Die Menschen erreichen
Ron war ein guter Freund von mir, der immer ein Auge auf JoJo hatte und sich wegen der Stachelinfektion und der vielen Verletzungen Sorgen machte. Als er anfing, sich mit anderen darüber auszutauschen, entstand daraus bald ein weltumspannendes Interesse und schließlich der Plan, ein professionelles medizinisches Notfallsystem für JoJo einzurichten.
Ron arbeitete für eine große Technologiefirma, die, wie es der Zufall wollte, zu den Sponsoren der Ausstellung »Living Seas« in der Walt Disney World von Florida gehörte. Ron brachte mich mit dem stellvertretenden Leiter der Disney World, Horst Pullman, in Kontakt. Durch Horst und Ron kamen zwei sehr hilfreiche Männer in JoJos Leben, nämlich Tom Hopkins, Manager des Living Seas Support Project, und Bob Stevens, Tierarzt bei Living Seas.
Die beiden kamen JoJo besuchen, und ihre Reaktion fiel genauso aus wie bei den meisten anderen Menschen auch: Sie staunten und waren wie verzaubert. Weder Tom noch Bob hatten je einen wilden Delfin erlebt, der sich rufen und sogar bereitwillig medizinisch untersuchen ließ. Ich führte es ihnen vor und erfuhr auf diese Weise, wie sie JoJos gegenwärtigen Gesundheitszustand einschätzten. Was aber vielleicht noch wichtiger war: Sie eröffneten mir auch die Möglichkeit, die denkbar beste Krankenversicherung für JoJo zu finden.
Sollte er je in eine lebensbedrohende Notlage geraten, würde ein Anruf genügen, um sofort ein Flugzeug mit Tierärzten und kompletter medizinischer Ausrüstung zu mobilisieren – ohne dass dafür irgendwelche Kosten anfielen.
»Vielen, vielen Dank«, sagte ich zu den beiden, als ich ihnen zum Abschied begeistert die Hand schüttelte, bevor sie das Taxi zum Flughafen bestiegen. »Ich weiß nicht, ob Sie sich vorstellen können, was das für JoJo bedeutet.«
»Doch, das glaube ich schon«, meinte Bob. »Sie haben uns ja gezeigt, wie einmalig er ist. JoJo muss geschützt werden und verdient die allerbeste Versorgung.«
»Allerdings gelten diese Versicherungsbedingungen nur für einen Zeitraum von vier Jahren«, fügte Tom hinzu. »Danach werden Sie wieder kreativ werden und die Werbetrommel rühren müssen.« Da ich spürte, dass er für diesen Fall seine Hilfe anbieten wollte, klopfte ich ihm auf den Rücken und sagte: »Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist. Seien Sie unbesorgt.«
Gottlob musste JoJo den Service in den ganzen vier Jahren nicht ein einziges Mal in Anspruch nehmen.
Tom und Bob allerdings hatte ich nach Ablauf dieser Zeit aus den Augen verloren, weshalb ich mich bei einigen großen Unternehmen nach einer neuen Versicherung für JoJo umhörte. Es gab jedoch keine Möglichkeit, ein wild lebendes Tier zu versichern, dafür hätte ich mich als JoJos Besitzer ausgeben und ihn zu einer Art Haustier degradieren müssen. Außerdem war das Ganze alles andere als billig und hätte für mich in der Konsequenz bedeutet, für alles, was JoJo anstellte, in vollem Umfang haftbar zu sein. Aber können Sie sich vorstellen, für ein zu jeder Schandtat aufgelegtes Wildtier verantwortlich zu sein, das an guten Tagen die Krawallbereitschaft eines aufmüpfigen Teenagers und an schlechten die eines Elefanten im Porzellanladen in den Schatten stellt? Ich war als sein Wärter bestallt, aber besitzen wollte ich ihn nicht. Diesen Standpunkt hatte ich schon immer vertreten: JoJo sollte als wilder Delfin respektiert werden und niemandes Eigentum sein. Auch wenn das bedeutete, dass er nicht zu versichern war.
Mein Vorrat an von Tierärzten gratis abgegebenen Medikamenten ging allmählich zur Neige, und es fiel mir keineswegs leicht, ihn aus eigenen Mitteln wieder aufzufüllen. Doch JoJo war es mir jederzeit wert, und ich hatte mich schon darauf eingestellt, ihn auch weiterhin aus eigener Tasche versorgen zu müssen – bis ich Robin Williams traf. Er war für einen Dokumentarfilm über JoJo auf die Insel gekommen, der den Titel In the Wild tragen sollte.
Wie weit mein Leben schon von der Zivilisation weggedriftet war, wurde mir erst so richtig bewusst, als sich zeigte, dass ich mit dem Namen Robin Williams wenig anfangen konnte. Dass er Schauspieler war, wusste ich irgendwie noch, aber ich kannte keinen einzigen Film mit ihm. Nach all den Jahren auf einer Insel ohne Kino – und einen Fernseher mochte ich mir nicht zulegen – hatte ich in dieser Hinsicht komplett den Anschluss verloren.
Während der Dreharbeiten sorgte Robin immer für gute Laune. Sein breites Grinsen und seine lebhafte Art ließen mich vermuten, dass er Komiker sein könnte. Immer wenn er mit veränderter Stimme sprach und offenbar jemanden nachahmte, lachten alle los. Nur ich nicht. Nicht aus Unhöflichkeit, sondern weil ich einfach nicht wusste, wen er da karikierte.
Das wurde dann selbst wieder ein Witz. Immer wenn ich nicht mitlachen konnte, sah er mich von der Seite an und frotzelte: »Den Film hast du wohl auch nicht gesehen, hm?« Wenn alle losprusteten, blickte ich nur ratlos drein und zuckte die Schultern.
Was mir auch neu war und mich manchmal etwas hilflos machte, war der Umstand, dass Robin offenbar nicht nach einem Drehbuch vorging. Alles entstand mehr oder weniger aus dem Stegreif. Doch je länger ich ihn bei der Arbeit beobachtete, desto mehr verstand ich, was ihn so erfolgreich machte: Er hielt seine Crew mit Humor bei Laune und gab jedem das Gefühl, ein geschätzter Mitarbeiter des Projekts zu sein und nicht einfach irgendein Untergebener. Genau das trug ihm Respekt ein und die Bereitschaft aller, vollen Einsatz zu leisten.
Bei vielen Gesprächen, die der eigentlichen Produktionsarbeit vorausgingen, zeigte Robin ein großes persönliches Interesse an JoJo. Und anschließend durfte ich staunen, wie exakt er sich an alle Einzelheiten erinnerte, die ich ihm über JoJo erzählt hatte. Vielleicht lag es daran, dass sie einander so ähnlich waren – beide verspielt, charismatisch und von einer spirituellen Aura umgeben, die alle ringsum in Ströme von positiver Energie einbettete.
Schon bevor Robin und JoJo im Wasser zusammentrafen, wusste ich, dass sie gut miteinander auskommen würden. Und so war es dann auch. Es war ein einziges Hopsen und Herumalbern im türkisblauen Wasser. Und so konnte ich dann doch endlich über Robins Witze lachen. Sogar unter Wasser. Zugleich erfasste er die Beziehung zwischen JoJo und mir erstaunlich genau.
In einer Szene des Films sagt er: »Dean ist eine seltene Spezies Mensch. Er und JoJo kennen einander seit über zwanzig Jahren, und mit seinen erstaunlichen Fähigkeiten im Wasser ist Dean der perfekte Gefährte für JoJo, der ihm die einmalige Gelegenheit bietet, das Leben eines wild lebenden Delfins zu studieren. Dean kann die Luft unter Wasser fünf Minuten lang anhalten, das mag ein Delfin natürlich.«
Ich fühlte mich sehr geehrt, dass Robin unsere Verbundenheit so gut verstand.
Nach dem Abschluss der Filmarbeiten war mir immer noch nicht bewusst, wie berühmt Robin war, aber ich hoffte, dass ich einmal Gelegenheit haben würde, ihn im Film zu sehen. Es vergingen noch Jahre, bis ich ihn dann einmal richtig im Kino bewundern und in das Lachen des Publikums einstimmen konnte. Auch einige seiner Witze wurden im Nachhinein verständlich. Die Herzenswärme, an die ich mich erinnerte, blitzte hier überall so anrührend auf, dass er zu meinem Lieblingsschauspieler wurde.
Ein paar Monate danach wurde JoJo erneut verletzt, was meinen Notfallvorrat an Antibiotika restlos aufbrauchte. Aber wieder einmal schaltete sich das Schicksal ein und bescherte uns eine großzügige Unterstützung durch Robin Williams’ Familie. So konnte ich mich auf Jahre hinaus mit Medikamenten eindecken. JoJo ging es bald wieder gut, was daran zu erkennen war, dass er nur Unsinn im Kopf hatte – ein Komiker wie sein Wohltäter.
* * *
Ich wusste nie so recht, in welche Richtung mich das Schicksal führen würde, doch dann traf eines Tages ein Brief der »MakeA-Wish Foundation« ein, der mir einen klaren Weg vorzeichnete. Make-a-Wish ist eine Gesellschaft, die sich bemüht, drei- bis achtzehnjährigen Kindern mit lebensbedrohlichen Krankheiten einen Herzenswunsch zu erfüllen. In diesem Brief wurde ich gebeten, mich für ein Treffen mit einem sechzehnjährigen Mädchen zur Verfügung zu stellen. Anna Pearson litt an einer seltenen und unheilbaren Form von Krebs.
Die Gesellschaft nannte einen Zeitraum von zwei Wochen, in dem Annas Besuch möglich sein würde, und da ich für diese Zeit schon eine dreimonatige Wal-Forschungsreise von Hawaii nach Alaska vereinbart hatte, musste ich leider absagen. Der Expedition war eine dreijährige Planungsphase vorausgegangen, und die Teilnahme wurde mir von Freunden und Kollegen als einmalige Chance geschildert.
Einigermaßen traurig schrieb ich also meine Absage. Aber irgendwie ließ mich die Sache doch nicht ganz los. Es war der Name Anna Pearson. Ich hatte ihn schon einmal gelesen, aber wo? Irgendetwas für mich Wichtiges war damit verbunden, doch was bloß? In der Randzone meines Bewusstseins war der Name ständig gegenwärtig. Ich wurde ihn einfach nicht los.
Ungefähr einen Monat später lag ich einmal in meiner Hängematte vor der Tür und stand auf, um mir einen Kaffee zu machen. Dabei fiel mein Blick auf die Pinnwand, an der Bilder und sonstige Kleinigkeiten hängen, die mir etwas bedeuten. Da war ein Brief, an dessen Ende ein kleines Herz gemalt war, darunter die Unterschrift: Anna Pearson. Ob das vielleicht dieselbe Anna Pearson war? Den Brief hatte ich vor drei Monaten bekommen und als sehr anrührend empfunden. Als ich ihn jetzt wieder las, fiel mir ein, weshalb ich ihn überhaupt aufgehängt hatte. Er war so einfach und so wunderschön. Anna hatte mich in Robin Williams’ Dokumentarfilm mit JoJo schwimmen sehen. Das habe sie tief beeindruckt, schrieb sie, es bedeute ihr sehr viel. Und sie wünsche sich, die Gefühle, die dadurch bei ihr ausgelöst worden seien, anderen Menschen weitervermitteln zu können, um sie dadurch glücklicher zu machen.
Sofort setzte ich mich hin und schrieb an die Make-a-Wish Foundation: »Mir ist jetzt klar geworden, worin die ›einmalige Chance‹ wirklich besteht. Ich habe meine Expedition nach Alaska abgesagt und werde es so einrichten, dass ich Anna und ihre Mutter auf der Insel empfangen kann. Gern stelle ich meine Zeit zur Verfügung.«
Die Gesellschaft schrieb zurück, man sei sehr froh, dass Annas Wunsch erfüllt werden könne. Obwohl ich den Brief nur meinen engsten Freunden zeigte, wurde schnell klar, dass der Aufenthalt des kranken Mädchens und seiner Mutter bei uns auf der Insel eine größere Sache werden würde. Eigentlich wollte ich keine Öffentlichkeit dafür, aber es schien, dass bald jeder um den Besuch wusste und ihn mit Spannung erwartete.
Wie sich die Nachricht verbreitet hat, weiß ich bis heute nicht, aber alle wollten etwas zur Erfüllung von Annas Wunsch beitragen. Leute aus den Hotels und Restaurants, die Boots- und Flugunternehmen, aber auch Geschäftsinhaber traten an mich heran, um Bootsfahrten, Ausflüge zu anderen Inseln, Mahlzeiten, die Teilnahme an Veranstaltungen und weitere Geschenke beizusteuern. Alles, was man sich nur denken kann, wurde freimütig und von Herzen angeboten. Die ganze Insel schien sich geehrt zu fühlen, dass Anna JoJo und das Land sehen wollte.
Ich empfing das junge Mädchen und ihre Mutter Karin am Flughafen. Anna war mager und ihre Haut aschfahl, ihre Augen aber blickten äußerst lebhaft drein. Sie begrüßte mich mit einem schüchternen und etwas befangenen Lächeln.
»Anna ist sehr müde von der langen Reise«, sagte ihre Mutter und legte schützend den Arm um sie.
»Natürlich. Also los«, sagte ich und griff mir einen ihrer Koffer. »Mein Wagen steht da drüben.« Ich fuhr Mutter und Tochter ins Hotel, damit sie sich erst einmal ausruhen konnten.
Am nächsten Tag segelten wir abseits der Insel und ankerten, um zu schnorcheln. Anna konnte aufgrund ihrer Krankheit nicht sofort ins Wasser und musste sich erst langsam eingewöhnen. Wir befanden uns an einer Stelle, an der sich JoJo normalerweise nicht aufhielt, aber plötzlich war er neben mir. Anna stand am Bug und bestaunte ihn.
»Los, schnapp dir Maske und Schnorchel und komm!«, rief ich ihr zu.
»Weißt du, Dean«, gab sie zurück, »eigentlich genügt es mir im Moment schon, euch noch einmal so zu sehen wie in dem Film. Es ist so … so unglaublich schön.«
Das Schwimmen mit JoJo schien sie zu scheuen, aber wenn ich es mir recht überlegte, musste sie ja auch nicht unbedingt ins Wasser, um sich an seiner Gegenwart zu erfreuen. Durch bloßes Zusehen konnte sie alles nachempfinden, was ich immer erlebte, wenn ich mit JoJo schwamm und herumtobte. Meine Freude spiegelte sich in ihren Augen.
Karin stand hinter Anna an Deck, die Hände über der Brust gekreuzt. Der Wunsch ihrer Tochter erfüllte sich, sie schüttelte beinahe ungläubig den Kopf. Ich las ein »Dankeschön« auf ihren Lippen und nickte ihr zu, bevor ich wieder mit JoJo abtauchte.
Als wir genug gespielt hatten, ging ich wieder an Bord, trocknete mich ab und nahm Anna fest in die Arme. Ich spürte, dass sie in diesem Augenblick sehr glücklich war, und drückte mein Gesicht an ihre Wange. Etwas Salziges lief mir über die Lippen, nicht das Meerwasser, das aus meinen Haaren troff, sondern Annas Tränen. Was sie gesehen hatte, erfüllte sie mit unaussprechlicher Freude. Und diese Freude brach sich jetzt Bahn wie eine Springflut.
Am Abend saßen Anna und ich am Strand, und ich erzählte ihr von beinahe tödlichen Unfällen und dem tiefen Frieden, den ich dabei entdeckt hatte.
Anna sprach von ihrer Angst vor dem Sterben. »Am meisten fürchte ich mich vor den Schmerzen, Dean.«
»Beim Hinübergehen wirst du einen Punkt erreichen, an dem du das alles hinter dir lässt – Schmerzen, Sorgen, Kummer. Dann empfindest du nichts anderes mehr als seligen Frieden. Angesichts unserer wahren Bestimmung in diesem expandierenden Universum ist die kurze Zeit, die wir auf der Erde verbringen, kaum erwähnenswert.«
»Meinst du?«
»Sicher.« Ich drückte ihren Arm. »Für mich ist der Tod einfach ein neuer Weg, den das Leben einschlägt, ein Weg des Übergangs und der Erleuchtung. Der Tod ist nicht das Ende, sondern der Eintritt in eine andere Sphäre. Körperlos und voller Glückseligkeit.« Ich blickte ihr in die Augen. »Auch für dich wird es so sein, glaub mir.«
»Weißt du«, sagte sie, »so offen habe ich noch nie mit jemandem über den Tod sprechen können. Aber mit dir ist das irgendwie ganz leicht.«
»Das freut mich, Anna.«
Ich fragte sie, ob sie vielleicht noch andere Träume hätte, die sie sich gern erfüllen würde. Und ja, es gab da tatsächlich etwas: ein Fallschirmsprung.
Annas Wunsch erinnerte mich an meine nächtlichen Schwimmausflüge mit JoJo, bei denen es auch darum ging, sich vor nichts zu fürchten, was das Leben zu bieten hat. Doch bevor man das Unvorhersehbare zulassen kann, muss man zunächst einmal akzeptieren, dass es in Ordnung ist, den Weg jenseits des Körperlichen fortzusetzen. Zu diesem Prozess gehört es auch, die Angst zu überwinden. Und die Reise des Lebens insgesamt zu bejahen.
Noch am selben Abend rief ich Freunde an, die eine Fallschirmsprungschule betrieben und sich sofort mit Freuden bereit erklärten, uns springen zu lassen. Ich war ganz aus dem Häuschen. Der Sprung würde Anna helfen, die Angst vor dem Tod zu besiegen.
Am nächsten Tag auf der Fahrt quer über die Insel kicherte Anna leise vor sich hin, während Karin auf einem Haftungsausschluss-Formular Angaben zu Annas Gesundheit machte. Das geschah nur der Form halber, um Schadensersatzansprüche auszuschließen – wer weiß also, was sie geschrieben hat? Während der Einweisung vor dem Flug setzte ich eine angemessen seriöse Miene auf und nickte immer wieder bedächtig. Ich zwinkerte Anna zu, damit sie die Sache nicht allzu ernst nahm.
Und dann waren wir auch schon in der Luft.
Ich war als Erster dran und stellte mich zusammen mit meinem Tandem-Master an die geöffnete Flugzeugtür. Der Wind fegte mir die Haare nach hinten, ich zeigte Anna beide Daumen, und weg waren wir. Annas begeisterter Aufschrei folgte uns, während wir wie eine Möwe auf Sturzflug gingen. Der Wind mochte mir noch so in den Ohren rauschen, ich hörte nur die Freude, die Anna herausschrie, als auch sie absprang.
Sobald wir gleichauf waren, zogen unsere Tandem-Master die Reißleinen.
Wir hörten, wie sich das Tuch entfaltete, es gab einen Ruck und dann war es plötzlich sehr still. Auch wir schwiegen und schwebten unter unseren Medusenschirmen dahin.
Langsam ging es auf einen langen Sandstrand und das glitzernde blaue Meer zu. Ich empfand nichts als vollkommene Freiheit und die Bereitschaft, mein Schicksal anzunehmen, wie immer es auch aussehen mochte. Der Ausblick entsprach vielleicht dem, was Cherubim sehen, und für einen Augenblick traf das Licht Annas Gesicht so, dass ich wirklich glaubte, sie sei ein Engel geworden. Es war ein Gesicht voller Unschuld und seligem Frieden.
Viel zu schnell glitten wir dem Erdboden entgegen, aber die Landung war so sanft, dass sie mich an das Sinken von abgerissenem Seegras erinnerte.
Am Abend saßen wir wieder am Strand, und ich fragte Anna noch einmal: »Gibt es sonst noch etwas, was du so richtig von Herzen gern tun würdest?«
»Dir und JoJo zusehen.« Die Antwort kam schnell. Anna lächelte.
Da erst wurde mir klar, dass meine Beziehung zu diesem Großen Tümmler längst nicht mehr nur ihn und mich betraf. Vielleicht musste es jetzt mehr um Heilung gehen, um Glück, Ermutigung – um Trost für Menschen, die ihn dringend brauchten.
Zwei Wochen musste Anna JoJo und mich beobachten, bevor sie die Sicherheit des Strandes verlassen und sich der Launenhaftigkeit des Wassers in JoJos Spielgefilden anvertrauen konnte. Obwohl wir von Touristen umlagert wurden, war das Schwimmen mit dem Delfin für sie doch ein zutiefst persönliches Erlebnis. In ihr Tagebuch schrieb sie:
Ich bin total begeistert und lege mich ins Zeug, um mit JoJo gleichauf zu bleiben. Mein Herz klopft wie wild. Am liebsten würde ich ihn anfassen, einfach um sicher zu sein, dass er echt und wirklich da ist, doch ich halte mich zurück und sehe ihm nur zu. Ich bin eine Dreiviertelstunde im Wasser, aber es kommt mir vor, als wären es nur wenige Minuten. JoJo kommt ganz nahe zu mir und steckt mir fast die Nase ins Gesicht. Beinahe erschrecke ich, aber ich weiß, er wird mir nichts tun, solange ich ihn richtig behandle. Irgendwann bin ich dann doch müde, und es werden auch immer mehr Leute, die den Delfin sehen wollen. Ich habe das Gefühl, ihn abschirmen zu müssen. Am liebsten wäre es mir, wenn die Leute ihn in Ruhe lassen würden.
Es gibt nur wenige Dinge im Leben, die man nie vergisst. Eines aber gehört sicher dazu: wenn man jemandem, der nur noch Monate zu leben hat, einen Traum erfüllen kann und dann diesen Blick sieht, der keine Worte braucht, ein schlichtes Lächeln, das danke sagt, ein Nicken. Dies ist ein Moment tiefen beiderseitigen Annehmens, von dessen Intensität und Reinheit man ein Leben lang zehren kann.
Ich stand hinter Anna und hielt sie fest, als ich sie JoJo präsentierte. Vor Aufregung zitterte ich fast selbst ein wenig. Dann aber durchlief mich ein ganz warmes Gefühl. Plötzlich wusste ich, dass ich an diesem Tag einen sehr wichtigen Teil meiner Bestimmung gefunden hatte. An Anna erfüllte sich etwas von meinem Daseinszweck, und so ist sie jetzt ein Teil meiner neuen Reise.
Später überlegte ich zusammen mit Anna, wie man auch anderen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit geben könnte, Freude und Begeisterung mit JoJo und der Insel zu erleben. Bisher hatte ich nur ganz gelegentlich jemanden wie Sean oder ein behindertes oder autistisches Kind mit JoJo bekannt gemacht, und immer nur dann, wenn die Eltern oder Betreuer mich direkt darum gebeten hatten. Das war immer ein großes Vergnügen. Aber eigentlich konnte dieser Blasenring ja noch viel größer werden, wenn sich die Möglichkeit herumsprach. Würde das mein neuer Lebensinhalt sein?
Anna war begeistert von diesem Gedanken, und so begann sich ein neues Projekt abzuzeichnen. Aber das hing natürlich davon ab, dass JoJo weiterhin da war. Also mussten wir einen Weg finden, um den Wasserskibetrieb aus Grace Bay zu verbannen.
Als ich Anna zum ersten Mal begegnete, war ich gleich von ihrem wissenden Blick eingenommen, der mich an den vieler anderer Kinder erinnerte. Und natürlich an JoJo. Bei ihm ist dieser Ausdruck immer dann zu sehen, wenn er ruhig und in Frieden ist. Alle diese Blicke hatten etwas gemeinsam. Vielleicht war es das Wissen um die Kostbarkeit jedes Augenblicks, deren wir uns bewusst werden, wenn wir uns frohen Herzens dem Fluss des Lebens überlassen.
Anna starb einige Zeit später, aber bis dahin blieben wir in Kontakt. Ich werde ihr herzliches, liebevolles Strahlen nie vergessen. Wenn ich mit JoJo schwimme, spüre ich Anna im Wasser, als schwebte sie über uns und blickte auf uns herab wie damals vom Boot aus.
Dass ich sie habe kennenlernen dürfen betrachte ich als großen Segen. Ich hatte das Glück, sie beim Beschreiten eines neuen Weges begleiten zu können, auf dem sie den Übergang von einer Ebene des Lebens auf eine andere nicht mehr fürchten musste. Anna und ihre Freude an JoJo eröffneten auch mir einen ganz neuen Weg. Keinen der kostbaren Augenblicke, die ich mit ihr und später auch mit anderen wunderbaren Kindern verbringen durfte, werde ich je vergessen. Und ich betrachte es als große Ehre, dass sie sich so gern in der Gesellschaft von JoJo und mir aufhielten.
Anna war sanft und leidenschaftlich zugleich, ein Mensch, dem es gar nicht möglich gewesen wäre, andere zu verletzen oder ihnen ein Leid anzutun. Das war es auch, was mich an Emily so angezogen hatte. Und natürlich an JoJo. Sicher, er muss Tiere töten, um sich zu ernähren, aber er käme nie auf die Idee, irgendeinem Lebewesen bewusst Schaden zuzufügen. Er weiß um die physische Welt; er weiß, dass er manchmal Schmerzen erdulden muss.
Doch noch einmal: Wie viele Kinder würden wohl künftig noch in den Genuss seiner Gegenwart kommen können, wenn er weiterhin ständig in Gefahr war, mit einem Wasserskiboot zusammenzustoßen? In der Bucht von Grace Bay herrschte nach wie vor Hochbetrieb beim Wasserski. Dagegen, wusste ich, würde schwer anzukommen sein. Das JoJo-Projekt war ja nur eine kleine Initiative und verfügte nicht annähernd über die Mittel, die nötig waren, um eine weltweite Kampagne zu finanzieren. Also würde es nach dem Schneeballsystem funktionieren müssen. Die Dinge, die ich in Bewegung brachte, mussten sich zu einer Lawine auswachsen, damit JoJos Schutz gewährleistet werden konnte. Ich ließ mich ganz auf diesen Gedanken ein, visualisierte den Erfolg, den wir haben würden, und hoffte, dass ich mit meiner Idee Menschen erreichen würde, die uns wirksam unterstützten.
Für Einheimische und Touristen war Grace Bay ein besonders beliebtes Strandparadies – aber es war eben auch das Gebiet, das JoJo besonders gern besuchte, wo er schwamm und sich ausruhte. Unseligerweise hatte man mitten im Princess Alexandra National Park einen Bereich von den Schutzbestimmungen ausgenommen und für den Wasserskibetrieb freigegeben. Zu Beginn meiner Kampagne vermerkte ich mit Genugtuung, dass erstmals überhaupt ein Problembewusstsein entstand, was Jetboote und Wasserski anging. Irgendwann wurde dann beides ganz aus dem Nationalpark verbannt, und zwar hauptsächlich wegen JoJos vieler Verletzungen und seiner offensichtlichen Gefährdung.
Früher nutzte JoJo die Jetboote und Wasserskifahrer gern zum Spielen – oder er legte sich mit ihnen an. Wasserski war bei Weitem das Gefährlichste für ihn, vor allem wenn er sich ausruhte oder schlief. Mit den Jahren ließ seine Beweglichkeit etwas nach, und er konnte mit der Wendigkeit der Boote nicht mehr mithalten. Noch gefährlicher als die Boote aber waren die Wasserskifahrer im Schlepp.
Hinzu kam, dass JoJo im Alter nicht mehr so leicht medizinisch zu behandeln sein würde und die Chancen auf schnelle Genesung nicht mehr so gut standen. Wie Menschen auch fürchtete sich JoJo zunehmend vor allem, was ihm Schmerzen bereiten konnte. Aber ich muss sagen, dass seine Bereitschaft, sich mir bei notwendigen medizinischen Behandlungen anzuvertrauen, wirklich bewundernswert war.
Ich werde oft gefragt, weshalb JoJo die Gegend nicht einfach meidet. Ich sage dann, dass das Meer JoJos Heimat ist und Grace Bay der Ort, wo er Anschluss sucht und mit dem er viele wunderbare Erfahrungen verbindet. Im Übrigen entfernt er sich durchaus gelegentlich, um andere, ruhigere Inseln zu besuchen – Pine Cay, Parrot Cay oder North Caicos. Vor dem Wasserskizeitalter gab es in der Gegend nur kleine Fischerboote, die keine Gefahr für die Meeressäuger darstellten. Die große Delfinschule, die hier einmal existierte, verschwand Anfang der Achtzigerjahre, als das erste große Hotel ständig laufende Sport- und Bootsaktivitäten anbot.
In all den Jahren habe ich über JoJos Verletzungen Buch geführt. Sehr viele hatten mit Bootskollisionen zu tun oder waren durch Wasserski verursacht worden. In jedem einzelnen Fall fotografierte ich die Verletzungen, behandelte sie und verfasste dann einen Bericht, den ich an das für Natur- und Umweltschutz zuständige Ministerium schickte. Danach unterrichtete ich die Zeitung, damit die Öffentlichkeit davon erfuhr, und besprach mit den Wassersportbetrieben, wie man JoJo besser im Auge behalten und die Leute auf seine Bedürfnisse aufmerksam machen konnte. Dazu gab es ein Merkblatt, in dem alle Bootsunternehmer und Touristen gebeten wurden, besonders auf JoJos Verletzungen und Anzeichen einer möglichen Infektion zu achten. Die Zeit der Rekonvaleszenz war für JoJo immer besonders gefährlich, denn erstens war er dann mehr oder weniger stark behindert und konnte nicht so gut ausweichen wie sonst und zweitens konnte er sich nicht so gut gegen Räuber wehren.
Nach vielen Berichten dieser Art, die unbeachtet blieben oder nur ein schwächliches Echo fanden, verlor ich allmählich die Geduld mit der Verwaltung der Turks- und Caicosinseln. Wenn ich dann von Journalisten interviewt wurde, konnte ich meinen Sarkasmus nur schwer im Zaum halten.
Eine Frage, die mir häufig gestellt wurde, lautete: »Mr. Bernal, warum wird nicht mehr unternommen, um diesen einzigartigen wild lebenden Delfin besser zu schützen?«
Ich antwortete: »Die Regierung ist über alle Unfälle und medizinisch notwendigen Interventionen informiert worden. Offenbar erkennt man aber noch nicht, wie ernst diese Vorfälle wirklich sind und wie stark sie JoJo gefährden.« Ich biss mir auf die Zunge, um nicht zu sagen: Die Behörden wissen durchaus Bescheid. Sie wollen nur einfach nichts tun.
Es erschienen entsprechende Artikel, an der Untätigkeit der Regierung aber änderte sich nichts.
Auch wenn es mir mitunter aussichtslos erschien, wurde ich nicht müde, die Zuständigen darauf aufmerksam zu machen, dass die Wasserskizone in einem Gebiet, das Delfinen zur Futtersuche, zur Kommunikation und als Ruhebereich diente, ein untragbares Gefahrenpotenzial darstellte. Es gab in dieser Gegend außer JoJo noch andere Delfine, die natürlich ebenfalls bedroht waren. Außerdem sagte ich mir, dass alles, was die Walartigen bedroht, sicher auch für Menschen ein Risiko darstellt.
»Vielleicht kann man ja irgendwo anders eine Wasserskizone ausweisen«, schlug ich vor, »dann würde Providenciales trotzdem für Wasserskifahrer attraktiv bleiben.«
Die stereotype Antwort, falls überhaupt eine kam, lautete: nein.
Als bestallter Wärter konnte ich schließlich doch ein wenig mehr erreichen. Manche Regierungsbeamte fingen an, vom Gewässerschutz um die Turks und Caicos zumindest zu reden. Doch das genügte nicht.
Nachts schrieb ich Briefe oder beantwortete die in stetig steigender Zahl eingehenden E-Mails – und fragte mich dabei immer wieder, ob das JoJo-Projekt überhaupt Fortschritte machte. Kaum war das Schiffchen ein paar Meter weitergekommen, wurde es auch schon wieder von einem Brecher zurückgeworfen. Ich sprach sogar beim Wasserskibetrieb vor und ersuchte darum, die Boote zumindest mit einem Schraubenschutz zu versehen. Man scheute die Kosten. Da kaufte ich selbst die erforderliche Anzahl von Schraubenschutzbügeln und schenkte sie dem Betreiber.
Sie brachten sie nicht an. Sie lachten nur.
Mir war natürlich auch klar, dass ein Schraubenschutz nur wirksam war, wenn das Boot langsam fuhr. Bei hoher Geschwindigkeit würde es in jedem Fall zu schweren Verletzungen kommen, mit oder ohne Schraubenschutz. Es ging mir dabei nur darum, das zu diesem Zeitpunkt mögliche Mindestmaß an Vorsorge zu treffen, und wenn ich JoJo damit auch nur einen einzigen Unfall ersparen konnte, war es mir den Aufwand wert.
Zum Stein des öffentlichen Anstoßes wurde die Sache erst, als ein Artikel des Journalisten Michael Friedel weltweit in dreizehn Umweltmagazinen erschien. Doch einerlei, wie viele Artikel in Geo und vielen anderen Magazinen erschienen, meine Bitte, wenigstens die Schraubenschutzbügel anzubringen, wurde weiterhin abschlägig beschieden.
Mehr noch. Weil ich es gewagt hatte, den Mund aufzumachen, wurde ich aus dem Wasserskibetrieb und gleich auch aus dem Ferienhotel verbannt. Sie setzten mich sogar auf eine Schwarze Liste, die mich weltweit in allen mit ihnen verbundenen Unternehmen zur persona non grata machte. Und als wäre das noch nicht genug, weigerte sich der Betreiber des Wasserskibetriebes auch, die für jeden Schraubenschutz ausgegebenen dreihundert Dollar irgendwie sinnvoll zu nutzen, und gab stattdessen lieber vierhundert Dollar die Stunde für einen Anwalt aus, der ihn aus der Sache herauspauken sollte. Wie man so borniert sein kann, ist mir bis heute unbegreiflich.
Es war der Beginn eines kostspieligen Kampfes, der globale Dimensionen annehmen und erhebliche Auswirkungen haben sollte.
Nun war es eine Sache, den Anstoß zu einer weltumspannenden Kampagne zu geben; sie jetzt aber auch zu einem guten Ausgang zu bringen, war eine ganz andere.
Ich habe in JoJo immer nicht nur einen guten Freund und Gefährten gesehen, sondern zugleich ein Beispiel dafür, was wir mit unserer Umwelt und folglich mit uns selbst machen. Nichts, was wir der Natur antun, bleibt je lokal beschränkt. Wir mögen uns einbilden, mit unserem blauen Planeten als Ganzem hätten wir nicht viel zu tun, aber das ist ein Irrglaube. Alles, was wir an einer bestimmten Stelle tun, wirkt sich irgendwo anders aus – und fällt auf uns zurück.
Was JoJo zustieß, konnte auch einem Menschen zustoßen. Und genau das geschah.
Frendy, ein Bewohner der Insel, schnorchelte gern in den Gewässern von Grace Bay. Eines Tages bestaunte er wieder einmal die Farbenpracht unter Wasser, als ihm ein Korallengebilde ins Auge fiel. Er tauchte hinab und sah sich alles genau an, und als er zum Luftholen auftauchen wollte, wurde er von einem Wasserskiboot angefahren. Zuerst drückte ihn der Rumpf unter Wasser, dann traf ihn der Motorarm und zuletzt kam er auch noch in die Schraube.
Frendy war übel zugerichtet. Der Rettungshubschrauber holte ihn ab, und er wurde schließlich nach Miami geflogen, wo er Wochen brauchte, um sich von seinen Verletzungen zu erholen. Er hatte genau dieselben Abschürfungen und parallelen Schnitte am Körper, die ich von JoJo nur allzu gut kannte. Und dabei wäre es so leicht zu verhindern gewesen.
Frendy wird ein Leben lang unter den Folgen des Unfalls leiden – körperlich wie seelisch.
Nun hätte man nach diesem schrecklichen Unfall und vielen weiteren Beinahetragödien doch eigentlich denken sollen, dass sich der Betreiber des Wasserskibetriebes etwas einfallen ließ. Aber nein, trotz vieler Beschwerden bestand immer noch keine Bereitschaft, das Geschäft umzusiedeln oder auch nur die Schutzbügel anzubringen.
»Ihr bekommt den Schraubenschutz doch gratis«, sagte ich. »Ihr braucht ihn nur noch anzubringen, was hält euch davon ab?«
Doch meine Worte wurden einfach ignoriert, sie waren nicht mehr als Sand unter den Füßen des Herrn Geschäftsführers.
Genauso schwierig war es, die Regierung davon zu überzeugen, dass es sich bei der als Wasserskigebiet ausgewiesenen Zone nach wie vor um einen Bereich handelte, den die Delfine aufsuchten, um Nahrung zu finden und sich auszuruhen. Als das Wasserskigebiet seinerzeit ausgewiesen wurde, war von möglichen Auswirkungen auf die Meeresfauna leider noch überhaupt nicht die Rede. Um genau zu sein: Studien über die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die Umwelt gab es damals im ganzen Land noch nicht; folglich lagen auch keinerlei Kriterien vor, nach denen man die Umweltverträglichkeit des Wasserskibetriebes hätte einschätzen können.
In der Hoffnung, die inzwischen zugunsten der Meeressäuger geänderte Gesetzeslage ausnutzen zu können, sprach ich von JoJo als einem »Meeressäugetier, das sich schon immer häufig in der Bucht aufhält«. Das änderte freilich nichts an den zahlreichen Verletzungen, die er erlitten hatte – oder an der Tatsache, dass die frühere Population von Delfinen inzwischen vertrieben worden war.
Das Leben beginnt nicht mit unserer Geburt – auch wenn sich das einem meistens erst erschließt, wenn man alt genug ist, um die Veränderungen in der Welt erkennen zu können. Wir sind miteinander und mit allem verbunden und für alles vor und nach unserer Erdenzeit mitverantwortlich. Leider stellen viele Menschen diese Verbindung überhaupt nicht her, nicht einmal im sogenannten Erwachsenenalter. Daran wird es wohl liegen, dass so viele von uns sich nicht für die Welt und füreinander verantwortlich fühlen. Aber diejenigen, die mitfühlen, leben ihr Mitgefühl einfach und erklären es nicht groß.
Man sollte eigentlich meinen, dass Frendys Verletzungen die Verantwortlichen endlich aufgerüttelt hätten. Aber nein, der Unfall wurde einfach totgeschwiegen. Wo blieb da das Mitgefühl? Aufgrund meiner zahlreichen Petitionen wusste die Regierung natürlich um die Risiken des Wasserskibetriebs, agieren aber konnte sie nur innerhalb des für den Nationalpark geltenden rechtlichen Rahmens. Und dafür war sinnigerweise eben das Ressort zuständig, das die Wasserskizone seinerzeit ausgewiesen hatte.
Immerhin, die Regierung ließ zögernd erkennen, dass sie sich der Gefahren für Mensch und Tier allmählich bewusst wurde. Jetzt mussten nur noch die Gesetzesmühlen mahlen, und das würde seine Zeit brauchen, aber wenigstens war Bewegung in die Sache gekommen.
Ich kann sehr weite Strecken schwimmen, wirklich, aber manchmal muss auch ich innehalten. Dann trete ich Wasser, um nicht unterzugehen. Ich bin erschöpft, warte, dass sich Körper und Lunge mit neuer Energie füllen, während unter mir im tiefen Blau vielleicht die Haie lauern. Ich fühle mich dann angreifbar, möchte, dass meine Arme schnell wieder zu Kräften kommen, damit ich weiterschwimmen kann. Diese Zeit des Wartens kann der Moment sein, in dem sich das Schicksal wendet. Dann heißt es: weiterschwimmen oder untergehen.
Im Ausland gab es Unterstützer unserer Kampagne, die mit meiner abwartenden Wassertret-Strategie nicht einverstanden waren. Sie fanden das bürokratische Verfahren, mit dem JoJo vor Wasserskiunfällen geschützt werden sollte, viel zu langatmig. Ein achselzuckendes Nicken meinerseits genügte, um sie in Aktion treten zu lassen. Da ein Mitglied unserer Regierung ständig die Antworten auf meine Schreiben verschleppte, ging ein Teil jener Gruppe von Unterstützern dazu über, die Regierung systematisch mit Briefen einzudecken.
Daraufhin ließ sich der zuständige Ressortleiter in der Regierung der Turks- und Caicosinseln tatsächlich zu einer Antwort bewegen. Darin teilte er allerdings nicht viel mehr mit, als dass er die Briefflut »völlig überzogen und geschmacklos« fand. Dies wiederum feuerte die Kampagne dieser speziellen Gruppe eher noch an. Ich lehnte mich bequem zurück und legte die Hände in den Schoß. Offenbar hatte ich Anstöße genug gegeben. Jetzt konnte ich einfach zuschauen.
Sie schrieben einen Antwortbrief, in dem es hieß: »Für Tausende von Menschen auf der ganzen Welt besteht die eigentliche Geschmacklosigkeit in der Gleichgültigkeit, mit der die Regierung der Turks und Caicos über das Wohlergehen ihres nationalen Kulturguts hinweggeht.«
Von dieser Gruppe ging dann auch die Initiative aus, Reiseagenturen, Wildlife-Organisationen und die Öffentlichkeit anzusprechen, um nicht nur den Wasserskisport auf den Turks- und Caicosinseln zu boykottieren, sondern den Tourismus überhaupt.
Das nun war ein Frontalangriff auf die Regierung, der ich als Nationalparkwärter letztlich unterstellt war und die sich ja auch bereits um eine Lösung bemühte. Ich hielt den vorpreschenden Aktivisten entgegen, dass bereits an einer Umsiedlung des Wasserskibetriebs gearbeitet wurde, wenngleich auf dem etwas langwierigen Weg der Gesetzgebung. Aber hier wurde die gesamte Tourismusbranche angegriffen, die Hotels und das örtliche Geschäftsleben, ohne zu unterscheiden, wer die Unterbindung des Wasserskisports in Grace Bay befürwortete und wer nicht.
Ich bemühte mich um Vermittlung. Einerseits würde es ohne einen gewissen wirtschaftlichen Druck vielleicht nie zu einem effektiven Schutz von JoJo kommen. Andererseits bestand die Gefahr, dass sogar das bereits Erreichte wieder zunichte gemacht würde, wenn dieser Druck zu sehr erhöht wurde. Dass aber die ganze Arbeit, die ich bereits geleistet hatte, umsonst war, durfte ich nicht zulassen.
Deshalb musste ich die Heißsporne der Kampagne dazu bewegen, einige ihrer Aktionen zurückzufahren, um den Fortschritt nicht insgesamt zu gefährden. Es kam darauf an, ganz gezielt den Wasserskibetrieb unter Druck zu setzen.
Dabei gehörten diese Mitstreiter noch zu meinen geringsten Sorgen. Im Hintergrund waren finstere Mächte ganz anderer Art am Werk. Das Vorgehen des Wasserskiunternehmers erinnerte mich an die Verhaltensweisen eines höchst verschlagenen Raubtiers. Ich hatte immer das Gefühl, mich gerade so über Wasser halten zu können, unter mir ein dunkler Abgrund voller Haie, die nur darauf warteten, dass ich einmal nicht aufpasste.
Er ließ sich etwas besonders Schlaues einfallen und bot die Wasserskikonzession einem Einheimischen an, der damit zum Inhaber eines profitablen, für ihn und seine Familie Wohlstand versprechenden Unternehmens werden würde. Jetzt stand ich auf einmal als derjenige da, der den Einheimischen ihre Geschäfte verderben wollte, und das hatte verheerende Folgen. Einer der am Erwerb der Konzession Interessierten schwärzte mich bei der Regierung an und schlug vor, mich des Landes zu verweisen, da ich mich gegen den wirtschaftlichen Fortschritt im Allgemeinen und die finanzielle Sicherheit der Bewohner im Besonderen stellte.
Allerlei Gedanken gingen mir durch den Kopf. Würden sie mir jetzt den Wärterposten wegnehmen? Mein Haus? Würde ich nachts Opfer von Vandalismus werden? Als sich das Gerücht auf der ganzen Insel verbreitet hatte, wurde es brenzlig. Lächeln wich finsteren Mienen. Der Rückhalt, den ich bislang in der Bevölkerung gehabt hatte, brach weg. Ich musste ständig auf der Hut sein. Eine üble Schmutzkampagne rollte auf mich zu.
Mein einziger Trost waren die Inselkinder. Sie wollten nur JoJo sehen und verstanden nichts von Politik. Das Miteinander in der Schule und mit JoJo blieb so schön wie immer. Wenigstens das.
Dem Wasserskiunternehmer aber waren Schläue und Kreativität nicht abzusprechen. Was er sich alles einfallen ließ, um meine Aktivitäten zu untergraben … Darauf musste man erst mal kommen. Mitunter fühlte ich mich wie ein kleiner Fisch, der es mit einem Hammerhai zu tun hatte.
Dann erschien in der Lokalzeitung ein Leserbrief von mir, in dem ich zum Boykott der Hersteller von Wasserskibooten und Bootsmotoren sowie aller Geschäfte aufrief, die mit der Vermarktung des Wasserskibetriebs in Grace Bay zu tun hatten. Dies wiederum ließ Gerüchte entstehen, die meine guten Absichten infrage stellten. Manche davon taten richtig weh.
Einige sagten: »Der schlägt doch sicher persönlich irgendeinen Profit daraus.« Andere beließen es bei einem schlichten »Dean spinnt einfach«.
Ich wusste aber auch, dass sie allmählich Bammel bekamen. Auf Dauer konnte das Image der direkt oder mittelbar am Wasserskibetrieb beteiligten Firmen von Negativschlagzeilen nicht unberührt bleiben – schon gar nicht, wenn es dabei um die Gefährdung der Tierwelt ging. Als Zielscheibe einer internationalen Ökoschutzkampagne wurden die Boots-, Ski- und Ausrüstungshersteller gar nicht gern genannt.
Jetzt kam es darauf an, logisch und vor allem strategisch zu denken. Ich war am Zug, musste aber äußerst umsichtig vorgehen, denn schließlich ging es ja um JoJo.
Ich informierte die Regierung über den Stand der Dinge und regte an, JoJo in dieser Zeit vom Fischereiministerium besonders gut beobachten zu lassen. Der Schutz des Delfins hatte Vorrang vor allem anderen. Ich wusste, dass jetzt schnell eine Lösung gefunden werden musste. Und dazu brauchte ich einen klaren, präzisen Plan.
Wieder einmal hieß es: schwimmen oder untergehen.
Zahlreiche Berichte in Naturzeitschriften und anderswo hatten das Problem des Wasserskibetriebs zwar ins öffentliche Bewusstsein gehoben, weltweite Aufmerksamkeit aber bekam es erst durch den IMAX-Film Delfine.
Die Dreharbeiten zu diesem Dokumentarfilm, in dem auch JoJo und ich vorkommen, sollten auf den Turks beginnen. Der fertige Film war dann überall auf der Welt zu sehen, wo es Vorführeinrichtungen für dieses Breitwandformat gab. Die Dokumentation zeigte die ganze Schönheit der Verbundenheit von JoJo und mir, die nicht nur mein Leben bereichert hatte, sondern auch das aller anderen, denen es vergönnt war, Zeuge dieses meerblauen Reigens der Liebe zu werden.
An die Filmarbeiten erinnere ich mich noch gut. Und wie sich zeigte, sollte Delfine kein gewöhnlicher Naturfilm werden, sondern wandte sich an ein im Umwelt- und Naturschutz engagiertes Publikum, das sich für Fakten ebenso interessierte wie für die Schönheiten der Natur und für Abenteuer. Ich wurde schnell warm mit dem Regisseur und der Crew, die JoJo und mich behandelten, als würden wir zur Familie gehören. Die technische Ausrüstung war schwer und unhandlich, aber alle Beteiligten schienen so viel Freude an ihrer Arbeit zu haben, dass das Bugsieren der über zwei Zentner schweren Riesenkamera ganz leicht aussah.
Diese Kamera trug den Spitznamen Miss Piggy und besaß ein Objektiv, das an ein Bullauge erinnerte. JoJo fand das Frontglas dieses Objektivs überaus faszinierend und bewunderte sich bei jeder Gelegenheit darin, sehr zum Vergnügen des Kameramanns und der übrigen Crewmitglieder, die JoJos ulkiges Gehabe immer wieder köstlich fanden.
Unsere Sequenz im Film lieferte ein lebensechtes und intimes Porträt meiner Beziehung zu diesem wilden Delfin. Als Kontrast wurde ein Boot gezeigt, das mit rasender Geschwindigkeit an uns vorbeijagte. Schließlich dokumentiert der Film auch all die Narben, die JoJo von seinen vielen Verletzungen durch Bootsschrauben geblieben waren.
Meiner Meinung nach ist Regisseur Greg MacGillivray mit dem Abschnitt über JoJo die schönste und bewegendste Sequenz des ganzen Films gelungen, jedenfalls sprach sie das mitfühlende Interesse der Zuschauer sehr direkt an. Immer wieder bekam ich zu hören, wie viel Sympathie für JoJo dieser Ausschnitt geweckt hatte. Die Menschen bekamen wirklich ein Gespür dafür, welche Gefahr der Bootsverkehr für ein vertrauensvolles Tier wie JoJo darstellte.
Der Film offenbarte so viel von JoJos Wesen, und jeder, der das vor dem Hintergrund einer Politik sah, die dem Delfin einen sicheren Lebensraum verweigern wollte, fühlte sich veranlasst, etwas zu unternehmen. Eines Tages rief mich der Chefredakteur der Sendung World News Tonight an.
Mit klarer Nachrichtensprecherstimme sagte er: »Wir bekommen aufgrund des Delfin-Films so viele Anfragen, dass ich beschlossen habe, eine Folge meiner Sonderserie ›Lives of the 21st Century‹ mit Dean und JoJo zu bestreiten.«
Ich war begeistert. Endlich wurde die Welt auf JoJos Lage aufmerksam. Und sehr spannend fand ich es dann, zum Sendetermin den Hörer abzunehmen und zu sagen: »Hallo, Peter Jennings, hier sind Dean und JoJo.« Ich wusste, dass meine Worte ein riesiges Publikum haben würden. Und dankenswerterweise konzentrierte sich das Gespräch dann wirklich vorwiegend auf das Thema, das mir wichtig war: auf JoJos Gefährdung durch den Wasserskisport und auf die Verletzungen, die er bereits davongetragen hatte.
Die Sendung fand ein gewaltiges Echo. Es dauerte nicht lange, bis ich täglich an die tausend E-Mails von besorgten Menschen aus der ganzen Welt bekam, die unser Anliegen ohne Wenn und Aber unterstützten. Ich schickte alle an die Regierung weiter, bis nichts mehr angenommen wurde – »wegen Überlastung«, wie es hieß. Kein Zweifel, der Druck der Öffentlichkeit zu unseren Gunsten nahm drastisch zu.
Leider wurde JoJo nicht lange nach dieser Sendung erneut ernsthaft verletzt. Ein Augenzeuge sagte mit großer Bestimmtheit, JoJo sei von einem Boot des Wasserskibetriebs gerammt worden, was aber dort ebenso entschieden bestritten wurde. Am Wochenende seien die Boote gar nicht unterwegs, hieß es.
Die Ausrede verfing nicht, denn an den Wochenenden davor und danach hatten sie nachweislich Wasserskikunden angenommen. Daraufhin wurde die Geschichte schnell umgedichtet, und jetzt hieß es, alle Boote seien den ganzen Tag am Anleger vertäut gewesen, weil notwendige Reparaturen vorgenommen werden mussten. Das war eigentlich schon ein Schuldeingeständnis, denn die Boote blieben nie über Nacht am Anleger liegen.
Zeugen konnte den Zeitpunkt des Unfalls genau angeben, und es war natürlich die Zeit, in der die Boote alle Tage vom Anleger an ihre Bojenplätze verlegt wurden, weil sie dort sicherer waren. Es war außerdem die Zeit, in der Testfahrten gemacht wurden und die Angestellten ein bisschen Wasserski fahren konnten. Solche Testfahrten finden immer am Abend statt, denn am Morgen müssen die Boote ja wieder für den normalen Betrieb zur Verfügung stehen. Nun, wer auch immer JoJos Unfall verursacht hatte, den Bootsführern persönlich machte ich keinen Vorwurf; in den meisten Fällen merkten sie es wahrscheinlich nicht einmal, wenn die Bootsschraube mit einem Delfin kollidierte.
Den Betonköpfen in der Geschäftsleitung warf ich es allerdings durchaus vor. Warum ließen sie nicht endlich Vernunft walten? War es wirklich eine so große Sache, den Sitz ihres Geschäftsbetriebs ein paar Kilometer zu verlegen?
Die Spannung stieg. Die Kampagne lief und ein paar Radikale taten des Guten zu viel. Die Wasserskibootsführer fingen an, sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe zu schieben. Es kam zu Unaufrichtigkeiten und Unstimmigkeiten, die der Sache alles andere als dienlich waren. Die Radikalen innerhalb der Kampagne schenkten den Tier- und Naturschützern und der Öffentlichkeit keinen reinen Wein ein; um der Sensation willen erfanden sie Geschichten, die nicht der Realität entsprachen. Dann behauptete das Wasserskiunternehmen irgendwann, die Schraubenschutzbügel seien endlich angebracht worden – was aber gar nicht stimmte. Für die Öffentlichkeit war das alles ein heilloses Durcheinander. Aber das war wohl auch so beabsichtigt.
Außerdem hatte man ja längst einen Sündenbock gefunden. Man sagte mir nach, ich führe einen persönlichen Rachefeldzug gegen den Inhaber des Wasserskibetriebs; das sei der wahre Hintergrund meines Kampfes für JoJo. Nach allem, was ich im Laufe der Jahre investiert hatte, muss ich schon sagen, dass mich diese Unterstellung sehr kränkte. Und auch ärgerte. Aber im Grunde zeigte es nur, wozu gewisse Kreise alles fähig sind, wenn es darum geht, legitime Naturschutzinteressen zu torpedieren. Und zu denen gehört es doch wohl, wenn ein Delfin ständig von Wasserskibooten angefahren wird, oder etwa nicht?
Aber JoJos Leben wurde durchaus auch ganz direkt bedroht.
»Wenn es anders nicht geht«, sagte einer der Leiter des Wasserskibetriebs mir gegenüber und formte seine Finger zu einer Pistole, »lässt sich das Problem auch auf natürlichem Wege regeln. Mit dem Tod dieses Delfins wäre jeder Streit beigelegt. Allerdings würde sich dadurch wohl auch in Ihrem Leben einiges ändern.«
Ich neige überhaupt nicht zu Gewalttätigkeiten, in diesem Fall aber musste ich doch ein paar Mal tief durchatmen, um dem Typen nicht einfach eine Ohrfeige zu geben. Natürlich war mir klar, dass das der Sache auch nicht eben förderlich wäre. Es hieße nur, Wasser auf die Mühlen dieses Kerls zu gießen. Also drehte ich mich wortlos um und ging, um mich wieder ganz auf die Kampagne zu konzentrieren.
Und selbst die stand selbstverständlich immer hinter dem allerwichtigsten Punkt zurück: der Behandlung von JoJos Verletzungen.
In dem Film Delfine heißt es dazu aus dem Off: »Manche dieser Verletzungen hätten auch tödlich sein können. Dean lenkte JoJo dann ins flache Wasser, wo er seine Wunden behandelte und notfalls auch Antibiotika anwendete. Ohne ein sehr starkes Band des Vertrauens zwischen den beiden wären diese teils recht schmerzhaften Behandlungen nicht möglich gewesen.«
Den Sinn meines Tuns verstanden doch so viele – warum also ausgerechnet die Verantwortlichen in diesem Wasserskibetrieb nicht?
Als sich JoJo so weit von seinen jüngsten Verletzungen erholt hatte, dass ich ihn in die Obhut guter Freunde geben konnte, verließ ich die Insel, um die Kampagne weiter voranzutreiben – und auch, um eine Zeit lang aus der Schusslinie zu sein.
Im Rahmen einer Vortragsreihe zu dem Delfinfilm konnte ich die Öffentlichkeit und die Medien weiter über JoJos verzweifelte Lage informieren. Die Kampagne war jetzt nicht mehr aufzuhalten. Es gelang uns, immer weitere Kreise auf die Gefahren, unter denen JoJo lebte, aufmerksam zu machen. Bald würde sich das Blatt wenden.
Als ich erfuhr, dass das weltweit operierende Wasserskiunternehmen und die mit ihm verbundenen Ferienhotels schwere finanzielle Verluste erlitten hatten, konnte ich mir ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Als Greg MacGillivrays Film in Hollywood uraufgeführt wurde, waren Pierce Brosnan, Jane Goodall, Ted Danson, Bob Talbot und Sting dabei. JoJo gewann neue Freunde und sicherte sich die anhaltende Unterstützung durch alte Freunde wie Robin Williams und Jean-Michel Cousteau. Die Sequenz mit JoJo geriet dadurch in den Mittelpunkt des Medieninteresses. In immer mehr Zeitungen, Zeitschriften, Radio- und Fernsehsendungen, Vorträgen und Talkshows wurde über unsere Kampagne berichtet, ganz zu schweigen von Internetforen und Briefaktionen.
Wieder zu Hause, fand ich einen ganzen Stapel Post vor. Bei vielen der Briefe handelte es sich um Kopien von Boykottaufrufen gegen das Wasserskiunternehmen und seine Hotels überall auf der Welt. Auch an den Gouverneur der Turks- und Caicosinseln waren etliche solcher Briefe gegangen, die einen touristischen Boykott ankündigten. Dieser sprach sich daraufhin für ein Verbot des Wasserskibetriebs aus, fügte jedoch hinzu, dass er nur in Abstimmung mit dem gesamten Regierungsapparat handeln könne.
Es ist wie mit Yin und Yang – immer kommt es zu einem Ausgleich. Bei mir nahm er die Form eines Schreibens an, das mir gleich ins Auge fiel, weil es den Briefkopf des Wasserskiunternehmens trug. Autor war ein gewisser Herr Santiago, der in der Zentrale der Firma in Miami arbeitete. Er hatte diesen Brief per E-Mail an sämtliche Computer innerhalb des Firmennetzwerks und an alle angeschlossenen Betriebe versandt. Er hatte es für nötig befunden, alle Angestellten, Buchungsagenturen, Reisepartner, Fluglinien und Lieferanten über den Wasserskistreit zu unterrichten. Sie alle ließ er wissen, dass eine weltweite Kampagne gegen das Unternehmen angelaufen war. Und zwar seiner Ansicht nach vollkommen zu Recht.
Santiago hatte einmal als Angestellter auf der Insel gearbeitet und wusste – wie viele andere, die ebenfalls hier gearbeitet hatten –, dass seine Firma ganz schlecht dastehen würde, sollte das Problem der Bootszusammenstöße mit JoJo je einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden. Er schrieb, dass er um meine Arbeit mit JoJo wusste, und forderte jeden auf, Stellung zu beziehen und der Firmenleitung mitzuteilen, was er über den Wasserskibetrieb und dessen Image dachte. Die meisten der Angesprochenen wussten ebenfalls von JoJo, schließlich hatte ihn die Firma jahrelang als besondere Attraktion vermarktet.
Es war schon merkwürdig: Ständig brachten sie genau das Tier in Lebensgefahr, dem sie die ganzen Touristenströme überhaupt zu verdanken hatten.
Bald trafen viele wunderbare Briefe von Angestellten der Firma ein, die den Boykott unterstützten. Etliche hatten sogar direkt für den Wasserskibetrieb gearbeitet und bestätigten, dass viele von JoJos Verletzungen auf das Konto der Wasserskiboote gingen. Jetzt hatte ich sie!
Santiago wurde entlassen, weil er es gewagt hatte, den Mitarbeitern, die bis dahin nur die Verlautbarungen der Firmenleitung kannten, reinen Wein einzuschenken. Jetzt mussten sich die leitenden Herren ihren eigenen Angestellten stellen und ihr moralisches Versagen in dieser wichtigen Angelegenheit erklären. Mit bewussten Täuschungsmanövern hatte die Firmenleitung jahrelang die Arbeit ihrer eigenen Leute sabotiert, die sich überall in der Welt um einen Ausgleich zwischen den Interessen des Unternehmens und dem Naturschutz bemühten.
Weltweit auf der Schwarzen Liste dieses Unternehmens zu stehen erfüllt mich durchaus mit einem gewissen Stolz, aber irgendwie ist es ja auch ein Witz, dass ausgerechnet eine Firma, die so viel Wert auf eine weiße Öko-Weste legt, einen Verfechter des Umweltschutzes auf ihre Schwarze Liste setzt. Doch damit schadet sie sich letztlich nur selbst.
Mit der Premiere des Delfinfilms in vielen Großstädten gewann die Kampagne noch mehr internationales Gewicht. Die Presse berichtete über das Delfinproblem und JoJos Nöte, und der weltweite Boykott traf auf immer mehr Zustimmung. Der Wasserskibetrieb bekam die wachsende Entrüstung über die Uneinsichtigkeit der Geschäftsleitung zunehmend deutlich zu spüren.
Doch erst als die Umsätze einbrachen, bequemte sich der stellvertretende Geschäftsführer, eine Pressemitteilung herauszugeben, in der es hieß, man sei so sehr auf JoJos Wohlergehen bedacht, dass man den Wasserskibetrieb in Grace Bay einstellen werde. Dass es nur unter hohem Druck durch eine internationale Kampagne und erst aufgrund deutlicher finanzieller Verluste geschah, ließ er unerwähnt. Na ja, vielleicht wusste er nichts davon. Oder sollte es ihm etwa peinlich gewesen sein?
Dank JoJo ist es heute in Grace Bay nicht nur für die Menschen, sondern auch für alle anderen Lebewesen sicherer, weil der Wasserskisport und das Jetbootfahren im Nationalpark nicht mehr erlaubt sind. Wer heute an den wunderschönen Stränden spazieren geht, den weißen Sand und das türkisblaue Wasser genießt, der wird den Frieden dieses geschützten Lebensraums sicher zu schätzen wissen.
Da Mensch und Delfin jetzt sorglos in der Gegend leben können, wird sich eines Tages vielleicht auch wieder eine Delfinschule hier ansiedeln. Es wäre eine weitere Gelegenheit für Mensch und Tier, sich in Blasenringen von Licht und Frieden zu begegnen.
Eines aber ist sicher: Diesen Sieg der Natur über die Maschine haben wir JoJo zu verdanken. Und unserem Wissen um seine wahre Bedeutung.