1
Deidre Maley wahrte die Fassung, bis sie den Gerichtssaal 1741 verlassen hatte. Sie war eine stolze Frau, die ihre Gefühle kontrollierte, daher wartete sie, bis sie einen Teil des Flurs für sich alleine hatte, bevor sie in Tränen ausbrach.
Sie hatte sich so ohnmächtig gefühlt. So wütend und verwirrt und ohnmächtig. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr Neffe Tommy in seinem Gefängnisoverall dasaß und mit leeren Augen zu Boden starrte, während der Richter mit sachlicher Stimme Entscheidungen verkündete, die sie nur zur Hälfte verstand und denen Tommy in seinem momentanen Zustand wohl gar nicht folgen konnte. Sein Anwalt, ein Pflichtverteidiger, war ein netter Mann, aber er hatte noch zig andere Fälle, war immer in Eile und versprach ihnen jedes Mal, dass noch viel Zeit für die Prozessvorbereitung blieb, obwohl dieser bereits in weniger als zwei Monaten stattfand.
Nach einer Weile beruhigte sich Deidre wieder. Weinen löst keine Probleme, hatte ihre Mutter immer gesagt. Ihr Neffe Thomas hatte keine Mutter mehr. Deidre war der einzige Mensch, der ihm noch geblieben war.
Sie entdeckte einige Männer, die wie Reporter aussahen – sofern das Tragen von Notizblöcken und kleinen Rekordern ein Indiz dafür war – und die in den benachbarten Gerichtssaal 1743 strömten. Da sie es nicht besonders eilig hatte, zur Arbeit zurückzukehren, folgte sie ihnen.
Offensichtlich war dort ein Prozess im Gange, denn im Saal herrschte eine förmliche Atmosphäre und eine angespannte, aseptische Stille. Unwillkürlich stieg Panik in ihr auf. Schon in wenigen Wochen würde ihr Tommy vor einem Gericht wie diesem stehen.
Deidre setzte sich und sah zu. In der Mitte des Raums stand ein Staatsanwalt im grauen Anzug mit einem Zeigestock neben einem vergrößerten Foto, das auf einem dreibeinigen Stativ befestigt und zur Jury gedreht worden war.
»Nun, Ms. Engles«, dröhnte der Ankläger, »Sie sind sich ganz sicher, dass Sie freie, ungehinderte Sicht auf die Schießerei hatten?«
»Klar.« Im Zeugenstand saß eine hübsche Afroamerikanerin, die bestenfalls Mitte zwanzig war.
»Dieser Tanklaster.« Der Staatsanwalt wandte sich dem vergrößerten Foto zu und deutete mit dem Zeigestock auf einen Sattelschlepper, der vor der Tankstelle parkte, parallel zur Straße und im rechten Winkel zu den Zapfsäulen, an denen kein einziger Wagen stand. »Dieser Tanklaster hat Ihnen nicht die Sicht versperrt?«
»Nein. Ich hatte ja am anderen Ende geparkt. Von dort aus konnte man die Straße rund um den Laster sehen.«
»Nur für das Protokoll – war das am äußeren westlichen Ende?« Der Anwalt setzte erneut den Zeigestock ein. »Am äußeren westlichen Ende der Tankstelle?«
»Richtig.«
»Die am weitesten westlich gelegene Reihe von Zapfsäulen?«
»Genau.«
»Und Sie befanden sich westlich dieser letzten Reihe mit Zapfsäulen?«
»Stimmt.«
»Und von dort aus sahen Sie das People’s Twenty-four, das vorhin bereits eingeführt wurde.« Der Anwalt ging zu einem weiteren Foto auf einem Stativ. »Gibt dieses Foto exakt Ihren Blickwinkel vom Fahrersitz Ihres Wagens aus wieder, während Sie in der Nacht der Schießerei auf der westlichen Seite der am weitesten westlich gelegenen Reihe Zapfsäulen parkten?«
»Ja, so hab ich es gesehen.«
»Und Sie konnten direkt auf die südlich gelegene Straße schauen, ohne von dem Tanklaster behindert zu werden?«
»Klar, das war kein Problem.«
»Und Sie sind sich sicher, Ms. Engles, dass die Person, die die Waffe abgefeuert und Malik Everson getötet hat, heute hier im Gerichtssaal sitzt?«
»Klar, es war Rondo.«
»Mit ›Rondo‹ meinen Sie Ronaldo Dayton.«
Am Tisch der Verteidigung stieß der Anwalt den Afroamerikaner neben sich leicht mit dem Ellbogen an. Der Mann erhob sich.
»Das da drüben ist Rondo«, erklärte die Zeugin.
»Würde das Protokoll bitte vermerken, dass die Zeugin den Angeklagten Ronaldo Dayton eindeutig identifiziert hat.« Der Staatsanwalt nickte zufrieden. »Keine weiteren Fragen«, sagte er.
Deidre seufzte. Der Ankläger hatte so viele Mittel zu seiner Verfügung. Eine Armee von Polizisten und Labortechnikern und Ärzten, tolle Fotos und Diagramme, alles, was einem Angeklagten wie ihrem Tommy fehlte. Es war ein so unglaublich einseitiger Kampf. Es sei denn, man hatte Geld.
Oder man hatte wahnsinniges Glück und fand einen guten Verteidiger.
»Guten Tag, Ms. Engels.« Der Verteidiger schlenderte in die Mitte des Gerichtssaals. Er war auf den ersten Blick nicht das, was sie von einem Anwalt erwartet hätte. Er wirkte mehr wie ein Footballspieler. Groß und breitschultrig. Eine eindrucksvolle Erscheinung. Und dem Gesichtsausdruck der Zeugin nach zu urteilen, empfand diese ganz ähnlich wie Deidre.
»Mein Name ist Jason Kolarich. Darf ich Sie Alicia nennen?«
»Klar, okay«, sagte sie. »Darf ich Sie Jason nennen?«
Sie kicherte ein bisschen. Ebenso wie einige aus der Jury.
»Ja, warum nicht?«, erwiderte er. Der Anwalt trug keine Notizen bei sich. Ein paar Schritte vor der Zeugin blieb er stehen, der Jury zugewandt. »Alicia, Sie haben doch eine Beziehung mit einem Mann namens Bobby Skinner, ist das richtig?«
»Ja.«
»Bobby ist der Vater Ihrer Tochter.«
»Ja.«
»Und Bobby ist Mitglied einer Straßengang, richtig? Der African Warlords?«
»Nicht mehr.«
»Nun, diesbezüglich sind wir vielleicht nicht ganz einer Meinung, aber wir stimmen zumindest darin überein, dass Bobby mal ein Warlord war.«
»Ja, war er.«
»Und er hat dort immer noch Freunde. Er hängt gelegentlich mit ihnen ab, richtig?«
»Er hat Freunde dort, ja.«
»Und mein Mandant hier, Ronaldo Dayton, ist Mitglied der Black Posse. Ist Ihnen das bekannt?«
»Klar, Rondo ist bei der Posse.«
»Und Ihnen ist weiterhin bekannt, dass die Posse und die Warlords nicht sonderlich gut miteinander auskommen?«
»Nee, die kommen nicht gut miteinander klar.«
»Und die Warlords wären vermutlich sehr damit einverstanden, wenn ein Mitglied der Posse für diesen Mord verurteilt würde, oder?«
»Einspruch«, sagte der Staatsanwalt.
»Stattgegeben«, sagte die Richterin, eine attraktive Frau mit grauen Haaren.
»Ihr Freund Bobby hat Sie aufgefordert, sich diese Geschichte auszudenken, richtig?«
»Einspruch.«
»Die Zeugin darf antworten.«
»Bobby hat nie so was gesagt«, protestierte die Zeugin.
Der Anwalt, Jason Kolarich, hatte offenkundig mit dieser Entgegnung gerechnet und war bereits beim nächsten Punkt, denn er nickte und trat einen Schritt nach rechts. Die Jury folgte ihm aufmerksam. Er hatte eine Respekt gebietende Präsenz im Gerichtssaal und strahlte ein ruhiges Selbstvertrauen aus, das alle in seinen Bann zu ziehen schien.
»Sie haben ausgesagt, Sie hätten an der Mobil-Tankstelle getankt, und zwar morgens um Viertel vor zwei.«
»Ja, genau. Und zwar weil ich von Freunden kam und nicht am nächsten Morgen vor der Arbeit noch tanken wollte; da ist die Zeit immer so knapp.«
Kolarich nickte. »Der Tankwart hat nicht beobachtet, wer Malik Everson getötet hat, oder?«
»Davon weiß ich nichts.«
»Sie sind die einzige Augenzeugin.«
» Davon weiß ich auch nichts.«
Kolarich lächelte verbindlich. »Das müssen Sie natürlich nicht. Als Sie der Polizei anfänglich von der Schießerei berichteten, konnten Sie noch keine präzisen Angaben dazu machen, wo Ihr Wagen stand – welche Zapfsäulen Sie benutzt haben. Ist das korrekt?«
»Ich … ich glaube, wir haben gar nicht darüber gesprochen.«
»Okay, aber Sie haben nicht gesagt: ›Ich stand an der am weitesten westlich gelegenen Reihe von Zapfsäulen‹. Nichts in der Art.«
»Nicht gleich, aber die haben mich auch nicht danach gefragt, verstehen Sie.«
»Ja, ich verstehe.« Kolarich blickte hinüber zur Anklage. »Erst nachdem man Ihnen das Foto von dem Tanklaster gezeigt hat, der den Blick auf den Großteil der Straße versperrt, kamen Sie und die Cops mit der Geschichte, Ihr Wagen hätte bei den Zapfsäulen ganz im Westen gestanden.«
»Einspruch.«
»Stattgegeben«, sagte die Richterin. »Die Frage beinhaltet eine Unterstellung. Mr. Kolarich, wir haben das bereits diskutiert.«
»Haben wir, Euer Ehren. Aber, Alicia, was den Ablauf betrifft, liege ich doch richtig, oder? Erst nachdem man Ihnen das Foto von dem großen Tanklaster gezeigt hatte, der den Blick auf die Straße versperrt, haben Sie der Polizei gesagt, dass Ihr Wagen an der einzigen Zapfsäule stand, von der aus Sie die Straße hätten sehen können.«
Die Zeugin zuckte mit den Achseln. »Ich bin mir nicht sicher. Möglicherweise haben Sie recht.«
Kolarich ging zum Tisch und hob ein Dokument hoch. »Sie können den Ablauf gerne im Polizeibericht nachlesen, wenn Sie möchten.«
»Nee, ich glaub Ihnen auch so«, sagte die Zeugin.
»Gut.« Kolarich legte eine Pause ein, spähte zur Decke und schob die Hände in die Hosentaschen. »Und Sie sagten, Sie fuhren in dieser Nacht einen 2006er Pontiac Grand Prix. Das war der Wagen, den Sie betankt haben.«
»Ja. Ich hab noch die Quittung von der Kreditkarte.«
»Sie haben eine Quittung, die belegt, dass irgendjemand mit dieser Karte Benzin gekauft hat. Nicht mehr und nicht weniger. Richtig?«
»Ich … ich versteh Sie nicht.«
»Auf der Quittung steht nicht, welcher Wagen betankt wurde oder wer getankt hat.«
Die Zeugin schien immer noch verwirrt.
»Trifft es nicht vielmehr zu, Alicia, dass Ihr Grand Prix zum Zeitpunkt der Schießerei vor ihrem Haus geparkt war?«
Diesmal antwortete die Zeugin nicht so rasch. »Mein Wagen …«
»Wenn ich Ihnen sage, Ihre Nachbarn könnten bezeugen, dass Ihr Grand Prix zum Zeitpunkt der Schießerei vor Ihrem Haus …«
»Einspruch, Euer Ehren! Einspruch.«
Die Richterin hob die Hand. »Dem Einspruch wird stattgegeben. Mr. Kolarich, Sie sollten es eigentlich besser wissen. Meine Damen und Herren von der Jury, bitte betrachten Sie Mr. Kolarichs letzte Frage als gegenstandslos. Er hat Ihnen gegenüber gerade etwas als ›Fakt‹ dargestellt, das nicht als solcher gelten kann.«
»Noch nicht«, sagte Kolarich.
Die Richterin wandte sich an Kolarich. »Herr Anwalt, unterlassen Sie es in Zukunft, das Gericht zu unterbrechen, Sie tun sich damit keinen Gefallen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich Sie verwarne. Aber es ist definitiv das letzte Mal. Haben wir uns verstanden?«
»Ja, Euer Ehren.«
»Meine Damen und Herren, ich weise Sie ausdrücklich darauf hin, das etwas keineswegs als Fakt gelten kann, nur weil der Anwalt das behauptet. Halten Sie sich bitte ausschließlich an die hier vorliegenden Beweismittel. Fahren Sie fort, Mr. Kolarich, und mäßigen Sie sich.«
»Ich bin mit Bobbys Auto gefahren«, platzte die Zeugin plötzlich heraus.
Kolarich wandte sich ihr zu. »Entschuldigung?«
»Ich hab nur vergessen, welches Auto es war, das ist alles. Ich bin mit Bobbys Auto gefahren. Bobby hat sich einen Mercedes angeschafft. Einen gebrauchten. Er ist echt stolz darauf.«
Kolarich schwieg einen langen Augenblick. Dann hob er eine Hand, als bemühte er sich, all das zu begreifen. »Sie sind also mit Bobbys Wagen gefahren.«
»Richtig. Es ist ein kleiner Wagen, so wie der Grand Prix. Deshalb hab ich die Autos verwechselt. Aber das ändert nichts daran, was ich gesehen habe.«
»Verstehe. Ich glaube, ich habe hier irgendwo die Aussage.« Kolarich trottete zurück zu seinem Tisch und öffnete eine Aktenmappe. Die Ankläger auf der anderen Seite blätterten ebenfalls in ihren Papieren. »Okay, hier ist es. Bobby Skinner fährt einen 2006er Mercedes C280 4matic. Kennzeichen KL-543-301. Ist das richtig?«
»Ja, ich glaub schon. Das ist jedenfalls das richtige Kennzeichen, und es ist ein Mercedes. Er stellt ihn immer in die Garage, deshalb können die Nachbarn nicht wissen, ob er beim Haus parkt oder nicht.«
Die Zeugin lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. Sie schien mit sich zufrieden, als hätte sie die Debatte gewonnen. Aus Deidres Sicht war das auch so.
Kolarich warf das Papier zurück auf den Tisch, blickte ratlos und enttäuscht und wandte sich dann wieder der Zeugin zu. »Aber Sie sind sich sicher, dass Sie im Fahrersitz saßen und gerade getankt hatten, als sich die Schießerei ereignete. Oder ist es möglich, dass Sie sich da täuschen?«
»Nein, da bin ich ganz sicher«, erklärte die Zeugin mit neuem Elan.
»Und Sie blickten direkt geradeaus nach Süden, wo die Schießerei stattfand. Sie blickten nicht etwa nach Norden?«
»Ich bin mir ganz sicher, Jason«, sagte sie lächelnd. Sie war wirklich eine entzückende junge Frau.
»Und Sie sind sich immer noch sicher, dass Sie am westlichen Ende der Tankstelle an den letzten Zapfsäulen standen, und zwar auf der westlichen Seite dieser letzten Reihe?«
»Ja.« Alicia fühlte sich jetzt offenbar wieder besser, sie hatte sich von ihrer kleinen Verwechslung erholt.
»Von Ihrer Position im Fahrersitz aus befand sich die Zapfsäule also links. Vor ihnen lag die Straße, auf der die Schießerei stattfand. Und zu Ihrer Rechten waren keine Zapfsäulen, nur eine freie Fläche und ein Stück weiter das Restaurant?«
»Ja, das ist richtig. Sehen Sie, ich hab nie richtig drüber nachgedacht, welchen Wagen ich benutzt hab, weil ich sofort nach der Schießerei weggefahren bin. Grand Prix oder Mercedes, das hat in dem Moment einfach keine Rolle gespielt, ich hab einfach nicht drüber nachgedacht, verstehen Sie.«
»Ich schätze, das ist verständlich«, sagte Kolarich. »Denn die Schießerei ist Ihnen natürlich besser im Gedächtnis geblieben als der Wagen, den Sie gefahren haben.«
»Ja, richtig.«
»Mercedes, Grand Prix, sie haben etwa die gleiche Größe – Sie haben sie einfach nur in der Erinnerung verwechselt.«
»Ja, genau.«
»Okay.« Der Anwalt seufzte. »Nur fürs Protokoll, Sie sind sich jetzt sicher, dass es der Wagen Ihres Freunds war, der 2006er Mercedes C280 4matic, den Sie gefahren haben. Nicht der Pontiac Grand Prix.«
»Ja, ich meine, jetzt wo Sie es sagen und all das. Ja, ich bin mir sicher.«
Der Anwalt stieß einen vernehmlichen Seufzer aus und schüttelte den Kopf, als ob er eine Niederlage erlitten hätte. Vielleicht war er unter der beeindruckenden Fassade doch nicht so ein großartiger Anwalt, dachte Deidre.
»Noch weitere Fragen, Mr. Kolarich?«, erkundigte sich die Richterin
»Oh, da ist nur noch eins, Frau Richterin«, sagte er. »Alicia, wie haben Sie getankt?«
»Wie habe ich – was?«
»Wie Sie getankt haben?«
»Ich … wie man das eben so macht, schätze ich …«
Der Anwalt löste sich vom Tisch und näherte sich der Zeugin. »Nein«, sagte er. »Was ich meine, ist – wenn Sie, wie Sie wiederholt ausgesagt haben, mit der Fahrerseite des Wagens zur Zapfsäule standen, wie konnten Sie dann den Tank füllen? Denn der Einfüllstutzen eines 2006er Mercedes C280 liegt auf der Beifahrerseite.«
Die Zeugin erstarrte.
Jason Kolarich lächelte.
Deidre Maley ebenfalls.
2
Als der Sheriff’s Deputy meinen Klienten am Tisch der Verteidigung abholte, um ihn zum Bezirksgefängnis zu eskortieren, wirkte Ronaldo gelöster als üblich. Ich versprach ihm, später zur Besprechung des morgigen Verhandlungstags vorbeizuschauen. Allerdings hatte ich bereits entschieden, dass ich auf eine weitere Befragung der Zeugin verzichten würde. Die Verteidigung würde ihre Beweisaufnahme beenden, und dann würden die Abschlussplädoyers folgen. Ich wollte der Anklage keine Chance zur Rehabilitierung ihrer Starzeugin bieten, die sich am Ende keineswegs als Star entpuppt hatte.
»Mr. … Kolarich?«
Ich drehte mich um. Hinter mir stand eine grauhaarige Frau; mit ihren gefalteten Händen wirkte sie, als würde sie beten. Sie war mittleren Alters und hatte ein zerfurchtes, sorgenvolles Gesicht. Was keineswegs überraschend war. In Gerichtsgebäuden sieht man nur selten wirklich glückliche Gesichter.
»Mein Name ist Deidre Maley«, sagte sie.
»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte ich. Meine Mutter hatte bei der Erziehung immer Wert auf Höflichkeit gelegt. Und das mit Erfolg – wenigstens bei meinem Bruder Pete. Aber auch ich habe ab und an meine guten Momente.
»Das war … beeindruckend«, sagte sie. »Darf ich Sie etwas fragen: Woher wussten Sie, dass die Zeugin nicht den Pontiac gefahren hat?«
Der Gerichtssaal hatte sich geleert. Die Jury war schon längst verschwunden, ebenso die Ankläger.
»Ich wusste es nicht«, sagte ich. »Ich hatte nur so ein Gefühl, dass sie log.«
Sie musterte mich. Wahrscheinlich konnte sie sich nicht entscheiden, ob sie beeindruckt oder angewidert sein sollte.
»Mein Neffe braucht Ihre Hilfe«, sagte sie.
Ich verbuchte sie unter beeindruckt.
»Er ist wegen Mordes angeklagt, in Tateinheit mit Raub, wie sie es nennen. Er hat einen Pflichtverteidiger, aber ich möchte gerne jemand anders.«
»Wer ist sein Pflichtverteidiger?«
»Bryan Childress.«
»Verstehe. Der Mann ist gut.« Ich kannte Chilly vom Jurastudium. Seit seinem Abschluss arbeitete er für das Büro der Pflichtverteidiger. Aber er war auf dem Absprung. Ich fragte mich, ob sie das wusste.
»Ja, er ist gut, aber er wird bald aufhören«, sagte sie.
Frage beantwortet.
»Und ich möchte gerne, dass Sie meinen Neffen vertreten, Mr. Kolarich.«
Pflichtverteidiger haben einen schlechten Ruf. Dabei sind die meistens ziemlich auf Draht. Allerdings sind sie chronisch überarbeitet, weswegen ihre Klienten manchmal das Gefühl haben, als würde ihnen nicht die gebührende Spezialbehandlung zuteil.
»Ich habe nicht viel Geld«, fuhr sie fort. »Aber wenn Sie etwas Geduld haben, finde ich einen Weg, Sie zu bezahlen, das verspreche ich Ihnen.«
Sie war schätzungsweise um die sechzig, und ihre Chancen auf ein beträchtlich gesteigertes Einkommen standen wohl nicht gerade zum Besten.
»Tom ist ein guter Junge. Aber er ist krank. Er kam als anderer Mensch aus dem Irakkrieg zurück. Ich wollte mich um ihn kümmern, hab es aber einfach nicht geschafft. Mein Ehemann leidet unter Multipler Sklerose, daher konnte ich nicht so für Tom sorgen, wie ich es gerne getan hätte. Und jetzt habe ich das Gefühl, es ist alles meine Schuld.«
Und ich hatte das Gefühl, dass Tante Deidre etwas arg auf die Tränendrüse drückte, jedenfalls für meinen Geschmack. Fehlte nur noch, dass sie schluchzend zusammenbrach und ich sie auffangen musste.
»Seine Eltern sind tot«, fügte sie hinzu. »Ich bin seine einzige Angehörige.«
Hatte er nicht zufällig auch ein paar Waisenkinder vorm Ertrinken gerettet? Aber sie hatte Glück, denn sie erwischte mich in guter Stimmung.
»Ich werde mich mit ihm treffen«, sagte ich. »Sobald das hier abgeschlossen ist. Aber ich kann Ihnen nichts versprechen.«
3
Fragen Sie mich nicht, warum ich mich darauf einließ.
Vermutlich weil ich gelangweilt war. Und dieser Fall klang irgendwie interessant.
Das Madelyn R. Boyd Center lag zwei Blocks südlich vom Criminal Courts Building. Ich beendete eine Anhörung vor Richter Basham in einem Fall von Einbruchdiebstahl und traf dann um Punkt elf Bryan Childress vor dem Boyd Center. Wir waren beide überrascht über meine Pünktlichkeit.
Childress trug einen grauen Anzug und eine schwarze Krawatte. Billiges Zeug von der Stange. Chilly hatte sich nie sonderlich für Klamotten interessiert. Während des Studiums hatte er sich eigentlich für gar nichts sonderlich interessiert, außer in welcher Bar wir am Abend aufschlugen.
»Tja, Ronaldo Dayton«, sagte er zu mir. »Gratuliere. Die Jury hat angeblich nur vier Stunden für ihre Beratung gebraucht?«
Drei, um ehrlich zu sein. Und Rondo feierte vermutlich noch, während wir uns hier unterhielten.
Chilly stieß einen leisen Pfiff aus. Die Staatsanwaltschaft hatte unbedingt eine Verurteilung gewollt. Nicht weil es sie sonderlich berührte, wenn Gangmitglieder sich gegenseitig massakrierten, sondern weil Ronaldo Dayton Anführer der Black Posse war und sie ihn gerne hinter Gittern gesehen hätten.
Wir traten durch die Eingangstür an die Empfangstheke. »Hey, Chilly«, sagte einer der Aufseher, ein jüngerer Typ, etwa in meinem Alter. Er kam mir bekannt vor.
»Jimmy, erinnerst du dich an Jason Kolarich? Wir waren zusammen im Training.«
Er nickte mir zu. »Klar. Ich hab ein- oder zweimal mit seinem Ellbogen Bekanntschaft gemacht.«
Richtig. Jetzt erinnerte ich mich. Wir hatten vor ein paar Wochen gemeinsam ein paar Körbe geworfen. »Ich wollte Ihnen die Drei-Sekunden-Regel beibringen«, sagte ich.
Das schien ihm zu gefallen. »Fahrt ihr Jungs hoch ins Penthouse?«
Childress nickte. Ich zeigte Jimmy meine Anwaltszulassung. Er notierte meine Daten und händigte mir dann einen Zettel mit Instruktionen aus. Ich wusste bereits, wie es lief. In meiner Zeit als Staatsanwalt war ich einige Male dort gewesen und hatte versucht, ein Gangmitglied als Kronzeugen zu gewinnen.
Jimmy folgte uns in den Aufzug und schob eine Magnetkarte in einen Schlitz, denn nur dann ließen sich die Knöpfe fürs Penthouse drücken. Niemand sollte versehentlich dorthin gelangen.
Ich überflog die Instruktionen auf dem Zettel.
ES IST UNTERSAGT :
- die Glastrennwände zu berühren
- dem Inhaftierten etwas zu überreichen, das nicht zuvor an der Wachstation in die Besucherbox gelegt wurde
- irgendetwas anzunehmen, das der Inhaftierte Ihnen reicht
- irgendetwas durch die Sprechöffnungen zu schieben
- die Lichter im Raum auszuschalten
EINEM INHAFTIERTEN SCHMUGGELWARE ZU ÜBERGEBEN , VERSTÖSST GEGEN PARAGRAPH 2-16 DES CODE OF CORRECTIONS UND WIRD MIT GEFÄNGNIS BIS ZU 6 JAHREN BESTRAFT .
Als ich von dem Zettel aufblickte, grinste Chilly mich an. Er war fast so groß wie ich, hatte rotblondes Haar und rosige Wangen mit Sommersprossen. Er wirkte wie ein irischer Troll, den man mit menschlichen Wachstumshormonen hochgepäppelt hatte.
»Du hast also Tante Deidre kennengelernt«, sagte er. »Die ist echt von der hartnäckigen Sorte.«
Ich faltete meine Instruktionen zusammen und schob sie in meine Jacketttasche.
Die Aufzugstür öffnete sich im sechsten Stock. Hinter dem Empfang saßen zwei Aufseher, eine Frau und ein Mann. Über ihnen prangte in fetter, klobiger Schrift:
STRAFVOLLZUGSBEHÖRDE
UNTERSUCHUNGSGEFÄNGNIS
EINZELUNTERBRINGUNG
Die Wände waren in einem stumpfen Orangeton gestrichen, es gab eine Uhr und ein gerahmtes Foto unseres breit lächelnden Gouverneurs Edgar Trotter. Drei Fenster ließen das vormittägliche Sonnenlicht herein, das schräg auf den Kachelboden fiel. Das Ganze hatte die sedierte, aseptische Ausstrahlung einer medizinischen Einrichtung.
Brian füllte als zuständiger Anwalt die notwendigen Papiere aus. Aktenzeichen, Prozessnummer, Art des Verhältnisses zum Inhaftierten, solches Zeug.
»Wir haben einen Verhörraum für Sie reserviert«, sagte die weibliche Wache zu Chilly. »Sofern er hier kein Prozessbevollmächtigter ist, kein Kontakt zum Inhaftierten.«
»Richtig. Geht klar.«
Sie ließen mich ein Formular unterschreiben, dass ich über die Besuchsvorschriften belehrt worden war, und eine Erklärung, in der ich gegenüber dem Staat auf jegliche Forderungen für etwaige bei diesem Besuch entstehende Schäden verzichtete. Wir leerten unsere Taschen aus und überließen ihnen unsere Handys und Armbanduhren.
»Irgendwas, das Sie dem Inhaftierten geben wollen?«, fragte der Aufseher.
Chilly sah zu mir. »Vielleicht deine Visitenkarte?«
Ich fischte eine Karte aus meiner Brieftasche und warf sie in die runde Plastikbox. Der Wachmann erkundigte sich, ob das alles war, und verschloss dann die Box.
Die Aufseherin erhob sich. »Noch irgendwelche Fragen, die Herren?«
Hatten wir nicht. Der Aufseher reichte uns unsere Besucherausweise und führte uns dann den Flur hinunter. Wir traten durch einen Metalldetektor, und ein weiterer Aufseher nahm uns in Empfang.
»Unser Mann war Army Ranger im Irak«, sagte Bryan. »First Lieutenant. Eine ehrenhafte Entlassung, nichts weist auf irgendwelche Probleme hin. Es stehen nur gute Beurteilungen in seiner Akte. Aber als er wieder nach Hause kam, erlebte er einen Bruch mit der Realität, wie es so schön heißt. Er schmiss das College, hielt es in keinem Job aus, landete schließlich auf der Straße. Ein paarmal wurde er wegen Landstreicherei und Ladendiebstahl verhaftet, nichts wirklich Gravierendes. Aber soweit man weiß, war er über ein Jahr obdachlos, bevor der Mord geschah.«
»Der Krieg hat ihn fertiggemacht«, sagte ich.
»Der würde mich auch fertigmachen.«
Und mich ebenso. »Er hat also eine Frau erschossen, die nahe Franzen Park aus ihrem Auto stieg«, erinnerte ich mich an Bryans Kurzfassung von gestern. »Auf der Gehringer etwa in Höhe der Mulligan, bei diesem Schuhladen. Und die Ursache ist posttraumatischer Stress? Ein Rückfall? Er dachte, die Frau wäre ein irakischer Soldat, und hat daraufhin das Feuer eröffnet?«
»So in etwa.«
»Und unser Mandant hat den Cops erzählt, das Opfer hätte eine Waffe auf ihn gerichtet?«
»Zumindest hat er das während des Verhörs behauptet. Angeblich hat er ihr befohlen, die Waffe fallen zu lassen. Das hat er den Detectives gegenüber mehrfach wiederholt.«
»Aber du kaufst ihm das nicht ab.«
Chilly stöhnte leise. »Das Opfer besaß keine Waffe, und es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass sie zum Tatzeitpunkt eine bei sich trug. Keine galvanischen Hautreaktionen, keine Einschusslöcher irgendwo am Tatort, abgesehen von dem einen im Schädel des Opfers.«
»Aber wenn er einen Rückfall hatte, hat er ohnehin halluziniert. Spielt es dann überhaupt eine Rolle, was sich real abgespielt hat?«
»Richtig, Herr Anwalt. Es wäre einfach nur ganz nett gewesen, hätte sie wirklich eine Waffe besessen. Dann hätte sich das Ganze für die Jury irgendwie plausibler angehört.« Chilly boxte mir leicht gegen die Schulter. »Oh, und das Beste hab ich dir noch gar nicht erzählt: Unser Mann hat den Cops gebeichtet, er habe sich beim Opfer entschuldigt. ›Bitte nicht sterben‹, ›es tut mir so leid‹, solches Zeug.«
Jetzt war es an mir zu stöhnen. Strebe nach Vergebung, und dir winkt vielleicht posthum ein Leben im Himmel. Doch dein irdisches Leben verbringst du von jetzt an im Zuchthaus. Unser Staat folgte den modifizierten ALI-Richtlinien über verminderte Schuldfähigkeit bei geistigen Erkrankungen. Die Verteidigung musste nachweisen, dass Stoller aufgrund seiner mentalen Störung keinerlei Einsicht in den kriminellen Charakter seiner Tat hatte. Und Stollers Aussagen mussten dokumentieren, dass er sich keiner strafbaren Handlung bewusst gewesen war.
Es war jedoch ziemlich schwierig, mangelnde Unrechtseinsicht ins Feld zu führen, wenn jemand sich unmittelbar nach dem Mord bei seinem Opfer entschuldigte.
Wir erreichten den Verhörraum. Der Wärter schloss die Tür auf und erinnerte uns daran, dass wir die ganze Zeit von einer Videokamera überwacht wurden, allerdings ohne Ton.
Der Raum war mit einer dicken Glaswand unterteilt. Auf unserer Seite befanden sich neben schmuddeligem Bodenbelag und abblätternder Wandfarbe nur zwei Stühle und ein niedriges Bord entlang der Glaswand. Ein Geruch nach Bleichmittel hing in der Luft.
Wir setzten uns auf unsere Stühle und warteten auf das Eintreffen von Bryans Mandant.
»Es gibt da noch ein kleines Problem«, sagte er mit leiser Stimme.
Ich blickte ihn an. »Was für ein Problem?«
Doch schon öffnete sich auf der anderen Seite die Tür, und herein trat Thomas Stoller.
4
Tom Stoller wurde von einem unbewaffneten Aufseher begleitet. Er bewegte sich ungelenk, als müsste ihm der Wärter helfen, einen Fuß vor den anderen zu setzen.
»Hey, Tom«, sagte Bryan.
Stoller trug einen grauen Pullover, Bluejeans und Slipper. Das Haar hing ihm bis auf die Schultern herab, und sein Gesicht war unrasiert und vernarbt. Sein Blick wirkte unstet, und sein Gesichtsausdruck war, nun ja, ausdruckslos.
»Wie geht’s Ihnen, Tom?«
Stoller rollte den Kopf. Er leckte sich ununterbrochen die Lippen, seine Zunge schnellte hervor und verschwand wieder.
»Es gab Eier heute Morgen«, sagte er.
»Echt? Das ist prima. Sie sehen aus, als könnten Sie eine kräftige Mahlzeit gut brauchen.«
Er nickte und blickte dann in Ferne.
»Tom, das ist Jason Kolarich. Erinnern Sie sich an unser Gespräch über den Anwalt, den ich Ihnen vorstellen wollte?«
Stoller war jung, vermutlich keine dreißig, und das leuchtende Rot seiner permanent feuchten Lippen ließ ihn noch jünger erscheinen. Er war schlank, hatte aber breite Schultern und war wohl vor nicht allzu langer Zeit ziemlich durchtrainiert gewesen. Bei einem Army Ranger war das kein Wunder.
»Tom, wissen Sie noch, dass ich als Pflichtverteidiger aufhören werde? Und dass wir jemanden brauchen, der Ihren Fall übernimmt?«
Stoller senkte den Blick, wie um sich zu konzentrieren. Nach einer Weile erklärte er: »Sie haben mir gesagt, Sie können nicht mehr mein Anwalt sein.«
»Das ist richtig. Aber ich gebe den Fall natürlich nicht ab, ohne einen richtig guten Ersatz …«
»Sie haben … diese Krawatte mit Streifen getragen. Rot.«
Bryan legte eine Pause ein. Er schien an die Sprunghaftigkeit seines Mandanten gewohnt.
»Hab ich das? Ich kann mich nicht …«
»Weil ich gesagt hab, sie gefällt mir. Und Sie haben gesagt, Ihre Mom hat sie für Sie gekauft.« Stoller kratzte sich die Wange.
Chilly seufzte und legte die Hände auf den Tisch. »Okay, Tom …«
»Denken Sie, es ist okay, wenn ich beim Prozess eine Krawatte trage?«
»Klar, Tom, aber hören Sie mir jetzt bitte zu, in Ordnung? Können wir einen Moment über den Fall reden?«
Die Augen des Klienten irrten erneut ab. Er antwortete nicht.
»Ich wollte Ihnen Jason vorstellen. Er ist Anwalt wie ich.«
Stoller war jetzt in voller Aktion, leckte sich die Lippen, rieb sich die Hände. Dieser Typ litt unter mehr als nur einer posttraumatischen Belastungsstörung.
»Es ist heiß hier drin«, sagte er. »Zum Schlafen zieh ich meine Kleider aus, aber das mögen sie hier nicht. Mir ist immer so heiß.«
»Lieutenant Stoller«, sagte ich mit kräftiger Stimme. Ich kann ziemlich durchsetzungsfähig klingen, wenn es darauf ankommt.
Seine Augen zuckten zu mir hoch. Er hörte auf zu zappeln.
»Ich werde Ihr Anwalt, wenn Sie es möchten. Ist das in Ordnung für Sie? Es ist Ihre Entscheidung, Lieutenant.«
Nach einem Moment unterbrach er den Blickkontakt wieder; es war einfach zu viel für ihn, und er kehrte zu seinen beruhigenden Ticks zurück. »Ich will nur, dass es bald vorbei ist«, sagte er. »Können Sie es kälter machen hier drin?«
Ich spähte zu Brian, der in Richtung Tür nickte.
»Denken Sie darüber nach, Lieutenant«, sagte ich. »Sie müssen sich nicht gleich entscheiden.«
»Ich komme bald wieder, Tom«, sagte Chilly. Er erhob sich und winkte in Richtung Kamera in der Ecke des Raums. Kurz darauf trat der Aufseher durch die Tür, um Stoller mitzunehmen.
»Ist mir egal, wer mein Anwalt ist«, sagte er, als der Wärter seinen Arm berührte. »Ich will nur, dass es vorbei ist.«
Wir verfolgten, wie er durch eine Tür verschwand. Dann verließen wir den Raum durch unsere.
»Ein kleines Problem nennst du das«, sagte ich draußen im Flur zu Chilly. »Wie lautet seine Diagnose?«
»Psychotische Persönlichkeitsstörung. Desorganisierte Schizophrenie. Die Ärzte vermuten, dass sie von der PTBS ausgelöst wurde.«
»Desorganisiert trifft es ziemlich gut.«
»Hat Tante Deidre dir nichts davon erzählt?«
»Nein«, sagte ich. »Sie hat nur erwähnt, dass er krank ist. Vermutlich wollte sie, dass ich mir selbst ein Bild mache.«
Chilly legte mir eine Hand auf die Schulter. »Du hast mich überrascht da drin. Eigentlich dachte ich, du wolltest in den Fall nur mal reinschnuppern. Ich hab nicht erwartet, dass du ihm gleich deine Dienste anbietest.«
Tom Stoller litt also unter einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer desorganisierten Schizophrenie. Doch er hatte zugegeben, sich nach der Tat bei seinem Opfer entschuldigt zu haben; eine auf Schuldunfähigkeit basierende Verteidigung würde also eine wahre Ochsentour werden. Auch Notwehr war keine echte Option; warum sollte eine junge Frau eine Bedrohung für einen obdachlosen Mann darstellen?
Dieser Fall war die Hölle.
»Er meinte, ihm sei heiß in seiner Zelle«, sagte ich zu dem Wachmann am Empfang.
»Das ist hier nicht das Vier Jahreszeiten«, sagte der männliche Aufseher, der irgendein Dokument studierte.
Ich starrte den Aufseher an, doch er schaute nicht auf. Es zeigt wenig Wirkung, jemanden anzustarren, der das nicht zur Kenntnis nimmt. Aber ich wollte, dass er es zur Kenntnis nahm. Also schlug ich mit der flachen Hand auf die Empfangstheke vor ihm. Er blickte zu mir hoch, erst verwirrt und dann böse. Immerhin war er hier derjenige mit der Waffe.
»Dieser Mann ist keiner Ihrer üblichen Simulanten. Er leidet unter einer schweren geistigen Krankheit. Er hat zwei Jahre im Irak gedient und ist als gebrochener Mann zurückgekehrt. Er hat sein Leben für sein Land riskiert und einen verdammt hohen Preis dafür gezahlt. Meinen Sie nicht, Sie können das noch mal überprüfen mit der Temperatur?«
»Wir werden es überprüfen«, sagte die Frau. »Und Sie achten besser auf Ihren Ton, sonst verpassen wir Ihnen Handschellen.«
Wir stiegen in den Aufzug.
»Also?«, fragte Chilly auf dem Weg nach unten. »Warum hast du den Fall übernommen?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Tante Deidre hat mich irgendwie gerührt.«
»Ja, aber du wolltest diesen Fall, oder etwa nicht?« Er deutete auf mich. »Und ich wette, was du da oben gesehen hast, hat dich noch mehr angespitzt. Ich meine, der Fall ist echt die Hölle, oder?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Du hast es selbst gesagt. Wenn du gehst, wird niemand einspringen können, ohne einen Prozessaufschub zu fordern. Und ich hab im Moment Kapazitäten frei.«
Wir erreichten das Erdgeschoss und die Türen teilten sich. »Das ist großartig, Jason. Danke. Tom ist ein guter Kerl, und er verdient den Besten.«
Er würde sich mit mir zufriedengeben müssen. Mir blieben fünfzig Tage, um alles für First Lieutenant Thomas David Stoller zu tun, was in meiner Macht stand.
5
Richter Bertrand Nash gehört zu den überlebensgroßen Figuren im Justizwesen dieser Stadt und scheint seit Anbeginn der Menschheit auf dem Richterstuhl zu thronen. Angeblich war er einst als Bezirksstaatsanwalt tätig – als ranghöchster lokaler Ankläger –, aber ich bezweifle, dass noch irgendwer lebt, der das persönlich bezeugen kann. Würde man im Lexikon die Definition von »Richter« nachschlagen, würde man sein Bild erwarten: ein großes, wettergegerbtes Gesicht; eine dichte Mähne silbergrauer Haare; er hat sogar eine volltönende Baritonstimme, die sein Alter Lügen straft.
Er ist gebieterisch, stur und unterhaltsam. Niemand darf sich vor seinem Zorn sicher fühlen, der sich in scharfen Repliken oder unterschwelligem Sarkasmus äußert und der stets den Beifall der Zuschauer im Gerichtssaal findet – bei denen es sich zumeist um Anwälte handelt, die darauf trainiert sind, bei der geringsten Andeutung von Humor seitens des Mannes in der Robe sofort in dröhnendes Gelächter auszubrechen.
Sein Gerichtssaal ist für ihn ein Heiligtum. Er gestattet keinerlei Formwidrigkeiten, keinen Verstoß gegen die Etikette von 1890, oder wann auch immer er sich als junger Referendar bei Gericht die ersten Sporen verdient hat. Man darf sich dem Zeugen nicht ohne seine Erlaubnis nähern. Nach einem Einspruch gibt man besser keinen Laut von sich, bevor er nicht selbst darüber befunden hat. Man spricht ihn erst an, wenn man sich erhoben hat, und auch nur dann, wenn er einen dazu auffordert. Man verlangt keinen Verhandlungsaufschub oder zusätzliche Zeit für eine Antragserwiderung, sofern nicht unmittelbare Gefahr für Leib und Leben besteht. Und man darf um keinen Preis zu spät im Gerichtssaal erscheinen.
Vor zwei Jahren hatte sich der Krebs ein Stück von ihm geholt, aber mittlerweile war er wieder vollständig auskuriert, sein Gesicht hatte die gewohnt breiten Züge, und die lockere Haut um Augen und Kiefer füllte sich wieder mit Fleisch. Dieser Kerl würde vermutlich hundert werden, sofern er es nicht bereits war.
An diesem Morgen spähte Richter Nash über seine Brille auf mich herab. »Sie werden zu einem ziemlich späten Zeitpunkt eingewechselt, Mr. Kolarich«, sagte er.
»Ja, Euer Ehren. Wie Mr. Childress bereits dargelegt hat …«
»Ich kann lesen, Mr. Kolarich. Mr. Childress begibt sich also auf fettere Weiden, wie ich sehe?«
»Ja, ich werde Partner in Gerry Salters’ Kanzlei, Herr Richter«, sagte Bryan, der neben mir stand.
»Mr. Salters ist ein guter Anwalt. Ein lausiger Golfer, aber ein guter Anwalt.«
Wie bei einer alten Sitcom brach der Gerichtssaal unisono in Gelächter aus.
Richter Nash blickte hinüber zum Anklageteam, das von einer Frau namens Wendy Kotowski geleitet wurde. »Erhebt der Staat irgendwelche Einwände?«, fragte er.
Ich trat beiseite, damit Wendy sich dem Mikrofon nähern konnte. Richter Nash bestand darauf, dass in seinem Gerichtssaal verfahren wurde wie in einem Bundesgericht, wo die Anwälte in ein an einem Pult befestigtes Mikrofon sprechen müssen.
Wendy sagte: »Zum jetzigen Zeitpunkt würden wir lediglich Einspruch gegen einen Verhandlungsaufschub erheben, Euer Ehren.«
Der Richter blickte zwischen mir und Childress hin und her und dann wieder zu Wendy.
»Ich habe Sie nicht gefragt, ob Sie Einwände gegen einen Verhandlungsaufschub haben, Ms. Kotowski. Ich habe Sie gefragt, ob Sie Einwände gegen einen Anwaltswechsel haben.«
Wendy hätte es eigentlich besser wissen müssen. Sie verhandelte nicht zum ersten Mal vor diesem Mann.
»Wir haben keine Einwände, vorausgesetzt, der Prozess wird dadurch nicht verzögert«, stellte sie klar.
»Wie steht’s damit, Mr. Kolarich? Werden Sie versuchen, den Prozesstermin zu verschieben?«
»Euer Ehren …«
»Ein Wort genügt, Mr. Kolarich. Wollen Sie den Prozesstermin verschieben? Der Verhandlungsbeginn ist in sechs Wochen angesetzt.«
»Herr Richter, meine Antwort hängt davon ab …«
»Das ist mehr als ein Wort, Herr Anwalt. Ich sagte – nur ein Wort. Sie haben die Wahl zwischen Ja oder Nein. Das sind einfache, elementare Worte unserer Sprache.«
Der Richter blickte über unsere Köpfe hinweg zur Galerie. Wir waren die Ersten, die an diesem Morgen vor Richter Nash verhandelten, was immer ungünstig war. Er war frisch und agierte für sein Publikum.
»Vielleicht«, antwortete ich.
» Vielleicht?« Der Kopf des Richters fuhr herum. Der Gerichtssaal verstummte, wartete auf den Vulkanausbruch.
»Vielleicht«, wiederholte ich.
Die Augen des Richters wurden schmal. »Nun, was halten Sie davon, Herr Anwalt: Dieser Prozess wurde bereits mehrfach verschoben, und ich wünsche keine weitere Verzögerung. Ich gehe davon aus, dass Mr. Childress gut für die Verhandlung präpariert ist, also sind alle Parteien bereit, die Strafsache zum geplanten Termin zu verhandeln. Wenn jedoch Ihre Übernahme einen Aufschub erfordern sollte und man in Betracht zieht, dass Mr. Childress sehr wohl weiter als Hauptverteidiger auftreten kann, muss ich noch einmal sehr gründlich über Ihren Antrag nachdenken. Nun«, sagte er und beugte sich vor, »ändert das etwas an Ihrer Antwort?«
»Nein«, sagte ich.
Der Richter blinzelte. Meine Antwort schmeckte ihm nicht. Das Recht eines Beklagten auf freie Wahl seines Anwalts ist heilig. Es übersteigt gewissermaßen alle anderen Rechte. Und einem Richter droht rasch ein Vorgang, den er am allermeisten fürchtet – eine Urteilsaufhebung durch ein Berufungsgericht –, sofern er einem Angeklagten den gewünschten Anwalt verweigert.
Der Richter hatte versucht, mich einzuschüchtern, aber ich hatte seinen Bluff durchschaut.
Nach einem kurzen Zögern trat ein Funkeln in seine Augen, und einer seiner Mundwinkel zuckte. Richter Nash liebte diese kleinen fintenreichen Gefechte im Gerichtssaal. Er respektierte alle, die zu diesem Spiel gegen ihn antraten.
»Ich möchte den Angeklagten dazu hören«, erklärte der Richter.
Tom Stoller saß in der Verwahrungszelle zu unserer Rechten, starrte in eine Ecke des Gerichtssaals und schien keinerlei Notiz von uns zu nehmen. Ein Wachmann ging hinüber und veranlasste ihn, sich zu erheben. Stoller trug den üblichen kanariengelben Overall der Untersuchungshäftlinge.
»Mr. Stoller, ist Ihnen der Anlass der heutigen Anhörung bewusst – dass Mr. Kolarich anstelle von Mr. Childress Ihr Anwalt werden möchte?«
Tom würdigte den Richter keines Blickes und zeigte seine üblichen Ticks, die herausschnellende Zunge und – obwohl seine Hände in Handschellen steckten – auch die wackelnden Finger. »Okay«, sagte er.
»Haben Sie das verstanden, Sir?« Der Ton des Richters war freundlicher geworden. Er drosch gerne auf uns Anwälte ein, aber Angeklagten wurde grundsätzlich eine sanftere, schonendere Behandlung zuteil. Zudem waren die Berufungsgerichte in diesem Staat große Anhänger des sechsten Zusatzartikels der Verfassung, weswegen kein Richter gerne in den Ruf geriet, jemandem den Anwalt seiner Wahl zu verweigern.
»Ja.«
»Und stimmen Sie dem zu, Mr. Stoller? Wollen Sie Mr. Kolarich als Ihren Anwalt?«
Toms Blick bohrte sich in den Boden. »Okay.«
»Nun, ein ›Okay‹ reicht mir nicht, Mr. Stoller. Schließlich ist es nicht mein Antrag, sondern Ihr Antrag. Wollen Sie wirklich den Anwalt wechseln? Denn Mr. Childress ist ein guter und erfahrener Verteidiger, der Ihren Fall schon einige Zeit betreut. Und seine neue Kanzlei kann sicher noch eine Weile auf ihn verzichten, wenn Sie ihn behalten wollen.«
»Okay«, sagte Tom.
Der Richter lehnte sich entnervt in seinem Stuhl zurück. »Mr. Kolarich ist ebenfalls ein ausgezeichneter Anwalt. Er war schon viele Male in meinem Gerichtssaal als Verteidiger tätig, und ich habe keinerlei Zweifel an seinen Fähigkeiten. Allerdings schaltet er sich sehr spät in diesen Fall ein. Zwar bin ich mir nicht sicher, ob Ihr Fall wirklich so kompliziert ist, trotzdem kommt er spät. Und Sie sollen wissen, dass ich nur wenig geneigt bin, den Prozesstermin zu verschieben. Bevor Sie also Ihre Entscheidung treffen, sollten Sie das bedenken. Also«, sagte er, »haben Sie verstanden, was ich Ihnen sagen will?«
»Ja.«
Ich war mir ziemlich sicher, dass Tom in seinem Kopf gerade eine ganz andere Unterhaltung führte.
»Wen wollen Sie als Ihren Anwalt, Mr. Stoller?«
Tom blickte uns beide an. Dann zeigte er auf mich. »Ihn«, sagte er.
»Deuten Sie auf Mr. Kolarich?«
»Okay.«
Der Richter holte tief Luft. »Obwohl Mr. Kolarich nur etwa sechs Wochen haben wird, um sich auf diesen Prozess vorzubereiten? Denn es ist wie gesagt sehr unwahrscheinlich, dass ich den Prozesstermin verschieben werde.«
»Will ich nicht«, murmelte Tom.
»Würden Sie das bitte wiederholen, Mr. Stoller?«
»Ich will’s nicht verschieben. Es soll vorbei sein.«
Der Richter musterte Tom einen Moment lang mit nachdenklich gerunzelter Stirn.
»Darf ich etwas sagen, Herr Richter?«, meldete ich mich zu Wort.
»Sie dürfen.«
»Mein Klient möchte keinen Aufschub, Herr Richter. Aber vielleicht will ich es. Mein Mandant leidet unter einer geistigen Erkrankung, und ich denke, er sollte meinen Rat annehmen. Bisher hat er es noch nicht getan. Und im Augenblick bin ich auch noch nicht ausreichend vorbereitet, um einen Terminverschiebungsantrag einzureichen, aber möglicherweise werde ich es tun.«
»Sie bürden sich da eine große Verantwortung auf«, warnte mich Richter Nash. Dann bewilligte er den Antrag, mich als leitenden Verteidiger einzusetzen, und rief den nächsten Fall auf.
Ich blickte hinter mich zu Deidre Maley – Tante Deidre –, die mit Tränen in den Augen verfolgte, wie ihr Neffe aus dem Gerichtssaal geführt wurde. Als er verschwunden war, richtete sie ihren Blick auf mich.
Ihre Lippen formten ein stummes Danke, und in ihrem Gesicht spiegelte sich neu erwachte Zuversicht.
Ich hoffte sehr, dass sie begründet war.
6
Fragen Sie mich nicht, warum ich bestimmte Dinge tue.
Warum ich beispielsweise bis tief in die Nacht im Vic’s abhing – das lässt sich noch einigermaßen leicht beantworten. Der Wodka hilft mir schlafen. Außerdem trinke ich nicht gerne allein, selbst wenn ich niemanden in der Bar kenne.
Aber was den Zwischenfall mit dieser jungen Frau betrifft – da sollten Sie mich besser nicht fragen.
Sie saß am anderen Ende der Bar, und während drei Stunden sah ich immer wieder mal zu ihr rüber. Sie war allein gekommen, vielleicht gegen zehn oder halb elf. Schlank und dunkelblond und hübsch. Aber nicht wie eine Barbiepuppe. Ein zartes Gesicht, eine leicht gekrümmte Nase, aber das Entscheidende war ihr Ausdruck. Als hätte sie schon eine Menge erlebt.
Charakter nennt man das wohl. Ich mag Gesichter mit Charakter. Barbiepuppen traue ich nicht über den Weg. Ich ziehe Frauen vor, denen nicht ständig bewusst ist, wie attraktiv sie sind.
Also, etwa gegen halb elf kam sie herein. Blieb für sich. Blickte ein- oder zweimal in meine Richtung, aber das lag wohl eher daran, dass ich direkt gegenüber am anderen Ende des Tresens saß.
Sie war nicht das Problem. Auch nicht die Yuppies und Burnouts mittleren Alters in ihren Businessanzügen, die großspurig daherredeten und immer wieder mal ihr Glück bei ihr versuchten.
Das Problem waren die beiden Typen in der Sitznische in der Ecke. Dunkelhäutige Italiener mit einer dicken Haarmähne und noch dickeren Hälsen.
Den ersten Drink schickten sie der Lady etwa um Mitternacht, als die Zahl der Gäste von circa dreißig auf unter zehn gesunken war. Ein Glas Pinot. Sie drehte sich um, lächelte und schaute wieder weg, ehe die beiden Männer ihr mit ihren Scotchgläsern zuprosten konnten.
Der zweite Drink kam eine halbe Stunde später, als nur noch ein kleiner Rest Wein in ihrem Glas war. Sie sagte etwas zu dem Barmann, das ich nicht verstehen konnte, entweder weil ich bei meinem vierten Wodka angelangt war, oder weil ihre Stimme zu ihrem zarten Körperbau passte.
Der Barmann brachte den beiden Schlägertypen in der Ecke persönlich die nächste Runde Scotch, und seine Stimme war besser verständlich als die der Lady.
»Sie sagt danke, Jungs, aber sie ist heute Abend nicht in der Stimmung für Gesellschaft. Sie hofft, ihr nehmt es ihr nicht übel.«
»Ho!«, rief einer der Italiener gekränkt.
Die peppige Popmusik war von sanft plätscherndem Bar-Jazz abgelöst worden. Noch immer schwebte ein Hauch von Eau de Cologne über der Bar. Ich wurde langsam müde und fühlte die nötige Bettschwere, aber irgendetwas sagte mir, dass ich noch ein wenig bleiben sollte.
Außerdem konnte ich etwas Training gut gebrauchen. In der Woche, seit ich Tom Stollers Fall übernommen hatte, hatte ich sämtliche von der Anklage ausgehändigten Beweismittel gesichtet, ebenso wie alles, was Bryan Childress über Tom gesammelt hatte. Und ich hatte mit Tom selbst gesprochen, wieder mit wenig Erfolg. Es war kaum was aus ihm rauszukriegen, abgesehen vom täglichen Menüplan und der Klage über die Temperatur in seiner Zelle. Ich hatte seit neun Tagen nicht mehr gejoggt, unter anderem auch wegen des seit einiger Zeit tobenden Oktober-Eissturms. Jedenfalls spürte ich aufgrund des mangelnden Trainings ein Kribbeln in meinen Muskeln.
Die Frau spielte für einen Moment mit ihrem Smartphone. Sie war eigentlich gar kein Smartphone-Typ. Will heißen, keine vom aggressiven, businessmäßigen Schlag, zumindest wenn meine Menschenkenntnis mich nicht trog. Aber was wusste ich schon? Im Grunde konnte ich nicht viel mehr sagen, als dass sie offenbar irgendetwas zu verdauen hatte und den Alkohol gut wegsteckte. Rechnete man das, was sie bestellt hatte, mit dem zusammen, was die Sizilianer ihr spendiert hatten, kam sie auf sechs Gläser Wein, was bei mir vermutlich heftiger einschlagen würde als meine vier Stolis.
Das siebte Glas kam erneut von den beiden Sizilianern. Keine Ahnung, warum ihr der Barmann nicht hilfreich zur Seite sprang, sondern es ihr lediglich kommentarlos servierte. Doch jetzt reichte es der Lady. Sie schob das Glas beiseite und glitt vom Barhocker.
Sie beachtete die Jungs in der Ecke nicht weiter, und das war möglicherweise eine kluge Idee. So konnten sie das Gesicht wahren. Italiener sind so. Haben alle Kriege verloren, die sie je angezettelt haben, glauben aber immer noch, sie wären die härtesten Burschen überhaupt.
»Ho!«, rief einer von ihnen.
Ich zahlte und warf mir meinen Mantel über.
Die beiden Männer erhoben sich. Sie waren nicht groß, dafür aber ziemlich breit. Offensichtlich stemmten sie Gewichte, denn die Wölbungen ihrer Arm- und Schultermuskeln zeichneten sich selbst unter ihren Wintermänteln ab.
»Das ist nicht sehr höflich«, sagte Schläger Nummer eins. »Die ganzen Drinks und dann nicht mal ein Hallo?«
Die Frau, die in ihren langen weißen Mantel geschlüpft war und ihre Handtasche vom Tresen genommen hatte, drehte sich zu dem Mann um. »Hallo«, sagte sie. »Und Auf Wiedersehen.«
»Nein, nein, nein.« Die Männer beschleunigten ihre Schritte, als die Frau die Bar verließ.
Ich folgte ihrem Beispiel. Als ich die Tür aufstieß, standen die drei davor. Einer der beiden Männer, der kräftigere, hielt die Lady am Oberarm gepackt, während sie sich loszureißen versuchte.
»… Ihren Namen«, sagte er gerade. »Sie können mir zumindest Ihren Namen sagen. Ich hab Ihnen all diese Drinks spendiert.«
»Ich hab Sie nicht gebeten, mir Drinks zu spendieren«, protestierte sie. Ihre Stimme war doch nicht so zart. Sie wirkte wie jemand, der unter normalen Umständen gut auf sich selbst aufpassen konnte.
»Lassen Sie sie einfach los«, sagte ich zu dem zweiten Italiener.
»Ich lass sie los, wenn sie mir ihren Namen sagt und sich für die Drinks bedankt.«
Und dann schenkten sie mir plötzlich alle ihre Aufmerksamkeit. Was vielleicht daran lag, dass ich mich richtig laut räusperte. Die Frau blickte mir in die Augen. Und die beiden Schläger fuhren herum und musterten mich. Unser Atem hing wie gefroren in der Luft. An dieser Stelle hätte das Protokoll wohl erfordert, dass ich die Situation entschärfte.
»Eigentlich bin ich derjenige, der Grund hätte, sich hier aufzuregen«, sagte ich. »Ich saß den ganzen Abend lang da, und mir haben Sie keinen einzigen Drink spendiert.«
»Das hier geht Sie nichts an«, sagte der Mann, der den Arm der Lady umklammerte.
»Wenigstens eine Weinschorle«, sagte ich. »Irgendwas Billiges, bei dem wir hätten Bekanntschaft schließen können.«
Schläger Nummer zwei ging jetzt in Angriffshaltung. »Vielleicht wollen Sie ja mit meiner Faust Bekanntschaft schließen?«
»Witzig. Tolle Retourkutsche. Hört zu, Jungs«, entgegnete ich.
Wie gesagt, fragen Sie mich nicht, warum ich bestimmte Dinge tue. In dieser Situation hätte vermutlich meine bloße Gegenwart ausgereicht, und die beiden hätten die Frau losgelassen. Als versierter Diplomat, der ich war, hätte ich diese Männer ohne irgendwelche Handgreiflichkeiten zum Abzug bewegen können. Vermutlich mit viel Maulheldentum und unter Drohungen – um das Gesicht zu wahren –, aber ohne Handgreiflichkeiten. Davon abgesehen stand dieser Kerl viel zu dicht vor mir, als dass ich einen guten Schwinger hätte landen können.
Also verpasste ich ihm einen Schlag mit dem Ellbogen. Ich bin Rechtshänder, aber aus irgendeinem Grund kann ich mit dem linken Ellbogen kräftiger zuschlagen. Komisch. So wie mein Bruder, der Rechtshänder ist, den Golfschläger aber mit links schwingt.
Mein Ellbogen erwischte ihn genau an der Schläfe. Das Verdienst, ihn umgehauen zu haben, gebührte allerdings nicht mir allein, denn der Gehweg war an dieser Stelle mit spiegelglattem Eis überzogen. Wie dem auch sei, er verlor die Balance, krachte hart auf seine linke Schulter, und sein Kopf knallte unsanft aufs Eis.
Vielleicht sind unterdrückte Aggressionen dafür verantwortlich. Irgendetwas aus meiner Kindheit, das wieder hochkommt. Meine Mutter hat mich immer ermahnt, ich könne nicht alle meine Probleme mit den Fäusten lösen.
Aber wie schon erwähnt, es war der Ellbogen.
»Das muss wehgetan haben«, sagte ich zu dem anderen Schläger. »Ich heiße übrigens Jason. Und wie heißen Sie?«
»Verdammt, was soll das?«, knurrte er. Das klang wie eine rhetorische Frage. Er machte einen auf harten Burschen, aber wenn ich das unsichere Flackern in seinen Augen richtig deutete, wollte er eine Eskalation vermeiden. Mehr Bellen als Beißen. Erneut schrieb das Protokoll vor, dass ich ihm die Chance gab, den Rückzug anzutreten und dabei das Gesicht zu wahren.
»Sie haben mir immer noch nicht Ihren Namen verraten«, erwiderte ich. »Nur um Ihnen ein bisschen auf die Sprünge zu helfen – er endet vermutlich mit einem Vokal.«
Der andere Kerl kniete inzwischen auf dem Boden. Seine Schulter machte ihm eindeutig zu schaffen. Außerdem litt er vermutlich unter Kopfschmerzen. Dieses Eis kann wirklich tückisch sein.
»Wir sehen uns wieder. Verlassen Sie sich drauf.« Das kam vom ersten Schläger, der die Frau losgelassen hatte und nun zu seinem Kumpel trat, um ihm aufzuhelfen.
»Ich bin so ziemlich jeden Abend hier zu finden«, sagte ich.
Sie ließen sich Zeit für ihren Abzug. Nummer zwei richtete sich auf, wobei er leise fluchte und irgendwas Feindseliges murmelte. Aber schließlich verzogen sie sich. Die Bedrohung war vorüber.
Die Frau hätte mittlerweile längst beim nächsten Block sein können. Doch sie war geblieben. Sie verfolgte den Abmarsch der beiden und wartete, bis sie endgültig verschwunden waren.
Dann drehte sie sich zu mir. »Ich kann meine Probleme sehr gut allein lösen, danke.«
»Sie hatten die Situation also absolut unter Kontrolle, ja?«
»Es ist eine Art Spezialität von mir geworden, Blödmänner abzuwimmeln.«
Zu welchen ihr momentanes Gegenüber nicht zählte, da war ich mir sicher. Sie strich mit den Händen über ihren weißen Mantel. Gefrorener Atem drang aus ihrem Mund. Ihre Fußknöchel wirkten sehr zerbrechlich auf dem Eis.
»Einen sicheren Heimweg«, sagte ich.
Ohne ein weiteres Wort marschierte sie davon.
7
Am nächsten Morgen traf ich um neun in meiner Kanzlei ein. Ich hatte flexible Bürozeiten, und an gerichtsfreien Tagen begann ich den Tag üblicherweise mit einem Fitnessprogramm und kam erst spät in die Kanzlei. Heute jedoch wollte ich meine Notizen über die Beweisführung der Anklage im Fall Stoller abschließen, sie abtippen lassen und damit die erste provisorische Grundlage einer Datenbank erstellen.
Ich stieß die Tür mit dem Schriftzug TASKER & KOLARICH auf und lächelte unserer jungen Empfangsdame Marie zu, die einen Abschluss in Archäologie hat, sich aber schwer mit produktiver Arbeit und einem geregelten Erwerbsleben tut.
»Bitte keine Anrufer durchstellen«, sagte ich. »Ich habe in zehn Minuten eine Telefonkonferenz mit dem Pentagon.«
Sie blickte kaum auf. Vor ihr lag ein Dokument, also musste sie tatsächlich ernsthaft gearbeitet haben. »Sie haben einen Termin um zehn Uhr dreißig.«
Richtig. Hatte ich ganz vergessen. Irgendein Kerl hatte vor ein paar Tagen angerufen, war aber nicht damit herausgerückt, was er eigentlich wollte.
Shauna Tasker, meine Kanzleipartnerin, hatte ein junges Paar in ihrem Büro. Schätzungsweise ging es um einen Immobilienkaufvertrag, der auf beide Namen laufen sollte. Shauna war gut im Diversifizieren ihrer Tätigkeit. Zwar bevorzugte sie Zivilprozesse, betreute aber auch alle möglichen Arten von Geschäftstransaktionen, von Immobilienkäufen über Firmengründungen und Anstellungsverträge bis hin zum Einschlafen vor Langeweile.
»Was geht ab, alter Mann?«, rief Bradley John, der Dritte in unserem Team, der gerade das Büro mit einem Becher Starbucks in der Hand durchquerte.
»Hey, Rockstar.«
Nur fürs Protokoll: Ich bin lediglich sieben Jahre älter als Bradley. Er hat vor drei Jahren sein Jurastudium abgeschlossen und ist seit drei Monaten bei uns. Ich mag den Jungen, zeige es ihm aber so selten wie möglich.
An diesem Nachmittag erwarteten mich ein Drogenprozess sowie eine Verhandlung vorm Bundesgericht wegen Waffenbesitz. Der Drogenfall war ein Junge, der mit Pillen gedealt hatte – unter anderem mit solchen, die ganz oben auf der Liste verbotener Substanzen standen –, was ihm selbst als Ersttäter bis zu sechs Jahre einbringen konnte. Bei der Waffengeschichte hatten die Cops die Verhaftung vorgenommen, aber irgendwann hatte sich das FBI eingeschaltet, und die konnten das Strafmaß – an staatlichen Richtlinien gemessen – in stratosphärische Höhen treiben. Allerdings rechnete ich mir gewisse Chancen aus, denn der Junge hatte während der Verfolgung die Waffe unbeobachtet wegwerfen können.
Beide Fälle waren erträglich, denn die Mandanten hatten im Voraus bezahlt, außerdem würden wohl beide vor Gericht gehen – das Einzige, was in diesen Tagen meinen Puls noch richtig beschleunigen konnte. Und was den Termin um halb elf betraf, so handelte es sich – nach allem, was ich dem gestrigen Telefonat zwischen den Zeilen entnommen hatte – möglicherweise um einen Mordfall.
Der Kerl hieß Lorenzo Fowler. Er war mittelgroß, speckig um die Hüften und hatte schwere Tränensäcke unter den blutunterlaufenen Augen. Er trug ein am Kragen offenes weißes Hemd und ein billiges Wollsakko. Außerdem hatte er zu viel Eau de Cologne benutzt – jedes Eau de Cologne ist zu viel –, und er drückte meine Hand zu kräftig, bevor er sich auf der anderen Seite meines Schreibtischs niederließ.
Er strich mit den Händen über die Armlehnen des Sessels und trommelte mit den Füßen auf den Boden. Die Nerven. Keinesfalls unüblich in meiner Branche.
»Also hier gilt die anwaltliche Schweigepflicht, oder?«, fragte er.
»Sind Sie in einer führenden Position im öffentlichen Dienst?«
Er legte den Kopf schief. »Was? Nein.«
»Werden Sie mir von einem Verbrechen erzählen, das Sie in der Zukunft begehen wollen?«
»Nein, nichts dergleichen.«
»Dann unterliegt alles, was Sie mir erzählen, der anwaltlichen Schweigepflicht.«
Er nickte.
»Ich hab da ein paar, äh, rechtliche Probleme«, sagte er. Damit unterschied er sich in nichts von anderen Menschen, die meine Kanzlei aufsuchten.
»Erzählen Sie mir davon.«
»Ist nicht wichtig.«
Interessante Antwort. »Wofür wollen Sie mich dann anheuern? Soll ich eine Geburtstagsparty für Ihr Kind organisieren?«
Er musterte mich aus zusammengekniffenen Augen. Offensichtlich fand er mich nicht sonderlich witzig.
»Die haben mich wegen einer Sache im Visier. Wegen was Bestimmtem, das ich gemacht hab oder vielleicht auch nicht gemacht hab.«
Ich nickte zustimmend. »Sie brauchen einen Anwalt.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, dafür hab ich schon einen Anwalt.«
Ich hatte genug davon, ihm die Würmer aus der Nase zu ziehen. Irgendwann würde er es schon von selbst ausspucken.
»Wie auch immer.« Er schnappte nervös nach Luft und blickte sich im Büro um. »Falls die Sache zu heiß wird, dann überlege ich … Also, ich hab da was, um einen Deal auszuhandeln. Ich weiß was über einen anderen Fall.«
Ich legte beide Hände flach auf den Tisch. Bisher hatte diese Unterredung noch keinerlei Notizen erforderlich gemacht. »Mr. Fowler, wenn Sie bereits einen Rechtsvertreter haben, besprechen Sie das mit ihm. Oder mit ihr. Aber nicht mit mir.«
Er wackelte mit dem Kopf. Dann befeuchtete er sich die Lippen und studierte die Wände meines Büros, die billigen Kunstdrucke und die Diplome. Seine Nerven mussten ihm wirklich zu schaffen machen.
»Das ist eine Geschichte, über die ich nicht mit ihm reden kann.«
Irgendetwas passte hier nicht zusammen. Und dafür gab es nur eine Erklärung.
»Für wen arbeiten Sie?«, fragte ich. »Die Morettis? Die Capparellis?«
Er senkte den Kopf, dann lächelte er. Ich wünschte, das hätte er unterlassen. Vermutlich hatte er schon seit Jahrzehnten keinen Zahnarzt mehr besucht.
»Capparellis«, sagte er.
Aha. Fowler arbeitete für das organisierte Verbrechen, die Mafia, für das, was von den alten Syndikaten übrig geblieben war, nachdem das FBI ihre Organisationen in großen Teilen zerschlagen hatte. In dieser Stadt waren sie längst nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren, aber immer noch Respekt einflößend. Waffen, Prostitution und Wetten, nicht zu vergessen Drogen und Schutzgelderpressung. Rico Capparelli war das Oberhaupt der Familie, aber er saß nach einer Verurteilung wegen organisierter Kriminalität im Knast – ironischerweise also wegen der sogenannten RICO-Gesetze. Man ging davon aus, dass sein Bruder Paul jetzt die Geschäfte lenkte, aber das alles wusste ich nur aus Zeitungsberichten. Als Staatsanwalt war ich auf Straßengangs spezialisiert gewesen, nicht auf den Mob.
Was auch immer Lorenzo Fowler möglicherweise getan oder auch nicht getan hatte, er wurde von einem Anwalt der Mafia vertreten. Und dessen Loyalität galt stets der Mafia und nicht seinem Klienten. Fowler hatte einen Tauschhandel anzubieten, konnte ihn aber nicht über seinen gegenwärtigen Rechtsvertreter abwickeln. Was bedeutete, er wollte jemanden preisgeben, der in der Nahrungskette über ihm stand.
»Sie brauchen eine Rechtsberatung«, sagte ich. »Sie wollen wissen, was bei einem Deal für Sie rausspringt.«
»Sie haben’s erfasst.«
Das war es also. »Um was geht es bei dieser Sache, die Sie vielleicht getan haben oder vielleicht auch nicht?«
Er hob eine Schulter. »Der Typ, dem das Knockers gehört. Der Stripclub drüben auf der Green. Vielleicht hat er letzte Woche ’nen kleinen Denkzettel verpasst gekriegt. Vielleicht wird er den nicht überleben.«
»Tut mir leid, das zu hören.«
»Würd es nicht, wenn Sie das Arschloch kennen.«
Dieser Lorenzo Fowler wurde mir langsam richtig sympathisch.
»Okay, also schwere Körperverletzung, vielleicht versuchter Totschlag«, sagte ich. »Und irgendwann könnte das Ganze zum Totschlag werden.«
Fowler schauderte bei dem Gedanken.
»Was haben Sie anzubieten?«, fragte ich.
Das ließ ihn noch mehr schaudern. Er zog die Schultern hoch. »Vielleicht gab es da noch einen Mord. Wegen einer ganz anderen Geschichte. Und vielleicht weiß ich was darüber.«
»Sie wissen möglicherweise, wer es getan hat?«
»Nehmen wir an, ich wüsste es.« Sein Gesicht verriet nichts über seine Gedanken. Ein Wesenszug, den er sich vermutlich im Verlauf seiner miesen, kleinen Gangsterkarriere angeeignet hatte.
»Okay, gehen wir also davon aus. Können Sie einen Mordfall für die Polizei lösen? Das wäre schon was wert. Vermutlich keine Immunität, aber immerhin etwas.«
Er lauschte aufmerksam. »Kein Freispruch?«
»In dieser Sache mit dem Stripclub-Besitzer? Das bezweifle ich. Immerhin handelt es sich um schwere Körperverletzung, falls der Typ überlebt. Oder um Totschlag, falls nicht. Also kaum vorstellbar. Hängt aber letztlich von den Umständen ab.«
»Selbst wenn der Kerl, den ich liefere, Gin Rummy ist?«
Die Anspielung sagte mir nichts. Aber seinem gespannten Ausdruck nach zu urteilen, erwartete er, dass ich den Namen kannte.
»Wer ist Gin Rummy?«, fragte ich.
Ein Lächeln huschte über seine Lippen. »Es gibt nur fünf Leute auf der Welt, die das wissen. Wollen Sie der sechste sein?«
Ich schüttelte den Kopf. »Das überlasse ich Ihnen. Offenbar ist Gin Rummy also jemand Bedeutendes?«
»Für die Cops? Absolut. Und fürs FBI auch. Und für Paulie ganz sicher.«
Womit er aller Wahrscheinlichkeit nach Paul Capparelli meinte, das neue Oberhaupt des Verbrecherclans.
»Paulie sagt immer: ›Gin Rummy ist unser Reinigungsmann‹.« Fowler lachte leise.
»Gin Rummy ist Berufskiller?«, fragte ich.
Fowler starrte mich lange an. Schließlich sagte er: »Fast.«
»Ein Auftragsmörder«, sagte ich.
»Richtig.«
»Besteht für Sie irgendein Unterschied zwischen ›Berufskiller‹ und ›Auftragsmörder‹?« Es war keine sonderlich hilfreiche Frage, aber langsam ging mir dieser Kerl auf die Nerven. Egal, wir hatten genug Katz und Maus gespielt. »Gut, war es das, Lorenzo? Nur Gin Rummys Klarname? Oder haben Sie Beweise, dass Gin Rummy diesen anderen Mord begangen hat?«
Erneut zeigte er mir seine ekelhaften Zähne. »Ich hab Beweise.«
»Welche Art von Beweisen?«
»Beweise eben.«
Das wenige Wissen, das ich als Staatsanwalt über die Mafia und ihre Mitglieder gesammelt hatte, war nun schon ein paar Jahre alt. Trotzdem klang es so, als sei Gin Rummy eine entscheidende Figur. Möglicherweise war das doch größere Zugeständnisse wert.
»Sie denken an so was wie ein Zeugenschutzprogramm?«, fragte ich.
»Richtig. Das Problem ist, dieser eine Mord, über den ich Informationen hab, für den interessieren sich die Cops, nicht das FBI.«
Die staatlichen Polizeiorgane stellen normalerweise keine Zeugenschutzprogramme auf die Beine, aber das FBI arbeitet mit ihnen zusammen, wenn es sich für sie lohnt. All das erklärte ich Lorenzo.
»Oh, es wird sich lohnen«, versicherte er mir.
Was das betraf, musste ich mich vorläufig auf sein Wort verlassen. »Aber wenn ich Sie recht verstehe, sind Sie noch nicht bereit für den Deal?«
»Richtig. Und da ist noch eine weitere Frage. Wenn ich das durchziehen will, kann ich das über Sie laufen lassen, ganz vertraulich?«
»Ich denke, das lässt sich regeln, Lorenzo.«
Er beugte sich vor. Sein Gesicht war rot angelaufen. »Und die Sache, über die wir gesprochen haben, die bleibt unter uns.«
»Dieses Gespräch unterliegt der anwaltlichen Schweigepflicht, wenn Sie das fragen.«
»Ich frage nicht.« Seine Augen wurden kalt. Er hatte sich blitzschnell hinter die bedrohliche Fassade eines Mafiaschlägers zurückgezogen. »Ich mache hier eine klare Ansage. Das Ganze bleibt unter uns. Haben wir uns verstanden?«
Wenn ich wütend werde, habe ich die Angewohnheit, bis zehn zu zählen und erst dann zu sprechen. Ich bin nämlich bekannt dafür, gelegentlich unüberlegte Dinge zu äußern, und es war mein Neujahrsvorsatz, besser mit meinen Mitmenschen zurechtzukommen. Allerdings hatte ich diesen Neujahrsvorsatz bereits vor zwei Jahren gefasst, daher wirkte er wohl nicht mehr so richtig.
Ich kam beim Zählen nur bis vier. »Drohen Sie mir nicht, Lorenzo, und kontaktieren Sie mich nie wieder«, sagte ich. Dann erhob ich mich. » Jetzt haben wir uns verstanden.«
***
Nachdem Lorenzo Fowler die Kanzlei verlassen hatte, wandte er sich nach rechts und stellte sich an den Straßenrand, um ein Taxi herbeizuwinken. Ein paar Minuten später gab er auf und beschloss, stattdessen zu Fuß durch das Geschäftsviertel zu laufen.
Von der anderen Straßenseite aus beobachtete ihn Peter Ramini, die Hände in den Manteltaschen vergraben. In diesen Tagen hatte er immer die Hände in den Taschen. Er sah zu, wie Fowler am Ende des Blocks um die Ecke verschwand. Es gab keinen Grund, ihm zu folgen. Es spielte keine Rolle, wo Lorenzo jetzt hinging. Nur wo er gerade gewesen war, das zählte. Vorsichtig zog Ramini sein Handy heraus und drückte eine Schnellwahltaste. Keine vier Minuten später fuhr eine schwarze Limousine vor.
Er stieg hinten ein, ließ sich neben einen Mann namens Donnie fallen und schob die Hände zurück in die Manteltaschen. Er wartete, bis sich der Lincoln in Bewegung gesetzt hatte, bevor er zu sprechen begann.
»Zo hatte einen Termin bei diesem Anwalt«, sagte er. »Sein Name ist Jason Kolarich. Das Treffen hat gerade eben stattgefunden. Frag Paulie, was er wegen Zo unternehmen will.«
Donnie war ein großer Mann mit tief liegenden Augen. Seine Hüften wirkten, als hätte er einen aufgeblasenen Reifenschlauch unterm Hemd versteckt. »Sonst noch was?«, fragte er.
Ramini dachte einen Moment nach. »Ja«, sagte er. »Frag ihn auch, was er wegen Jason Kolarich zu unternehmen gedenkt.«
8
Dr. Sofian Baraniq lehnte sich in unserem Konferenzraum in seinem Stuhl zurück. Er war für einen Experten eher jung – in seinem Lebenslauf stand vierundvierzig –, aber mit den grauen Strähnen im Haar und dem Vollbart wirkte er recht seriös. Er sah fremdländisch aus, sprach aber absolut akzentfrei, war also offensichtlich in Amerika geboren. So oder so war es in Ordnung für mich. Ich kannte seine ethnische Herkunft nicht, aber sein Name ließ auf Indien, den Mittleren oder Nahen Osten schließen, und Experten mit solcher Abstammung genossen das Vertrauen der meisten Jurys. Vermutlich könnte man das als umgekehrten Rassismus, als positiven Rassismus oder einfach als Ignoranz deuten, trotzdem spielte es eine Rolle. Jurys begegneten Experten aus Asien oder den arabischen Ländern mit weniger Voreingenommenheit und mehr Respekt. Und wie jeder Anwalt nutzte ich jeden sich bietenden Vorteil, war er auch noch so klein.
»Es ist ein vertrackter Fall«, erklärte der Arzt. Sein Hemd unter dem Anzug war fleckig und seine Krawatte von einem trostlosen Graubraun. »Er hat eine posttraumatische Belastungsstörung und leidet unter Schizophrenie. Die Symptome sowohl der einen wie der anderen Erkrankung könnten sich bei der Tat ausgewirkt haben.«
Das war mir bereits bekannt. Bryan Childress hatte es mir erläutert. Tom Stoller hatte wegen seiner PTBS möglicherweise einen Rückfall in eine Kriegssituation erlebt, oder er hatte aufgrund seiner Schizophrenie halluziniert.
»Spielt das eine Rolle für Ihre Verteidigung?«, fragte er.
Es war sogar die entscheidende Frage. »Ich muss eine geistige Störung nachweisen«, sagte ich. »Und beides sind anerkannte geistige Störungen. Theoretisch könnte ich also vor Gericht erklären: Es war entweder PTBS oder Schizophrenie, suchen Sie sich was aus. Aber so was kommt bei Jurys schlecht an.«
Ich selbst gab PTBS den Vorzug. Dieses Leiden bot eine gute Vorlage, um der Jury alles über Toms schreckliche Erfahrungen als Kriegsveteran im Irak zu berichten. Obwohl ich das Dr. Baraniq natürlich nicht auf die Nase band.
»Ich habe viel mehr Erfahrung mit PTBS-Gutachten«, erklärte der Arzt. »Allerdings lässt sich die Schizophrenie bei Tom problemloser diagnostizieren. Da spielt es nämlich keine Rolle, über was er und ich miteinander reden. Ich muss ihn einfach nur beobachten und die Protokolle und die Laborberichte lesen. Außerdem behandelt ihn das Staatsgefängnis mit Psychopharmaka und Beruhigungsmitteln, was meiner Diagnose entspricht. Dementsprechend leicht lässt sich diese Einschätzung vor Gericht vertreten. Aber bei PTBS? Da muss ich wissen, in welchem Zustand er zum Zeitpunkt der Tat war. Und ich muss herausfinden, was ihm im Irak zugestoßen ist. Aber dazu muss Tom mit mir reden. Er muss über die Tatnacht sprechen. Und über den Irak. Und beides tut er nicht.«
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Dieses Problem hatte Childress mir bereits geschildert, doch es von einem Experten aus erster Hand zu hören, war ein Nadelstich in meinen Ballon.
»Aber Sie können ihm doch ganz allgemein PTBS attestieren«, sagte ich.
»Natürlich kann ich das.«
»Und wir gehen doch sicher alle davon aus, dass der Krieg im Irak alles andere als erfreulich war.«
»Besonders für einen Army Ranger.«
»Und was die Tatnacht betrifft – Tom redet zwar nicht darüber, aber Sie haben sein Verhör auf Band.«
»Ja. Und ich glaube, darauf erleben wir einen PTBS-Vorfall.«
Ich nickte und spürte wieder Rückenwind. »Und ausgelöst wurde dieser Vorfall offensichtlich durch einen Blick auf das Foto des Opfers. Ist es da nicht naheliegend, dass er einen ähnlichen PTBS-Vorfall erlitt, als er auf sie schoss?«
Der Arzt musterte mich skeptisch. So viel zum Thema Rückenwind.
»Natürlich besteht da eine gewisse Wahrscheinlichkeit«, sagte er. »Aber kann ich wirklich mit wissenschaftlicher Bestimmtheit aussagen, dass Tom an PTBS litt, während er diese Frau erschoss?«
Er beantwortete seine eigene Frage nicht. Was bereits eine Antwort in sich darstellte.
Shauna Tasker räusperte sich. »Sie sagten, im Staatsgefängnis wird Tom wegen Schizophrenie behandelt?«
»Ich sagte, die Medikation entspricht einer solchen Diagnose.« Dr. Baraniq lächelte, als wollte er sich entschuldigen. »Das ist jetzt keine Haarspalterei. Sie geben ihm Neuroleptika, die seine Wahnvorstellungen und Halluzinationen eindämmen. Außerdem erhält er stimmungsstabilisierende Beruhigungsmittel. Mit genau diesen Medikamenten würde ich einen Schizophrenen behandeln. Allerdings werden sie auch in anderen Zusammenhängen eingesetzt. Sie lassen also nicht zwingend darauf schließen, dass er schizophren ist.«
Shauna nickte pflichtbewusst, als er geendet hatte. Meiner Erfahrung nach konnten Gespräche mit medizinischen Experten ziemlich frustrierend sein, da sie fast all ihre Aussagen wieder relativierten. Man hätte ein Ablaufdiagramm benötigt, um ihrer verschlungenen Argumentation zu folgen. Ähnlich ging es den meisten Menschen wohl nach einem Gespräch mit einem Anwalt.
»Hatte Tom Wahnvorstellungen oder Halluzinationen während seines Aufenthalts im Boyd?«, fragte ich.
Dr. Baraniq zuckte mit den Achseln. »Nicht dass ich wüsste. Aber das bedeutet nicht, dass er keine hatte. Möglicherweise hat er nur niemandem davon erzählt. Tom kann auf einem Stuhl sitzen und Ihnen zuhören, während sein Bewusstsein in hundert Richtungen galoppiert. Wenn Sie dann noch die Medikamente einkalkulieren, die sein Gefühlsleben stark abdämpfen, müssen sich die Symptome nicht unbedingt offen manifestieren.«
»Besonders wenn niemand darauf achtet«, sagte ich.
»Exakt.« Dr. Baraniq deutete auf mich. »Das Gefängnissystem will ihn sediert und gefügig, und das gilt besonders für die Untersuchungshaft. Aber sie sind nicht daran interessiert, seine psychischen Probleme zu lösen.«
»Sie heilen Tom nicht«, sagte Shauna. »Sie kleben einfach ein Pflaster auf seine Wunden.«
»Absolut. Tom braucht Medikamente, aber er benötigt vor allem eine Psychotherapie. Er braucht soziales und berufliches Training. Möglicherweise braucht er auch eine Elektroschocktherapie.« Der Arzt schüttelte den Kopf. »Nichts davon kriegt er während des Vorverfahrens. Schon per Definition ist die Untersuchungshaft eine vorübergehende Unterbringung. Daher stellt der Staat keine Mittel für eine Langzeitbehandlung zur Verfügung.«
Das war die traurige Wahrheit. Sie war mir seit vielen Jahren bekannt. Aber im Moment hatte ich dringlichere Sorgen. »Zurück zur Tat«, sagte ich. »Ist es denn möglich, dass Tom nicht einen PTBS-Flashback, sondern eine durch seine Schizophrenie ausgelöste Halluzination erlebte? War das möglicherweise der Auslöser für den Schuss auf Kathy Rubinkowski?«
»Theoretisch durchaus vorstellbar«, sagte der Arzt. »Aber wie gesagt, im Moment kann ich noch nicht mal mit Sicherheit sagen, ob Tom überhaupt Halluzinationen hatte. Und noch viel weniger kann ich deren exakte Natur und Intensität beschreiben.«
Ich seufzte.
»Außerdem muss ich Ihnen mitteilen«, fuhr der Arzt fort, »dass ich vor Gericht bei einer allgemeinen Aussage über Schizophrenie auch erwähnen müsste, dass die von Schizophrenen ausgehende Gewalt sich in fast allen Fällen gegen sie selbst richtet. Ganz im Gegensatz zu dem, was man häufig im Fernsehen sieht.«
Shauna tippte mit dem Stift auf ihren Notizblock. »Aber bei PTBS«, sagte sie, »ist ein gewalttätiger Ausbruch üblich.«
»Es kommt häufiger vor. Jedenfalls häufiger als Gewalt gegen andere bei Schizophrenie.«
Ich blickte zu Shauna. Wir versuchten beide zu entscheiden, welcher Weg der weniger aussichtslose war.
»Tom leidet unter PTBS«, sagte der Arzt. »Ich weiß, die Staatsanwaltschaft wird dem widersprechen, trotzdem bin ich mir meiner Sache sicher. Es ist die beste Erklärung für die Ereignisse. Und so, wie ich es sehe, haben wir einen akuten Flashback auf Video dokumentiert. Außerdem spricht sein ganzes Verhalten dafür. Leider erzählt er mir nichts über den Irak – und obwohl das wenig hilfreich ist, ist es in gewisser Hinsicht symptomatisch. Sein Vermeidungsverhalten deutet auf die Tiefe seiner Traumatisierung hin. Hat er sich bei Ihnen schon über die Hitze beklagt?«
Ich nickte. »Ja, hat er.«
»Die Hitze erinnert ihn an den Irak. Natürlich ist ein stickiger Raum in einem Gefängniskrankenhaus nicht mit den Wüsten des Nahen Ostens vergleichbar, aber er löst Erinnerungen aus. Und der Patient will alles vermeiden, was ihn dorthin zurückversetzt.«
Das erschien einleuchtend.
»Außerdem zeigt er generelles Desinteresse. Ja, er ist richtiggehend fatalistisch, stimmen Sie mir da zu?«
»Er hat mir erklärt, ihm ist egal, wer ihn als Anwalt vertritt, Hauptsache, es ist vorbei«, erwiderte ich. »Ich hab ihn jetzt zweimal getroffen, und er wollte über nichts reden, was mit der Tatnacht oder seinen Kriegserfahrungen zusammenhängt. Außerdem lehnt er jeden Aufschub seines Prozesses ab.«
Schweigen. Anwälte speichern Informationen, verarbeiten sie, versuchen sie in eine Verteidigungsstrategie einzupassen, die ihren Mandanten rettet. Das ist eine Kunst, keine Wissenschaft. Fakten weisen in unterschiedliche Richtungen. Sie fügen sich nicht unbedingt fein säuberlich in eine logische Argumentationskette.
» PTBS«, sagte Shauna.
Ich holte tief Luft. » PTBS«, stimmte ich zu.
» PTBS, aber dazu muss er uns dringend ein paar Informationen liefern«, sagte der Arzt. »Andernfalls bleibt meine Aussage über die Tatnacht zu unbestimmt.«
»Verstanden.« Ich atmete aus. Das Ganze war noch komplizierter als erwartet.
»Prozessbeginn ist immer noch der erste Dezember?«, fragte der Arzt.
»Richtig. Im Moment zumindest.«
»Wissen Sie schon, wann Sie mich in den Zeugenstand rufen werden?«
»Jetzt und hier? Nicht wirklich. Der erste Dezember ist ein Mittwoch. Wir werden eine Jury auswählen, anschließend braucht die Anklage einige Tage für ihre Beweisführung. Weniger als eine Woche, würde ich vermuten. Also tippe ich auf den achten oder neunten.«
»Okay, das könnte hinhauen. Denn am siebten geht es bei mir nicht.«
Ich seufzte. »Herr Doktor, ich bin da auf Ihre Flexibilität angewiesen.«
»Darum erwähne ich es ja. Am siebten ist es mir unmöglich. Da habe ich eine religiöse Verpflichtung.«
»Okay. Welcher Religion gehören Sie an?«
»Islam«, sagte er.
»Oh.« Das ließ mich stutzen. »Das ist … interessant.«
»Warum ist das ›interessant‹? Weil ich über einen Mann befinden soll, der an einer militärischen Operation gegen ein vorwiegend muslimisches Land beteiligt war?«
Irgendwas in der Art, ja. Ich tue mich schwer mit politischer Korrektheit. Die religiösen Überzeugungen von anderen Menschen sind mir zwar völlig gleichgültig – ich bin mir nicht mal sicher über meine eigenen religiösen Überzeugungen –, aber ich tue mich schwer mit übersteigerter Einfühlung.
Dr. Baraniq lachte über mein Unbehagen. »Entspannen Sie sich, Mr. Kolarich. Wir Muslime in Amerika haben mittlerweile ein dickes Fell.«
Das brauchten sie auch. Ich erinnerte mich noch gut daran, wie ein paar Kilometer westlich unseres Geschäftsbezirks diese gigantische Moschee gebaut wurde. Es war die größte Moschee im Mittleren Westen. Sie beendeten die Bauarbeiten im Sommer 2001, nur ein paar Wochen vor dem 11. September. Und um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, trug die Moschee auch noch den Namen Masjid al-Qadir, was unvorteilhafte Assoziationen mit dem Namen der Terrorgruppe hervorrief, die uns attackiert hatte. Damals war ich noch Staatsanwalt und Single und kam jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit an der Moschee vorbei. Es gab Proteste, Todesdrohungen und ständige Demonstrationen vor dem Gebäude. Endlich willigten die Verantwortlichen ein, das große Namensschild an der Moschee abzunehmen, allerdings ohne den Namen zu ändern.
Kaum jedoch waren ein paar Monate vergangen, da stand die Moschee in dem guten Ruf – zumindest bei denen, die ein derartiges Lob über die Lippen bekamen –, für Ruhe und Ordnung gesorgt zu haben in einem Viertel, das vorher von Gangs, Drogenhandel und Schießereien beherrscht wurde. Sie verteilten dort einmal im Monat kostenlos Lebensmittel und Kleidung und hatten sich erstaunlich gut assimiliert.
All das stimmte mich nachdenklich. Dr. Baraniqs Religion konnte unter Umständen sogar hilfreich sein für den Prozess. Gelang es mir, während seiner Aussage irgendwie seinen Glauben zu erwähnen, würde das seine Vertrauenswürdigkeit noch unterstreichen. Denn das Letzte, was man einem muslimischen Psychiater unterstellen würde, wäre Voreingenommenheit für einen amerikanischen Soldaten.
Er deutete mit dem Finger auf mich. »Wir müssen Tom zum Reden kriegen, Mr. Kolarich. Und mit mir will er sich nicht unterhalten. Für ihn bin ich bloß ein vom Gericht bestellter Arzt.« Er fixierte mich.
»Denken Sie vielleicht, er redet mit mir?«, fragte ich.
»Ich hoffe es in seinem eigenen Interesse.« Dr. Baraniq nahm seinen Mantel von der Rückenlehne seines Stuhls. »Denn andernfalls haben wir wohl kaum eine Chance, den Fall zu gewinnen.«
9
»Der Schlüssel zu diesem Prozess ist Sympathie«, verkündete ich im Konferenzraum. »Tom Stoller hat alles für sein Land gegeben. Das hat ihn zerstört. Er trug eine posttraumatische Belastungsstörung davon, die wiederum seine Schizophrenie auslöste. Von da an ging’s bergab. Bis sich eine Tragödie ereignete. Aber Tom Stoller ist mindestens ebenso sehr Opfer wie Kathy Rubinkowski.«
»Na ja, vielleicht nicht ganz so sehr«, warf mein Privatermittler Joel Lightner ein. Er hatte seine Krawatte gelockert und die Füße auf den Tisch gelegt. Joel leistet mir gelegentlich auf einen Drink Gesellschaft, genauer gesagt rund dreimal die Woche. Er hat zwei Ehen vermasselt, ist ein notorischer Schürzenjäger und ein begeisterter Trinker.
»Argumentieren wir denn nicht mehr mit Unzurechnungsfähigkeit?«, fragte unser Frischling Bradley John. Anders als Joel war Jung-Bradley noch interessiert daran, etwas Neues dazuzulernen.
»Unzurechnungsfähigkeit ist unsere rechtstheoretische Grundlage«, sagte ich. »Und die werden wir untermauern mit allem, was uns zur Verfügung steht. Aber sie ist nur Mittel zum Zweck. Wir brauchen sie, um der Jury Toms Hintergrund zu schildern. Um ihre Sympathien zu wecken. Sie sollen Skrupel empfinden, einen unserer tapferen Soldaten lebenslänglich hinter Gitter zu schicken. Natürlich müssen wir trotzdem sein fehlendes Unrechtsbewusstsein durch klare überzeugende Beweise belegen; ich bin mir jedoch nicht sicher, ob uns das wirklich gelingt. Tom konnte durchaus Recht von Unrecht unterscheiden. Er hat sich beim Opfer entschuldigt. Und anschließend hat er ihr die Handtasche, das Telefon und die Halskette geraubt. Daher habe ich Zweifel, ob wir damit durchkommen. Allerdings gehe ich davon aus, dass wir die Geschworenen im Verlauf unserer Argumentation so für Stoller einnehmen können, dass sie für einen Freispruch stimmen.«
»Aber er hat doch einen Rückfall in den Irakkrieg erlebt, oder?«
Lightner drehte seinen Kopf träge – will sagen: herablassend – in Jung-Bradleys Richtung. »Glaubst du vielleicht, er hat sich bei den Al-Qaida-Terroristen entschuldigt, als er sie erschoss?«
»Vielleicht hat er das.« Shauna war für ihren heutigen Gerichtstermin apart gekleidet. Ihre blonden, inzwischen wieder etwas längeren Locken umrahmten ihr hübsches Gesicht. Und sie trug diese sexy Bibliothekarinnen-Hornbrille, was ganz offensichtlich Joels Blut in Wallung brachte. »Ganz im Ernst«, sagte sie. »Vielleicht fühlte er sich schlecht, weil er andere Menschen umbrachte. Was ist so merkwürdig daran? Ich meine, ist das nicht der eigentliche Grund, warum der Krieg Menschen so kaputt macht?«
Ich hob die Hände. »Ist gut, Leute. Ich stimme euch zu. Wir verwenden das. Und wir beziehen ein, was er der Polizei beim Verhör erzählt hat. Dennoch wird die Jury ausdrückliche Instruktionen erhalten – und laut diesen müssen wir eindeutige Beweise dafür vorlegen können, dass Tom aufgrund seiner geistigen Störung über kein Unrechtsbewusstsein verfügte. Also müssen wir dafür sorgen, dass die Geschworenen die Instruktionen missachten und ihn trotzdem freisprechen, weil sie in ihm ein Opfer sehen.«
Ich marschierte im Raum auf und ab. Wie gerne hätte ich jetzt meinen Football in der Hand gehabt, aber ich hatte ihn irgendwo unauffindbar in meinem Büro verstaut. »Joel«, sagte ich. »Ich brauche aktuelle Befragungen von allen, die mit Tom im Irak gedient haben. Jemand muss uns darüber berichten, was dort passiert ist. Speziell über alles, was in Zusammenhang mit Tom steht. Wenn Tom uns nichts erzählen kann, können es vielleicht andere. Hoffentlich – und ich kann kaum fassen, dass ich das sage –, hoffentlich hat er dort drüben Menschen umgebracht.«
»Und es wäre vermutlich ein Volltreffer, wenn er eine junge Frau getötet hätte, die aus einem Wagen stieg und dabei eine Pistole auf ihn gerichtet hielt?«
»Ja, Joel, das wäre genial.« Er erinnerte mich daran, wie schwierig dieser Fall lag. PTBS-Flashbacks wurden laut Dr. Baraniq durch Situationen ausgelöst, die den ursprünglichen traumatischen Erfahrungen ähnelten. Daher war es nur schwer zu begründen, wieso die Begegnung mit einer gut gekleideten, zierlichen jungen Frau Tom Stoller in den Irak zurückversetzt haben sollte. Doch es war alles, was wir hatten.
»Bradley«, fuhr ich fort. »Vertief dich in die einschlägigen juristischen Werke. Ich will jedes Gerichtsurteil in Zusammenhang mit PTBS. Der Pflichtverteidiger hat da bereits Recherchen angestellt, aber ich will, dass du alles noch mal durchgehst. Wir müssen wissen, welche Argumente der Verteidigung gefährlich werden können, welchen Stellenwert theoretische Hypothesen im Vergleich zu Schilderungen aus erster Hand haben. Ich will Beispiele, wo der Angeklagte nicht über das Trauma reden wollte, aber trotzdem als PTBS-Fall anerkannt wurde. Behalte dabei im Auge, dass einige Urteile den alten M’Naghten-Regeln zu Zwangshandlungen folgen, andere den modifizierten ALI-Richtlinien. Ich möchte vorzugsweise einen Urteilsspruch, der sich auf die ALI-Richtlinien bezieht, so wie wir es tun. Aber ich bin nicht gierig.«
»Verstanden. Ich kümmere mich sofort darum.« Bradley schien Feuer und Flamme für den Fall.
»Shauna«, sagte ich. »Du nimmst dir die Forensik vor, die Blutlache und die Protokolle der Rechtsmediziner. Schließlich muss die Tat nicht unbedingt so abgelaufen sein, wie es die Staatsanwaltschaft behauptet. Und wenn wir diesen Kerl anheuern müssen – wie war noch mal sein Name, Peters? –, dann lass uns reden, und wir machen es möglich.«
»Und wenn du damit fertig bist, Shauna«, sagte Joel, »dann kommst du bei mir vorbei. Wir köpfen eine Flasche Wein und sprechen über alles.«
Shauna verdrehte die Augen und nickte mir zu. »Und worin besteht dein Job?«
»Mein Job?« Ich streckte die Arme. »Ich werde dafür sorgen, dass Tom Stoller sich mit mir unterhält.«
10
Lorenzo Fowler war ein verheirateter Mann, daher mussten seine Treffen mit Sasha immer in ihrer Wohnung stattfinden. Genau genommen war es seine Wohnung, denn er hatte sie gekauft und kam auch für Nebenkosten und Steuern auf. Es war eines der etwas exklusiveren Apartments in der aufblühenden West Side. Er hatte Sasha bei der Wahl des Ortes freie Hand gelassen, aber da sie sich als Künstlerin fühlte, schätzte sie das Flair dieses Viertels.
Fowler parkte seinen Wagen, stieg aus und schlug den Mantelkragen hoch. Es war dunkel und kalt, und bevor er loslief, überprüfte er rasch die Umgebung auf drohende Gefahren.
Er bemerkte keine.
Er bemerkte Peter Ramini nicht, der ein Stück die Straße runter in einem Wagen saß, die Hände in den Manteltaschen vergraben.
Fowler war um 21.40 Uhr vor Sashas Apartmenthaus eingetroffen. Hätte Ramini die Bewegungen Lorenzos voraussagen müssen, hätte er darauf getippt, dass dieser vier Stunden in ihrem Apartment verbringen würde, bevor er wie üblich nach Hause zurückkehrte. Er kehrte stets nach Hause zurück. Er war noch nie die Nacht über bei Sasha geblieben.
Etwas mehr als vier Stunden später verließ Lorenzo den Aufzug in der Lobby des Gebäudes. Er nickte dem Mann am Empfang zu, ohne eine Spur von Schuldgefühl oder Scham. Nach so einem Abend mit Sasha fühlte er sich immer besser. Für eine Ukrainerin zauberte sie erstaunlich gute Gerichte mit italienischer Wurst und Paprika auf den Tisch. Und im Bett bewies sie eine gymnastische Beweglichkeit, die ihr bei den Olympischen Spielen sicher eine Goldmedaille eingetragen hätte. Nach der halben Flasche Wein, dem Essen und dem Sex war er in fast heiterer Stimmung.
Es war eine willkommene Verschnaufpause.
Doch die eisige Morgenluft sorgte für ein bitteres Erwachen in der Wirklichkeit. In letzter Zeit war es nicht gut gelaufen für Lorenzo. Dieser Stripclub-Besitzer, dem er einen Denkzettel mit dem Baseballschläger verpasst hatte, war vor zwei Tagen gestorben. Heute hatte bereits die Polizei auf dem Schrottplatz nach Lorenzo gesucht. Morgen würden sie wiederkommen. Paulie war sicher schon nervös.
Paulie war in letzter Zeit ständig nervös. Die Geschäfte liefen nicht mehr so wie früher. Klar, das FBI hatte immer schon rumgeschnüffelt, aber mittlerweile war die Überwachung so engmaschig geworden, dass man sich nirgendwo mehr sicher fühlen konnte. Heutzutage flüsterte Paulie seinen Leuten die Anweisungen nur noch direkt ins Ohr.
Was würde Paulie wohl davon halten, dass die Cops mit Lorenzo über den toten Stripclub-Besitzer reden wollten?
Lorenzo schauderte. Er dachte an das Gespräch kürzlich mit diesem Anwalt. Dieser Kolarich schien bereit zu sein, ihm zu helfen. Viele Anwälte kniffen gleich den Schwanz ein, wenn sie hörten, dass die Mafia mit im Spiel war. Aber für diesen Kolarich schien es eher ein zusätzlicher Kick. Außerdem hatte der Kerl Mumm; Lorenzo waren noch nicht viele Leute begegnet, die wussten, dass er in den Diensten der Capparellis stand, und die ihn trotzdem zum Teufel schickten. Egal wie sich dieser Kolarich geäußert hatte, der Mann würde für ihn da sein, wenn er ihn brauchte.
Die Identität von Gin Rummy preiszugeben, würde ihm den Arsch retten, da war er sich sicher. Das FBI würde sich einschalten und dafür sorgen, dass er im Fall des toten Stripclub-Besitzers ungeschoren blieb, möglicherweise sogar bei all den anderen Geschichten, die man ihm zur Last legte. War Gin Rummy erst mal aus dem Verkehr gezogen, fehlte Paulie sein wichtigster Vollstrecker. Er musste auf einen der wenigen Männer verzichten, denen er noch vertraute. Es war eine wertvolle Information. Es war Lorenzos Ticket in ein neues Leben. Er würde in jedem Fall an einen warmen Ort ziehen, so viel war klar. Und er würde dort ein Apartment für Sasha einrichten, wenn sie kommen wollte. Würde sie kommen?
Plötzlich beschlich Lorenzo ein merkwürdiges Gefühl, er fühlte sich irgendwie ausgesetzt. Nichts, worauf er den Finger hätte legen können, doch war es kein Zufall, dass er zweiundfünfzig Jahre lang überlebt hatte, fünfunddreißig davon in den Diensten der Capparellis.
Er verlangsamte seine Schritte, zog die Beretta hinten aus dem Hosenbund und hielt sie seitlich am Körper. Die Straßen waren verlassen. Die nächsten Bars lagen zwei Blocks entfernt. Bis auf ein Pärchen an der Ecke, das ausschließlich mit sich selbst beschäftigt war, schien Lorenzo allein zu sein.
Trotzdem schlug er zunächst einen Bogen um seinen geparkten Wagen, um in den Fond spähen zu können. Okay, der Rücksitz war leer. Doch während er den Wagen weiter umrundete, bemerkte er etwas auf dem Boden, eine einzelne Blume und einen Zettel. Er verharrte für einen kurzen Moment, während er sich auf die Stelle hinter seinem Auto konzentrierte.
Und genau in diesem Bruchteil einer Sekunde durchschlug eine Kugel seine Luftröhre und ließ ihn rückwärts gegen das Rollgitter eines Secondhand-Buchladens taumeln. Er versuchte, aufrecht zu bleiben, versuchte, die Waffe hochzureißen, doch die Impulse aus seinem Gehirn erreichten ihr Ziel nicht mehr.
Eine zweite Kugel zerschmetterte Lorenzos linke Kniescheibe. Eine dritte die rechte.
Lorenzo sackte vor der Tür des Buchladens zusammen.
Er wollte schreien, aber statt eines Lauts drang nur etwas Warmes, Klebriges aus dem Loch in seiner Kehle.
Du hattest deine Chance, dachte er, während alles um ihn herum dunkel wurde.
11
Ich war zurück im Vic’s, meinem bevorzugten Lokal, sofern ich keine Gesellschaft beim Trinken hatte. Wenn du Mitte dreißig bist, haben die meisten deiner Freunde Frau und Kinder, so wie ich früher; und auch wenn fünf Martinis in einer netten Bar an einem Montagabend sicher verlockend klingen, haben Familienväter um diese Zeit üblicherweise andere Prioritäten. Mir war es damals nicht anders gegangen.
Ich saß an meinem gewohnten Platz am Ende des umlaufenden Tresens, war jedoch betrunkener als gewöhnlich, da ich das Abendessen vergessen hatte. Das Lokal leerte sich bereits, und ich fühlte mich an die Situation vor ein paar Tagen erinnert, als ich Bekanntschaft mit diesen beiden Idioten geschlossen hatte, die die Lady belästigten.
Ich dachte über Tom Stoller nach und meine drei vergeblichen Versuche, ihn zum Reden zu bringen. Shauna arbeitete intensiv mit unserem Experten Dr. Baraniq zusammen, aber wie man es auch drehte und wendete, unsere Verteidigungsstrategie hatte Schwachstellen. Ich hatte mich damit abgefunden. Letztlich war es so, wie ich es bereits meinem Team erklärt hatte: Wenn wir unseren Job gut machten, würde sich die Jury nicht lange mit den technischen Details eines Antrags auf Unzurechnungsfähigkeit aufhalten. Entweder sie waren bereit, ihn freizusprechen, oder nicht.
Ich war müde. Heute war der letzte Tag im Stoller-Fall, an dem Anklage und Verteidigung noch Informationen über die im Prozess verwendeten Beweismittel und die Zeugenlisten austauschen konnten. Egal wie gut man vorher plante, am Ende geriet man immer unter Druck. Und bei Richter Nash wollte man möglichst kein Beweismittel unterschlagen. Denn was nicht termingerecht offengelegt wurde, wurde bei einer von ihm geleiteten Verhandlung nicht zugelassen.
Ich hob mein leeres Glas, um einen fünften Stoli zu ordern. Ich war kein Alkoholiker – was natürlich jeder Alkoholiker von sich behauptet. Doch bei mir lag der Fall anders (was ebenfalls viele behaupten). Ich versuchte nicht, vor irgendwas zu flüchten oder die Realität zu verdrängen. Ich kam neuerdings sogar ganz gut mit der Realität zurecht, zumindest fand ich das. Zwar vermisste ich meine Frau und meine Tochter immer noch so sehr, dass es mir gelegentlich den Atem raubte, aber ich hatte gelernt, damit zu leben.
Nein, ich trank, damit ich nachts einschlafen konnte. Ich hatte die Fähigkeit eingebüßt, ruhig und mit entspanntem Geist vom Wachzustand in den Schlaf hinüberzugleiten. Sobald ich einmal im Reich der Träume war, blieb ich dort, doch mir fehlte das innere Gleichgewicht, um hinzugelangen.
Der Barmann, ein anderer als üblich, schob mir ein Glas Wein hin, das mit Eiswürfeln, Zitronen- und Limettenschnitzen angefüllt war. Ich starrte es lange an.
»Scheiße, was ist das?«, fragte ich.
»Eine Weinschorle. Von der Lady.«
Ich drehte mich um und spähte zum anderen Ende des Lokals. Die Frau von neulich abends saß dort in ihrem weißen Mantel in einer Nische. Irgendwie war mir entgangen, dass sie hereingekommen war.
Sie schlenderte zu mir herüber. Ich hatte sie neulich nur aus der Ferne betrachtet. »Bewundert« war wohl das zutreffendere Wort. Jetzt, von Nahem, war sie noch genauso hübsch, die gleiche zierliche Statur, die gleichen mädchenhaften Züge, nur war das Bild jetzt mit mehr Details versehen. Ein schief lächelnder Mund, leicht misstrauische Augen, weiche weiße Haut mit einem Anflug von Sommersprossen oben auf den Wangenknochen. Außerdem roch sie verdammt gut.
»Der Cocktail, den Sie bestellt hatten«, sagte sie.
»Toll.«
Sie hatte sich noch immer nicht gesetzt. Sie wirkte unschlüssig.
»Sie wollen mir danken, wissen aber nicht, wie«, sagte ich. »Sie sind eine Frau, die gut auf sich selbst aufpassen kann, und schätzen es nicht, wenn Männer so tun, als müssten sie eine Jungfrau in Nöten retten.«
Sie lauschte mit einer Spur Amüsement.
»Andererseits«, fuhr ich fort, »waren Ihnen diese muskelbepackten Schläger auch nicht ganz geheuer. Vielleicht hatten Sie die beiden unterschätzt. Daher waren Sie erleichtert, als ich kam und Ihnen Hilfe anbot. Sie wussten die Geste zu schätzen und lehnten Sie gleichzeitig ab.«
Ihr Mund bewegte sich, während sie mich beobachtete und darauf wartete, dass ich fortfuhr. Aber ich ließ mir Zeit beim Betrachten ihres Munds, und meine Fantasie schweifte in dunkle, schwüle Gefilde ab. In letzter Zeit durchlebte ich gerade etwas wie eine sexuelle Durststrecke. Selbst Mahatma Gandhi hätte neben mir wie Hugh Hefner gewirkt.
»Wie schlage ich mich bisher?«, fragte ich.
»In Ihrer Selbstwahrnehmung?«
»Beginnen wir damit, klar.«
»Für Ihr Gefühl schlagen Sie sich hervorragend«, sagte sie. »Sie finden sich selbst charmant, einfühlsam und geradezu strotzend vor Selbstbewusstsein.«
»Vergessen Sie nicht, dass ich Sie gerettet habe.«
»Wie könnte ich das?«
Ich wies auf den Hocker. »Trinken Sie was mit mir.«
Sie zögerte, der Anflug von Humor verschwand aus ihren Augen. »Ich wollte Ihnen tatsächlich danken.«
»Dafür ist viel Zeit bei einem Drink. Ich bin sogar bereit, mich von Ihnen einladen zu lassen, wenn das Ihr Gewissen beruhigt.«
»Sie machen es einem wirklich nicht leicht. Ihnen zu danken.«
»Ich umgebe mich mit einer harten Schale, um meinen weichen, verletzlichen Kern zu schützen.«
»Außerdem sind Sie verheiratet«, sagte sie. Sie nickte in Richtung meiner linken Hand, die auf dem Tresen ruhte. »Auch wenn Sie heute Nacht Ihren Ehering nicht tragen.«
Sie hatte recht, man konnte noch immer den bleichen Umriss meines Eherings an meinem Finger erkennen. Vor ein paar Monaten hatte ich den Ring endlich abgenommen, aber so schnell waren die Spuren einer Ehe wohl nicht auszulöschen.
»Dann sollten Sie wohl besser das Weite suchen«, sagte ich.
Der Barmann stellte einen Stoli neben das Weinglas. Ich wandte mich von der Lady ab und meinem Drink zu. Es verstrichen einige Augenblicke, ohne dass sie sich von der Stelle rührte.
»Es war nett von Ihnen, dass Sie mir neulich nachts geholfen haben«, sagte sie schließlich.
»Keine Ursache.«
»Ich bin es nicht gewöhnt, dass Menschen mir helfen wollen.«
Ich schwieg. Stattdessen leerte ich den Stoli und spürte augenblicklich die Wirkung.
»Sie sind nicht verheiratet, richtig? Ich habe mich getäuscht.«
Ich setzte das Glas ab. »Ich bin nicht mehr verheiratet.«
»Haben Sie einen Stift?«
Hatte ich einen Stift? Nein, ich hatte keinen. Aber der Barmann hatte einen, und er brachte ihn mir zusammen mit einem weiteren Glas Stoli.
Sie reichte mir einen Zettel. Darauf stand das Wort »Tori« und darunter eine Telefonnummer.
»Falls Sie Lust haben, mich mal anzurufen«, sagte sie.
»Gut zu wissen«, sagte ich, aber da war Tori bereits auf dem Weg zur Tür.
12
Der Raum im Boyd Center, den man uns angewiesen hatte, wirkte wie ein großes Kinderspielzimmer. Es gab Tischchen für Brettspiele, eine Sitzgruppe rund um einen Fernseher und einen Schreibtisch mit Stühlen. Die Wände waren orangefarben gestrichen, und der Teppichboden war dick und ein bisschen schmuddelig. Nicht unbedingt der Rahmen für eine vertrauliche Unterredung zwischen Anwalt und Klient, aber die Budgets waren allenthalben knapp, und dieser Raum diente außerdem noch für Familienbesuche.
Tom Stoller war in keinem guten Zustand. Er benötigte dringend psychotherapeutische Behandlung seitens der staatlichen Gefängnisbehörden; doch die erhielt er nicht, weil derselbe Staat ihn anklagte, ihn lebenslänglich ins Gefängnis schicken und nicht anerkennen wollte, dass Tom zum Tatzeitpunkt unter einer geistigen Störung gelitten hatte – ja, generell unter einer solchen litt.
Ich saß am anderen Ende des Raums und beobachtete Tom und Shauna. Sie sprachen nicht über den Fall. Sie ergründeten nicht seine gequälte Psyche. Sie spielten Dame. Ich hatte Shauna mitgebracht, weil sie ein gutes Händchen für Menschen hatte; sie war wesentlich geschickter als ich im Knüpfen von Beziehungen und konnte sich sensibel den jeweiligen emotionalen Stimmungen anpassen. Tom saß Shauna gegenüber am Damebrett und wurde wie schon bei meinen vorherigen Besuchen von seinen Ticks geplagt. Seine Zunge schnellte hervor. Seine Augen blinzelten pausenlos. Seine Finger zuckten. Alles Nebenwirkungen der Psychopharmaka, wie Dr. Baraniq uns erklärt hatte. Tom schien über seinen nächsten Zug nachzudenken, in Wahrheit befand er sich aber vermutlich an einem weit entfernten Ort und imaginierte sich selbst als Sir Lancelot und Shauna als Genoveva.
Man hätte annehmen sollen, dass Toms Unterbringung im Boyd an sich schon eine Anerkennung seiner geistigen Erkrankung darstellte, doch weit gefehlt. Der Staat war nicht dumm. Im Boyd Center waren alle möglichen Arten von Häftlingen untergebracht, die für normale Gefängnisse ein Problem darstellten – von solchen mit ansteckenden Krankheiten wie AIDS, über solche, die isoliert werden mussten, wie Gangchefs oder Polizisten, bis hin zu solchen mit »Verhaltensauffälligkeiten«.
Tom Stoller zählte zu Letzteren. Er war nicht etwa geistig krank. Nein, er war lediglich »verhaltensauffällig«. Klar doch. Nach seiner Verurteilung würden sie ihn in ein Zuchthaus stecken, und dort würde ihm dann die angemessene psychologische Behandlung zuteil. Im Moment jedoch drohte die Verteidigung mit Unzurechnungsfähigkeit zu argumentieren, also behandelte der Staat ihn wie einen ganz normalen Häftling, den man mit Drogen ruhig stellte.
Tom übersprang zwei von Shaunas Damesteinen. »Oh, ich hatte gehofft, Sie würden das nicht sehen«, stöhnte sie.
Tom blickte auf und gaffte sie ausdruckslos an, so wie das normalerweise nur Kinder tun. Selbst als Shauna lächelte und den Blick abwandte, wie es jeder Erwachsene in so einem Fall tut, starrte er unverwandt weiter.
Pflichtbewusst übersprang Shauna einen von Toms Steinen. »Rache ist süß«, sagte sie.
»Ich hatte Freundinnen«, sagte Tom. Fast wäre ich aus meinem Sessel aufgesprungen. Es war Toms erste persönliche Äußerung.
»Darauf möchte ich wetten.« Shauna zwinkerte ihm zu. Gott sei Dank erkannte sie die Bedeutung des Moments, blieb aber bei ihrer entspannten Vorgehensweise.
Tom starrte wieder auf das Damebrett, während Shauna einen raschen Blick in meine Richtung warf. Und bevor zu viel Zeit verstreichen konnte und der Moment unwiederbringlich vorüber war, fragte sie: »Gab es da eine spezielle? Normalerweise gibt es immer eine ganz besondere.«
»Jenny. Jenny wollte aber nicht …« Tom ließ den Kopf sinken und begann zu murmeln.
Shauna wartete einen Augenblick. »Sie wollte nicht …«
»Ich kann mich nicht an den Namen des Films erinnern.« Tom schüttelte heftig den Kopf, als versuchte er, den Nebel in seinem Gehirn zu vertreiben. »In Somalia. Sie mochte ihn nicht.«
»Den Film …«
»Er machte sie traurig. Sie mochte das … Leiden nicht.«
Ich wusste, welchen Film er meinte. Es war ein recht brutaler Streifen über eine Operation der American Special Forces in Mogadischu, die schiefging und eine Reihe unserer Elitesoldaten das Leben kostete.
» Black Hawk Down«, warf ich von der anderen Seite des Raums ein.
Toms Kopf flog zu mir herum. Mit einer einzigen explosiven Bewegung sprang er auf und fegte das Damebrett mit dem Handrücken quer durch den Raum. Instinktiv rutschte Shauna mit dem Stuhl zurück, und ich stand auf. Gleichzeitig hob ich meine Hand in Richtung der Überwachungskamera, um zu signalisieren, dass wir keine Unterstützung durch die Aufseher brauchten oder wollten.
Tom stand erstarrt da, in irgendeiner fernen Erinnerung verloren. Dann drehte er sich langsam um und trottete in eine Ecke des Raums, wo er sich auf einem Stuhl niederließ und schweigend und – bis auf die bekannten Ticks – unbeweglich dasaß. Shauna und ich blickten einander wortlos an.
»Sie wollte nicht, dass ich kämpfe«, flüsterte er schließlich.
13
Es war Lunchzeit, und der Starboard Room im Maritime Club war voll besetzt. An den dreißig Tischen speisten je acht Gäste, während der Arbeitsminister sich über Tarifrecht und Respekt und Toleranz am Arbeitsplatz im »Neuen Amerika« verbreitete.
Ja, schönes neues Amerika, dachte Randall Manning, Präsident, Geschäftsführer und alleiniger Anteilseigner von Global Harvest International, einem hundert Kilometer südlich der Stadt gelegenen Unternehmen. Normalerweise hatte er keine wertvolle Arbeitszeit für Reden über Respekt und Toleranz übrig, aber er war ohnehin wegen anderer Geschäfte in der Stadt, und eine kleine Ablenkung war ihm durchaus willkommen. Außerdem genoss er das mit der Einladung einhergehende Prestige, den Platz mitten unter der gesellschaftlichen Elite. Warum sollte er sich nicht mal etwas gönnen; in letzter Zeit hatte sein Leben nicht viel Spaß bereitgehalten.
Während der Arbeitsminister weiter seine Rede abspulte, beugte sich Manning zu seinem Tischnachbarn hinüber, seinem Anwalt Bruce McCabe. »Wo«, flüsterte er, »steckt Stanley?«
Damit war Stanley Keane gemeint, Besitzer von SK Tool and Supply, einer Firma im südlichen Teil des Staats.
»Kann ihn nirgendwo entdecken«, sagte McCabe. McCabe war Mitinhaber der Kanzlei Dembrow, Lane und McCabe und externer Rechtsberater von Global Harvest.
Manning legte die Hand auf die Rückenlehne von McCabes Stuhl und flüsterte ihm direkt ins Ohr. »Stanley sollte hier sein«, sagte er. »Er muss sich zeigen.«
»Das weiß er.«
»Wirklich, Bruce? Es war dein Job, dafür zu sorgen, dass er das kapiert.«
»Er kommt schon noch«, versicherte McCabe.
Er kam nicht. Nachdem die Rede und der Lunch vorüber waren, mischte sich Randall Manning unter die anderen Unternehmer und Manager. Er schüttelte ihnen die Hand, hörte ihren Geschichten zu und erzählte ein paar von seinen eigenen. Er lachte über ihre Witze und erzählte einige von seinen. Er stand auf für ein gemeinsames Foto mit dem Arbeitsminister, schluckte seine Verachtung hinunter und setzte ein Lächeln für den Fotografen auf.
Als die Veranstaltung vorüber war, ließ sich Manning von seinem Fahrer zum Gold Coast Athletic Club chauffieren, wo er mit dem Vorstand eines Pharmazieunternehmens – einem der wichtigsten Kunden von Global Harvest – eine Runde Squash spielte. Um fünf traf er sich mit einem Stadtrat und einem Staatssenator auf einen Drink, um über Steuererleichterungen für einen Frachthof zu diskutieren, den Global Harvest innerhalb der Stadtgrenzen bauen wollte. Um sieben aß er ein Steak in einem der besten Lokale der Stadt und genoss dabei den Ausblick auf den Fluss.
Um neun kehrte er in sein Hotel zurück. Er fuhr mit dem Aufzug in sein Zimmer hinauf, tauschte seinen anthrazitfarbenen Mantel gegen einen beigefarbenen, setzte einen Fedorahut auf und nahm den Aufzug hinunter in den vierten Stock. Von dort benutzte er den Übergang zu weiteren Aufzügen, die es ihm erlaubten, das Hotel unbemerkt durch einen Seitenausgang zu verlassen. Ohne Eile schritt er zu einer wartenden Limousine und ließ sich auf den Polstern nieder.
Sie fuhren zu einem Ort namens Overton Ridge, ein paar Kilometer südwestlich der City. An der Ecke Wadsworth und Pickens rollte der Wagen an einer Methodistenkirche vorbei, die eine kleine Magnettafel schmückte mit der Aufschrift: WER AUCH IMMER DEN NAMEN GOTTES ANRUFT, WIRD ERRETTET WERDEN.
Die Limousine hielt in der Gasse auf der Rückseite der Kirche, wo zwei große, bewaffnete Männer neben der Hintertür standen. Sie begleiteten Randall Manning die Stufen hinunter ins Souterrain und dann zu einem Hinterzimmer.
Als sich die Tür öffnete, erhoben sich die sechs dort versammelten Männer. Unter ihnen war Mannings Anwalt Bruce McCabe. Und unter ihnen war auch Stanley Keane von SK Tool und Supply, der es heute nicht zum Lunch geschafft hatte.
Auf Mannings Zeichen hin setzten sich die sechs Männer an den langen, rechteckigen Tisch. Am Kopfende, wo ein Platz für Manning frei gehalten worden war, lag ein .38er Revolver. Manning nahm ihn und richtete ihn auf den Mann direkt zu seiner Rechten.
»Bist du bereit, dein Leben für unsere Sache zu geben?«, fragte er.
»Ja, das bin ich«, antwortete der Mann, der so jung und kraftstrotzend wie ein Footballspieler in seiner besten Zeit wirkte, einen militärischen Kurzhaarschnitt trug und dessen Augen bedrohlich funkelten. »Ich weiß, dass unsere Sache bedeutsamer ist als das Leben jedes Einzelnen. Ich weiß, dass die Hingabe dieses Lebens den Weg zu einem neuen und reicheren Leben im Jenseits eröffnet. Ich weiß …«
»Gut.« Manning ließ die Waffe sinken und ging um den Tisch herum zu Stanley Keanes Stuhl. »Und Sie, Stanley?«
Stanley schrumpfte unter seinem scharfen Blick. »Ich auch«, sagte er. »Ich weiß, dass unsere Sache …«
»Genug«, sagte Manning. Er presste den Revolverlauf an Stanleys linkes Ohr. »Hatten wir nicht klargestellt, wie wichtig Ihr Erscheinen bei diesem Lunch heute ist?«
»Doch, haben Sie, Sir.«
»Trotzdem sind Sie nicht gekommen.«