Zeichensprache
Zeit ist relativ – wenn ich das nicht schon gewusst hätte, von JoJo hätte ich es gelernt. Delfinzeit schert sich nicht um das Treiben der Menschen und schon gar nicht um ihre Terminkalender. JoJo mag meinen Zeitplan gekannt haben, wäre aber nie auf die Idee gekommen, sich an ihn zu halten. Das brachte ein paar, nun, sagen wir, Schwierigkeiten mit sich. Immer öfter war es so, dass er ungeduldig wurde, wenn wir im Anschluss an den Tauchunterricht nicht sofort zu unserer gemeinsamen Schwimmrunde aufbrachen. Offenbar begriff er nicht, dass er umso länger warten musste, je früher er sich einstellte.
Einmal fühlte er sich beim Tauchunterricht wohl nicht ausreichend beachtet, jedenfalls begann er an meinen Flossen zu knabbern, während ich mit den Tauchschülern auf dem Meeresboden kniete, um ihnen irgendetwas vorzuführen. Für JoJo war das alles sicher nur ein Spiel, aber er beschränkte sich nicht aufs Knabbern, sondern begann, an mir zu zupfen. Er nahm eine meiner Schwimmflossen zwischen die Zähne und zog daran – wie sollte ich da unterrichten? Zusätzlich kam er auf die Idee, eines meiner Knie mit der Brustflosse unter mir wegzuschieben, sodass ich nach vorn fiel, bis er dann meine Flosse endlich wieder losließ. Für die Tauchschüler war das bestimmt recht unterhaltsam, auf diese Weise aber brauchte ich viel mehr Zeit für den Unterricht und konnte nicht so viele Schüler ausbilden wie die anderen Tauchlehrer.
»He, Dean, könntest du deinen Delfin nicht vielleicht wegschicken, bis der Unterricht vorbei ist?«, wurde ich von Daniel, François und den übrigen Kollegen immer wieder gefragt, wenn JoJo so lästig wurde, dass kein vernünftiger Unterricht möglich war.
»Das ist nicht mein Delfin«, gab ich dann zurück. »JoJo ist sein eigener Herr.« Für mich hatten solche Anfragen etwas von den Bemühungen mancher Eltern, die Zuständigkeit für ein Problemkind auf den jeweils anderen zu schieben.
Vielleicht, dachte ich, würden sie ja irgendwann einsehen, dass ich mit JoJo nur deshalb so gut zurechtkam, weil ich seine Eigenständigkeit respektierte. Ich hätte ihn mit dem Drohfinger, »Nein, nein!«, wegschicken können, unterließ es aber lieber, denn was hätte ich noch tun können, sollte er nicht darauf eingehen? Das Wasser konnte ich ja schlecht verlassen, wenn ich mit Anfängern unterwegs war, die ständige Beaufsichtigung brauchten.
In seinem Beharren auf Zuwendung ging JoJo so weit, dass er sich meinen Atemschlauch griff und daran zog. Natürlich stellte sich heraus, dass ich umso eher folgte, je stärker er zog. Ob er die Notwendigkeit meiner Atemausrüstung erkannte oder sie einfach als Spielzeug sah, weiß ich allerdings nicht. Wenn er zu sehr zerrte und ich mich dagegen stemmte, schnappte mir schließlich das Mundstück aus dem Mund. Dann blies ich feine Blasen, wie es für solche Fälle unter Wasser vorgeschrieben ist, und JoJo schien daraufhin zu spüren, dass er den Schlauch loslassen musste. Ich setzte das Mundstück wieder ein, atmete und setzte den Unterricht fort.
Meine Schüler hatten nichts gegen diese Einlagen. Grinsend genossen sie die Darbietungen. JoJo machte mich sogar zum beliebtesten Lehrer; viele Anfänger wünschten sich ausdrücklich, von mir unterrichtet zu werden. Das änderte sich allerdings, als JoJo herausfand, dass er mit seinem Flossenzupfen auch bei den Schülern einiges bewegen konnte. Sie fielen regelmäßig nach vorn, wenn er ihnen die Füße wegzog. Zum Glück ging er nicht so weit, dass er an ihren Atemschläuchen zerrte, bis sie das Mundstück verloren, trotzdem störte sein Unfug den Unterricht ganz erheblich.
»Der ganze Lebenszweck des Delfins besteht darin, das geordnete Tun des Menschen durcheinanderzubringen«, schreibt der weltweit renommierte Delfinkenner Horace Dobbs.
Das kann man wohl sagen.
»Was für ein wilder Typ du doch bist, JoJo«, sagte ich, wenn er wieder einmal einen meiner Kurse aufgemischt hatte. »Und dabei auch noch so kreativ! Man weiß nie, was dir als Nächstes einfällt. Du hast deinen eigenen Kopf, du machst einfach alles, was dir gerade einfällt, egal, was daraus wird, stimmt’s?«
So begrüßenswert ich JoJos Besuche im Anschluss an den Unterricht auch fand, mir war durchaus bewusst, dass ich bei meinen Erziehungsversuchen aufpassen musste, wenn ich seine unerwünschten Verhaltensweisen nicht sogar noch verstärken wollte. Aber manchmal wusste ich wirklich nicht, was ich dagegen unternehmen sollte. Ich konnte ihm Handzeichen geben, aber wenn es gerade einer jener Tage war, an denen ihn der Umgang mit mir nicht sonderlich interessierte, ignorierte er sie einfach. An solchen Tagen brauchte ich auch gar nicht erst zu versuchen, ihm meine Gesellschaft zu entziehen, da sich diese Maßnahme als völlig wirkungslos erweisen würde. Mit der Zeit aber verstand ich seine »Gedankengänge« besser und stieß auf ein paar Dinge, mit denen ich ihn einigermaßen verlässlich ablenken konnte – doch auch das funktionierte nur, wenn er in der entsprechenden Stimmung war.
»JoJo, wegen dir werde ich noch meinen Job verlieren«, beklagte ich mich, wenn er den Unterricht wieder einmal empfindlich gestört hatte. »Kannst du mich nicht einmal in Frieden unterrichten lassen?«
Immer wenn ich an die Grenzen meiner Geduld stieß, erinnerte ich mich an die gelassene Ruhe, mit der meine Mutter das Gezänk zwischen meinen vier Geschwistern und mir immer geschlichtet hatte. Ich hatte zwar immer den Eindruck, zum Sündenbock für jede zerbrochene Vase, jedes verschüttetes Glas Limonade und jeden Streit gemacht zu werden; trotzdem, wenn ich den Finger sah, mit dem mir Mama bedeutete, einen Gang runterzuschalten, wurde ich gleich viel ruhiger. Sobald ich dann über den mit weißem Teppich ausgelegten Flur zu meinem Zimmer ging, war der Streit bereits verblasst. Und völlig vergessen, wenn ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. Dann war ich glücklich allein und konnte auch wieder klar denken.
Der weiße Sand von Grace Bay hatte eine ganz ähnliche Wirkung auf mich und vergrößerte auch mein Verständnis für JoJo. Er mochte noch so viel dummes Zeug anstellen, es würde mir nicht im Traum einfallen, ihn von dort wegzuschicken, wo er zu Hause war. Aber ich konnte versuchen, ihn vom Tauchtraining wegzulocken, ich konnte ihm etwas noch Interessanteres anbieten, was ihn für eine Weile von mir und den Schülern ablenken würde – vorausgesetzt, er war dazu aufgelegt. Zwei Dinge waren dabei von recht überzeugender Wirkung: schöne gemeinsame Schwimmausflüge oder irgendein interessanter Gegenstand, der seine Neugier weckte.
Eine Version, die viel Spaß machte, bestand darin, mit JoJo auf die andere Seite des Anlegers zu schwimmen, wo die Segler waren. Die Leute genossen es sichtlich, ihn beim Spiel mit den Segelbooten und Windsurfern zu beobachten. Die frohen Gesichter all derer, die uns beim Planschen und Tauchen zusahen, machten mir immer großen Spaß. Diese Möglichkeit wählte ich am liebsten, da ich am Nachmittag oft frei hatte und mich JoJo widmen konnte. In dieser Zeit konnte ich auch neue Spiele für ihn erfinden, und wir tummelten uns stundenlang in den tropischen Gewässern.
Wenn ich selbst nicht weg konnte, gab es noch die Möglichkeit, JoJo auf die Suche nach Haien zu schicken. Das hatte draußen am Riff, wo gelegentlich welche gesichtet wurden, auch durchaus seinen Sinn, hier im Seichten aber war die Chance, dass er Haie finden würde, sehr gering – hoffte ich jedenfalls. Wenn ich also während des Unterrichts den Arm hob, kam es durchaus vor, dass sich JoJo eine Weile nach Haien umsah, bevor er dann mit irgendeinem anderen Spielzeug zurückkehrte. Einer Schildkröte etwa oder einer rosaroten Unterhose.
Einmal wusste ich mir wieder einmal keinen anderen Rat, als JoJo auf Haifischsuche zu schicken, worauf er auch sofort einging – die Schüler, die anderen Lehrer und mich ließ er in seligem Frieden zurück.
Reingefallen!, dachte ich voller Genugtuung.
Was für ein entspannter Nachmittag. Tauchunterricht zu erteilen war viel einfacher, wenn man nicht auch noch einen Sack Flöhe hüten musste!
Natürlich war es viel zu schön, um wahr zu sein. Ich hatte ihn mit einem wirklich schwachen Blatt geblufft und nicht damit gerechnet, dass er einen Royal Flush auf der Flosse hatte.
Der Unterricht war fast abgeschlossen, als ich ihn von Weitem kommen hörte. Ich sah ihn noch nicht, aber an seinen Lauten erkannte ich, dass er irgendetwas bei sich hatte. Vielleicht versuchte er einen Stein in unsere Richtung zu rollen oder kam mit einer Schildkröte an. Den Tauchschülern gab ich ein Zeichen, sich hinzuhocken und abzuwarten. Ich deutete auf meine Ohren; sie sollten auf die Delfinlaute achten.
Wir saßen also still da, bis JoJo in Sicht kam. Er war es wirklich, aber er hatte keine Schildkröte und auch keine Unterhose aufgetrieben. Vielmehr apportierte er genau das, was ich ihm aufgetragen hatte: einen an die zweieinhalb Meter langen Ammenhai. Er hielt direkt auf mich und meine sechs Schüler zu, die gerade einmal ihre zweite Stunde absolvierten. Unter der Leitung unseres Schutzdelfins gesellte sich nun also ein Hai zu uns.
Meine Güte! Ich hielt schnell noch meine Hände vor mich, damit der Hai mich nicht frontal rammte, dachte aber nicht daran, dass es ausgerechnet das Signal zum Abliefern von Fangergebnissen war. JoJo legte also noch zu, während zwei meiner Schüler alles Gelernte vergaßen, nämlich unbedingt zusammenzubleiben, und schleunigst auftauchten.
»Ein Hai! Ein Hai! Hilfe!«, schrien sie und machten sich hastig in Richtung Strand davon. Ich konnte ihnen nur alles Gute wünschen, hatte aber jetzt anderes zu tun, denn JoJo versuchte gerade, den Hai genau in unseren Unterwasserkreis zu treiben. Mit einem Sprung war ich bei meinen Schülern und signalisierte ihnen mit den Händen, Ruhe zu bewahren – und auch jetzt fiel mir erst viel zu spät ein, dass ich erneut die Bring-mir-den-Hai-Geste gemacht hatte.
O nein!
JoJo gluckste bestätigend und schubste den Hai doch wahrhaftig genau zwischen uns. Dann umrundete er die Gruppe wie ein Brummkreisel, damit der Fisch, der panische Angst vor JoJo zu haben schien und verzweifelt nach einem Schlupfloch suchte, nicht fliehen konnte. Wir rückten auseinander, um ein wenig Abstand zu gewinnen, während JoJos wildes Kreiseln einen Wirbel erzeugte, der die Sichtweite nahezu auf null sinken ließ.
Der Delfin war absolut begeistert, er pfiff und schnalzte ununterbrochen. Der Hai musste immer noch irgendwo zwischen uns sein – nur dass ich nicht wusste, wo genau. Außerdem musste ich auch noch Ruhe bewahren, schließlich trug ich ja hier die Verantwortung.
Irgendwann gingen meinen Schülern dann doch die Nerven durch und sie stoben auseinander, um aufzutauchen. Es war ein heilloses Durcheinander von zuckenden Flossen, beschlagenen Masken und brodelnden Luftblasen – den Kampf gegen das Chaos hatte ich verloren. Ich tauchte ebenfalls auf und fand mein versprengtes, zitterndes und japsendes Häuflein unversehrt, aber völlig verstört an der Wasseroberfläche.
»Dean, bitte, hol mich hier raus«, flehte mich eine Siebzehnjährige aus Texas durch klappernde Zähne an.
»Klar, Mädel, kein Ding«, sagte ich mit souveräner Ruhe, um die Panik aufzulösen. »Schwimmt mir einfach nach, es kann euch nichts passieren, keine Angst.« Unter uns tobten JoJo und der Hai unter Quietschlauten und allerlei anderen Geräuschen in Wirbeln und Sandwolken weiter. Es machte JoJo offenbar großen Spaß, diesen Hai herumzuhetzen.
Jetzt, da keine Menschen mehr störten, konnte er sich ihm mit voller Aufmerksamkeit widmen. Er trieb ihn zu der Leiter am Ende des Anlegers und schaufelte ihm Sand in die Kiemen, bis er ganz fügsam wurde. Dann geleitete er den nunmehr lammfrommen Hai in das Unterrichtsgebiet zurück und machte sich daran, sämtliche noch verbliebenen Taucher und Schwimmer an den Strand zu scheuchen. Wahrscheinlich wollte er den Leuten seinen Hai vorstellen.
»JoJo, JoJo, was soll das?«, seufzte ich vor mich hin und schüttelte den Kopf.
Vielleicht fand er es lustig, solch einen Aufruhr zu verursachen. Er jedenfalls amüsierte sich dabei, denn immer wenn der Hai wieder zu Kräften kam, trieb er ihn an den Anleger zurück und schaufelte ihm erneut Sand in die Kiemen, bis er sich ergab. Ich blieb noch Stunden im Wasser und sah JoJo zu, wie er immer wieder die gleiche Prozedur vollzog: Er führte seinen Hai vor und zeigte sich begeistert, wenn die Zuschauer an den Strand flohen. Der Hai war sichtlich am Ende seiner Kräfte, und JoJo hätte ihn bestimmt töten können, wenn er es gewollt hätte. Aber er tat es nicht. Schließlich erbarmte ich mich des armen Kerls und lockte seinen Peiniger von ihm weg, sodass er, wenn auch langsam, das Weite suchen konnte.
Hätte JoJo auf solche Husarenstücke verzichtet, wären sicher alle mit seinen neugierigen und verspielten Besuchen beim Tauchunterricht einverstanden gewesen. Aber er war nun einmal etwas extremer gestrickt. Zeigte er sich heute umgänglich, ja zuvorkommend, konnte man damit rechnen, dass er morgen den größten Unsinn anstellen würde.
* * *
Einmal begegnete mir beim Joggen am Strand eine Frau mit einem Jungen an der Hand, die mir ins Auge fiel. Ihr langes blondes Haar wehte im Wind und umrahmte ein ebenmäßiges Gesicht. Sie ging so behutsam mit dem Jungen um und ihr Lächeln war so schön, dass ich beinahe stolperte. Als ich mich wieder gefangen hatte, verlangsamte ich meinen Schritt und ging auf sie zu.
»Hallo«, sagte ich so charmant wie möglich.
Sie antwortete nicht gleich, sondern musterte mich mit einem fragenden Blick, wie um abzuschätzen, was ich wohl von ihr wollen könnte.
»Sind Sie mit Ihrem Sohn im Hotel?«
»Oh, das ist nicht mein Sohn. Ich kümmere mich nur um ihn.«
Nicht ihr Sohn? Ich nickte und wartete, ob sie noch etwas hinzufügen würde. Sie war Kanadierin, stellte sich heraus, hieß Emily und war als Kindermädchen auf die Turks und Caicos gekommen.
»Das ist ein Job, den ich wirklich gern mache, wenn nur …« Ihre Stimme wurde ganz leise, und sie sah sich um, als könnte sie belauscht werden.
»Wenn nur …?«, fragte ich nach.
»… wenn nur Seans Eltern nicht wären«, flüsterte sie und deutete mit dem Kopf auf den Jungen. »Sie begreifen es einfach nicht. Und sie wollen mich nicht so helfen lassen, wie es richtig wäre.«
»Begreifen was nicht?« Ich hatte keine Ahnung, wovon sie sprach.
»Sie meinen, er brauche keine besondere Förderung. Man müsse ihn nur wie die anderen Kinder auch behandeln, dann würde schon alles in Ordnung kommen. So geht das aber nicht.«
Jetzt erst fielen mir das runde Gesicht des Jungen auf, seine etwas schrägen Augen, die leicht herausstehende Zunge. Downsyndrom. Sean grinste zu mir herauf.
»Hi«, sagte er.
»Hallo, Sean. Wie geht’s?«
»Gut. Hunger.«
»Wir müssen los«, sagte Emily. »Es gibt gleich Mittagessen. War nett.« Sie wandte sich ab.
»Sind Sie morgen wieder hier?« Ehe ich michs versah, waren die Worte draußen. Und ich hätte gern ihre Augen gesehen, die sie hinter einer dunklen Ray-Ban-Brille verbarg.
»Bestimmt. Wir kommen eigentlich jeden Tag hierher.« Sie nahm den Jungen mit dem sandfarbenen Haar an der Hand. »Komm, Sean, gehen wir nach Hause.«
Ich sah ihr noch eine Weile nach, bevor ich weiterjoggte. Eines war klar: Ich würde ganz bestimmt morgen wieder hier sein. Mein Grinsen muss von einem Ohr bis zum anderen gereicht haben.
Etwa eine Woche später schwammen wir wieder einmal zu den Bootsliegeplätzen und JoJo tastete mit seinem Echolot die Gegend ab, als suchte er etwas. Ich wusste auch gleich, was. JoJo hatte ein Meeresschneckengehäuse, das er besonders liebte und immer beim Anleger deponierte. Wenn wir dorthin unterwegs waren, schwamm er gern voraus, um mir zu zeigen, wo das Gehäuse lag. Ich warf es dann weit aufs Wasser hinaus, und JoJo spürte es mit seinem Echoortungssystem wieder auf.
Heute aber lag unser Spielzeug nicht an der üblichen Stelle. JoJo machte sich auf die Suche, er umrundete den Anleger, schwamm aufgeregt hin und her. Dann kam er schnurstracks auf mich zu und sah sich meine wohlweislich ausgestreckten Hände genau an.
»Ich habe es nicht«, beteuerte ich.
Er schwamm hinter mich und tastete mit der Schnauze an meinem Rücken herum, fand aber auch da nichts. Dann kam er wieder vor und starrte mir direkt in die Augen. Sein Blick sagte: »Ich will jetzt dieses Schneckengehäuse.«
»Komm, ich such dir ein neues«, sagte ich und tauchte, um zu sehen, ob es da unten etwas Brauchbares gab. Ich fand aber nur Sand und Seegras, sooft ich auch tauchen mochte. Ich konnte nur hoffen, dass er selbst etwas finden würde, womit er sich amüsieren konnte.
Kurz darauf schwamm er plötzlich voraus, »schnüffelnd« sozusagen. Dann hielt er an und hatte offenbar irgendetwas unter dem Schnabel. Ich dachte schon, ich müsse wieder einen Junghai von ihm befreien, und sprintete zu der Stelle hin, aber was soll ich sagen – JoJo hatte tatsächlich unser Schneckengehäuse gefunden und drückte es in den Sand. Wunderbar, jetzt konnten wir spielen.
Ich überlegt, wieso das Gehäuse wohl so weit draußen lag, obwohl wir es doch immer an derselben Stelle am Anleger zurückließen. Nun, vielleicht hatte JoJo es selbst verlegt. Aber dann fiel mir ein, wie vorwurfsvoll er mich eben noch angesehen hatte. Nein, es musste eine andere Erklärung geben.
Jetzt erst bemerkte ich, dass er das Gehäuse nicht einfach zeigte, wie er es sonst immer tat, sondern es eindeutig in den Sand drückte. Was er damit wohl beabsichtigte?
Ich wollte die Schnecke aufheben, aber nein, JoJo bestand darauf, sie in den Sand zu drücken. Er drängelte sogar. Er hielt mich mit seinem Körper immer gerade so weit von dem Gehäuse weg, dass ich nicht herankam. Ich grapschte danach, aber er schubste sie schnell ein Stück weiter. Bei diesem Spiel war er eindeutig besser als ich, zumal mir immer wieder die Luft ausging. Schließlich war ich richtig erschöpft vom vielen Tauchen und dem Gerangel unter Wasser, zu dem es kam, wann immer ich das Schneckengehäuse beinahe in der Hand hatte und JoJo mich mit seinem ganzen Gewicht wegdrängte.
»Schön, du hast gewonnen«, gestand ich meine Niederlage ein.
Aber er schien gar nicht auf Sieg aus zu sein. Der Rückweg zu unserem üblichen Spielgelände wurde zu einer weiteren Überraschung. Ich schwamm schon einmal vor, während JoJo das Schneckengehäuse immer noch mit der Schnauze am Boden weiterschubste und -rollte. Als ich mich einmal zu ihm umdrehte, hielt er in der Bewegung inne und sah mir nach. Sein Blick hatte etwas Spitzbübisches.
Jetzt kam er sogar zu mir und fing an, mich mit dem Schnabel in Richtung Schneckenhaus zurückzuschubsen, wobei er mir das Unternehmen mittels Gluckslauten zu erläutern versuchte. Was er wohl von mir wollte? Ich streckte den Arm zum Abschleppsignal aus. Er nahm meine Hand in den Mund und zog mich zu dem braunen Gehäuse.
Ich nahm es, steckte es mir in die Badehose und schwamm zum Anleger, wo JoJo es dann wieder suchen konnte. Unterwegs störte mich aber ein seltsames Pieken in der Hose. Das kam mir irgendwie verdächtig vor und ich blickte nach unten.
Das Gehäuse hatte sich in meiner Hose auf Wanderschaft begeben. Und die Richtung, die es einschlug, gefiel mir gar nicht.
Ich nahm all meinen Mut zusammen, lupfte den Hosenbund und griff nach dem Schneckengehäuse. Schaute da nicht so etwas wie eine Klaue heraus? Mir wurde richtig flau im Magen. Im nächsten Moment riss ich das Ganze, was immer es auch sein mochte, aus meiner Badehose und schleuderte es von mir. Anschließend versicherte ich mich, dass an mir noch alles dran war.
JoJo konnte meine Sorgen natürlich nicht nachvollziehen. Er fand mein panisches Fingern eine Zeit lang sehenswert und kümmerte sich dann gleich wieder um das zu Boden sinkende Schneckengehäuse, das er mit Ortungslauten bearbeitete. Sobald es am Boden angekommen war, drückte er es erneut mit dem Schnabel auf den Boden, geradezu ein wenig ärgerlich, wie mir schien. Ich tauchte auf, um Atem zu holen, und sah dann, dass das Gehäuse wieder begonnen hatte zu wandern. Anscheinend war ein großer Einsiedlerkrebs eingezogen.
Der bloße Gedanke jagte mir noch einmal Schauer über den Rücken. Wieder drückte JoJo das Gehäuse in den Sand. Der Krebs suchte Deckung. Das also war der Bösewicht, der unsere Schale entwendet hatte. Wahrscheinlich war er in einer kleineren angereist und dann in unsere umgezogen.
Da meine Männlichkeit jetzt nicht mehr gefährdet war, konnte ich mich über JoJo amüsieren, der es gar nicht in Ordnung fand, sein liebstes Spielzeug einem Krebs überlassen zu müssen. Es war ein gar zu komischer Anblick, trotz meines Schnorchels musste ich immer wieder auflachen, wenn JoJo sein Spielzeug festzuhalten versuchte. Ich hätte nie gedacht, dass sich ein Delfin derart über ein Krebschen aufregen konnte.
Am nächsten Tag war der Einsiedlerkrebs mit seinem neuen Heim über alle Berge, sehr zu JoJos Missvergnügen.
»Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt«, sagte Emily lachend, als ich ihr die Geschichte erzählte.
»Lektion?«
»Ja. Die, dass nichts anderes als du selbst in deine Badehose gehört.«
»Stimmt«, gab ich schmunzelnd zurück.
»Schließlich könnte es ja sein«, ergänzte sie, »dass du eines Tages Kinder haben möchtest.« Sie schaute auf ihre Hände. Doch dann hoben sich ihre blauen Augen und suchten meinen Blick, und ich muss gestehen: Mein Herz setzte kurz aus.
Am nächsten Morgen ließ ich mir JoJos Verhalten noch einmal durch den Kopf gehen. Was mich daran besonders erstaunte, war, dass er überhaupt in der Lage war, ein Schneckengehäuse im Schnabel zu tragen. Ich suchte nach einem ähnlich aussehenden, um herauszufinden, ob es ihn genauso interessieren würde. Vorher vergewisserte ich mich natürlich, dass es leer war.
Zur gewohnten Zeit und an der üblichen Stelle am Strand pfiff ich nach JoJo, und als er eine Viertelstunde später erschien, warf ich dieses Gehäuse von mir wie das andere am Vortag. Er verfolgte es mit Ortungslauten, bis es im Sand landete. Ich schwamm ebenfalls hin, und jetzt begann wieder das Drängelspiel. Er ließ mich nicht nach dem Schneckengehäuse greifen. Ich tauchte zum Luftholen auf und rechnete schon mit einer stundenlangen Balgerei, als JoJo das Gehäuse plötzlich packte und blitzschnell damit verschwand. Es wäre unmöglich gewesen, ihm zu folgen, also wartete ich im Wasser ab, was er tun würde. Er kam ohne die Schale zurück und zog dann mit halb geschlossenen Augen langsam Kreise, wobei er immer wieder eine leise Melodie pfiff. Ich suchte nach dem Schneckengehäuse, fand es aber nicht.
»Du willst mich bloß beschäftigen, hm?«, sagte ich und wartete darauf, dass er mich an die richtige Stelle führte.
Das tat er aber nicht. Offenbar hatte er eine neue Art gefunden, mit den Dingen umzugehen. Er sammelte irgendwo etwas auf und ließ es dann an einer beliebigen Stelle wieder fallen. Ahmte er mich womöglich nach? Vielleicht hatte er beobachtet, dass ich alles in die Hand nahm und untersuchte, was uns beim Schwimmen so begegnete. Jedenfalls hob er von da an ebenfalls alles auf, alte Socken, Dollarnoten, kleine Muschelschalen.
»Aber in der Hose nehme ich nichts mehr für dich mit«, sagte ich, als er mir eine alte Sonnenbrille brachte. »Ich habe meine Lektion gelernt.«
* * *
Wie es anfing, weiß niemand mehr so genau, aber irgendwie hatte sich Toffy, ein Labrador-Retriever, als Welpe mit JoJo angefreundet, und seither bildeten die beiden ein ausgesprochen wunderliches Gespann. Ihre Beziehung, eine Art Hassliebe, bestand schon etliche Jahre, als ich Hund und Delfin auf der abgelegenen Insel Pine Caye zum ersten Mal beobachtete. Ich war auf einer Tour rings um die Insel, fünfundvierzig Kilometer, die ich schwimmend und laufend zurücklegte, als ich Toffy bellen hörte und sah, wie er im flachen Wasser auf JoJo losging. Ich traute meinen Augen nicht.
»JoJo«, sagte ich, »du spielst mit einem Vierbeiner?« Ich hatte zwar gehört, dass es da einen Hund gab, der JoJo am Strand nachstellte, aber ich musste es erst mit eigenen Augen gesehen haben, bevor ich es glaubte.
»Doch, doch«, hatte mir der Inhaber eines abgelegenen Hotels versichert. »Man sieht Toffy oft dasitzen und auf den Delfin warten. Er bleibt dann einfach mit seinem blonden Hintern auf dem leeren Strand sitzen, bis der Delfin auftaucht.«
Einen Besitzer hatte Toffy nicht, aber Jim und Sharon, die das exklusive Ferienhotel auf Pine Caye führten, versorgten ihn. Und alle liebten diesen Halunken; sein wohlgerundeter Bauch verriet, dass von jedem Tisch etwas abfiel. Oft sah ich ihn mit dem Kopf auf den Pfoten daliegen und sich die Lefzen lecken, Bettelblick in den Augen, immer in der Erwartung, dass ihm ein Hotelgast Fleischbrocken von seinem Teller zuwarf. Da gab es sicher Leute, die sparen mussten, um sich solch ein exklusives Mahl in einem exklusiven Hotel leisten zu können, und Toffy lag einfach nur da, blickte treuherzig drein, wedelte mit dem Schwanz und bekam alles gratis. Den Seinen gibt’s der Herr eben im Schlaf.
Oft saß ich mit Toffy am Strand von Pine Cay und wartete auf JoJo. Wir blickten aufs Meer oder sahen einander an. Es muss ein sehenswerter Anblick gewesen sein, zwei Blondschöpfe, die verträumt zum Horizont und sich dann ebenso verträumt in die Augen blickten. Ein Kind hätte vielleicht gesagt: »Schau mal Mami, ein Liebespaar, und einer davon ist ein Hund!«
Und Mami würde mild erwidern: »Aber nein, Herzchen, das sind nur Dean und Toffy, die auf JoJo warten.«
Der Weg nach Pine Cay, das viele Schwimmen und Joggen, lohnte sich schon allein für den Anblick, den Toffy bot, wenn der Delfin endlich auftauchte. Staunend nahm ich wahr, wie viele verschiedene Spielvarianten sich JoJo einfallen ließ. Wenn Toffy im Schatten einer Palme lag und schlief, konnte ihn so gut wie nichts in seiner Seelenruhe stören. Kaum fiel jedoch der Name »JoJo« oder das Wort »Delfin«, schon war er auf dem Posten und lief zum Strand. Auf dem Weg zum Wasser bellte und bellte er und hielt nach JoJos berüchtigter Rückenflosse Ausschau.
Wenn der schnittige graue Körper dann durchs Wasser glitt, stürzte sich Toffy in die Wogen und setzte ihm nach. Bei all der lautstarken Aufregung wusste JoJo natürlich längst, dass der Hund ihm auflauerte. Er machte dann eine kleine Wendung und klopfte dem Hund ordentlich mit der Schwanzflosse auf die Pfoten, sofern er nicht mit den Zähnen daran zupfte. Toffy winselte zwar auf, ließ sich aber nicht abschrecken. Es kam sogar vor, dass JoJo im Sprung über den Vierbeiner hinwegsetzte. Auch Toffy flog gelegentlich, dann aber von einem Schlag mit der Schwanzflosse.
Einmal stand JoJo im Wasser kopf und fächelte verlockend mit der Schwanzflosse. Dem konnte Toffy nicht widerstehen.
»Nicht, Toffy, pass auf«, warnte ich.
Er hörte nicht, sondern schlich sich an, offenbar in der Annahme, JoJo könne ihn von da unten nicht sehen. Als er eben zuschnappen wollte, bekam er mächtig eins auf den Kopf und ging erst einmal unter. Nachdem er sprudelnd und niesend wieder aufgetaucht war, musste er auch noch JoJos Quiekser und Schnalzer über sich ergehen lassen.
Im Laufe der Zeit lernte der Hund, mit solchen Aktionen aus dem Hinterhalt zu rechnen und sich noch verstohlener anzuschleichen, aber JoJo fiel immer wieder etwas Neues ein. Wenn Toffy seinen Schwanz schon fast hatte, tauchte er manchmal weg, packte seinerseits den Hund am Schwanz und zog ihn rückwärts, bis er sich wieder losriss.
Man sollte annehmen, dass Toffy daraufhin erst einmal das sichere Ufer suchte, doch nein, sobald er frei war, setzte er JoJo wieder nach. Und das war erst der Anfang. Die Schlacht konnte sich stundenlang hinziehen.
Irgendwann war es dann aber so weit, dass Toffy erschöpft aufgeben und JoJos Feldüberlegenheit anerkennen musste. Er schwamm an Land, wo er den Heimvorteil hatte, und JoJo setzte sich dem sogar aus. Er paddelte Toffy ins wadentiefe Wasser nach, wo der Hund noch sicheren Stand hatte und hechelnd und schwanzwedelnd dastand, als wollte er sagen: »Ha, jetzt sieh mal zu, ob du mich kriegst!«
Ernsthafte Verletzungen trug keiner von beiden je davon. Manchmal waren Toffys Krallenspuren zwar noch ein paar Wochen an JoJo zu sehen, aber die Blessuren, die er verursacht hatte, brauchten sicher auch ihre Zeit, bis sie verheilt waren.
Das Einmalige an dieser Beziehung lag darin, dass sie nicht durch menschliche Vermittlung zustande kam. Oftmals ist keine Menschenseele an den weiten Stränden von Pine Cay, und die beiden treiben trotzdem ihr Spiel, von niemandem beobachtet. Vom Flugzeug aus sieht manchmal jemand den goldbraunen Hund am Strand sitzen und auf seinen Freund aus der Familie der Walartigen warten.
JoJo hat womöglich viele Spielgefährten, aber nicht alle stehen ihm so bereitwillig zur Verfügung wie Toffy. Wer nämlich einmal erlebt hat, was dieser Delfin unter Spielen versteht, ist hinterher meistens auf weitere Begegnungen nicht mehr so erpicht. Diejenigen Lebewesen des Meeres, die nicht zu den Säugetieren gehören, legen keinerlei Interesse am Spiel mit Delfinen an den Tag – erst recht nicht mit Menschen. JoJo mochte aber beide Arten von Spielgefährten. Woher hatte er diese Aufgeschlossenheit? War es seine Natur, dass er in allen Lebewesen erst einmal potenzielle Freunde sah, oder hatte die frühe Trennung von seiner Familie und Schule ihn so weise gemacht? Ich weiß es nicht, zweifellos aber erteilt mir JoJo Tag für Tag Unterricht in der großen Kunst der Akzeptanz – was meistens Spaß macht, manchmal aber auch ganz schön wehtun kann.
Da ich sein Verhalten und Ausdrucksverhalten inzwischen ziemlich gut kenne, weiß ich meistens, ob er nur zum Vergnügen hinter etwas her ist oder ob er Hunger hat und Beute sucht. Einmal schwammen wir gerade im flachen Wasser an einer Gruppe von Leuten vorbei, als JoJo weit reichende Ortungslaute zu senden begann und dann urplötzlich mit Feuereifer davonschoss. Ich stand auf, um nach ihm zu sehen. Knapp hundert Meter weiter draußen hatte JoJo offenbar etwas Größeres aufgetan und war dabei, es in Richtung Land zu treiben. Die Rückenflosse des Fremden, dünn wie ein Rasiermesser, schnitt mit erstaunlicher Schnelligkeit durchs Wasser und näherte sich dem Strand. Die meisten Menschen hatten es jetzt ziemlich eilig, an Land zu kommen.
»Keine Sorge, Leute«, rief ich, »Ammenhaie hat er schon öfter mal mitgebracht. Er schaufelt ihnen dann so viel Sand in die Kiemen, dass sie ganz friedlich werden. Es passiert euch bestimmt nichts.«
»Na, Sie haben Nerven«, sagte ein dünner Mann mit langem rötlichem Haar. »Sie schwimmen jeden Tag mit Haien und wissen, wie man sich da verhält.«
»Wenn Sie meinen«, sagte ich nur.
Der Mann suchte das Weite.
Einige wenige blieben bei mir im Wasser. Wir warteten ab. Eine große schwarze Masse kam mit JoJo den Strand entlang auf uns zu. Dann sah ich aber noch weitere Rückenflossen, JoJo gleich daneben.
»Vielleicht gehen wir doch lieber ein bisschen zurück«, sagte ich. Ein Hai erschien mir unbedenklich, aber mehrere?
Die Masse kam näher, und ich nahm an, sie würde sich jeden Augenblick in drei auseinanderstiebende Haie aufteilen. Das geschah jedoch nicht, und als die wilde Jagd nahe genug war und die Schwimmer zur Seite sprangen, erkannte ich auf einmal, dass ich keine drei Lebewesen vor mir hatte, sondern einen Mantarochen von gut dreieinhalb Metern Spannweite, dessen Flügelspitzen ich zunächst für Rückenflossen gehalten hatte.
»Ein Manta! Toll!«, schrie ich.
JoJo pfiff seine Erkennungsmelodie, während er mit dem Rochen dicht unter der Wasseroberfläche heranschoss. Ich stellte mir vor, wie viel Spaß es machen würde, auf einem Manta zu reiten – und erst in diesem Moment realisierte ich, dass er auf Kollisionskurs mit mir war. Ich versuchte noch zur Seite zu springen, stolperte aber nur über meine eigenen ziemlich ausladenden Füße und fiel genau in dem Augenblick nach vorn, als der Manta mich frontal traf. Auch er hatte noch auszuweichen versucht, aber JoJo ließ ihn nicht.
Meine Beine klappten unter den Rochen, mein Oberkörper nach vorn über seinen Kopf, und so zog er mich unter Wasser. Ich konnte nur ganz schnell noch einmal Luft holen, dann ging es in rasender Fahrt weiter. Ich versuchte mich seitlich an den Kopfflossen vorbeizudrücken, aber der Gegendruck des Wassers war zu hoch.
JoJo unterbrach seine Nummer nicht. Er wurde immer schneller und der Manta natürlich ebenfalls und damit auch der Druck, den mein Bauch aushalten musste. Wie lange noch, bis mir die Luft ausgehen würde? Mir hatte es schon den Atem verschlagen, als der Manta mich rammte, und jetzt war der Druck des Wassers so groß, dass ich keine Chance hatte, den Kopf zu heben, um vielleicht ein bisschen Luft zu bekommen. Was, wenn der Manta in tieferes Wasser entkam und mit mir auf der Nase abtauchte? Ich versuchte alles nur Erdenkliche, um von ihm wegzukommen.
Als mir schon schwarz vor Augen wurde, machte der Rochen einen plötzlichen Ruck nach unten und warf mich ab. Ich rutschte bäuchlings über seinen riesigen glatten Rücken, bis mich seine Flügel noch einmal ordentlich in die Tiefe drückten. Dann war JoJo da, schob mir den Schnabel unter den Rücken, wartete kurz, bis ich stabil lag, und stieg dann mit mir auf, bis ich rücklings an der Wasseroberfläche schwebte.
Jetzt, da er mich in Sicherheit wusste, stupste er mich gleich wieder in die Seite, um mich zur nächsten Runde Manta-Hatz zu animieren.
»Hör auf, JoJo«, gurgelte ich, nach Luft ringend.
Unter allerlei Ortungslauten stupste er mich weiter, aber jetzt konnte ich endlich wieder atmen, wenn auch nur flach, weil mein Bauch noch völlig verkrampft war.
Man hätte denken können, dass JoJo mich an den Strand bugsieren wollte, aber weit gefehlt! Er drückte mich unter ständigen Ortungslauten hinaus und in Richtung Manta.
»Ich kann nicht atmen, wenn du das machst«, krächzte ich. »Lass es jetzt sein.«
JoJo hörte auf, sah mir direkt in die Augen, pfiff noch eine Aufforderung zum Spiel, merkte dann aber wohl, dass ich nicht die Atemkapazität eines Delfins besaß.
»Nein danke«, sagte ich. »Genug Rochenjagd für heute.« Langsam schwamm ich auf den Strand zu, JoJo neben mir.
Dass er mich an die Wasseroberfläche gehoben hatte, war eine sehr sinnvolle Maßnahme, aber ich überlegte, ob es außer dem Manta vielleicht noch andere Gründe dafür gab, dass er mich anschließend ins tiefere Wasser bugsieren wollte. Vielleicht machten Delfine das so, wenn einer den anderen retten wollte, der möglicherweise verletzt war. Für den Delfin wäre es sicher nicht zuträglich, an den Strand gespült zu werden, also sorgte man lieber dafür, dass er genügend Wasser unter dem Bauch hatte. Vielleicht war es so, aber angesichts der puren Spiellaune, die ich in seinem Blick sah, wollte JoJo wohl doch eher weitertollen – oder meine Aufgeschlossenheit für alles Leben vergrößern.
* * *
Wasser ist schon immer mein Element. Ob beim Surfen oder Bodyboarding auf den Wellen von Santa Cruz oder als Wettkampfteilnehmer in Tauch- und Schwimmmannschaften, im Wasser fühle ich mich einfach zu Hause. Aber auch die besten Schwimmer müssen sehr genau auf Gezeitenströme und sonstige Strömungen achten. Deshalb machte ich die Entscheidung über unsere nachmittäglichen Schwimmausflüge von den örtlichen Berichten über zu erwartende Strömungs- und Sichtverhältnisse abhängig. Manchmal kam es trotzdem zu Fehleinschätzungen, sodass wir in unerwartete Strömungen gerieten, die uns noch vor dem Erreichen des Randriffs zur Umkehr zwangen.
Es gab da eine Zone, in der JoJo besonders gern spielte, in der jedoch häufig sogenannte Rippströmungen auftraten. Sie entstehen dadurch, dass auflaufendes Brandungswasser verstärkt durch Kanäle zwischen Sandbänken oder Riffformationen wieder zurückfließt, wo dann lokal begrenzte Strömungen herrschen, die einen weit aufs offene Meer hinaustragen können. Hier bei uns war das vor allem jenseits der seichten Sandfläche der Fall, die wir oft überquerten. Beim morgendlichen Tauchen mochte noch alles kristallklar sein, aber schon mittags konnte es aufgrund der Gezeitenströme ganz anders aussehen, und wenn dann noch der Wind aus einer bestimmten Richtung blies, kam es beiderseits des Riffdurchlasses zu starken Strömungen, manchmal nur ganz punktuell und sehr überraschend.
Für einen Delfin sind solche plötzlichen Änderungen der Strömungsverhältnisse kein Problem, aber ein menschlicher Schwimmer, und sei er auch Olympiateilnehmer, kommt nicht gegen sie an. JoJo sah sich bei abrupten Strömungsänderungen nicht einmal veranlasst, mir eine entsprechende Warnung zukommen zu lassen, und dann merkte ich meist viel zu spät, was mir da blühte. In einem solchen Fall musste ich versuchen, quer zur Strömung zu schwimmen, um wieder in ruhigeres Wasser zu kommen, sonst zog sie mich weit aufs Meer hinaus. Ich hatte bestimmte Orientierungspunkte an Land und konnte im Wasser die Wirbelbewegungen beobachten, immer darauf eingestellt, auf meinen schnellsten Freistil umzuschalten, um mich rechtzeitig Richtung Küste zurückzuziehen.
Bei einer solchen Gelegenheit stieß ich im trüben Wasser einmal immer wieder mit der Hand auf einen Widerstand. Ich dachte schon, es sei vielleicht ein Riffteil, den ich nicht wahrgenommen hatte. Oder war es womöglich ein herumtreibendes Fischernetz, in das ich mich verfangen würde und dann keine Chance mehr hatte, der Strömung zu entkommen? Bewusst bewegte ich die Arme nun flacher, streifte dieses Ding, das ich partout nicht erkennen konnte, aber immer noch. Ich wollte gerade anhalten, um schnell abzutauchen und nachzusehen, als das Wasser am Rand dieses Strömungsgebietes plötzlich klarer wurde und ich JoJo ausmachen konnte, der mit dem Bauch nach oben direkt unter mir schwamm. Ihn also hatten meine Hände getroffen. Er bewegte seinen Kopf zwischen meinen Händen hin und her, sodass ich ihn bei jedem Schwimmstoß treffen musste. So verhalf er mir jedes Mal zu einem kleinen Rückstoß, der mich schneller machte; darüber hinaus erzeugte sein Körper einen Sog, der ebenfalls dazu beitrug, mein Tempo zu erhöhen. Ob das Absicht war oder nicht, jedenfalls verschaffte er mir so eine Geschwindigkeit, die mich rasch wieder aus der Strömung heraustrug.
»Danke, JoJo«, sagte ich, sobald ich in Sicherheit war.
Der Delfin postierte sich gleich wieder neben mir, und wir setzten unseren Ausflug fort. Den Gedanken, über das Riff hinauszuschwimmen, musste ich allerdings aufgeben, und so schwammen wir parallel zur Küste weiter. Macht nichts, dann eben ein andermal.
Wir kamen wieder ins flache Wasser, und hier sah ich JoJo über den weißen Sand streichen, hin und her. Dann stellte er sich quer und sendete Ortungslaute aus, wie er sie meiner Erfahrung nach für größere Distanzen verwendete. Er bewegte den Kopf von einer Seite zur anderen, und diese Pendelbewegungen wurden immer kleiner, ganz so, als hätte er sich auf etwas »eingeschossen«. Plötzlich schnellte er los und war schon bald außer Sichtweite.
»Was machst du da?«, fragte ich, als ich ihn wiedergefunden hatte. Er steckte mit der Nase im Sand und drehte sich um seine eigene Achse. »Bist du auf Schatzsuche?«
Mit jedem Schwanzschlag bohrte sich sein Schnabel fünf Zentimeter tiefer in den Sand. Er drehte sich weiter, dabei das Maul leicht öffnend und wieder schließend und kleine Sandwolken pumpend. Nicht lange, und er steckte bis zu den Augen im Sand. Trotzdem schlug er weiter mit dem Schwanz und bohrte sich tiefer, bis nichts mehr von seinem Gesicht zu sehen war.
»Wenn das ein Versteckspiel werden soll«, witzelte ich, »musst du dir aber eine effektivere Technik ausdenken.«
Staunend verfolgte ich das Geschehen. Ähnliches kannte ich bislang nur von Toffy, der einmal an einer Stelle, an der er einen vergrabenen Knochen vermutete, so ausdauernd gebuddelt hatte, dass er nicht mehr aus eigener Kraft aus dem Loch herauskam und ich ihm helfen musste.
»JoJo, hallo, hast du das von Toffy gelernt? Oder willst du dich ganz und gar in einen Hund verwandeln?« Ich holte tief Luft und tauchte hinunter zu ihm.
Seine Schwanzschläge waren derart heftig, dass mich die Wasserwirbel nur so herumbeutelten. Jetzt bekam ich auch mit, dass er nicht aufgehört hatte, wie wild seine Ortungslaute auszustoßen, und sich dabei weiter wie ein Bohrer drehte. Die Neugier packte mich. Ich grub meine Hand in den Sand neben JoJos Kopf und wühlte mich bis unter seine Schnabelspitze vor, um herauszufinden, was er eigentlich suchte. Offenbar spürte er etwas, denn er zog den Kopf so weit aus dem Sand, dass er sich umsehen konnte. Er musterte mich mit einem Auge, unternahm einen letzten Vorstoß in den Sand und zog den Kopf dann wieder ganz heraus.
In der glatten weißen Sandfläche blieb ein Krater zurück. JoJo machte sich davon und ich folgte ihm. Ich musste unbedingt wissen, was er da trieb; aber erst viele gemeinsame Stunden später offenbarte sich mir das Geheimnis der Sandlöcher.
An diesem Abend setzte ich mich an meinen Computer, froh, dem Lärm des Tourismusbetriebs unten in Grace Bay entkommen zu sein, und versuchte JoJos sonderbares Verhalten zu recherchieren. Mein bescheidenes Zuhause auf dem Hügel war der Ort, der mir meditativen Frieden bot. Ich schätzte mich glücklich, dieses winzige Häuschen zwischen all den teuren Villen am Hang aufgetrieben zu haben. Hier oben hatte ich einen Ausblick, wie es auf den Turks- und Caicosinseln keinen schöneren gab. Von meiner Hängematte vor der Tür aus blickte ich übers Meer und nachts in den Sternenhimmel.
Nur wenige wussten, wo ich wohnte, und das war ganz nach meinem Geschmack. Ich war ein Einzelgänger. Vielleicht nicht so wie JoJo, der möglicherweise von seiner Familie getrennt worden war, aber die Zeiten, in denen ich allein war, genoss ich jedenfalls sehr. Dies war ein meditativer Rückzugsort, an dem ich Tagebuch schrieb, im Internet das Verhalten der Walartigen erforschte, in einem meiner vielen Delfinbücher las oder einfach die tropischen Winde genoss.
Schlaf brauchte ich aus irgendeinem Grund nicht viel. Es gab ja auch so viel zu erkunden, weshalb sollte ich die Zeit verpennen? An diesem Abend ging ich meinen Recherchen nach, kümmerte mich um die E-Mails, die ich erhalten hatte, und rief zwischendurch Emily an.
»Hallo, Süße, wie war dein Tag?«, fragte ich und rechnete mit einer munteren Reaktion.
»Könnte besser sein«, lautete jedoch ihre Antwort. »Ich verstehe Seans Eltern einfach nicht. Ich versuche ihnen schonend beizubringen, dass Sean auf der Schule wohl Hilfe benötigen wird, und was passiert? Ich werde scharf zurechtgewiesen; Sean sei absolut normal und ich solle mir bloß keine Förderprogramme für ihn einfallen lassen. Dabei macht er sprachlich so gut wie gar keine Fortschritte und motorisch entwickelt er sich auch nur sehr langsam. Ich weiß nicht, was ich tun soll, Dean.«
»Vielleicht könntest du ja einen Spezialisten einspannen, der nicht weiter auffällt.«
»Hast du dabei jemand Bestimmten im Sinn?«
»JoJo. Wir könnten ihm Sean doch einmal vorstellen.«
»Das müsste aber heimlich geschehen. Denn wenn die Stewarts davon erfahren …«
»Ich kann schweigen wie ein Grab.«
Wir gingen es langsam an. Zunächst einmal stellte ich Emily dem Delfin vor. Als am nächsten Tag ihre Arbeitszeit zu Ende war, kam sie an den Strand. Ich hatte damit gerechnet, dass JoJo sie freundlich aufnehmen würde, doch stattdessen schien er sich in ein grünäugiges Eifersuchtsmonster zu verwandeln. Sie war kaum im Wasser, als er sich auch schon zwischen uns drängte und mir zu verstehen gab, dass ich in erster Linie ihm gehörte. Emily versuchte, auf die andere Seite zu kommen, aber er schnitt ihr den Weg ab.
»Das wird vielleicht doch ein bisschen länger dauern«, sagte ich und hob die Schultern.
»Macht gar nichts«, meinte Emily.
In dem Augenblick patschte JoJo mit der Schwanzflosse aufs Wasser und Emily bekam den ganzen Schwall ab. Prustend wischte sie sich die Augen frei. Sie tat mir jetzt wirklich leid; das Haar klebte ihr am Kopf, und ich wollte mich schon entschuldigen, als sie sich mit dem Handrücken die Locken aus dem Gesicht wischte und mich angrinste.
»Na ja, vielleicht doch ein bisschen«, sagte sie lachend.
Ich war froh und voller Bewunderung, dass sie JoJos Unarten so gut aufnahm. Auch später wurde sie nie ungehalten. JoJo mochte sie nass spritzen, sooft er wollte, sie lächelte nur und wartete geduldig auf meine Anweisungen. Eines dürfte JoJo jetzt klar geworden sein: Wenn ich nicht mit ihm im Wasser war, dann mit Emily an Land.
»Du musst aber doch zugeben, JoJo«, versuchte ich seine Eifersucht zu beschwichtigen, »dass ich einen guten Geschmack habe – nicht nur, was Delfine angeht …«
Als Emily sich eingewöhnt hatte und JoJo schließlich ihre Nähe zu mir akzeptierte, war es Zeit, Sean einzubeziehen. Wir zeigten ihm für den Anfang ein paar Videos von JoJo – und er verliebte sich augenblicklich in den köstlichen Strolch, den er auf dem Bildschirm sah. Jedes Mal wenn JoJo durch den Blasenring tauchte oder mir den Luftschlauch aus dem Mund zog, klatschte Sean begeistert in die Hände. Und jeden, der in Hörweite war, ließ er wissen: »JoJo schwimm. Delfinfreund.«
»Sean ist so von allem ferngehalten worden, dass er nicht einmal schwimmen kann«, sagte Emily, als wir überlegten, wie wir den Jungen und JoJo miteinander bekannt machen sollten.
»Eltern!«, sagte ich kopfschüttelnd. »Und die, mit denen du es zu tun hast, sind offenbar besonders engstirnig. Doch egal, ich kann Sean das Schwimmen schon beibringen.«
»Wirklich?« Emilys blaue Augen leuchteten.
Wir suchten uns einen stillen Strandabschnitt ohne Gaffer, an dem das stille, klare Wasser zum Schwimmenlernen geradezu ideal war.
»So, Sean, jetzt pass mal auf, was gleich passiert«, sagte ich mit Betonung und übertriebener Mimik. »Ich werde Blasen machen wie ein Fisch, und du und Emily, ihr macht das dann nach, klar?«
Er leckte sich mehrmals die Lippen und sagte dann: »Ja, klar.«
Ich steckte den Kopf ins Wasser und ließ es unter den unmöglichsten Lautäußerungen mächtig sprudeln. Emily machte es mir kichernd nach, und dann war Sean an der Reihe. Doch obwohl er wirklich gute Vorbilder hatte, steckte er einfach nur das Kinn ins Wasser. Nicht einmal seine Unterlippe wurde nass.
Nächster Versuch. Ich hielt ihm meine Finger aufrecht hin und ließ sie zappeln. »Siehst du das? Also, das sind die Kerzen auf deinem Geburtstagskuchen, und du musst dir jetzt was wünschen und sie ausblasen. Verstanden?«
Er nickte.
»Dann los, pusten!«
Mit seinen großen Haselnussaugen blickte er zu mir auf, atmete tief ein und blies.
»Ja, gut!« Emily und ich applaudierten, der Neunjährige strahlte. »Jetzt hast du noch einen Wunsch frei, aber das ist ein ganz besonderer, weil du die Kerzen jetzt nämlich unter Wasser ausblasen musst.«
Also ließ ich meine Fingerkerzen ins Wasser sinken. Emily und ich tauschten hoffnungsvolle Blicke. Sean ging bis zum Hals ins Wasser, dann bis zum Kinn, sogar bis über den Mund, aber den Rest verweigerte er.
»Dein Wunsch wartet auf dich, Sean. Siehst du die Kerzen? Blas sie aus. Und … los!«
Dann vergaß er seine Ängste einfach, tauchte unter und pustete, dass die Blasen einem Wal alle Ehre gemacht hätten. Wir beglückwünschten ihn lauthals, und von da an lief der Unterricht so gut, dass der Junge bald jegliche Scheu vor dem Wasser verloren hatte.
Zeit, den Delfin zu rufen. Ich legte Sean einen Arm um die Brust und hielt ihn im hüfthohen Wasser gut fest, als ich JoJo herbeipfiff. Während wir warteten, übten wir weiter das Blasen unter Wasser und glitten immer wieder zu Emily hin und zurück. Es dauerte ein paar Minuten, dann kam JoJo, und Sean geriet völlig aus dem Häuschen, er quietschte und paddelte mit den Füßen, wie ich es noch nie bei ihm erlebt hatte.
»Delfin kommt!«, schrie er und strampelte, dass ich ihn kaum noch halten konnte.
Ich hatte JoJo noch nie mit einem Kind bekannt gemacht, wusste also nicht, wie er reagieren würde. Würde er eifersüchtig werden und wie bei Emily versuchen, sich zwischen uns zu drängen? Als ich die Rückenflosse auf uns zukommen sah, packte ich Sean noch fester, aber JoJo bremste rechtzeitig, hielt vor uns an, legte sich auf die Seite und betrachtete mich aus einem seiner runden Augen.
»Keine Sorge, JoJo, das ist ein Freund«, säuselte ich in beruhigendem Tonfall. »Schau.« Ich atmete blubbernd unter Wasser aus, und Sean machte es mir sofort nach. Ich schickte JoJo freundliche Willkommensgedanken.
Er verstand wohl, jedenfalls umschwamm er uns gemächlich, ohne zu tauchen und das Wasser allzu sehr aufzuwühlen.
»JoJo Freund, JoJo Freund, JoJo Freund.« Seans Singsang war die reine Freude, er strahlte nur so. Jetzt war der Moment gekommen. Ich ließ ihn los, und er paddelte tatsächlich ein kleines Stück wie ein Hund, ganz allein! Als es schwierig wurde, griff ich ihm unter die Arme, damit er gar nicht erst das Gefühl bekam, er könnte untergehen. Wieder sprudelte er mit dem Gesicht im Wasser Blasen und rief dann: »Ich schwimm!«
JoJo kam heran und blickte Sean direkt in die Augen. Vielleicht dachte er, der Junge sei unser Kälbchen und ich würde ihm gerade beim Atmen helfen, wie es unter Delfinen üblich ist. Dieser Ablauf – halten, loslassen und wieder halten – war JoJo sehr vertraut, denn genauso war es damals für ihn gewesen, als ich ihn das erste Mal retten musste. In immer enger werdenden Kreisen schwamm er um Emily, Sean und mich herum, bis wir ganz dicht beieinander standen.
Emily schüttelte die ganze Zeit über staunend den Kopf, dann kam dieses so charakteristische Beben der Nasenflügel, das Tränen ankündigte. Sie schnüffelte, und schon glänzten ihre Augen wie Glas im Sand. Auch mich ließ Seans Freude nicht unberührt.
Es war der erste von vielen »Blasenring-Augenblicken«, die ich JoJo verdanke. Wie doch sein Delfingeist uns alle umfing!
* * *
Ein paar Wochen später hatte ich bei meinem nachmittäglichen Schwimmausflug mit JoJo Lust, über die Sandbänke mit ihren monotonen weißen Landschaften hinauszuschwimmen, als ich bemerkte, dass er zur Seite hin die Gegend mit seinen Ortungslauten abtastete. Es sind hohe Echolottöne, die parallel zum Meeresboden ausgesendet werden, wobei sich der Kopf hin und her bewegt. Auf einmal tauchte ein Torpedobarsch auf und verschwand im Sand. JoJo verfolgte ihn dabei mit Ortungssignalen und stieß den Schnabel plötzlich tief in den Sand. Er zog einen stattlichen Barsch heraus und zeigte ihn mir kurz, bevor er ihn verschlang.
»Aha«, rief ich, »jetzt weiß ich endlich, was es mit deinen Bohrungen neulich auf sich hatte. Ganz schön schlau! Aber mir war ja schon immer klar, dass an dir mehr dran ist als bloß dein hübsches Gesicht.«
Dieses Ortungsverhalten wiederholte sich später in einem Gebiet mit einigen Riffgebilden, in dem die Sicht weniger gut war. Hinter einem größeren Korallengewächs schien er irgendetwas aufgetrieben zu haben, und ich nahm an, dass es sich wohl um einen weiteren Torpedobarsch handelte. Schnell schwamm ich ganz nah heran und spähte in die Sandwolke, die er aufgerührt hatte, und … au weia, diesmal war es kein Torpedobarsch, sondern ein knapp zwei Meter langer Bullenhai, den er auf die wohlbekannte Art gestellt hatte. Beim Anblick des tobenden Hais, der mit allen Mitteln zu entkommen versuchte, schnürte sich mir dann doch die Kehle zu. Mit der enormen Kraft seiner Schwanzflosse drückte JoJo den Fisch zu Boden, der aber wehrte sich energisch, und wenige Augenblicke später war vor lauter Sandwolken überhaupt nichts mehr zu sehen. Ich wusste, dass JoJo den Hai irgendwann würde loslassen müssen, um zum Atmen aufzutauchen, aber da wollte ich dann nicht mehr unbedingt dabei sein.
Haie gehen Unannehmlichkeiten im Allgemeinen lieber aus dem Weg und meiden Menschen, wann immer es möglich ist, diesen aber hatte JoJo so richtig in Rage gebracht, indem er ihn einfach nicht wegschwimmen ließ. Und je länger der Delfin ihn drangsalierte, desto mulmiger wurde mir. Was ich daran merkte, dass ich beinahe das Mundstück meines Schnorchels abgebissen hätte.
Erinnerungen an Dinge, die ich nicht noch einmal erleben wollte, schossen mir durch den Kopf. Zum Beispiel die beißfreudige Muräne in Mexiko, die sich ausgerechnet in mein Gesicht verbeißen musste. Geblieben war mir davon eine Narbe an der Wange, die wie die Lippenstiftkontur eines Kussmundes aussieht. Aber auf der anderen Seite brauchte ich nicht unbedingt auch noch eine.
Mir war klar: Wenn JoJo zum Atmen auftauchte, würde der Hai erst so richtig loslegen. Also sah ich mich von der Oberfläche aus genau um und war jeden Moment auf den Angriff gefasst. Ich ballte die Fäuste, um sie dem Hai zwischen die Augen zu donnern, sollte er auf mich losgehen. JoJo tauchte nur kurz auf und schon war seine Schwanzflosse wieder im trüben Wasser verschwunden. Ich tauchte ihm nach und sah, wie er den Hai mehrmals mit dem Schnabel auf den Boden knallte. Als sich der Fisch einmal sehr heftig wand, hatte ich plötzlich ein klaffendes Maul voller Zähne unmittelbar vor mir.
Schlagartig fiel mir die Muräne wieder ein. Für einen Sekundenbruchteil erstarrte ich und war nicht einmal zu einer Abwehrbewegung fähig. Es blieb auch keine Zeit, mich mit Drohgebärden zum Verfolger des Hais aufzubauen. Wo also würde die Narbe diesmal sitzen? Sofern es überhaupt noch zu einer kommen sollte …
Rechts von mir wischte etwas vorbei, Wasser wirbelte auf. Weißer Schaum nahm mir die Sicht. Komm schon, Dean, unternimm etwas! Ich warf mich nach links. Ich hob eine Faust. Ich schlug zu und traf nur Wasser. Noch ein Schlag, wieder ins Wasser. Wild schlug ich um mich, dann kam von hinten ein Wasserstoß.
Aha, jetzt! Ich wirbelte herum, die Fäuste geballt.
Ich hörte einen dumpfen Aufprall und erkannte undeutlich einen Delfinschnabel. JoJo! Er trieb den Hai zurück. Noch ein dumpfer Schlag.
Jetzt, hoffte ich, waren die Zahnreihen wohl wieder weit genug weg.
Da ich hier offenbar nichts mehr tun konnte, schwamm ich Richtung Strand und ließ den Hai in JoJos »Obhut«. Doch zu meiner Überraschung kam der Delfin hinter mir her und trieb den Hai ungefähr so, wie es ein Schäferhund mit seiner Herde tun würde. Ich hielt an und verfolgte diese düster-bedrohliche, aber irgendwie auch anmutige Szene. Von der Oberfläche her, die Maske unter Wasser, sah ich zu, wie JoJo mit dem Schnabel auf den Rücken des Hais drückte und ihn in meine Richtung schob. Aus den Kiemen des Fisches rieselte Sand, sicher von JoJo mit seiner schlauen Technik hineingeschaufelt. Der Hai schlug jetzt nicht mehr um sich, sondern bewegte sich nur noch äußerst sparsam; offenbar stellte er im Moment keine Bedrohung mehr dar. JoJo schob den Hai erneut kräftig an, direkt auf mich zu, und drehte ab, als sich der Fisch kurz vor meinen Händen befand, die ich schützend ausgestreckt hatte. Er landete in meinen Armen, und JoJo schob noch einmal, bis der Hai gegen meine Brust prallte. Mein einziger Gedanke war Flucht, doch dann sah ich, dass das Tier gegenwärtig viel zu schwach war, um eine Gefahr für mich darzustellen.
Endlich ließ JoJo ihn in Ruhe, sodass ich ihn von mir wegschieben konnte, um in Richtung Strand weiterzuschwimmen. JoJo bugsierte den Hai direkt hinter mir her. Auf dem Anleger standen ein paar Leute, die das Spektakel verfolgten. Sie machten große Augen, als wir zu dritt näherkamen. Einige Tauchlehrer schnappten sich ihre Kameras und sprangen ins Wasser, um das Ereignis zu dokumentieren.
»Dean«, rief Daniel mir zu, während er seine Bilder schoss, »du musst ja Nerven wie Drahtseile haben!«
»Ganz und gar nicht«, rief ich zurück und deutete mit dem Daumen hinter mich, »nur ein in Salzwasser eingelegtes Gehirn, das auch schon mal scharfsinniger war.«
Als ich aus dem Wasser steigen wollte, schob JoJo den Hai ein weiteres Mal auf mich zu. Er kam mit ziemlicher Wucht an, und ich streckte die Hände aus, um ihn abzufangen. Als ich ihn hielt, ließ JoJo von ihm ab, verfolgte aber genau, wie ich ihn ins tiefere Wasser zurückschob, wo er schwache Schwimmbewegungen zu machen begann. Sofort setzte ihm JoJo wieder zu und drückte ihn in den Sand. Ich rief meinen Freund und er kam auch, aber den Hai brachte er mit. Da er bereit schien, mir den Fisch zu überlassen, nahm ich das Geschenk an. Ich wollte nicht, dass er getötet wurde. JoJo pfiff eine ganze Folge von Tönen, bei der es sich, wie ich später herausfand, um seine Erkennungsmelodie handelte, eine ganz charakteristische Lautfolge, die jedem Delfin zu eigen ist wie uns Menschen der Name.
Er »apportierte« seine Beute noch etliche Male. Bullenhaie sind grandiose Jäger und Räuber, dieser aber war jetzt all seiner Kräfte und Fähigkeiten beraubt und entsprechend ungeschützt. Vielleicht war er alt oder verletzt, dass er so mit sich umspringen ließ. Im Moment stellte er jedenfalls keine Bedrohung dar. Außerdem tat er mir leid. Also forderte ich JoJo auf, ihn mir noch einmal vorzuführen. Dann schnappte ich nach dem erschöpften Kerl und bugsierte ihn in Richtung der Liegeplätze.
»Ich weiß, du bist der Sieger und willst ihn als Spielzeug«, sagte ich zu JoJo, »aber er ist ein Lebewesen wie du und ich, und auch ihm steht es zu, sich frei in seiner Welt zu bewegen.« Ich führte den Hai also weiter und sah mich nach einem möglichen Unterschlupf für ihn um. Ich spülte ihm so gut es ging den Sand aus den Kiemen und fand schließlich ein überhängendes Sims an einer Korallenbank, unter dem auch genügend Strömung für seine Kiemen herrschte. Hier war er vor JoJo geschützt und konnte wieder zu Kräften kommen. Ich gab meinem Freund ein sehr bestimmtes Nein!-Signal, damit er dem armen Kerl nicht weiter zusetzte.
Der Hai zog sich so weit er eben konnte in seinen Schlupfwinkel zurück. JoJo folgte mir zum Strand, wo ich mich von ihm verabschiedete, und kehrte dann noch einmal zu dem Hai zurück. Der war jetzt aber nicht mehr zu erreichen, und so ließ ihn JoJo schließlich in Ruhe. Irgendwann würde der große Fisch in die türkisblaue Weite entkommen und in der Tiefe verschwinden, um wieder zu dem unerschrockenen Räuber zu werden, der er war. Und vielleicht würden wir ihn ja sogar noch einmal wiedersehen.
Am Abend saßen Emily und ich beim Essen in meinem einsamen Felsennest. Die Sterne schienen zum Fenster herein, als wir uns über die Ereignisse des Tages austauschten und ich von der Hai-Rettung berichtete.
»Weißt du was?«, sagte ich und legte die Gabel hin. »Ich glaube, dass sogar die mundförmige Narbe auf meiner Backe lächeln musste, als dieser arme Hai endlich seine Ruhe hatte.«
»Wenn sie mal nicht jetzt noch lächelt«, erwiderte sie und strich mit dem Finger darüber, dann mit der Rückseite ihrer Hand über meine ganze Wange.
Ich küsste ihre Fingerspitzen. Sie hatte recht. Durch JoJo wurde ich von Tag zu Tag mitfühlender.
JoJo hat mir im Laufe der Zeit viele Haie »geschenkt«. Aber keiner sollte mehr so drangsaliert werden wie der erste, und deshalb übte ich mit JoJo ein entsprechendes Signal ein: ausgestreckter Arm mit einer drehenden Handbewegung. Das funktionierte sehr gut. Sobald JoJo mit einem Hai ankam, musste ich nur diese Bewegung machen, und schon lieferte er ihn bei mir ab. Dann versteckte ich den erschöpften Fisch an der bekannten Stelle, an der ihm JoJo nichts anhaben konnte.
Natürlich begegneten wir nicht nur Haien, sondern schlossen auch Bekanntschaft mit allen möglichen anderen Meeresbewohnern, von denen es in den Riffen sehr viele gab. Hier zeigte sich, dass mein Signal nicht nur bei Haien und Rochen funktionierte, sondern auch bei Schildkröten, Barrakudas, allen Arten von Fischen und sonstigen Lebewesen, sogar bei meinem Hund, wenn er zu weit vom Ufer abkam. Außerdem waren wir gut über die Lieblingsstandorte der Krebse und Hummer unterrichtet und suchten ihre Verstecke immer wieder gern auf. Sobald sich JoJo ihnen auf seine muntere Art näherte, ging manchmal eine ganze Herde von Hummern durch, bis alle ein Versteck unter den Steinen gefunden hatten. Ich fühlte mich dabei manchmal wie ein Hund, der am Strand Möwen aufscheucht, aber die großen Spinnenkrabben waren nicht annähernd so unterhaltsam, weil sie sich nur schwer aus ihren Verstecken verjagen ließen.
Die Krustentiere waren alle gut getarnt, aber JoJo kannte ihre Schlupfwinkel. Er wedelte sie aus ihren Löchern, und wir sahen zu, wie sie sich eilends ein neues Versteck suchten. Bei Krabben war er besonders hartnäckig, weil die sich so sicher verbarrikadiert fühlten. Den Hummern, die sich mit ihrem Schwanzrückstoß recht flink bewegten, setzte er gern nach, aber mit den Krabben verfuhr er anders, nämlich eher so, wie ich es bei dem Einsiedlerkrebs im Muschelgehäuse erlebt hatte. Er drückte den Schnabel mitten auf den Rückenpanzer und nagelte das Tier praktisch fest, bis es mit den Scheren nach ihm langte oder ich es irgendwie in Sicherheit brachte. Spinnenkrabben können recht groß werden und mit ihren Scheren durchaus ein menschliches Handgelenk umfassen. Ich ging immer sehr vorsichtig mit ihnen um, schon im eigenen Interesse. Was Delfine und Krabben miteinander zu schaffen haben, wusste ich nicht, da ich das Spiel erstmals beobachtete und es womöglich auch für JoJo neu war. Aber wir sollten bald etwas lernen, das sich uns beiden einprägte – und sein Interesse erheblich dämpfte.
Ein Tauchplatz, der den Namen Grouper Hole trug, enthielt ein großes Korallengewächs, in dem viele Krabben beiderlei Geschlechts lebten und das gern von Tauchern besucht wurde. Als JoJo meiner Unterrichtsgruppe einmal hierhin folgte, interessierte er sich vor allem für den oberen Teil des Riffs, denn dort lebten die meisten Krabben. Als Tauchlehrer fischte ich immer eines dieser Tiere vorsichtig aus seinem Unterschlupf und führte es der Gruppe vor, um es dann ebenso behutsam wieder zurückzulegen. JoJo hing dabei kopfunter über meiner Schulter und wartete, bis ich das Krustentier zur Vorführung absetzte. Anschließend schubste er es ein paar Mal an, bis es sich zu regen begann, und setzte es dann fest, sodass ich es mühelos ergreifen und an seinen Platz zurückbefördern konnte.
Einmal war JoJo dabei so ungeduldig, dass er schon auf die Krabbe losging, als ich sie noch gar nicht ganz aus ihrem Versteck gehoben hatte. Dieses unbedachte Vorgehen sollte sich als wenig vorteilhaft erweisen. Solange man ruhig und vorsichtig mit ihnen umgeht, sind Krabben recht umgänglich. Aber JoJo wollte unbedingt spielen und im Mittelpunkt stehen. Bereits auf dem Weg hierher hatte er immer wieder an meinen Flossen gezupft.
Und schon als es sich die Gruppe im Sand um die Krabbenkorallen bequem machte, erging sich JoJo in allerlei aufgeregten Lautäußerungen. Immer wenn ich eine Krabbe hatte, konnte ich damit rechnen, dass JoJo mir still abwartend über die Schulter blickte, bis ich sie absetzte. Diesmal aber kam er sofort pfeifend und schnalzend näher und wollte die Krabbe schon festnageln, als sie noch mit einem Bein Halt in ihrem Unterschlupf hatte. Die Schere fuhr herum, und legte sich blitzartig um JoJos Schnabelspitze.
Vor Schreck riss der Delfin die Augen weit auf und begann wie wild den Kopf zu schütteln, doch damit wurde er die Krabbe nicht los. Dann raste er wie angestochen davon, aber auch die schiere Geschwindigkeit erbrachte nicht das gewünschte Ergebnis. Infrage kamen jetzt nur noch äußerst energische Maßnahmen.
Schon am nächsten Felsen wurde die Krabbe von ihrem Schicksal ereilt. JoJo umrundete die Stelle mehrmals mit hoher Geschwindigkeit und schlug die Krabbe dabei immer wieder gezielt auf den Stein; und plötzlich sah man das arme Tierchen über den Meeresboden humpeln – ohne seine Schere. Die hing nach wie vor wie eine riesige Wäscheklammer an JoJos Schnabel. Hilfe suchend und offensichtlich ziemlich entsetzt kam er auf mich zu. Wir schwammen zur Oberfläche, wo ich ihn schmunzelnd »operieren« konnte.
»Jetzt kapierst du vielleicht, dass du deine Nase nicht in alles stecken musst.«
Meine Tauchschüler lachten blubbernd über das entsetzte Schnattern, das JoJo angestimmt hatte, als ihn die große Schere packte. Die Krabbe hatte inzwischen wieder Deckung gesucht, auf ihre wie verwaist daliegende Schere aber schimpfte JoJo immer noch ein.
Wir tauchten alle wieder ab, und JoJo war gleich wieder bei der Korallenbank, gab hohe Summtöne von sich und klappte das Maul auf und zu. Er schlängelte hin und her und auf und ab, schickte seine Ortungslaute in alle Ritzen, um weitere Krabben aufzuscheuchen. Dann blieb er vor mir stehen und fixierte mich, bevor er weiterzwitscherte. »Ich weiß schon, was du willst, JoJo«, sagte ich. »Aber reicht es dir denn nicht für heute, brauchst du wirklich noch eine Runde?«
Mir stand überhaupt nicht der Sinn danach, eine weitere Krabbe aus ihrem Versteck zu holen, aber genau das wollte JoJo offenbar. Seine Gebärden und Laute waren so eindeutig, dass vier meiner sechs Tauchschüler ebenfalls für eine zusätzliche Vorführung votierten. Aber nein, ich ließ die Tierchen in Ruhe, vielleicht hätte JoJo das nächste ungespitzt in den Boden gerammt. Oder die Krabbe hätte ihm ein Stückchen aus seinem Schnabel herausgezwackt. JoJos Kampfgeist war ungebrochen, und vielleicht tat es ihm, wie uns allen, ganz gut, zu lernen, dass ein verlorenes Match keine Schande ist.
Im Übrigen änderte sich JoJos Verhältnis zu den Spinnenkrabben danach erheblich. Sein Interesse wurde etwas distanzierter, nach wie vor aber stöbert er sie gern aus ihren Verstecken. Wenn ich heute eine Krabbe zur Vorführung auf den Boden setze, bleibt JoJo außerhalb des unmittelbaren Aktionsradius dieses Krustentieres – was natürlich besonders für die große Beißzange gilt. Er spürt die Tierchen auf und pirscht ihnen nach, wenn er sie irgendwo ungeschützt antrifft, aber den Druck auf den Rückenpanzer, mit dem er sie früher immer festnagelte, übt er heute nicht mehr aus. Man kann ihm das Tier hinhalten, so viel man will, für Kontakte dieser Art ist er nicht mehr zu haben. Meiner Einschätzung nach ist ihm da etwas in Erinnerung geblieben, er reift und lernt – und vielleicht wächst auch sein Respekt gegenüber den anderen Bewohnern des Meeres.
Und diese Verständnisbereitschaft umfasst immer mehr Spezies.
Der Homo sapiens aber stellte andere Erwartungen an JoJo, und diese hatten so gut wie immer etwas mit den Verhaltensweisen zu tun, die an Delfinen beobachtet worden waren, die in Gefangenschaft lebten. Nur zu gern hätte man ihn irgendwelche antrainierten Kunststückchen präsentieren sehen.
»JoJo ist ein wilder Meeressäuger, der führt überhaupt nichts vor«, erklärte ich meinen Schülern. »Doch wenn ihr ihn genau beobachtet, werdet ihr feststellen, dass er viel mehr ›kann‹ als jeder Delfin im Aquarium.«
An der Stelle, an der ich immer den Einführungsunterricht für Anfänger erteilte, wohnte in einer Spalte unter dem Anleger ein Hummer, den ich JoJo und den Teilnehmern auch jedes Mal zeigte. Dabei legte ich die Zeigefinger wie Fühler an den Kopf und deutete auf das Tier – das Taucherzeichen für die Sichtung eines Hummers. Einmal schwamm JoJo gleich nach dem Handzeichen voraus und lugte in das Versteck. Es sah ganz so aus, als würde er das Signal richtig interpretieren. Er schwebte einfach vor der Wohnung des Hummers und starrte ihn lange an. Sein Verhalten erstaunte mich, obwohl ich mir natürlich nicht ganz sicher sein konnte, ob er die Bedeutung des Handzeichens nun wirklich verstand oder einfach auf der üblichen Route vorausschwamm.
Nach dem Tauchunterricht hielten JoJo und ich uns noch eine Weile an dem Platz auf und spielten, als Paula mit einer Gruppe von dreißig Touristen ankam, die gerade erst eingetroffen waren. Paula arbeitet in einem Ferienhotel, und zu ihren Aufgaben gehört es, den neuen Gästen einen ersten Eindruck von der Umgebung zu verschaffen. Sie nahm die Gelegenheit wahr, die Gruppe auf JoJo und mich aufmerksam zu machen.
»Fassen Sie den Delfin bitte nicht an«, schärfte sie den Leuten ein. »Er ist zwar lieb und nett, aber eben doch ein wildes Tier. Und so besteht immer die Gefahr, dass er mal zubeißt.« Dann fragte sie mich: »Dean, ob uns JoJo wohl einen Hummer zum Abendessen besorgen könnte?«
»Aber sicher doch«, gab ich scherzhaft zurück und wandte mich zu JoJo um, der im flachen Wasser direkt neben mir lag und mich ansah. Sobald er das Hummerzeichen sah, zischte er mit einem mächtigen Schwanzschlag davon. Anfangs dachte ich noch, es bestünde überhaupt kein Zusammenhang und JoJos schnelle Abreise hätte vielmehr mit einem anspringenden Bootsmotor zu tun – aber die Touristen nahmen natürlich an, ich hätte JoJo tatsächlich auf Hummerfang geschickt. Paula kam heran und fragte ganz leise, ob JoJo jetzt wirklich auf Hummersuche sei, und ich antwortete: »Quatsch! Er schwimmt einfach ein bisschen herum und ist bestimmt gleich wieder da.«
»Los, komm, wir ziehen die Nummer trotzdem durch«, flüsterte sie mir hinter vorgehaltener Hand zu.
Ich nickte, setzte eine seriöse Miene auf, um nicht laut loszulachen, und wandte mich an die wartende Menge.
»Also Leute, haltet die Augen offen und passt genau auf JoJo auf, sonst lässt er den Hummer womöglich wieder laufen, bevor ihr ihn gesehen habt.« Mit der Hand machte ich die große Geste des Zauberkünstlers, der gleich eine Taube unter einem Tuch hervorzieht. Dabei mied ich Paulas Blick, sonst hätten wir sicher laut losgeprustet.
Die Touristen wandten den Blick nicht vom Wasser, keiner wollte den großen Augenblick verpassen. Es waren aber auch leise Zweifel zu hören. Ich war für jeden Fall gerüstet und hatte mir schon eine Pointe für den Augenblick ausgedacht, in dem JoJo mit leerem Maul auftauchen würde. Und da war er auch schon. Aber er hatte etwas im Schnabel. Das war doch nicht etwa … Wahrhaftig, er hatte sich den Hummer vom Liegeplatz geschnappt! Ich konnte es kaum fassen. Er verlangsamte seine Fahrt und präsentierte mir sein Mitbringsel. Eigentlich hätte ich jetzt etwas sagen müssen, aber mir stand nur der Mund offen.
Als routinierter Entertainer fasste ich mich jedoch gleich wieder, legte die Hände um das Krustentier, und als JoJo es losließ, hob ich die Arme, damit alle den Fang begutachten konnten. Die Touristen am Strand applaudierten so begeistert, als hätten wir gerade den Todessprung aus der Zirkuskuppel gewagt. Woher sollten sie auch wissen, dass JoJo noch nie einen Hummer gefangen oder gar auf mein Handzeichen hin apportiert hatte?
»Das hat er noch nie gemacht«, sagte ich zu Paula. Wir sahen uns den Hummer an und lachten darüber, dass die Leute allen Ernstes glaubten, für JoJo sei so etwas Routine.
JoJo sah mich noch einmal an wie bei der Auftragserteilung, wobei er unter Wasser leise pfiff. Ganz offensichtlich verfügte er über dieselbe erstaunliche Kombinationsgabe wie Delfine, die in Gefangenschaft leben; in der freien Natur aber war dergleichen noch nie beobachtet worden. Ich zwinkerte ihm zu und musste über mich selbst lachen, da ich ihn zweifellos wieder einmal unterschätzt hatte. Als Paula mit den Leuten weiterging und sich das Gemurmel allmählich verlor, brachte ich den Hummer zu seinem Unterschlupf zurück, während JoJo eine Melodie pfiff, die ich schon einmal gehört hatte, als er seinen Besitzanspruch auf das Gehäuse der Meeresschnecke anmeldete.
Hin und wieder gebe ich JoJo das Hummerfangsignal, und wenn wir unterwegs sind, bringt er auch manchmal einen. Befinden wir uns jedoch in der Nähe des Anlegers, dann schwimmt er nur zum Hummerversteck hin und schaut hinein. Ich weiß genau, dass er das Signal versteht, aber oft hat er keine Lust, darauf einzugehen. Doch das gehört wohl auch zu seinen bereits beschriebenen Verhaltenszyklen. Anfangs dachte ich bei seinen erstaunlichen Benehmen immer erst einmal an Zufall, bis mir dann auffiel, dass diese Zufälle einfach zu häufig auftraten. Er ließ sich eher auf neue und noch nicht eingespielte Gedanken und Erwartungen und damit verbundenes Verhalten ein als auf bereits eingeübte Signale und Abläufe. Die Initiative musste von ihm kommen, und viel hing davon ab, wie er gerade aufgelegt war. Wenn ich mich ihm ohne bestimmte Absichten nähere, einfach spielbereit, kann es zu den unglaublichsten Überraschungen kommen. Es ist dann so, als könnte er meine Gedanken lesen, wir sind keine verschiedenen Arten mehr, die nur mutmaßen können, was im anderen gerade vorgeht – wir sind dann ein Geist auf derselben Gedankenwelle.