht stirbt, wer stirbt dann?«
Ramini nickte. »Ich«, sagte er.
»Du und alle, die du liebst, Pete. Du kennst die Regeln.« Donnie tätschelte Raminis Knie, dann verließ er die Kirche.
64
Richter Nash brüllte Wendy Kotowski und mich schon an, bevor wir ans Pult getreten und unsere Vorverfahrensanträge erläutert hatten. Er fand, es waren viel zu viele Einreichungen. Natürlich hatte er recht, aber die insgesamt einunddreißig Anträge überstiegen keinesfalls das übliche Maß. Ich hoffte, sein Zorn würde sich hauptsächlich auf die Staatsanwaltschaft richten, die technisch gesehen mehr eingereicht hatte als ich, aber das war leider reines Wunschdenken.
Vor ein paar Jahren hatte Richter Nash ein strenges Limit bei Vorverfahrensanträgen eingeführt. Doch das Berufungsgericht hatte ihm das nicht durchgehen lassen. Bei Strafprozessen greift unter anderem das Verfassungsrecht, das Menschen davor schützt, ungerechtfertigt ins Gefängnis geworfen zu werden, und aus Sicht der Verfassung ist es nicht tolerierbar, die Anzahl von entlastenden Argumenten einzuschränken, wenn die Freiheit eines Beklagten auf dem Spiel steht.
Was keineswegs bedeutete, dass Richter Nash diese Sichtweise teilte. Aus seinem offiziellen Limit wurde ein inoffizielles, und wenn Anwälte es überschritten, bekamen sie das zu spüren.
Der Richter begann Entscheidungen hinauszubellen. Ohne unsere Argumente anzuhören, lediglich auf Basis der eingereichten Unterlagen, ratterte er Beschlüsse über zulässige Beweise und Zeugenaussagen herunter. So durfte die Anklage bei der Juryauswahl ihre schicken neuen Computer zur Durchleuchtung der kriminellen Vergangenheit potenzieller Geschworener nicht nutzen, sofern sie diese Ressource nicht auch der Verteidigung zur Verfügung stellte. (Ein Punkt für mich.) Die Verteidigung durfte Kathy Rubinkowskis Vorstrafenregister nicht anführen – was ich auch gar nicht vorhatte, da die einzige kriminelle Verfehlung ein PETA-Protest gegen Tierversuche in ihrem Freshman-Jahr an der Uni war. Da Wendy mich kannte, hatte sie versucht, meine Äußerungsmöglichkeiten während der Vorvernehmung der Geschworenen einzuschränken, aber der Richter würgte das ab und erklärte, sie könne während des Vorgangs gegebenenfalls immer noch Einspruch erheben.
In dieser Art ging es Schlag auf Schlag. Über fünfundzwanzig unserer einunddreißig Anträge entschied der Richter in einem Zeitraum von nur fünf Minuten.
Ich kritzelte seine Entscheide so gut ich konnte mit. Ich war völlig benebelt. Das Hotelbett, in dem ich dieser Tage schlief, war nicht allzu komfortabel, und morgens erwachte ich regelmäßig mit steifem Hals und Kopfschmerzen, was insofern nett war, als mein kaputtes linkes Knie ein wenig Gesellschaft bekam.
Der Richter gestattete uns Ausführungen zu einigen wichtigeren Anträgen. So gewährte er mir eine volle Anhörung unseres Antrags, Tom Stollers sogenanntes Geständnis vom Prozess auszuschließen. Mein Hauptargument war, dass Tom nicht erklärtermaßen auf sein Recht auf einen Anwalt verzichtet hatte. In der Videoaufzeichnung fragten ihn die Cops, ob er seine Rechte verstanden hätte, woraufhin er vage nickte. Aber er hatte sich nie vernehmlich dazu geäußert. Ich führte an, die Einwilligung hätte laut ausgesprochen oder zumindest unmissverständlich erfolgen müssen. Tom Stoller litt unter nervösen Zuckungen, wie man auf dem Video unschwer erkennen und wie mein Sachverständiger bestätigen konnte, und ein Kopfnicken war bei Tom in etwa so häufig wie Atemholen.
Der Richter warf einen raschen Blick auf Tom, der im Verwahrungsbereich zu seiner Linken saß. Tom leckte sich unaufhörlich die Lippen und wackelte beständig mit den Fingern. Aber so wie er heute dasaß, an den Vorgängen mehr oder weniger unbeteiligt, hielt er den Kopf relativ ruhig. Erst wenn er nervös wurde, bewegte er ihn heftiger.
Die Diskussion ging einige Zeit hin und her. Ich kannte meine Widersacherin gut, und Wendy Kotowski war ganz offensichtlich nervös. In diesem Punkt schätzte ich sie offenbar als verletzlich ein. Ich hatte nicht damit gerechnet, mit diesem Antrag durchzukommen, aber je länger ich der Auseinandersetzung zwischen dem Richter und Wendy lauschte, desto mehr Hoffnung schöpfte ich.
Und dann zerstörte der Richter innerhalb von zehn Sekunden alle meine Illusionen. »Ich werde die Videoaufzeichnung zulassen. Allerdings steht es der Verteidigung frei, diesen Sachverhalt zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal vorzubringen.«
»Euer Ehren, wir hatten eine Anhörung zur Beweisaufnahme beantragt«, erinnerte ich ihn. Das Gericht sollte vor dem Prozess die Polizei und vielleicht sogar Tom zu diesem Punkt hören. Ich hatte ein Großteil des gestrigen Tages – Sonntag – mit der Vorbereitung dieser Anhörung verbracht.
»Wir werden in diesem Punkt vorgehen wie besprochen«, sagte der Richter.
Ich hasste es, wenn Richter Entscheidungen aufschoben. Er ließ das Beweismittel zu und würde erst dann darüber befinden, ob Tom dem Verhör zugestimmt hatte, wenn er das Band gesehen hatte. Folglich würde auch die Jury Toms Äußerungen zu hören bekommen. Anschließend konnte der Richter unserem Antrag entweder folgen und die Jury anweisen, das Video zu ignorieren – ja, klar doch –, beziehungsweise den Prozess abbrechen und mit einer neuen Jury bei null wieder beginnen. Oder er konnte meinen Antrag ablehnen, zur Urteilsfindung schreiten und den Fall von seinem Terminkalender streichen. Man musste kein Nostradamus sein, um seine bevorzugte Entscheidung vorherzusagen.
Die meisten Richter hätten mir eine Anhörung zur Beweisaufnahme gewährt. Aber der alte Spruch im Gericht – Richter Nash ist nicht die meisten Richter – galt hier mehr denn je. Hätte ich den Fall von Anfang an betreut, hätte ich einen Richterwechsel verlangt. Jeder Anwalt hatte das Recht, mindestens einmal den Richter zu wechseln, zumindest bevor eine wesentliche richterliche Entscheidung getroffen worden war. Aber dieser Zeitpunkt war längst verstrichen, als ich in den Fall eingestiegen war.
Mein Handy summte. Eigentlich mussten die Handys im Gerichtssaal ausgeschaltet bleiben, aber ich hatte meines auf Vibrationsalarm geschaltet. Wendy war gerade mitten in irgendwelchen Ausführungen, daher zog ich das Telefon heimlich aus der Tasche und las die SMS. Sie war von Tori.
Online-Nachricht. Bruce McCabe heute Morgen tot aufgefunden. Offensichtlich Selbstmord. Hing in seiner Garage. Keine weiteren Details.
McCabe war tot? Ich fragte mich, was das zu bedeuten hatte; einmal davon abgesehen, dass ich hier ganz offensichtlich auf einer heißen Spur war. Er wäre einer meiner Überraschungszeugen gewesen, sofern der Richter es mir gestattet hätte, doch jetzt war er nicht mehr verfügbar. Trotzdem, das Ganze konnte sich als Vorteil erweisen. Tote Zeugen widersprechen einem nicht. Ich konnte mit dem Finger auf ihn deuten, ohne seinen Widerspruch befürchten zu müssen. Darüber hinaus würde ein Selbstmord – wenn es denn wirklich einer war – darauf hindeuten, dass er möglicherweise Dreck am Stecken und deswegen Schuldgefühle hatte. Neue Energie durchströmte mich, aber ich zügelte mich sofort mit dem Gedanken, dass Richter Nash bisher noch nicht das Geringste über Randall Manning, Global Harvest, Bruce McCabe oder dergleichen gehört hatte. Und normalerweise waren ihm Überraschungszeugen ebenso willkommen wie Hämorriden.
Wow. Okay. Ich schüttelte den Kopf. Ich musste mich wieder auf die Vorgänge in diesem Gerichtssaal konzentrieren.
Der Richter hatte sich Wendys wichtigsten Antrag bis zum Schluss aufgehoben. Sie stürzte sich in eine lange Ausführung darüber, warum Tom Stollers zugegebenermaßen verdienstvolle militärische Karriere für diesen Prozess nicht relevant war. Sie würde lediglich dazu dienen, die Sympathie der Jury zu gewinnen.
»Die Verteidigung geht davon aus, dass Tom Stoller diese Verbrechen niemals gestanden hat«, erklärte ich, als ich endlich die Gelegenheit dazu erhielt. »Er sprach damals über den Vorgang in Mosul, nicht über den Mord an Kathy Rubinkowski. Seine Äußerungen gegenüber der Polizei stimmen fast wortwörtlich mit Sergeant Hiltons Beschreibung der Ereignisse in dem unterirdischen Tunnel überein. Wenn es der Verteidigung untersagt wird, diese Informationen zu präsentieren, muss die Jury zwangsläufig von einem Geständnis Toms ausgehen. Das ist absolut unfair, Euer Ehren.«
Der Richter lud Wendy ein, dem noch etwas hinzuzufügen. Normalerweise gewährt der Richter einer Partei dieses Recht, bevor er gegen sie entscheidet. Dieser Schachzug soll in den Gerichtsprotokollen den Eindruck erwecken, als hätte die betreffende Partei jede Gelegenheit gehabt, sich zu äußern, bevor er ihren Antrag abschmettert. Ich verspürte eine gewisse Erleichterung, während der Richter sich auf seinen Beschluss vorbereitete und Wendy ihre Ausführungen beendete.
Doch meine Erleichterung war von kurzer Dauer.
»Sergeant Hilton war bei der Schießerei in Mosul nicht persönlich dabei«, sagte der Richter. »Er hat nur die Auswirkungen gesehen, wie die Staatanwaltschaft bereits erläutert hat. Also können Augenzeugenberichte, die diesen Vorfall und seine Ähnlichkeiten mit Mr. Stollers Aussagen gegenüber der Polizei betreffen, nur von Mr. Stoller selbst gemacht werden. Sergeant Hiltons Aussage ist vom Prozess ausgeschlossen, ebenso wie jeder andere Verweis auf den militärischen Hintergrund und die Verdienste des Angeklagten, außer den nötigen Fakten, falls Mr. Stoller sich doch noch zu einer Aussage entschließt. Und absolut keine Erwähnung von posttraumatischem Stress oder Unzurechnungsfähigkeit. Die besonderen Umstände in Mosul dürfen erwähnt werden, aber nur durch den Angeklagten selbst. Also müssen Sie sich entscheiden, Mr. Kolarich.«
Es war ein Schlag mitten ins Gesicht. Der Richter hatte mir bestenfalls einen Pyrrhussieg gewährt. Ursprünglich hatte ich Sergeant Hilton als ersten Zeugen aufrufen wollen und anschließend Dr. Baraniq, der bestätigte, dass Tom während des Verhörs eine PTBS-induzierte Episode erlebte; danach hätte ich die Beweisaufnahme vermutlich abgeschlossen.
Doch jetzt war Hilton draußen, und Baraniq durfte nur auftreten, wenn Tom mit seiner Aussage die faktische Basis dafür schuf. Ich musste die entscheidenden Argumente durch einen Zeugen etablieren, der sich schon im normalen Alltagsleben kaum artikulieren konnte, geschweige denn, dass er einer Jury Dinge hätte erzählen können, die er noch nicht einmal mir verraten hatte. Und ich konnte ihn nicht in den Zeugenstand rufen, ohne ihm die entscheidende Frage zu stellen – hatte er Kathy Rubinkowski erschossen? Worauf Tom antworten würde: Ich erinnere mich nicht.
In seinem Käfig murmelte Tom vor sich hin. Er hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging.
Dabei war sonnenklar, was hier vor sich ging – sie hackten uns die Eier ab.
Angesichts der aktuellen richterlichen Entscheidungen hatte sich jede bisherige Verteidigungsstrategie in Luft aufgelöst. Weder konnte ich erklären, wie Tom an die Mordwaffe gekommen war noch wie er die Handtasche und die übrigen persönlichen Gegenstände des Opfers in seinen Besitz gebracht hatte. Es gab ein Videoband mit einem vermeintlichen Geständnis meines Mandanten, aber ich hatte keine Chance, der Jury zu erläutern, dass es gar kein Geständnis war.
Jetzt konzentrierte sich alles auf Randall Manning, Stanley Keane, Bruce McCabe und den Capparelli-Clan. Mir blieben noch einige wenige Tage, um etwas über deren Machenschaften herauszufinden, sonst würde Tom Stoller verurteilt.
Vorausgesetzt, ich blieb überhaupt lange genug am Leben, um dieses Rätsel lösen zu können.
Davon mal abgesehen, lief es eigentlich richtig gut.