Handeln tut not

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Leute scharenweise kamen, um JoJo zu sehen. Anfangs konnte ich mir nicht erklären, woher so viele von ihm wussten, bis ich dann erfuhr, dass der National Enquirer eine Farbreportage über JoJo und Toffy gebracht hatte. Die Zeitung hält sich viel darauf zugute, das größte Boulevardblatt der Vereinigten Staaten zu sein, mir aber kamen die Geschichten darin oft so weit hergeholt vor, dass ich das Blatt lieber mied. Doch vielleicht habe ich den Machern der Zeitung auch unrecht getan. Die Story über JoJo und Toffy jedenfalls stimmte in allen Einzelheiten, und ich fragte mich, ob das bei den anderen Reportagen nicht auch der Fall war.

In einer zweiten Zeitung, der Chicago Tribune, wurde für einen Tauch-Kongress mit einem Artikel geworben, der den Titel »Tauchen mit Delfinen, das ultimative Erlebnis« trug. Dummerweise wurde JoJo darin als abgerichteter Delfin dargestellt, der Taucher bei ihren Tauchgängen begleitet. Promotion dieser Art wurde auf den Turks- und Caicosinseln als sittenwidrig abgelehnt. Der Schreiber des Artikels, der aus JoJo ein Geschäft machen wollte, hatte weder eine Ahnung von dessen Erkrankung noch von den Auswirkungen, die sein gedankenloses Machwerk auf das Tier haben würde.

Ich konnte nur staunen, wie viele Touristen mit diesem Artikel in der Hand auf mich zukamen. Manche waren direkt stolz darauf, ein Foto von JoJo zu besitzen, auch wenn es nur aus der Zeitung stammte. Und jeder, der einen der beiden Artikel gelesen hatte, brannte darauf, den berühmten Delfin möglichst hautnah kennenzulernen. JoJo selbst hatte natürlich keine Ahnung, was es bedeutete, eine vom National Enquirer gefeierte Berühmtheit oder ein für die Werbezwecke von spezialisierten Reiseveranstaltern erfundenes Tauchmaskottchen zu sein. Was wussten diese Leute denn, was JoJo alles durchgemacht hatte?

Probleme gab es immer dann, wenn sich die Urlauber an JoJo heranmachten oder er sich ihnen näherte. Zu den Seglern und Windsurfern zog es ihn nicht nur, um sie aus der Ferne zu beobachten. Nein, er schob an den Booten das Steuerruder hoch oder warf die Windsurfer um, wenn sie vom Strand aus losbretterten. Es wurde viel gespielt und alle hatten ihren Spaß dabei, doch dann gab es auch wieder schwierige Tage. Ärger kam auf, wenn jemand sich JoJo näherte und ihn handgreiflich von irgendetwas abzubringen versuchte, mit dem er gerade beschäftigt war. Dieses unbedachte Verhalten hatte dann einen Biss in die Hand oder den Arm oder eine Ohrfeige mit der Schwanzflosse zur Folge. Und sobald es zu juristischen Auseinandersetzungen und Versicherungsansprüchen kam, war natürlich immer JoJo der Beschuldigte.

Man kann sich vorstellen, dass unter den sechshundert Gästen am Strand nicht gerade viele über die Verhaltensweisen eines in küstennahen Gewässern schwimmenden wilden Delfins unterrichtet waren. Die Leute ignorierten einfach die Warnsignale, die JoJo gab, wenn er sich gestört oder gereizt fühlte. Die Töne, die er dann von sich gibt, sowie seine Bewegungen mahnen in aller Deutlichkeit zur Vorsicht, und wer ihn anschließend trotzdem nicht in Ruhe lässt, muss mit einem Biss, einem Schwanzschlag oder einem unsanften Rempler rechnen. Und das sind noch die milderen Maßnahmen.

Jedenfalls konnte JoJo jedes Hotel, das mit ihm als Maskottchen oder Attraktion warb, in arge Verlegenheit bringen. Einmal verletzte er etwa eine Touristin, nachdem sie einen Finger in sein Blasloch gesteckt hatte. Ich kann mir kaum vorstellen, dass irgendjemand einem Lebewesen bewusst die Atemöffnung verschließt, also ist es ihr vielleicht versehentlich passiert, als sie dem auftauchenden JoJo über den Kopf streichen wollte, und er hat aus einem Reflex heraus darauf reagiert. Aber wer würde schon tatenlos zusehen, wenn man ihm die Atemwege verstopft? JoJo wird es als lebensbedrohenden Angriff aufgefasst haben, und da wir ihn inzwischen ein wenig kennen, können wir uns leicht vorstellen, dass er sehr entschieden protestiert und dann zurückgeschlagen hat.

Wie gesagt, vielleicht war es einfach nur der ahnungslose Versuch eines Hotelgastes, einen Delfin zu tätscheln, den sie für zahm hielt. Warum sie aber später beschloss, den Rechtsweg einzuschlagen und das Hotel zu verklagen? Nun ja, im Gegensatz zu einem Delfin verfügen Hotels über die finanziellen Mittel, einen Schaden zu begleichen.

Das Hotel verkaufte in seinem Souvenirshop ein T-Shirt, auf dem drei Frauen und ein Delfin abgebildet waren. Eine der Frauen streichelte dem Delfin den Kopf, genau da, wo das Blasloch sitzt. Darunter stand: »JoJo, unser Spieldelfin«, gefolgt vom Namen des Hotels. Irgendwer musste nun die Verantwortung für diese unrichtige Darstellung übernehmen. Es war nicht in Ordnung, JoJo als Hausdelfin anzupreisen. Der Prozess regte das Hotel jedenfalls zum Nachdenken über JoJos Vermarktung an und bekam eine Vorbildfunktion für viele andere Fälle.

Es gab dann noch mehr Verfahren, in denen dieses Hotel für JoJos Missetaten verantwortlich gemacht wurde, und die Hotelleitung musste sich über mögliche Lösungen Gedanken machen. Unter anderem wurde ernsthaft erwogen, die Gäste nicht mehr ins Wasser zu lassen, JoJo einzufangen und weit entfernt wieder aussetzen zu lassen, ihn in ein Delfinarium zu geben oder zu erlegen.

Es war nicht zu glauben. Ging es denn nur noch um Profit? Diese Gegend war schon mindestens seit 1974 JoJos Lebensraum. Er ist hier geboren und aufgewachsen und deshalb formal gesehen ein Bewohner des Archipels. Aber Heimatrechte galten offenbar nicht für Delfine. Ebenso wenig schienen Schutz und Erhaltung der Tierwelt zu zählen. Wenn die genannten vier Überlegungen zeigten, was die weitere Erschließung für die Bewohner der Inseln und die Ressourcen des Landes bedeuten würde, dann konnte man den Leuten auf den Turks und Caicos nur raten, keinen Finger mehr zu rühren. Vielleicht konnte man so die Entwicklung noch aufhalten.

Die einfliegenden Menschenmassen wurden mit jedem Tag größer. Als sich die Kunde vom freundlichen Delfin immer weiter verbreitete, strömten die Leute nach Grace Bay und an die Strände, um JoJo zu sehen. Und wenn er kam, stand ich da und machte mir Sorgen, dass sie ihm schaden könnten.

»Bleiben Sie bitte zurück«, musste ich wieder und wieder rufen. »JoJo ist krank und braucht seine Ruhe.« Und ich konnte von Glück sagen, wenn meine Worte bei den Urlaubern, die sich im Wasser tummelten, nicht auf taube Ohren trafen. »Sie dürfen ihn aber gern vom Strand aus beobachten«, fügte ich hinzu.

Die meisten blieben dann im seichten Wasser stehen und sahen zu, wie JoJo weiter draußen seine Kreise zog. Aber leider gab es auch immer wieder einige, die unbedingt zu ihm hinschwimmen mussten. Die ermahnte ich dann einzeln, ihm nicht nachzusetzen und ihn vor allem nicht zu berühren, weil er sich noch nicht wieder ganz von seiner Erkrankung erholt hatte.

Eines Nachmittags machte sich eine Frau immer näher an JoJo heran und wollte ihn unbedingt streicheln, ja sogar auf ihm reiten. Nicht im Mindesten dachte sie daran, Rücksicht auf seine Bedürfnisse zu nehmen. Sofort sprang der Funke auf andere über, die meinten, dann sei es für sie wohl auch in Ordnung. Es war eine ganze Gruppe, die da ins tiefere Wasser vordrang, und ich musste ihnen ganz schnell den Weg abschneiden. »Bitte halten Sie an«, bat ich die Anführerin noch einmal eindringlich. »Sie sehen doch, dass er krank ist und in Ruhe gelassen werden möchte.«

»Für mich sieht er total gesund aus«, hielt sie dagegen. »Und jetzt lassen Sie mich durch.« Entrüstet schnaubend schwamm sie weiter in die Bucht hinaus, während JoJo mit einem Schwanzplatscher abdrehte. Das war eine deutliche Warnung. Aber ähnlich wie sich angetrunkene Männer an der Bar manchmal hartnäckig weiter an Frauen heranmachen, die absolut nichts von ihnen wissen wollen, fühlte sich diese Touristin offenbar aufgefordert, ihren Einsatz zu verdoppeln.

»Einem Hund, der sich knurrend zurückzieht, würden Sie doch auch nicht nachlaufen«, versuchte ich es noch einmal.

»Ich bin hier auf Urlaub und kann verdammt noch mal machen, was ich will«, erwiderte sie mit einer ärgerlichen Handbewegung.

Ich wollte ihr gerade antworten, als ich sah, wie ein Mann ein kleines Mädchen auf JoJos Rücken heben wollte. Sicher wusste er nicht, dass er damit einen deftigen Schlag mit dem Schwanz auslösen konnte. Als der Mann das Kind hochhielt, wölbte JoJo den Rücken und präsentierte die Schwanzflosse. Der zu erwartende Schlag konnte das Mädchen durchaus ernsthaft verletzen.

»Halt! Nicht!«, schrie ich.

Der Vater erstarrte genau in dem Augenblick, in dem JoJo die Schwanzflosse schnalzen ließ. Paff! – und eine Gischtfontäne schoss in die Luft. Ich konnte nicht erkennen, ob jemand getroffen worden war oder nicht. Hatte das Kind etwas abbekommen? Jedenfalls schrie es. Dann beruhigte sich das Wasser und ich sah mit Erleichterung, dass der Vater das Mädchen gerade noch rechtzeitig weggezogen hatte.

Ich bedeutete ihm, der aufdringlichen Frau und den anderen Beteiligten, mir zum Strand zu folgen. Ich zwang mich zur Ruhe und erklärte der anwachsenden Menge sehr eingehend die Warnzeichen, die JoJo gegeben hatte und die man im eigenen Interesse besser beachtete. Der Mann sagte, er habe seine Tochter doch bloß reiten lassen und selbst einen Blick auf JoJo werfen wollen. Viele der Anwesenden hatten den irreführenden Artikel in der Chicago Tribune gelesen und hielten JoJo für lammfromm. Andere waren in Aquarien gewesen und glaubten sich mit Walartigen auszukennen.

»Wir sind doch schon mit Delfinen geschwommen«, sagte die Frau, die ich dringend gebeten hatte, sich von JoJo fernzuhalten. »Da gab es nie auch nur das kleinste Problem.«

»Ja, aber das waren abgerichtete Delfine in Gefangenschaft«, gab ich zurück. »Sie müssen wissen, dass sich ein wild lebender Delfin ganz anders verhält.«

Sie ließ nicht locker. Sie schnaubte, gestikulierte und sagte: »Also, ich habe schon an vielen solchen Schwimmprogrammen teilgenommen, aber dass mich ein Delfintrainer zurückpfeift, das ist mir noch nie passiert.«

Ich biss mir auf die Zunge und sagte so neutral ich konnte: »Ich bin nicht JoJos Trainer. Ich bin sein Freund. Er sucht meine Nähe, weil er das möchte, und nicht, weil ich ihm dafür tote Fische zum Fraß hinwerfe. Noch einmal: Er ist wild und außerdem im Moment nicht ganz gesund.«

»Sie wollen ihn doch bloß für sich allein! Keiner außer Ihnen soll etwas von ihm haben.«

»Sie können glauben, was Sie wollen, nur halten Sie bitte einfach Abstand.« Nach einer kleinen Kunstpause ergänzte ich mit besonderer Betonung: »Zu Ihrer eigenen Sicherheit.«

Aber jetzt wurde ich ernsthaft kribbelig und entfernte mich lieber. Offenbar wollte die Frau nicht begreifen, dass JoJo kein abgerichteter Schmusedelfin war, sondern ganz einfach tat, was er wollte.

Und tatsächlich, ich hatte mich noch keine zwei Schritte entfernt, als sie bereits zum nächsten Versuch ansetzte. Es ist wirklich nicht zu glauben. Mir war klar, dass da mit Vernunft nichts zu machen war, also winkte ich JoJo auf die stillere Seite des Anlegers und gab ihm dort das Zeichen, sich davonzumachen, bevor doch noch etwas passierte. JoJo war immer noch lädiert und auf Abstand bedacht, aber zum Glück nahm er das Signal auf und schwamm vom Strand weg. Meine Freunde und viele Touristen hatten Verständnis für diese Maßnahme, andere murrten enttäuscht.

»He, schicken Sie ihn nicht weg, die Leute wollen ihn doch sehen«, rief ein an einem Zigarrenstumpen paffender Mann mit dünnen Beinen und einer Brust, die aussah wie eine mit dürrem Strandhafer bewachsene weiße Düne.

Genau diese Wichtigtuer sind es in der Regel dann auch, die Schrammen abbekommen. Dabei ließen sich Verletzungen so leicht vermeiden. Wenn diese Leute nur hinsehen würden, könnte ihnen nicht verborgen bleiben, dass JoJo wie die meisten Tiere rechtzeitig warnt, bevor er anfängt, sich zu verteidigen.

Wer dagegen aufgeschlossen bleibt und sich damit begnügt, JoJos Gesellschaft aus respektvoller Entfernung zu genießen, den erwartet etwas wirklich Neues. Jeder Atemzug in seiner Nähe erfüllt einen mit tropischer Wärme und Schönheit.

Ein paar Tage danach erfuhr ich, dass JoJo einer Frau mit der Schwanzflosse ins Gesicht geschlagen und ihr die Nase gebrochen hatte. Lisa, die Tauchlehrerin, hatte es beobachtet und sagte, es sei die Frau gewesen, die mit mir gestritten hatte. Das überraschte mich nicht. Ich schüttelte nur den Kopf. Manche lernen es einfach nie.

An diesem Tag erzählte mir Lisa außerdem von einer Touristin, die sehr unter etwas litt, was JoJo betraf, und mit der ich unbedingt reden sollte. Sie habe die letzten Tage immer weinend unter einer Palme gesessen.

Tatsächlich fand ich sie genau da, wo Lisa gesagt hatte. Sie saß mit um die Knie verschränkten Armen da und die Tränen kullerten ihr übers Gesicht. Sie mochte Anfang dreißig sein, ihr kastanienbraunes Haar umrahmte ein rundes Gesicht, das einem fröhlichen Buddha hätte gehören können, wären da nicht die schnüffelnde Nase und die bebende Oberlippe gewesen. Ich fragte, ob mit ihr alles in Ordnung sei.

»Sind Sie der Mann, der sich um JoJo kümmert?«, vergewisserte sie sich.

Als ich nickte, erzählte sie, es sei etwas passiert, was sie nicht verstehen könne. Sie war hergekommen, um JoJo kennenzulernen. Sie wollte so gern mit ihm in Verbindung treten, mit ihm meditieren.

»Ich habe nichts getan, was ihn provozieren könnte, wirklich nicht.«

Ich glaubte ihr und forderte sie auf zu erzählen.

»Ich habe mich einfach langsam neben ihm treiben lassen, ganz ruhig, immer auf Wahrung seiner Grenzen bedacht. Keine schnellen Bewegungen, nichts Bedrohliches. Und dann schlägt er mich plötzlich richtig fest mit dem Schwanz.« Sie unterbrach und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Und weiter?«

»Ich versteh das einfach nicht. Ich habe diese Reise unternommen, um mit einem der schönsten und spirituellsten Wesen überhaupt zu schwimmen, und dann das. Es tut so furchtbar weh.«

Ich wusste, dass JoJo nie von sich aus auf einen Menschen zuschwimmen würde, um ihm Schläge zu versetzen. Wahrscheinlich war die Frau ihm doch zu nahe gekommen.

»JoJo hatte eine schlimme Verletzung«, erklärte ich ihr, »und war in letzte Zeit sehr auf Distanz bedacht.«

»War meine Energie irgendwie falsch platziert?«, fragte sie.

»Also, selbst bei bester Gesundheit kann es sein, dass sich JoJo nicht gern über längere Zeit mit Blicken fixieren lässt. Er reagiert dann wie Leute, die sich angestarrt fühlen, ärgerlich.«

»Aber ich bin doch so vorsichtig auf ihn zugegangen«, sagte sie und runzelte ratlos die Stirn. »Ich war die ganze Zeit in einer völlig ruhigen meditativen Verfassung.«

»Seine Reaktion hat nichts mit Ihrer spirituellen Verfassung zu tun«, erklärte ich. »Er wollte sicher einfach allein sein. Vielleicht hat er Sie geschlagen, weil er sich von zu viel Blickkontakt bedrängt fühlte.« Dass sich JoJo wahrscheinlich aus ihren romantischen Vorstellungen von gemeinsamer Meditation nicht viel machte, ließ ich lieber unerwähnt.

Vielen Menschen ist nicht klar, dass Delfine und andere Tiere genauso eine Persönlichkeit besitzen wie sie selbst. Sie haben gute Tage und schlechte. Da genügt es nicht, JoJo als Wildtier zu respektieren. Man muss ihn als ein Lebewesen mit ganz eigenem Charakter sehen und schätzen lernen, dessen Stimmungen wechseln können wie das mit der Strömung fächelnde Schildkrötengras.

Es war wohl nicht der Schlag selbst, der diese Frau so wurmte, sondern seine Bedeutung für das, was sie als ihren spirituellen Weg sah. Sie hatte sich seelenvolle Blicke von JoJo erwartet, die ihr zu einem tieferen Verständnis des Kosmos verhelfen sollten. Und stattdessen hatte ihr dieser »ganzheitliche spirituelle Führer« eins auf die Birne gegeben.

Ich versuchte ihr den Gedanken nahezubringen, dass dieses Zeichen, das sie aus der physischen Welt empfangen hatte, womöglich auch spirituell von Bedeutung war.

»Sie können durchaus mit JoJo kommunizieren, ohne sich ihm körperlich zu nähern«, begann ich behutsam. »Ich tue das auch, sogar im Traum.« Ich legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht können Sie es auch.«

»Glauben Sie wirklich?«, fragte sie und wischte sich eine letzte Träne aus dem Augenwinkel.

»Aber ja. Lassen Sie einfach Ihr Bewusstsein ganz weit werden. Und sehen Sie ihn mit dem inneren Auge.«

Jetzt blickte sie mir ins Gesicht und lächelte. Sie hatte offenbar sofort verstanden. Und ich bin zuversichtlich, dass sie etwas von bleibendem Wert gelernt hatte.

Nicht nur Amerikaner zeigten Interesse an JoJo. Bald erschienen auch in den Zeitungen anderer Länder Berichte über den einzeln lebenden und die Gesellschaft des Menschen suchenden Delfin, die durchaus den Tatsachen entsprachen. Nach dem ersten Zustrom von Schaulustigen, die sich von marktschreierischen Berichten hatten anlocken lassen, die in der US-amerikanischen Presse erschienen waren, empfing ich zu meiner Erleichterung auch erste Briefe von Menschen, die JoJo als echtes Wildtier erkannt hatten. In einem dieser Schreiben hieß es: »Ich hoffe, es geht JoJo wieder besser. Als ich dort war, hat er gerade Antibiotika von Ihnen bekommen. Und wenn ich wieder einmal nach Providenciales kommen kann, freue ich mich schon auf JoJo.«

Dieser Brief und andere, die ich in der Zeit von JoJos Krankheit bekam, riefen mir in Erinnerung, dass JoJo nicht immer da sein würde. Die lange Folge von Tagen in einer Meerlandschaft von solcher Schönheit und heiteren Beschaulichkeit wiegten mich in einer Sicherheit, die es in Wirklichkeit nicht gab. In dieser noch weitgehend naturbelassenen Umgebung kann jeden Tag etwas Endgültiges passieren, und dieser Gedanke machte mir JoJos Dasein noch wertvoller.

* * *

Ich fiel aus allen Wolken, als ich ein Fax der Regierung der Turks- und Caicosinseln an einen leitenden Hotelmanager gezeigt bekam, in dem es hieß, JoJo müsse eingefangen werden und bis zu seinem Lebensende in Gefangenschaft bleiben. Hatten diese Leute überhaupt eine Ahnung von den Folgen, die ein solcher Plan haben würde? Zwar kämen dann künftig weniger Gerichtsverfahren auf das Hotel zu, aber JoJo würde lernen müssen, sich wie ein Zootier zu benehmen, wenn er etwas zu essen haben wollte. Er würde abhängig sein und bis zu seinem Tod in einem Becken dümpeln müssen. Das freie Leben im offenen Meer wäre bald nur noch eine ferne Erinnerung.

Und den Delfin, den ich kannte, würde es nie mehr geben.

Als ich von diesem Plan und anderen sogenannten Lösungen des »JoJo-Problems« erfuhr, hatte ich seinetwegen ohnehin schon schlaflose Nächte. Dass jemand allen Ernstes auf die Idee kommen könnte, ihn ganz aus seinem natürlichen Umfeld herauszureißen, hätte ich allerdings nicht gedacht. Er war ein ausgewachsener frei lebender Delfin, und dieses Gewässer war seine Heimat. Andererseits war mir natürlich auch bewusst, dass der Tourismus eine der wichtigsten Einnahmequellen der Inseln ist.

Wenn sich die Menschen gegen JoJo verschworen, sah es wirklich nicht gut für ihn aus. Aber warum eigentlich sollte die missliche Lage nicht auch dazu dienen können, auf den Inseln ein Bewusstsein für diese Dinge zu wecken? Man brauchte dafür nur einen zugkräftigen Plan, und vielleicht würde sich JoJos Schicksal dann doch noch wenden lassen. Kein Zweifel, es war an der Zeit, mich zum Kampf zu rüsten.

Dieser Kampf, das wusste ich, barg Risiken und konnte viele Querelen mit sich bringen. Meine Gegner hatten nur ihren Profit im Sinn, und darin waren sie auch noch höchst widersprüchlich: JoJo kurbelte den Tourismus an, das war erwünscht; er wurde zum Anlass für Schadensersatzforderungen, das war nicht erwünscht.

In schönster Unverblümtheit sagte einer der ausgesprochen teuer gekleideten Manager einmal zu mir: »Es ist Zeit, dass JoJo erlegt wird, verhindern lässt es sich ja doch nicht. Sie werden schließlich nicht immer da sein, um auf ihn aufzupassen.«

Das erschütterte mich zutiefst, zumal ich wusste, dass seine Firma einen riesigen Prozess am Hals hatte, weil sie mit JoJo geworben hatte und ein Urlaubsgast durch eine von JoJos Abwehrmaßnahmen erheblich zu Schaden gekommen war.

Mir war klar, dass ich Hilfe brauchen würde, ich konnte nicht überall gleichzeitig sein.

So aufgewühlt, voller Sorgen und allein auf weiter Flur tat ich das in dieser Lage einzig Sinnvolle: Ich ging mit meinem besten Freund schwimmen. Doch selbst im warmen Wasser von Providenciales wurde ich ein Frösteln nicht ganz los. Als wir den äußeren Riffwall passiert hatten, machte ich Wasser tretend halt, um mir zu überlegen, was jetzt zu tun war. Ich schob die Maske hoch. JoJo legte sich neben mich.

»Wie kann ich dich bloß beschützen?«, fragte ich, und er blies eine Fontäne. Ich wischte mir den Sprühregen aus dem Gesicht und bedankte mich mit einem milden Lächeln: »Danke, JoJo, aber ich glaube nicht, dass man diese Leute damit nachhaltig beeindrucken kann.«

Wie konnte ich auf den Inseln etwas in Bewegung bringen, ohne dass eine Atmosphäre von Hass und Zwietracht entstand? Ich wollte die Leute zusammenführen, ich wollte sie JoJos Zauber spüren lassen, wie Emily und Sean ihn gespürt hatten. »Wenn ich sie doch nur dazu bringen könnte, die Dinge mit Kinderaugen zu sehen, mit Unschuld und liebevoller Aufgeschlossenheit.«

JoJo kam ganz nahe an mich heran, ich spiegelte mich in seinen Augen, und in diesem Moment wünschte ich mir, der Mann, den ich da in diesen braunen Augen sah, könnte sich in ein Kind zurückverwandeln. Viel Verantwortung kam auf mich zu, viel würde von mir abhängen.

»Wieder ein Kind sein, JoJo, das wäre jetzt schön.« Wieder ein Kind! Wieso blieb dieser Gedanke so haften? Kinder können doch nicht viel ausrichten. Oder etwa doch?

»He, vielleicht muss man den Kindern nur eine Stimme geben, eine kräftige!«, rief ich und setzte die Maske wieder auf. »Danke, JoJo.« Ich schob den Schnorchel in den Mund, und ab ging es nach Hause. An die Arbeit!

Im Nu war ich wieder bei meinem Haus auf dem Hügel und saß mit dem Notizblock auf den Knien in der Hängematte, fieberhaft Notizen kritzelnd, Listen, Ideen, Sturzbäche von Lösungsansätzen.

Schulen!

Ich brauchte die Unterstützung der Öffentlichkeit, so viel war klar. Und die beste Idee, die ich hatte, bestand darin, die Schulen der Inseln für den Gedanken zu begeistern, JoJo zu ihrem Maskottchen zu machen. Ich würde Präsentationen in den Grundschulen geben. Die Kinder würden doch sicher schier platzen vor Stolz auf ein Schulmaskottchen, das seinesgleichen auf der ganzen Welt nicht hatte. JoJo war ja viel mehr als ein beliebiges abstraktes Symbol. Er war ein wilder Delfin in ihren Gewässern. Ein Delfin, der ihre Hilfe brauchte.

Und wenn zunächst einmal die Kinder für JoJos Lage im Besonderen und für Umweltfragen im Allgemeinen sensibilisiert waren, vielleicht würde es dann auch möglich sein, einen generellen Wandel einzuleiten. Und im Laufe der Zeit könnten sich immer mehr Menschen engagieren.

So nahm also mit der Hilfe meiner Inselfreunde und vieler anderer das JoJo-Schutzprojekt Gestalt an. Ich wollte Menschen in allen Bereichen ansprechen, auch auf der Verwaltungsebene, um ihnen vor Augen zu führen, wie wichtig JoJo für die Kinder war – und für das Ökosystem der Insel insgesamt.

Des Weiteren musste ich mich um internationale Unterstützung bemühen, ich musste Sachkundige und Organisationen ansprechen, bei denen ich mir Rat holen konnte und die mir bei der Entwicklung eines Schutzprogramms für JoJo helfen konnten.

Vier Ziele formulierte ich für das JoJo-Schutzprojekt: Erstens war es wichtig, über die Verhaltensweisen eines wild lebenden Delfins aufzuklären, denn nur so würden sich weitere Verletzungen und Schadensersatzforderungen verhindern lassen. Zweitens musste die Kommunikation zwischen Mensch und Tier verbessert werden; dazu mussten die kommunikativen Verhaltensweisen dokumentiert und möglichst mit internationalen Wissenschaftlern erörtert werden. Drittens musste ein tierärztlicher Dienst eingerichtet werden, und viertens wollte ich JoJo juristisch unter Schutz gestellt sehen.

All das sollte ein Bewusstsein für die generelle Notwendigkeit des Naturschutzes schaffen, und zwar für alle Delfine und Walartigen, für die die Turks und Caicos ein Durchzugsgebiet sind (einigen Arten dienen sie sogar als Paarungs- und Aufzuchtsgebiet).

Zunächst aber kam es jetzt darauf an, JoJo zu schützen und auf dem Wege der Aufklärung weitere unerfreuliche Zwischenfälle nach Möglichkeit zu verhindern. Die Leute sollten lernen, ihn als einen festen Bestandteil ihres Lebensraumes und zugleich als wilden Delfin zu sehen, und das wollte ich über die Schulkinder erreichen. Also fing ich an, mit Diavorträgen über die Insel zu tingeln, und die Kinder griffen den Gedanken, JoJo zu ihrem Schulmaskottchen zu machen und als einzigartiges Symbol der schutzbedürftigen Natur zu verstehen, begeistert auf.

Damit war mein erster Punkt bereits erfolgreich umgesetzt. JoJo war für alle sichtbarer geworden; von jetzt an würden sich mehr Leute für ihn interessieren und seine besondere Schutzwürdigkeit erkennen.

Sehr wichtig war es mir auch, die Touristen besser aufzuklären, die JoJo nach wie vor für einen abgerichteten handzahmen Delfin hielten, wenn sie ihn in Strandnähe schwimmen sahen. Dadurch kam es immer wieder zu unerfreulichen Zwischenfällen. Ich hatte spezielle Schilder entwerfen lassen, die an den Strandzugängen aufgestellt wurden. Sie unterrichteten über die wichtigsten körperlichen Gegebenheiten an einem Delfin, rieten dringend davon ab, ihn zu berühren, und gaben die generelle Empfehlung, das wild lebende Tier in Ruhe zu lassen.

Außerdem erstellte ich eine kleine Informationsbroschüre, die in Hotels und Geschäften ausgelegt wurde und auch über JoJos Schutzstatus innerhalb der Nationalparks und über seinen Status als nationales Kulturgut informierte. Außerdem wurde das nie ganz berechenbare Delfinverhalten erklärt und besonders erläutert, zu welchen Verhaltensweisen es in der Gegenwart von Menschen kommen kann. Das war der beste Weg, um möglichst viele Touristen zu informieren. Darüber hinaus fanden in den Hotels und Schulen Diapräsentationen statt.

Leider gab es ein Problem, bei dem Informationskampagnen einstweilen noch nicht viel halfen: JoJo wurde immer wieder von Booten mit und ohne Motorantrieb angefahren. Doch ich hoffte, die Zahl solcher Vorfälle reduzieren zu können, indem ich die Bootsleute darüber aufklärte, wann und wo JoJo normalerweise schlief.

Ich suchte auch den Kontakt und Informationsaustausch mit Delfinspezialisten und Delfinliebhabern, um den Menschen das Verhalten wild lebender Meeressäuger besser verständlich zu machen. Ich entwickelte ein Datenblatt, das bereits einige der immer noch zahlreichen Fragen zum Verhalten von Delfinen beantwortete. Mittelfristig war mir daran gelegen, eine umfangreiche Dokumentation aller relevanten Beobachtungen und Informationen zu erstellen, die unser Verständnis der Delfine und Wale vertiefen würde.

JoJo hatte gezeigt, dass er an Beziehungen zu Menschen in einer Weise interessiert war, die man bei wild lebenden Delfinen so noch nicht beobachtet hatte. Für die Erforschung der Mensch-Delfin-Interaktion hätte ich also keinen besseren »Probanden« finden können als ihn. Außerdem würde JoJo als Muster für künftige Annäherungsversuche an Delfine dienen können. Die weitere Interaktionsforschung würde bei seinem Verhalten in seinem natürlichen Lebensraum ansetzen, und man würde dabei besonders auf seine Fähigkeit achten, neue Verhaltensformen und Kommunikationsmethoden auszubilden und bestehende zu erweitern beziehungsweise abzuwandeln.

Es hat schon viele Situationen gegeben, in denen die Frage akut wurde, wie man am besten für JoJos Gesundheit und Wohlergehen sorgen könne. Da waren ja nicht nur die gefährlichen Verletzungen durch Rochenstachel, sondern auch die tiefen Wunden durch Bootsschrauben, Wasserski, Jetboot und Haie sowie andere Gesundheitsgefährdungen durch Menschen und sonstige Ursachen. Wenn JoJo krank oder verletzt war, genoss er nicht die Unterstützung von Artgenossen, die in solchen Fällen einen engen Verbund bilden und das betroffene Tier vor Räubern schützen und notfalls mit Nahrung versorgen.

Um all das hatten sich also im Falle von JoJo die Menschen zu kümmern. Vor allem ich musste ihm Gesellschaft leisten und ihn mit der Hilfe der ortsansässigen Tierärzte medizinisch versorgen. Dafür stellte ich eine Liste von Notfallmaßnahmen zusammen, die unter anderem die wichtigsten Telefonnummern enthielt. Auch für den Fall lebensgefährlicher Verletzungen, die eine vorübergehende Isolierung notwendig machten, musste vorgesorgt werden. Dazu holte ich den Rat von Experten ein und studierte die bereits beschriebenen Rettungs- und Notfallmaßnahmen, denn diese sollten ja so wenig wie möglich in JoJos natürliche Abläufe eingreifen.

Und während ich mich all dieser Dinge annahm, spürte ich, dass sich auch JoJos wahrer Daseinszweck gerade erst abzuzeichnen begann.

Doch bevor das »JoJo-Delfin-Projekt«, wie ich es nannte, in vollem Umfang anlaufen konnte, musste ich mit ausgewiesenen Fachleuten in den USA über alle Einzelheiten diskutieren. Dafür nahm ich mir mehrere Monate Zeit.

»JoJo«, sagte ich, »jetzt wird dein Erinnerungsvermögen auf die Probe gestellt. Wirst du mich überhaupt noch erkennen, wenn ich zurückkomme? Aber ja, ganz bestimmt wirst du das. Doch falls nicht, kann ich dir jetzt schon verraten, dass dein Freund darüber ziemlich gekränkt sein wird.«

Ich bereiste die Nordostküste der Vereinigten Staaten und besuchte jedes Delfinarium, jedes Forschungszentrum für Meeressäuger. Das Gleiche tat ich dann entlang der kalifornischen Küste und schließlich auch in Florida.

Viele Forscher und Trainer, die mir auf diesem langen Weg begegneten, beneideten mich um die Chance, Erfahrungen mit einem einzeln lebenden Delfin zu sammeln. Sie steuerten gute Ideen zum Aufbau eines Hilfsprojekts für JoJo bei und versorgten mich mit den neuesten Veröffentlichungen über wilde und in Gefangenschaft lebende Delfine. Wie nicht anders zu erwarten, war die Ausbeute bei den wild lebenden Delfinen eher dürftig. Zumindest aber hatte ich jetzt den Grundstock zu einer Delfin-Bibliothek, aus der vielleicht eines Tages eine internationale Forschungseinrichtung werden konnte.

Viele meiner Fragen über die Verhaltensweisen wilder Delfine blieben jedoch unbeantwortet. Für meine Art des Umgangs mit JoJo gab es keine Beispielfälle, und überhaupt war nur sehr wenig über einzeln lebende wilde Delfine bekannt. Ich stellte den Fachleuten Fragen, die von meinen unmittelbaren Beobachtungen ausgingen, doch wie sich herausstellte, sind viele von JoJos Verhaltensweisen und Intelligenzleistungen an domestizierten Delfinen einfach nicht zu beobachten. Meiner Einschätzung nach liegt das am eintönigen Lebensumfeld der in Gefangenschaft lebenden Delfine, das einem akustisch orientierten Tier einfach viel zu wenig Anregung bietet. Kurzum, meine Ausbeute war enttäuschend.

In den meisten Aquarien werden die Delfine gut versorgt und knüpfen enge Beziehungen zu ihren Trainern, von denen sie auch gefüttert werden. Solche Beziehungen sind oft von ähnlicher Art wie unsere Beziehungen zu Haustieren. Diese Delfine können antrainierte Kunststücke vorführen und halten still, wenn sie tierärztlich untersucht werden. Aber alle Delfine, die ich beobachtet habe, waren ganz anders als JoJo. Sie zeigten kaum je ein nicht antrainiertes Verhalten oder ein ganz eigenes Interesse an Fremden. Es gab zwar Interaktion, aber die sah anders aus als bei JoJo. Von sich aus waren diese Delfine offenbar nur am Spiel mit Artgenossen und an den Fütterungen interessiert. Den Blickkontakt, den JoJo immer hielt, habe ich an diesen Delfinen nicht beobachtet. Dafür beobachteten sie meine Hände genau und erwarteten offenbar Signale und Belohnungshäppchen. Zwischen diesen Delfinen und JoJo konnte ich nur ganz grundsätzliche Verhaltensähnlichkeiten ausmachen. Im Unterschied zu ihnen besaß er vollkommene Bewegungsfreiheit, und Nahrungszuwendungen oder Nahrungsentzug spielten in seinen Beziehungen zu Menschen überhaupt keine Rolle.

Niemand, die Trainer eingeschlossen, wusste, wie JoJo Verhaltenseigentümlichkeiten hatte ausbilden können, die es bei Delfinen in Gefangenschaft einfach nicht gab. Und da ich nur ihn als wild lebenden Delfin kannte, wusste ich nicht einmal, ob sein Verhalten repräsentativ für alle wilden Delfine und ihren normalen Umgang innerhalb einer Schule war. Da wurde mir klar, dass Gespräche mit Delfintrainern für meinen Informationsbedarf eigentlich nichts brachten. Die Forschung auf dem Gebiet wild lebender Delfine steckte noch in den Kinderschuhen, und das galt für allein lebende Exemplare noch mehr als für ihr Verhalten in Schulen.

Natürlich mussten JoJos Antriebe ganz andere sein als bei Delfinen in Becken. Er ernährte sich selbst und bestimmte ganz allein über die Art seines Umgangs mit Menschen. Ich musste einfach fragen und forschen, fragen und forschen und so allmählich eine Datensammlung zum Delfinverhalten zusammentragen. Dabei halfen mir interessanterweise wieder einmal die Kinder.

Meine Freundin Laurie war Lehrerin an einer kalifornischen Grundschule. Im Laufe einiger Monate hatte ich mehrere Briefe von ihr bekommen, in denen sie mich bat, etwas für ihre Schüler zu schreiben und Fotos von JoJo beizulegen. Das tat ich sehr gern und besuchte diese Schule später auch, um den Kindern von JoJo zu erzählen. Sie arbeiteten damals an einem Klassenprojekt über Delfine. Laurie lud mich ein, weil sie fand, es gebe für die Kinder doch sicher keine bessere Einführung in das Thema als JoJos Geschichte.

Im Rahmen ihres Klassenprojekts hatten die Schüler eine Pinnwand aufgehängt, an der sich auch meine Berichte und die Fotos von JoJo befanden. Das empfand ich als große Ehre. Und genau wie daheim auf der Insel hatten auch diese Kinder JoJo bereits zu ihrem Maskottchen erkoren.

Meine Präsentation fand großen Anklang, und im Anschluss erkundigten sich die Schüler sehr engagiert nach JoJos Lebensraum und seinen Verhaltensweisen. Die Themen, die sie ansprachen, waren zum Teil grundlegender Natur, es gab aber auch recht anspruchsvolle darunter. Da den Kindern keine Kenntnisse über antrainiertes Delfinverhalten im Weg standen, stellten sie in ungebremster Wissbegier sehr kreative Fragen – Fragen, die wohl so mancher Delfintrainer auch stellen würde, hätte er es nicht sein Leben lang mit gefangenen Delfinen zu tun gehabt.

Die Kinder erkundigten sich etwa: »Was tut JoJo den ganzen Tag? Wo schläft er? Wie schläft er? Was isst er? Spielt er mit anderen Delfinen?« Das waren alles sehr naheliegende Fragen, die aber von den Profis nicht gestellt werden.

Manche davon konnte sogar ich nicht oder nicht erschöpfend beantworten. »Wie weit schwimmt er an einem Tag? Wohin geht er, wenn er krank ist? Wie kann er Beute machen, ohne dass ihm andere Delfine dabei helfen?«

Ich war so beeindruckt von diesem Forschergeist, dass ich die Fragen der Kinder zum Ausgangspunkt für meine Stoffsammlung zum Delfinverhalten machte.

Ah, Kindermund, dachte ich, als ich all die Ideen in meinem Notizbuch festhielt und über die Weisheit der Unschuld nachdachte.

Während meiner Informationsreise für das JoJo-Projekt bin ich nicht nur den Fachleuten des Delfingeschäfts begegnet, sondern auch Kämpfern für die Rechte der Tiere, die sich für die Freilassung aller gefangenen Delfine einsetzen. Und beide Seiten bekundeten Interesse am JoJo-Projekt, einfach weil JoJo als wilder Delfin etwas so Einmaliges war.

Ich habe auch Ric kennengelernt, den Trainer der Titelfigur aus der Fernsehserie »Flipper«. Er ist inzwischen Tierrechtsaktivist und bekämpft »das milliardenschwere Geschäft mit gefangenen Delfinen«, wie er selbst es nennt. Sein Ziel ist es, alle Delfine wieder auszuwildern. Sollte sich zeigen, so seine Überlegung, dass sich Delfine auch nach Jahren in Gefangenschaft wieder in der freien Wildbahn zurechtfinden, dann sollten sie dort wieder freigelassen werden, wo sie eingefangen wurden. Ric bezeichnete JoJo als den einzigen ihm bekannten Fall, in dem sich ein wilder Delfin aus freien Stücken auf Menschen einlässt. Die Beziehung zwischen JoJo und mir betrachtete er als »perfektes Studienobjekt«, nur müsse ich JoJo unbedingt vom Kommerz der Delfinindustrie fernhalten.

Wie richtig er damit lag, sollte die Zukunft zeigen.

Als ich wieder nach Hause kam, zeichneten sich gerade neue Entwicklungen ab, gegen die ich dringend etwas unternehmen musste. Jemand steckte mir die Kopie eines vertraulichen Schreibens zu, in dem sich ein Regierungsvertreter an eine Privatfirma wandte und darum ersuchte, alles in die Wege zu leiten, damit JoJo eingefangen und einem Delfintraining unterzogen werden konnte. Sie wollten JoJo aus seinem angestammten Lebensraum nehmen und zum Schmusedelfin umschulen! Es hieß, JoJo werde womöglich auf die Bahamas verschickt oder sogar in Florida landen.

Wie konnte so ein Brief überhaupt zustande kommen und wer stand hinter dem Plan, JoJo aus dem Weg zu räumen? Was für Gründe gab es dafür? Wir mussten augenblicklich reagieren, bevor der in dem Brief erteilte Auftrag ausgeführt werden konnte. Ich wusste nicht im Einzelnen, für wann das Unternehmen geplant war und was womöglich schon alles in Bewegung gesetzt worden war. Ich wusste nicht einmal, in welcher Einrichtung JoJos Training stattfinden sollte, hatte also keinen konkreten Gegner. Wieder einmal blieb mir nichts anderes übrig, als möglichst viele Leute zu informieren und zu mobilisieren, um die Ausführung des Plans zu unterbinden.

Ich musste die öffentliche Meinung so beeinflussen, dass genügend Gegendruck entstand. Dabei musste ich jedoch äußerst vorsichtig vorgehen, denn solche Bemühungen wurden schnell als politisches Taktieren hingestellt, und damit wäre mir sicher nicht gedient. Im Übrigen schien mir aber, dass JoJo nicht gerade politischer Sprengstoff war und ich einfach möglichst viele hohe Entscheidungsträger informieren und ihnen klarmachen musste, wie wichtig es war, JoJo sein Leben in Freiheit zu erhalten.

Meine Informationsreise hatte mir deutlich gemacht, dass der menschliche Umgang mit Delfinen und anderen Walartigen in erster Linie aus kommerziellen Interessen und aus einer wissenschaftlichen Forschung bestand, die nicht auf Rücksichtnahme beruhte. Das Projekt, das mir vorschwebte, hatte mit beidem nichts im Sinn; die wissenschaftliche Forschung sollte einen untergeordneten, lediglich begleitenden Stellenwert haben. Ich musste das Projekt schleunigst vorantreiben, JoJos Zukunft hing davon ab. Es ging um nichts weniger als darum, zu erreichen, dass JoJo sein Leben in den hiesigen geschützten Gewässern weiterführen durfte, ohne dass ihm Menschen nachstellten, die ihm schaden konnten. Er musste unter Schutz gestellt werden, das war das Ziel.

Eigentlich hatte es mit JoJos Schutz als einem einzigartigen und zu diesen Inseln gehörendes Wildtier sehr gut begonnen, als Prinzessin Alexandra unser abgelegenes Inselreich besuchte und den Princess Alexandra National Park offiziell einweihte, wodurch ungefähr ein Viertel von JoJos Lebensraum unter Schutz gestellt wurde. Sie bekam ein großes Poster vom Nationalpark mit einem herrlichen Foto von JoJo geschenkt. Hier wurde er zum ersten Mal als eine der einzigartigen Attraktionen herausgestellt, deren Schutz der Park in Zukunft dienen würde.

JoJo sollte noch oft stellvertretend für den Geist der Turks- und Caicosinseln, für ihre Bewohner und ihre Regierung präsentiert werden. Noch wussten die Leute freilich nicht, wie sehr JoJo die Herzen der Menschen im Land und anderswo gewinnen würde und dass es ihm bestimmt war, weltweit zur Symbolfigur unserer Bemühungen um die Erhaltung des Lebens im Meer und der Umwelt überhaupt zu werden.

Eigentlich ging es bei meiner Aufklärungskampagne also darum, JoJo als »nationales Kulturgut« und Symbol für die Tierwelt der Turks- und Caicosinseln in den Blick zu rücken. Das würde allen Versuchen seiner Vermarktung den Wind aus den Segeln nehmen. Sollte mein Plan aufgehen, würde JoJo künftig unter dem Schutz des für Umwelt- und Naturschutz zuständigen Ministeriums und des JoJo-Projekts stehen und folglich vor Ausbeutung geschützt sein. Dabei kam es darauf an, dass ich wirklich alle Menschen erreichte. Wenn die Leute, die sich gegen JoJos Freiheit verschworen hatten, auch nur ein bisschen über die Einzigartigkeit seines Daseins und seine Bedeutung für die Kinder der Insel gewusst hätten, wären sie sicher gar nicht erst auf solche Ideen gekommen.

Deshalb wollte ich auf jeden Fall die Verantwortungsträger erreichen, die bei allen Entscheidungen über JoJo mitzureden hatten. Aber auch die Drahtzieher der Regierungsinitiative zu JoJos Gefangennahme sollten informiert werden. Ich hatte etliche Stunden Videomaterial über JoJo gesammelt, das seine Verhaltensweisen und seinen Umgang mit Menschen dokumentierte. Daraus stellte ich einen Lehrfilm zusammen, der den Leuten zeigen sollte, wer JoJo überhaupt war und welch einen erhaltenswerten Schatz er für das Land darstellte.

Das fertige Video schickte ich mit individuellen Begleitschreiben an die verschiedenen zuständigen Ministerien und an den Chief Minister. Auch die für den Tourismus zuständige Behörde wurde informiert und mit Material versorgt. Diese Leute mussten vor allem wissen, dass JoJo nicht zu einem Marketinginstrument werden durfte, dem man ganze Bootsladungen von Touristen auf den Hals hetzte. Berühmt war der Delfin schon, jetzt kam es darauf an, ihn als freien, wild lebenden Meeressäuger herauszustellen – was er auch bleiben sollte.

Gerade die Tourismusbehörde wollte ich für die Idee gewinnen, JoJo als nationales Kulturgut zum Symbol der einzigartigen Inselfauna zu machen. Deshalb stellte ich für sie ein besonders umfangreiches Informationspaket zusammen und verfasste ein ausführliches Begleitschreiben, in dem ich darlegte, dass ein einzeln lebender wilder Delfin wie JoJo unbedingt vor den unerfreulichen Begleiterscheinungen eines rasch anwachsenden kommerziellen Tourismus geschützt werden musste.

Ich arbeitete buchstäblich Tag und Nacht und kam kaum zum Schlafen. Nach meinen nachmittäglichen Schwimmausflügen mit JoJo traf ich mich meist noch mit Weltenbummlern, Aktivisten oder Inselbewohnern zum Essen und versuchte sie für das JoJo-Projekt zu gewinnen. Ich unterhielt sie mit Geschichten über JoJo, verteilte Postkarten und Broschüren über unsere Arbeit. Darin ging ich so vollkommen auf, dass an ein Privatleben kaum mehr zu denken war. Bis eines Abends das Telefon klingelte.

»Warum rufst du denn nicht an?«, fragte Emily. Ich hörte ein leichtes Beben in ihrer Stimme.

»Haben wir denn nicht gestern erst telefoniert?«

»Dean, das war vor zwei Wochen.«

»Tut mir leid. Es ist nur wegen JoJo«, wandte ich matt ein.

»Ich weiß. Wie immer.«

»Du liebst ihn doch auch.«

»Ja, das tue ich.« Sie schwieg einen Moment lang. Dann fügte sie hinzu: »Aber ich fühle mich einsam.«

»Was ist mit deinen Freundinnen?« Etwas Besseres fiel mir nicht ein.

»Das ist kein Ersatz, das weißt du doch.«

Natürlich nicht. Aber was hätte ich sagen können? Sie hatte ja recht.

»Dean, bist du noch dran?«

»Ja, Liebes. Es tut mir leid.«

»Ruf einfach öfter an, okay? Du fehlst mir.«

Ich versprach es. Aber jetzt musste ich erst einmal das Projekt für meinen Freund zum Laufen bringen. Danach konnte ich einen Besuch bei Emily planen.

Bei meinem Bemühen, JoJo juristisch unter Schutz zu stellen, würde unser Naturschutzministerium die Schlüsselrolle spielen, das war mir klar. Das Ministerium musste die Schirmherrschaft übernehmen. Von da aus konnten wir dann weitere Umweltschutzprojekte in Angriff nehmen.

Von diesen Gedanken geleitet, stellte ich ein umfangreiches Dossier über Fälle auf der ganzen Welt zusammen, in denen es gelungen war, für besondere Arten einen rechtlichen Schutz zu erwirken. All das, stellte ich mir vor, sollte Vorbildfunktion für den Fall JoJo bekommen.

Ich erstellte neue Diashows und konzentrierte meine Bemühungen wieder auf die Schulen. Wenn ich die Kinder über JoJos Leben auf dem Laufenden hielt, würden sie immer wissen, weshalb es sich lohnte, ihn zu schützen – und wie man respektvoll mit ihm umging. Mir die Unterstützung der Schüler zu sichern war leicht, schließlich hatten sie JoJo bereits als Schulmaskottchen. Und wie stolz sie waren, sagen zu können, dass Turks und Caicos eines von ganz wenigen Ländern war, die sich als Heimat eines einzeln lebenden wilden Delfins bezeichnen konnten, der die menschliche Gesellschaft suchte.

Außerdem verfasste ich für die Lokalzeitung ein paar Artikel über JoJo, und daraus wurde bald eine Kolumne. Alles, was ich darin schrieb, beruhte auf meinen persönlichen Aufzeichnungen über meinen Umgang mit JoJo und versuchte zu erklären, weshalb eine Begegnung gerade so verlaufen war, wie ich sie beschrieben hatte. Am Ende meiner Artikel forderte ich die Leser auf, sich für das JoJo-Projekt zu engagieren und zu erkennen, wie selten und kostbar dieser Delfin war.

Ich beabsichtigte, JoJo zu so hohem Ansehen zu verhelfen, dass niemand mehr auch nur daran dachte, ihn abzuschieben oder gefangen zu nehmen. Ich begreife bis heute nicht, wie irgendwer je auf solche Gedanken verfallen konnte. Dennoch bin ich geneigt, keine allzu üblen Motive dahinter zu vermuten, sondern den Betreffenden eher schlichte Unwissenheit zu unterstellen.

Jedenfalls musste ich bei dieser Kampagne sehr vorsichtig vorgehen. Der erwähnte Brief mit Überlegungen zu JoJos Gefangennahme war, wie bereits gesagt, vertraulich und hätte den Verfasser, einen Regierungsbeamten, kompromittieren können. Also arbeitete ich zunächst mehr oder weniger allein und im Verborgenen. Und war eigentlich ganz froh, Emily so weit ab vom Schuss zu wissen, denn hier nahm das öffentliche Interesse allmählich zu, auch in der Form von Behördenwillkür und verbalen Angriffen. Letztere bestärkten meinen Verdacht, dass es wohl um Geld gehen musste. Und wie sich später herausstellte, ging es tatsächlich um Geld. Um sehr viel Geld sogar.

Ich musste all die Leute umstimmen, die meinten, es sei besser, JoJo wegzuschaffen. Und ich musste den Leuten, die es ernsthaft vorhatten, klarmachen, dass ich ihre finsteren Pläne an die Öffentlichkeit bringen würde. Das alles waren Akutmaßnahmen, die dazu dienten, für den Moment das Schlimmste zu verhindern. Aber wie sollte ein langfristiger Plan aussehen, der JoJo auf Dauer vor allen erdenklichen Eventualitäten schützen konnte?

Ich musste alle Fragen durchspielen, die im Verlauf des Projekts auftauchen könnten. Ungefähr so, wie man beim Schach jeden einzelnen Zug auch auf seine möglichen späteren Konsequenzen hin abklopft.

Zum Beispiel: Wenn ich alle Firmen auf der Insel anschrieb, die an den Plänen für JoJos Gefangennahme beteiligt sein konnten, würde das meine Chancen möglicherweise vergrößern. Aber nur, wenn sie noch nicht wussten, dass ich plante, an die Öffentlichkeit zu gehen. Wie sollte ich das Schreiben so formulieren, dass es überzeugend wirkte, aber niemanden verärgerte? Dass es nachdenklich machte, aber nicht zu Gegenschlägen animierte?

Alles Fragen, die genau zu bedenken waren.

Ich schrieb damals alle Einrichtungen in erreichbarer Nähe an (also in Florida und auf den Bahamas), die für JoJos geplante Domestizierung infrage kamen, und erklärte ihnen die Hintergründe dieser Machenschaften, nämlich dass man sich anstehenden Schadensersatzforderungen entziehen und möglichst noch einen stattlichen Gewinn erzielen wollte.

Neben allem, was ich so in Gang brachte, musste ich weiter an die Bewusstseinsbildung und an den Aufbau der erforderlichen Infrastruktur denken. Das, dachte ich, sei vielleicht am besten zu erreichen, wenn ich mir in England Aufmerksamkeit und Unterstützung sicherte. Schließlich sind die Turks- und Caicosinseln lokal verwaltetes britisches Überseegebiet. Doch wer käme dafür als Ansprechpartner infrage? Prinz Charles und Prinz Philip fielen mir ein, aber die kannte ich bloß dem Namen nach. Persönliche Kontakte zu den britischen Royals zu knüpfen war eine hochkomplizierte Angelegenheit, und wer würde sich in Großbritannien schon um das Wohlergehen eines einzelnen Delfins im Westatlantik kümmern wollen?

Manchmal aber nimmt sich das Schicksal der Dinge an, wenn man es am wenigsten erwartet. Von meinen Eltern hatte ich gelernt, zuerst zu meditieren und zu beten und mich dann mit klarem und möglichst leerem Kopf darauf zu konzentrieren, dass sich das zur Lösung eines Problems Notwendige schon zeigen werde. Meine Gedanken waren dann eine Vorwegnahme dessen, was zu JoJos Wohlergehen geschehen musste. Ich setzte es nur in Bewegung.

* * *

So arbeitete ich also beinahe ununterbrochen an meinem Projekt, doch auf die Freude des gemeinsamen Schwimmens mit JoJo mochte ich trotzdem nicht verzichten. Er war die letzten Wochen nicht gesehen worden, aber ich war mir sicher, dass er sich nur herumtrieb und anderen Dingen nachging. David und Leslie hatten ihn hin und wieder gesehen, sowohl weit draußen als auch nahe am Strand. Leslie fürchtete jedoch, dass JoJo krank sein könnte, denn sie hatte ihn als langsam und lustlos empfunden.

Als ich damals angefangen hatte, mit JoJo zu schwimmen, waren mir auch manchmal Änderungen in seinem Verhalten aufgefallen, die ich für Anzeichen einer möglichen Krankheit hielt. Er bewegte sich dann träge, und wenn ich ihn rief, dauerte es lange, bis er auftauchte. Das kam aber so häufig vor, dass ich mir sagte, er sei wohl einfach schläfrig und brauche Ruhe.

Eine Woche verging, bis wir von Freunden erfuhren, dass JoJo erneut gesichtet worden war, und zwar in North Caicos – an die fünfunddreißig Kilometer weiter östlich, als er sich unseres Wissens je von Grace Bay entfernt hatte. Ob er sich aber auch jetzt noch dort in der Gegend aufhielt, wusste niemand.

Ich notierte das alles, denn ich wollte dokumentieren, wo sich JoJo aufhielt und wie groß sein »Revier« war. Er wurde erwachsen, vielleicht weiteten sich die Grenzen seines Lebensraums ja mit den Jahren aus. Ich fuhr also nach Middle Caicos und erkundigte mich überall, ob JoJo dort war, aber niemand konnte mit Sicherheit sagen, dass es sich tatsächlich um ihn handelte.

Meine Bestätigung bekam ich schließlich doch, nämlich an einer abgelegenen Stelle, die Bottle Creek heißt. Das ist der Durchlass zwischen Middle Caicos und North Caicos, eine Gegend, in der sich nur wenige Menschen aufhalten. Hier stieß ich auf eine mit zwei Personen besetzte kleine marikulturelle Forschungseinrichtung, die an Verfahren zur kommerziellen Anzucht von Weichschalenkrabben arbeitete.

Die Meeresbiologin Kim hatte einen Delfin gesehen, und dessen Äußeres brauchte sie mir gar nicht erst zu beschreiben. Denn als sie erzählte, dass dieser Delfin ihr bei der Arbeit an den Krabbenreusen glucksend und schnalzend über die Schulter geschaut hatte, wusste ich: Das konnte nur JoJo gewesen sein. Er war ungefähr eine halbe Stunde bei ihr geblieben, um ihr bei der Arbeit zuzusehen, und war dann wieder davongeschwommen. Seither hatte Kim ihn nicht mehr gesehen.

Auch in North Caicos, bei den Fischern und an anderen Stellen der Insel war JoJo in letzter Zeit gelegentlich gesehen worden.

Was mochte mit ihm sein?

In Pine Cay, dachte ich, seien die Chancen, ihn zu treffen, wohl am besten, aber auch da war es schon etwa eine Woche her, dass er beim Spiel mit Toffy gesehen worden war. David, Leslie und ich machten uns allmählich Sorgen, denn JoJo ließ sich unsere gemeinsamen Schwimmrunden sonst höchstens einmal für einen Tag entgehen. Leslie fürchtete immer noch, dass er krank sein könnte, aber David und ich blieben optimistisch und trösteten sie. JoJo würde sicher bald wieder auftauchen. So machte ich meine Schwimmtouren jetzt allein, hoffte aber immer, dass er neben mir auftauchen würde, um zu spielen.

Doch die Tage vergingen, und er blieb aus.

Am zehnten Tag verließ auch mich der Optimismus. Wir überlegten, ob wir eine regelrechte Vermisstensuche starten sollten.

»Ja, ich finde, das solltest du, Dean«, sagte Leslie von der Veranda aus. Sie lehnte den Kopf an den Türrahmen und nickte. »Ich glaube nämlich wirklich, dass er krank ist.«

Ich widersprach nicht mehr, sondern winkte sie herein, zog das reichlich gebraucht aussehende Telefonbuch heraus und blätterte nach den Nummern von Piloten auf der Insel, bis ich auf eine Frau stieß, von der ich wusste, dass sie ein Fliegerass war. Gerade wollte ich ihre Nummer wählen, als David anrief.

»JoJo ist eben gesehen worden, er schwimmt hinter einem Boot her in Richtung Grace Bay«, sagte er. »Genau da, wo wir sonst immer zusammen im Wasser sind. Ich mache mich sofort auf den Weg.«

Wir wechselten keine weiteren Worte. Ich raffte meine Sachen zusammen, lief aus dem Haus und warf alles in den Wagen. Leslie kam hinter mir her.

»Was ist los?«, fragte sie.

»Er ist da. Komm, steig ein.« Ich ließ den Motor an. »Halt dich gut fest, das wird jetzt etwas rasanter.« Kaum hatte sie sich angeschnallt, ging es auch schon im Eiltempo den holprigen Weg nach Grace Bay hinunter.

Wir sahen David schon von Weitem am Strand stehen, die Flossen in der Hand und bereit, sofort zu unserem üblichen Treffpunkt hinauszuschwimmen. Wir nickten einander kurz zu, dann hatte ich nur noch den Horizont im Blick, an dem mein Freund jetzt jeden Moment auftauchen musste.

Ich sah ihn noch nicht, spürte aber schon seine Energie über die Wellen heranwehen. Kurz schloss ich die Augen und lauschte mit einem Ohr in Richtung Meer. War da nicht gerade sein Ausatmen zu hören? Oder trug mir der Wind einfach seinen Geist zu?

Ich wusste, er war da. Etwas wie Blütenduft lag plötzlich in der Luft, ganz so, als würde JoJo ihn mitbringen. David und Leslie schienen den Duft auch zu bemerken, sie sogen die Luft ein wie in einem botanischen Garten voller Orchideen und Passionsblumen.

Mit Taucherbrille und Schnorchel schwammen wir in die türkisblaue Bucht hinaus. Ein paar Hundert Meter weiter draußen suchten wir das Meer nach Bewegungen ab und warteten auf Delfinlaute. Doch es blieb still. Kein Delfin. Selbst die typischen Geräusche der Schnorchelatmung waren verstummt. Wir hielten den Atem an.

Ich wollte gerade das Wort an Leslie richten, als Unglaubliches geschah. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie in ungefähr fünfzig Metern Entfernung etwas aus dem Wasser schoss. Es war JoJo, der da in einer riesigen glitzernden Gischtfontäne in weitem Bogen durch die Luft flog und wieder eintauchte. In immer weiteren Luftsprüngen kam er mit Höchstgeschwindigkeit genau auf uns zu. JoJo hatte mir auch früher schon einiges geboten, aber dieses Spektakel hatte etwas so Gewaltiges, dass ich wie vom Donner gerührt war und sogar das Wassertreten vergaß.

Erst als ich in den Wellen versank, wurde mir klar, dass es kein Traum war. Wir machten uns auf die ganze Wucht seiner Begeisterung gefasst. Was mochte er noch in petto haben? Mit trillerndem Pfeifen und Schnalzen kam er in Wolken von glitzernden Wassertropfen wie ein Wirbelwind daher.

Wir alle kannten das umfangreiche Repertoire seiner Verhaltensweisen, aber einen Freudentaumel wie diesen hatte noch keiner von uns erlebt. Kein Zweifel, JoJo war überglücklich, dass er seine Schwimmfreunde wiedergefunden hatte, mit denen er fast jeden Tag spielte.

Die nächsten vier Stunden gehören zu den intensivsten Gemeinschaftserlebnissen, an die ich mich überhaupt erinnern kann. Wir spielten in engem Verbund, und JoJo entging keine äußere oder innere Regung unserer Freude, er griff jeden auch noch so kleinen Impuls auf wie ein guter Tanzpartner, doch mit mehr Eleganz und intuitivem Feingefühl, als man es sich von einem menschlicher Tänzer oder einer noch so genialen Choreografie je versprechen dürfte.

Und im Spiegel dieses tropischen Miteinanders wurden auch wir zu Abbildern seines Delfinwesens.

Als es Zeit wurde, an Land zu gehen, verlegte uns JoJo den Weg, wie wir es alle gut kannten. Heute aber blieb das Ganze spielerisch und hatte nichts von dem trotzigen Beharren, das wir auch schon an ihm erlebt hatten. Er bat einfach mit unhörbar unter Wasser klatschenden Brustflossen um »Zugabe«.

»Es ist uns eine Ehre, dass du uns so nah bei dir haben möchtest«, sagte ich. »Aber die Sache ist die, dass wir uns auch mal wieder aufwärmen müssen.« Ich täuschte einen linken Bogen an, damit Leslie und Dave am anderen Ende an ihm vorbeikommen konnten, und danach fand ich für mich selbst einen Fluchtweg.

Dann standen wir im warmen Sand, aber JoJo blieb vor uns im flachen Wasser und ließ Grunzlaute hören, die etwas anders klangen als das mir vertraute Glucksen. Dann kam noch ein klagendes Pfeifen dazu, das uns sehr überraschte.

»Was das wohl bedeutet«, sagte ich zu Dave. Der hob die Schultern. Mir kam es so vor, als wollte JoJo uns mitteilen, wie einsam er in der Zwischenzeit gewesen war.

»JoJo erzählt von Freudentränen, die er vergoss, als er uns wiedersah«, rief Leslie und hatte dabei selbst Tränen in den Augen.

Das konnte man nicht einfach übergehen.

So müde und unterkühlt Leslie und ich waren, wir gingen wieder ins Wasser und spielten eine weitere Stunde mit JoJo. Kreisen. Platschen. Saltos von der Boje, dann wieder durchs Wasser schnellen. Aber schließlich waren wir so erschöpft, dass nur noch Ausstieg und Dusche infrage kamen. JoJos stimmliche Mitteilungen waren wieder dieselben, aber diesmal ließ er uns gehen. Wir winkten ihm, und er schwamm langsam in die Weite hinaus.

Von da an stellte sich JoJo wieder jeden Tag zum Spielen ein. David, Leslie und ich wurden seine »Schule«, und das machte uns die Verantwortung, die wir trugen, deutlicher bewusst als je zuvor.

Wir waren sein Kreis, seine Familie. Was ich und meine menschlichen Freunde in Zukunft unternehmen würden, konnte über sein Schicksal bestimmen.