Wunder
Über mir war klarer Sternenhimmel, als ich am Strand saß, aber weit draußen wetterleuchtete ein Sturm herauf. Die Wolken teilten sich und flossen wieder zusammen, um breite Gewitterwände zu bilden. Blitze schossen quer hindurch und hoben die sonst blassen Wolkengebilde und alles andere, was ich von meinem Standpunkt aus sah, scharf hervor. Das Wetterleuchten flimmerte weit aufs Meer hinaus, und zwischen den Blitzen war wieder der Sternenhimmel zu sehen. Ganz fern das tiefe Rumpeln des Donners. Noch kein Geräusch von Regen, nur Donner und fauchender Wind mit zunehmendem Wellengang.
Für mich ist ein solches Unwetter wie eine Feuersinfonie am Himmel, sehr schön, dieses aber war die Ouvertüre zu einem schweren September-Hurrikan.
Wenn derartige Unwetter die Insel trafen, musste JoJo für eine Weile ohne menschliche Gesellschaft auskommen, weil die meisten natürlich lieber zu Hause blieben – und ins Wasser ging ganz bestimmt niemand. Ich allerdings habe gerade in solchen Zeiten manches besonders Interessante erlebt.
JoJo fürchtete sich vor Blitzen und suchte Schutz unter den Anlegern, denn die Boote, die er normalerweise als Deckung bevorzugte, wurden natürlich vor einem schweren Unwetter in die geschützten Jachthäfen verlegt.
Ich hatte solche Ängste nicht. Wenn ich ins Wasser ging, nahm ich mir oft einen Augenblick Zeit, um ganz eins mit ihm zu werden. Ich legte mich dann mit geschlossenen Augen auf den Rücken und schwebte in einen meditativen Zustand hinein. Innerlich wurde ich eins mit dem Wasser, dem Sand, den Pflanzen. Frieden erfüllte mich dann und ich wusste, ich war geborgen.
Wenn ich während eines Gewitters im Wasser war, schob sich JoJo bei jedem Blitz seitlich unter mich und blieb dort, bis der Donner verhallt war. Ob er mich in solchen Momenten als seinen Schutz und Schirm betrachtete?
Dass ich mich in Lebensgefahr befand, wusste er vermutlich nicht. Ich war von den Naturkräften so fasziniert, dass die Angst mich nicht davon abhalten konnte, auch bei Blitz und Donner mit JoJo schwimmen zu gehen.
Das Schwimmen in Strandnähe brachte freilich noch andere Gefahren mit sich. Wenn die Wellen sehr hoch werden und das Licht auch mitten am Tag rapide abnimmt, sehe ich JoJo allenfalls noch als dunklen Schatten, selbst wenn er direkt neben mir ist. Die Brandung donnert dann gewaltig ans Land und entwickelt einen so starken Sog, dass man sich in gebührender Entfernung weiter draußen im Wasser aufhalten muss.
Einmal wurden wir von einer besonders starken Welle mitgerissen, als es blitzte und JoJo sich unter mir versteckte. Mit Windgeschwindigkeit ging es auf dem Wellenkamm dem Strand entgegen, bis uns der Brecher aus beträchtlicher Höhe ungespitzt in den Sand rammte. JoJo befand sich direkt neben mir, und der Schwall des zurücklaufenden Wassers ließ uns über- und untereinander Richtung Meer zurückkullern. Zum Glück lag JoJo immer nur kurz auf mir, bevor uns die gewaltigen Wasserkräfte weiterschleiften, als wären wir nur Sandkörnchen. Dann krachte die nächste Welle auf uns herunter und schleuderte uns erneut in den Sand und gegeneinander, zweimal, dreimal. Die vierte Welle traf mich so hart, dass ich kaum noch Luft bekam. Ich hielt mir den Bauch vor Schmerzen und rang verzweifelt um Atem.
Schon kam die nächste Welle und rollte uns wieder strandauf. Ich war an Land. Rasch erhob ich mich aus den Sandströmen und sah gerade noch, wie JoJo sich ins Wasser zurückrettete.
Nachdem er die Brandung durchtaucht hatte, begann er schnelle Kreise zu schwimmen und vollführte Luftsprünge, um nach mir Ausschau zu halten. Mir tat alles weh. Nein, ich würde nicht noch einmal ins Wasser gehen. Ich hielt mir die Rippen und machte mich auf den Heimweg. Hoffentlich war JoJo ohne Blessuren geblieben. Allzu schlimm aber konnte es bei ihm nicht sein, denn er folgte mir im Wasser gleich hinter der Brandung.
Delfine, sagt man, haben das nasse Element besser im Griff als jedes andere Meeressäugetier. Wie also war es möglich, dass er eine Brandungswelle falsch eingeschätzt hatte? Nun ja, dachte ich, auch ein Genie stolpert mal über die eigenen Füße. Und kein noch so intelligentes Tier ist unfehlbar.
Während ich durch den Sand stapfte, sprach ich beruhigend auf ihn ein: »Ich bin auch schon gegen Glastüren gerannt, JoJo, und dass diese Welle uns mitgerissen hat, ist ungefähr dasselbe. Also gräm dich nicht.«
Dass ich mir Gedanken machte, kam nicht von ungefähr, denn nach besonders schweren Stürmen findet man ja häufig gestrandete Delfine, tot oder verletzt. Wer denkt schon bei einer Hurrikanwarnung an die Delfine? Welche Schäden die Stürme an Land anrichten können, weiß jeder, aber wie stand es um das Leben in den Rifflandschaften, die längst meine zweite Heimat waren? Dabei dachte ich natürlich vor allem an JoJos Sicherheit. Meeresbewohner, die nicht auf die Lungenatmung angewiesen waren, konnten jederzeit in der Tiefe Zuflucht suchen, JoJo aber musste selbst im schlimmsten Sturm gelegentlich auftauchen, um zu atmen. Seltsamerweise werden Delfine oft gerade in relativ geschützten Küstenabschnitten angeschwemmt. Würde JoJo im seichten Wasser bei den Mangroven Schutz suchen oder lieber im tiefen Wasser außerhalb des Riffwalls?
Wahrscheinlich war er sehr allein. Vielleicht gingen ihm auch ferne Erinnerungen an die Strandung seiner Familie nach. Aber sicher würde ihm doch sein Instinkt zuflüstern, wo er bei schlechtem Wetter am besten aufgehoben war?
Beim Herannahen dieses Hurrikans wurden die Touristen evakuiert und auch viele Bewohner der Inseln brachten sich in Sicherheit. Ich hätte mich ebenfalls nach Miami bringen lassen können, blieb aber lieber, um nach dem Abflauen des Sturms sofort nach JoJo sehen zu können. Der Hurrikan trieb sich ein paar Tage lang unentschlossen herum und wählte dann glücklicherweise einen Weg, auf dem er die Inseln nur streifte, sodass wir lediglich einen normalen tropischen Sturm mit Windgeschwindigkeiten von bis zu siebzig Stundenkilometern erlebten.
Einige Zeit nach dem Sturm fand ich JoJo bei guter Gesundheit. Er verhielt sich allerdings ungewöhnlich ruhig, reagierte nicht auf Handzeichen und zeigte wenig Interesse an gemeinsamen Unternehmungen. Hatte ihn der Sturm so stark verstört? Oder war sonst irgendetwas nicht mit ihm in Ordnung?
JoJos Spielverhalten und seine Signalreaktionen haben, wie schon berichtet, einen zyklischen Verlauf, normalerweise aber legt er auf einfache Handzeichen zumindest eine kleine Reaktion an den Tag. Diesmal nicht. Er war einfach nicht in Stimmung. Ich überlegte, ob er wohl in der Zwischenzeit mit Artgenossen zusammen war. Gleich nach dem Sturm hatte man nämlich draußen vor dem Riff eine große Delfinschule gesichtet. Vielleicht waren die Tiere Schutz suchend ins Flachwasser geraten. Ich erinnerte mich, dass JoJos Verhalten nach der letzten Durchreise einer Delfinschule ähnlich war. Immer wenn andere Delfine gesichtet wurden, gab es von JoJo eine Zeit lang keine Spur. Entweder schloss er sich ihnen dann an oder er wich ihnen gänzlich aus. Beide Möglichkeiten konnten sein Verschwinden und sein merkwürdiges Verhalten erklären. Ich jedenfalls hoffte, dass er Anschluss an seinesgleichen oder andere Walartige suchte.
Zu den zauberhaftesten Augenblicken, die ich je mit JoJo erlebt habe, gehören nämlich unsere Begegnungen mit Walen, zum Beispiel Buckelwalen, die sich gern in den tiefen Gewässern gleich außerhalb des äußeren Riffwalls tummeln. Solche Begegnungen zwischen JoJo und den Walen waren außer mir nur einer Kindergruppe und den sie begleitenden drei Erwachsenen vergönnt, die uns im Rahmen eines »La Baleine Blanche« (»Der weiße Wal«) genannten Walbeobachtungsprogramms besuchten. Die Kinder schrieben ihre Erlebnisse und Beobachtungen auf. Hier ein Auszug aus dem Brief, den ich von La Baleine Blanche erhielt:
Ich sah JoJo auf uns zuschwimmen. Der Motor wurde angehalten und wir gingen ins Wasser. Wir hatten das Gefühl, dass JoJo uns etwas zeigen wollte, denn er blickte ständig zum tiefen Wasser hin und sah dann wieder uns an. JoJo wird langsamer, damit wir herankommen können, dann taucht er ab. Wir folgen ihm bis auf eine Tiefe von zehn Metern, dann erkennen wir den weißen Fleck auf der Flosse des Wals. JoJo nähert sich ihm von unten, dann steigen sie beide zusammen auf. Der Wal war jetzt still und stieg mit dem Bauch nach oben immer höher, bis er die Oberfläche erreichte und mächtig ausblies. Uns beeindruckte vor allem die unglaubliche Ruhe, mit der das alles geschah.
Während eines unserer gemeinsamen Schwimmausflüge war JoJo plötzlich verschwunden. Zunächst fürchtete ich, dass sich in der Tiefe womöglich ein Hai anzuschleichen versuchte, doch als ich dann Wallaute aus der Ferne hörte, beruhigte ich mich wieder.
Und dann tauchte JoJo mit einem kleinen Buckelwalkalb auf, das er gemächlich auf mich zu trieb. Das Tier war noch sehr jung, nicht einmal ein Jahr alt, und für einen ausgewachsenen Delfin wie JoJo leicht zu dirigieren. Mich überraschte nur, dass die Mutter nicht dabei war. Das würde sicher eine denkwürdige Begegnung werden, jedenfalls war ich noch nie mit einem Walkalb geschwommen.
Es kam, wie es kommen musste. Gleich hinter JoJo tauchte Mama Wal auf, fast zwanzig Meter lang. Da hatte ich nun JoJo, das Walkalb und die Mutter vor mir, an Ausweichen war nicht zu denken.
Wieder einmal hatte mich JoJo ganz schön in die Bredouille gebracht.
Er schien es darauf anzulegen, mir das Walkalb zu bringen, wie er es auch mit Schildkröten und Haien tat. Ich konnte nicht weg, und die Sache kam mir sehr bedenklich vor. Gegen die Mutter kam ich mir wie ein Staubkörnchen vor.
Ich konnte nur hoffen, dass sie mich auch als solches betrachten und einfach an mir vorbeischwimmen würde. Aber nun hielten sie alle gemeinsam auf mich zu, und das wirkte irgendwie verdächtig gezielt.
JoJo begann Kreise um mich und das Walkalb zu ziehen, die immer enger wurden, bis das Jungtier schließlich nur noch Zentimeter von mir entfernt war. Wann immer das Kleine abzutauchen versuchte, hielt JoJo von unten dagegen und versperrte ihm den Weg. Die Mutter kam so nah heran, dass sie mit jeder Bewegung ihrer gigantischen Flossen einen für ihre Bedürfnisse ausreichend engen Kreis um ihr Kind ziehen konnte.
Es entstand ein regelrechter Strudel. Der gewaltige Leib der Mutter glitt kaum eine Armlänge entfernt an mir vorbei, und JoJo drängte den kleinen Wal immer wieder nach oben, wenn er mehr als drei bis fünf Meter unter die Oberfläche abzutauchen versuchte. Er mochte ihn einfach noch nicht in die Tiefe entlassen.
Die großen Flossen der Buckelwale sind oben grau und an der Unterseite weiß, ich sah das Weiß bei jeder Flossenbewegung der Mutter aufblitzen, wenn sie dicht unter mir vorbeizog. Bei Grau wusste ich, dass sie tiefer ging, Weiß war ein Zeichen dafür, dass sie aufstieg. Ihr tonnenschwerer Körper spannte sich zu einem Bogen, und dann kam sie von unten direkt auf mich zu.
Die von ihren Bewegungen gebildeten Wasserwirbel warfen mich nur so hin und her. Wenn sie kehrtmachte und diese unglaublich große Schwanzflosse bewegte, entstand ein Strudel, der mich drei und mehr Meter unter Wasser zog. Und sobald sie steil abtauchte, wohl in der Hoffnung, das Kalb werde ihr folgen, zog mich der Sog schier endlos in die Tiefe.
Dabei musste ich lange den Atem anhalten. Wollte sie nur meine Wassertauglichkeit prüfen oder ging es ihr darum, sich zu vergewissern, dass ich mich nicht an ihrem Kalb vergreifen würde? Wieder krümmte sich ihr riesiger Leib. Sie beschrieb einen Bogen und kam auf mich zu, betrachtete mich sehr genau – aus wenigen Metern Entfernung.
Dann hielt sie an, wie um ihr Einverständnis zu geben, und das Kalb hielt ebenfalls still. Das Einverständnis erstreckte sich offenbar auch auf JoJo, denn plötzlich waren alle drei ganz ruhig. Dann ging die Mutter langsam ein Stück tiefer und ließ ihr Kind bei JoJo und mir. Ich hätte mit der Hand nach ihm greifen können.
Hohe Pfeiftöne und andere Laute gingen hin und her. Die Mutter fand es offenbar unbedenklich, das Kalb bei JoJo und mir zu lassen. Sie wartete unter uns und sah uns zu.
Ich konnte es kaum glauben. Normalerweise überlassen Mütter ihre Kinder doch keinen wildfremden Leuten!
JoJo und das Walkalb begannen, Pfiffe und hohl tönende Laute auszutauschen. Bei dem kleinen Wal klang es dumpf und tief, als würde jemand Luft über einen Flaschenhals blasen. Dann war auch die Mutter zu hören, und bald näherte sich noch ein großer männlicher Wal, der sich mit dem Kopf nach unten in Stellung brachte und zu singen begann. Der riesige Schwanz hielt ihn in dieser Lage, und dann brachte er einen tiefen, dröhnenden Laut hervor. JoJo und das Kalb blieben neben mir, während das Wasser weiterhin diese tief tönenden Schwingungen herantrug, die den ganzen Körper zu durchdringen schienen.
Die Mutter ließ einen gewaltigen Blasenring ab, der langsam aufstieg und bis zur Oberfläche zusammenhielt. JoJo antwortete mit einem kräftigen Pusten seiner eigenen Blasen. Und ich schwamm in all dem herum, das Walkalb immer neugierig hinter mir her.
Dann das Unglaublichste überhaupt. Die Mutter wandte zwei Meter unter uns den Bauch nach oben. Ich sah die helle Unterseite ihrer Brustflossen, während sie langsam aufstieg. Dann breitete sie die Flossen aus, um ihre Aufwärtsbewegung zu bremsen, und ich spürte ihren riesenhaften Leib direkt unter mir. Sie kam ganz an die Oberfläche, und das ablaufende Wasser spülte mich zur Seite, aber ich war ihr so nah, dass ich jede kleine Hautfalte sehen konnte. Ihre breiten Flossen bedeckten JoJo, den es nach rechts gespült hatte, und das Kalb, das jetzt auf ihrer anderen Körperseite war. Anscheinend fühlte sie sich doch wohler, wenn sie zwischen uns und ihrem Kleinen war.
Sie rollte sich auf den Bauch, um zu atmen, und tauchte dann unter uns, nur Zentimeter von JoJo, dem Kalb und mir entfernt. Bis auf die weichen, hallenden Melodien der Wale und JoJos charakteristische Antworten war alles ganz still. Zu viert schwebten wir reglos im Wasser, und unter uns sang der männliche Wal.
So ruhig blieb es eine ganze Weile. Ich suchte immer wieder Blickkontakt und saugte die Schönheit, die Herrlichkeit dieser so friedvollen Wesen förmlich in mich ein. Das Kleine ruhte sich neben JoJo und mir aus und wachte nur gelegentlich kurz auf, um Luft zu holen. Nach der Ruhepause tauchte die Mutter wieder auf und das Kalb stupste nach ihren Milchdrüsen.
»Stillzeit im trauten Familienkreis!«, sagte ich zu JoJo. »Du bist ja früh von deiner Mutter getrennt worden. Falls du es also vergessen haben solltest: Jetzt weißt du wieder, wie es geht.«
Erst nach und nach wurde mir klar, was ich da erlebt hatte. Es war ein seltener, kostbarer Augenblick in der Kinderstube der Wale, der mich mit geradezu überirdischer Freude erfüllte. Aber ich hatte den majestätischen Walen, den größten Lebewesen der Meere, nur begegnen können, weil ich von JoJo gelernt hatte, vollkommen ruhig und empfänglich zu sein.
* * *
Mein bislang intensivstes Erlebnis hatte ich an jenem Tag, an dem JoJo und ich in der Tiefe tauchten. Wenn ich tieftauchen wollte, schwammen JoJo und ich in der Regel zu meinem Freund Kapitän Nick raus, dessen Tauchboot meistens eineinhalb bis zwei Kilometer vor der Küste lag. War ich dann nach dem Tauchen zu müde für den weiten Heimweg, ließ ich mich von Nick zurückfahren und traf JoJo am Strand wieder. Dieses Boot war auch meine Lebensversicherung für den Fall, dass ablandige Strömungen oder Winde den Rückweg allzu anstrengend machten.
Es war der perfekte Tag für einen langen Schwimm-Rundkurs, kaum ein Windchen rührte sich, und die weißen Wolkenbäusche am Himmel verhießen nur Gutes. Auch das aquamarinblaue Wasser schien klarer als sonst, ich hatte wunderbare Sicht bis auf den Meeresboden dreißig Meter tiefer. Der Weg zur »Turquoise« hinaus war mühelos wie ein Strandspaziergang, und so kamen JoJo und ich auf die Idee, ein bisschen tauchen zu gehen und uns zu den anderen Sportsfreunden zu gesellen, die sich mit ihren Geräten schon in zehn bis fünfzehn Metern Tiefe tummelten.
Das Freitauchen liebt JoJo ganz besonders. Er weicht nie von meiner Seite, wenn ich abtauche, um mich bei den Korallen umzusehen. An diesem Morgen hatte JoJo ein paar Korallengebilde ins Auge gefasst, die er gern von Nahem betrachten wollte, und fing an zu glucksen. Das bedeutet eigentlich, dass er Kontakt aufnehmen möchte. So weit draußen war es allerdings ungewöhnlich, und ich streckte versuchsweise die Hand aus, um zu sehen, ob er das Abschleppsignal aufgreifen würde.
Er tat es sofort und ganz begierig, nahm mich bei der Hand und brachte mich zu einem besonders üppigen Korallengewächs. Mich begeistert diese Art zu reisen, weil ich die Luft viel länger anhalten kann, wenn ich nicht aktiv in die Tiefe schwimmen muss.
Als ich zum Atmen auftauchte, gluckste JoJo weiter und zog mich gleich wieder nach unten. Wir befanden uns hier am Abbruch in die Tiefe, und JoJo plapperte nicht nur unentwegt, sondern zog mich auch weiter hinab. Unter mir, bestimmt fünfunddreißig Meter tiefer, nahm ich das Riff wahr.
Dort war ein sandbedeckter schräger Absatz zu sehen, der bis auf gut vierzig Meter Tiefe abfiel und einen letzten Rand in fünfzig Metern Tiefe erkennen ließ, hinter dem es in die bodenlose Dunkelheit ging. Die Tauchlehrer kamen mit ihrer Ausrüstung zu diesem Absatz, von dem aus es in neunzig bis hundert Metern Tiefe an der Wand entlang ging, bis man schließlich mit mehreren Dekompressionspausen wieder aufstieg. Ich war ein paar Mal mit von der Partie gewesen, kannte das Gelände also ganz gut.
JoJo schleppte mich jetzt an der Oberfläche über dem tiefen Riff entlang, sodass ich die Geländeformationen unter uns aus dem Blick verlor. Plötzlich verharrte er. Ich hatte keine Ahnung, wo wir uns befanden, und hätte folglich auch nicht sagen können, weshalb genau JoJo innehielt.
Ich erinnerte mich an das letzte Mal, als er versucht hatte, mich über die Abbruchkante hinaus aufs Meer zu locken. Das war, als er mit seinem Pfeifen eine Gruppe von Delfinfreunden in unsere Richtung lenkte. Ich lauschte ins Wasser hinein, ob sich auch diesmal wieder Artgenossen von JoJo in der Nähe aufhielten, aber das kobaltblaue Wasser unter mir blieb still. JoJo pfiff, schwamm vor mich und blickte mir mit einem seiner großen braunen Augen ins Gesicht. Das Pfeifen ging in ein Glucksen über.
Ich wusste, was jetzt kommen würde, und holte tief Luft, während JoJo sanft seine Kiefer um meine Hand schloss. Dann tauchte er mit mir ab. Schlängelnd und in Spiralwindungen ging es in das immer dunkler werdende Blau hinunter – kobalt, ultramarin und schließlich indigo.
Ich blickte JoJo in das mir zugewandte Auge. Es lag etwas Ruhiges und Wissendes darin, ich hatte nichts zu befürchten. Unter uns erkannte ich das tiefe Riff und den Sandabsatz. Auf unserem Weg in die Tiefe ließ ich wiederholt ein wenig Luft ab, um den Druck auszugleichen. Ich verspürte eine gewisse Leere in der Lunge, sicher würde JoJo gleich kehrtmachen. Einstweilen jedoch tauchten wir noch tiefer. Schließlich erreichten wir den schrägen Sandabsatz in gut vierzig Metern unter dem Meeresspiegel. JoJo zog mich über dem Sand auf den Abbruch zu.
Ich war ganz ruhig und trat in einen Zustand vollkommen entspannter Bewusstheit ein. JoJo machte kehrt und stieg wieder auf, während mir schon Sterne vor den Augen tanzten, die ich gelassen betrachtete. Ich erlebte tiefsten Frieden und nichts anderes zählte, nichts als dieser unendliche Augenblick. Von ganzem Herzen war ich mit allem einverstanden – und selbst wenn ich jetzt das Bewusstsein verloren hätte, wäre es in Ordnung gewesen.
Es gab nichts, was dieser vollkommenen Schönheit und Glückseligkeit irgendetwas hätte anhaben können.
Keine Atemgeräusche störten die reine Stille. Nur mein Herz hörte ich schlagen und spürte es mit dem ganzen Körper. Der Luftmangel begann sich als eine gewisse Enge in der Kehle bemerkbar zu machen, doch in dem tief meditativen Zustand, in dem ich mich befand, nahm ich dieses leichte körperliche Unbehagen nur am Rande wahr. Sobald wir ein wenig höher kamen, wurde es mir leichter in der Brust, als füllte sich meine Lunge allmählich mit Luft.
Gelassen und interessiert registrierte ich die wieder wechselnden Blautöne und sah das leuchtende Weiß des Sandes unter mir entschwinden. Mit jedem Schwanzschlag trug uns JoJo höher hinauf, und meine Brust entspannte sich zunehmend. Wir vollführten Schwünge und Rollen, während JoJo eine vertraute Melodie pfiff. Alles war einfach grenzenlos.
Von oben funkelten kristallene Lichter, während wir immer wärmere und hellere Wasserschichten durchtauchten. Zehn Meter unter der Oberfläche ging JoJo vom steilen Aufstieg in eine schräge Gleitbahn über, und dann durchbrachen wir den Wasserspiegel. Sofort atmete ich mehrmals tief durch.
Die anderen Taucher mit ihren Atemgeräten, die uns hatten nacheifern wollen, warteten noch in einiger Entfernung am zwölf Meter tiefen Riff. Sie hatten uns aus den Augen verloren, seit wir vor annähernd fünf Minuten in das tiefe Blau abgetaucht waren. Bisher hatte ich beim Freitauchen maximal vier Minuten die Luft angehalten, und das in nur drei Metern Tiefe beim Schwimmen. Diesmal war ich annähernd fünf Minuten ausgekommen, ohne Atem zu schöpfen, und hätte in dieser großen Tiefe fast das Bewusstsein verloren, weil ich zum Druckausgleich einiges an Luft ablassen musste.
In flacherem Wasser würde ich bestimmt noch länger unten bleiben können, dachte ich. Und gleich kam auch der Gedanke auf, meinen eigenen Rekord zu brechen. Die Gefahr eines Blackouts bestand beim Freitauchen immer, auch im flachen Wasser, doch wenn JoJo dabei war, würde er sicher seinem Ruf als Delfin gerecht werden und mich retten.
Bei unserem nächsten Tauchgang setzte JoJo seine Schwanzflosse so nachdrücklich ein, dass wir mit rasender Geschwindigkeit in der blauen Tiefe versanken. Doch gerade als der Sandabsatz in Sicht kam, zog mir der aufgrund unserer großen Geschwindigkeit sehr hohe Gegendruck des Wassers die Taucherbrille vom Gesicht und der Gummigurt verhedderte sich um meinen Hals. Mit einem Mal konnte ich nicht mehr klar sehen, und der Gurt würgte mich. In Sekundenbruchteilen zog mein ganzes Leben an mir vorbei. Von dem meditativen Frieden, zu dem ich beim vorigen Tauchgang gefunden hatte, konnte diesmal keine Rede sein. Ich war in Todesangst. Wahrscheinlich, dachte ich kurz, bleiben mir nur noch diese letzten Sekunden.
Aber dann realisierte ich, was los war, wand meine Hand aus JoJos Maul und versuchte mich von dem Maskengurt zu befreien. Ich hatte keine Flossen an und befand mich bestimmt auf vierzig Metern Tiefe.
In meiner Panik atmete ich viel zu viel Luft aus und strampelte blind in die Richtung, in die mir die Blasen zu streben schienen. Aber ich hatte völlig die Orientierung verloren und konnte ohne die Maske nur ahnen, wie sich die Blasen bewegten, zumal alles um mich herum zu sprudeln schien.
Noch fuchtelte ich wie wild mit den Armen. Meine Angehörigen fielen mir ein, und ich schickte ihnen ein letztes liebevolles Gebet, dann begann ich allmählich ins Land der Seligkeit zu entschwinden. Alles lief wie in Zeitlupe ab und wurde immer langsamer. Ein großer Frieden breitete sich in mir aus.
Plötzlich traf mein Arm auf einen Widerstand. Ich spürte, wie JoJo mit dem Schnabel meine Hand anhob und dann etwas fester zubiss, damit ich mich auch ja ordentlich festhielt. Er zog mich mit solcher Kraft nach oben, dass ich dachte, er würde mir den Arm auskugeln. Ich spürte, wie ich erschlaffte. JoJos Atem sprudelte in einem Strom von Blasen über mich, der Sog seines Körpers milderte den Gegendruck des Wassers. Je höher wir kamen, desto mehr brannte es in meiner Lunge. Ich nahm meinen Körper wieder wahr und kehrte aus der Zeitlupe in die Echtzeit zurück.
Wurde es heller? Ich wusste es nicht. Ich blinzelte mit ungeschützten Augen in den Wasserstrom.
Und so schossen wir über die Oberfläche hinaus wie Lava aus einem Vulkan. Ein Delfin und ein Mensch. Ich zog meine Hand aus JoJos Mund und hatte nur noch eines im Sinn: atmen. Luft!
Ich fiel ins Wasser zurück und blickte in die Kumuluswolken am Himmel. Unter mir JoJos weiche Haut, sanft stützend. Wie wunderbar, so behütet zu sein.
Als ich wieder normal atmen konnte, hörte ich, dass JoJo seine Erkennungsmelodie pfiff, vermischt mit Schnalz- und Gluckslauten. Es war wie ein Wiegenlied aus längst vergangener Zeit.
Er kam unter mir hervor, und ich sah ihn an. Dann stupste er mich und schob mich in Richtung Boot, alles ringsum schien von seinem weichen Flöten widerzuhallen.
Wenn ich da unten allein gewesen wäre, in Panik und ohne Flossen, hätte ich es sicher nicht bis an die Oberfläche geschafft. Zu viel Druck und dann dieser Schwindel.
Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, jetzt konnte kein Zweifel mehr daran bestehen, dass wir in der Lage waren, uns lautlos zu verständigen, und dass wir uns füreinander verantwortlich fühlten. Gewiss, in der Welt des jeweils anderen waren uns klare Grenzen gesetzt. Doch wenn wir gut aufeinander achteten, konnten wir uns diese Welten gegenseitig näherbringen.
Es ist möglich, wir hatten es bewiesen.
Dieser Delfin, der mich von der Schwelle des Todes zurückgeholt hatte, verhalf mir auch zur Begegnung mit mir selbst und damit zu einer Lebensaufgabe und bleibenden Verpflichtung – es schloss sich zum Kreis wie einer unserer Blasenringe. Der mochte aufsteigen und sich weiten und mehr umfassen als ihn und mich, jedenfalls würden wir uns nie von dem abwenden, was er spiegelte. Freunde vom Meer und Freunde vom Land und JoJo und ich, wir sind eingebunden in einen unendlichen, ewig schwebenden Kreis, in diesem blauen Blasenring.