Neunundzwanzig

Eine Woche darauf lebte ich immer noch in dem Hundepark.

Die Frau, die nach Hannah roch, kam fast jeden Tag mit der lebhaften hellbraunen Hündin, Carly, hierher. Der Geruch des Mädchens ermutigte mich immer wieder aufs Neue, und ich war fest davon überzeugt, dass auch Ethan irgendwo in der Nähe war, und das, obwohl Carly nie nach ihm roch, kein einziges Mal. Wenn ich sie und die Frau kommen sah, verließ ich mein Gebüsch und lief ihnen freudig entgegen. Es war immer das absolute Highlight des Tages.

Die übrige Zeit war ich ein böser Hund. Manche Parkbesucher beobachteten mich zuweilen misstrauisch. Sie deuteten in meine Richtung und unterhielten sich über mich. Ich verzichtete darauf, mit ihren Hunden zu spielen.

»Hallo, du Stromer! Wo ist denn dein Halsband geblieben? Und wo ist dein Herrchen?«, fragte mich eines Tages ein Mann und hielt mir freundlich die Hände hin. Ich tänzelte vorsichtig von ihm weg, denn ich spürte, dass er mich packen wollte. Außerdem traute ich ihm nicht, weil er mich Stromer nannte. Wahrscheinlich hatte meine erste Mutter doch recht gehabt: Um frei zu sein, musste man sich von Menschen fernhalten.

Ich nahm mir vor, die Farm zu finden, genauso wie ich die Stadt gefunden hatte. Aber das erwies sich als schwieriger, als ich vermutet hatte. Wenn ich früher mit Grandpa und Ethan im Auto in die Stadt gefahren war, hatte ich mich am Geruch des Ziegenhofs orientiert. Aber von den Ziegen war seltsamerweise keine Spur mehr zu entdecken. Auch die Brücke, deren Geratter man überall hörte, und die sozusagen die Grenze zwischen einer Stadtfahrt und einer Landpartie markiert hatte, war verschwunden. Nach Einbruch der Dunkelheit lief ich immer wieder durch die Straßen und war mir eine Zeit lang ganz sicher, auf der richtigen Fährte zu sein, doch früher oder später blockierte stets ein großes Gebäude meinen Weg, und die Gerüche unzähliger Menschen und Autos irritierten meine Sinne. Zudem befand sich vor diesem Gebäude ein Springbrunnen, der mich vollkommen durcheinanderbrachte, weil seine Fontäne ein feines chemisches Aroma verströmte, das mich daran erinnerte, wie Maya ihre Wäsche gewaschen hatte. Ich hob das Bein an dem Brunnen, aber das verschaffte mir nur vorübergehend Erleichterung.

Nachts war mein schwarzes Fell ein guter Schutz vor Entdeckung. Ich konnte mich in dunkle Ecken verdrücken und mich vor Autos verstecken und kam erst wieder zum Vorschein, wenn sie sich verzogen hatten und kein Mensch mehr zu sehen war. Die ganze Zeit über war ich im Such-Modus, konzentrierte mich auf meine Erinnerung an die Gerüche von damals und versuchte, sie in der kühlen Nachtluft zu identifizieren. Entsprechend frustrierend war es, dass ich nicht einen einzigen davon wiederfinden konnte.

Futter fand ich im Müll, und gelegentlich lag ein totes Tier am Straßenrand. Kaninchen schmeckten mir am besten, Krähen am schlechtesten. Aber ich hatte auch Fressfeinde: Tiere von der Größe eines kleinen Hundes, die streng rochen und dicke, buschige Schwänze und schwarze Augen hatten. Sie durchsuchten Mülltonnen und konnten geschickt an ihnen hochkletterten. Wenn ich auf ein solches Tier stieß, knurrte es mich an, und ich ging ihm aus dem Weg, denn es hatte Zähne und Klauen, die bestimmt sehr wehtun konnten. Ich wusste nicht, um was für Tiere es sich handelte, aber offenbar waren sie zu dumm, um zu begreifen, dass sie eigentlich vor mir hätten Angst haben sollen, weil ich größer war als sie.

Auch die Eichhörnchen im Park waren dumm. Sie hüpften so sorglos von den Bäumen und sprangen so unbeschwert im Gras herum, als gehörte der Park nicht uns Hunden. Ein paarmal hätte ich fast eins gefangen, aber in letzter Sekunde kletterten sie immer irgendeinen Baum hoch und hockten dann oben im Geäst und maulten, als hätte man ihnen ihr Territorium streitig gemacht. Carly, die Hündin mit dem hellbraunen Fell, begleitete mich oft auf der Jagd, aber sogar zu zweit hatten wir bis jetzt kein Eichhörnchen erwischt. Wenn wir es oft genug versuchten, würden wir eines Tages sicher eins erwischen, obwohl ich, ehrlich gesagt, nicht wusste, was wir dann damit anfangen sollten. »Was ist eigentlich mit dir los, Schätzchen?«, fragte Carlys Besitzerin mich einmal. »Warum bist du so dünn? Hast du denn kein Zuhause?« Sie klang so besorgt, dass ich mit dem Schwanz wedelte und hoffte, sie würde mich mit in ihren Wagen nehmen und auf der Heimfahrt an meiner Farm absetzen. Als sie von ihrer Bank aufstand und mühsam auf die Füße kam, spürte ich, dass sie zögerte. Überlegte sie, ob sie mich mitnehmen sollte? Ich wusste, dass Carly damit kein Problem haben würde, denn wenn sie in den Park kam, hielt sie immer als Erstes nach mir Ausschau. Trotzdem entzog ich mich den besorgten Blicken der Frau und tat, als sei ein Mensch in der Nähe, der mich liebte und gerade nach mir gerufen hätte. Ich lief zwölf, fünfzehn Meter weiter, dann blieb ich stehen und schaute mich um. Die Frau sah mir immer noch hinterher, eine Hand in die Hüfte gestemmt, die andere auf den runden Bauch gelegt.

Noch am selben Nachmittag kam ein Lastwagen angefahren, der so intensiv nach Hunden roch, dass ich ihn in der Ecke des Parks, wo ich im Gras lag, sofort bemerkte. Ein Polizist stieg aus und unterhielt sich mit einigen Hundebesitzern, die auf verschiedene Stellen des Parks deuteten. Der Polizist holte eine lange Stange mit einer Schlaufe von seinem Wagen, und ein kalter Schauer fuhr mir über den Rücken. Wozu diese Stange dienen sollte, wusste ich nur zu gut.

Der Polizist umrundete den Park und suchte das Gebüsch ab, aber als er sich meinem Versteck näherte, hatte ich mich längst in den Wald verzogen, der an den Park grenzte.

Vor lauter Panik rannte ich immer weiter, auch als der Wald in ein Wohngebiet überging, in dem viele Hunde und Kinder wohnten. Ich tat mein Bestes, um nicht gesehen zu werden und blieb stets in der Nähe des Waldrandes. Ich war ziemlich weit von der Stadt entfernt, als ich beschloss, kehrtzumachen. Das konnte ich nur wagen, weil meine beste Verbündete, die Nacht, einsetzte.

Doch plötzlich nahm ich eine ganze Hundemeute wahr und folgte meiner Witterung neugierig. Aus dem hinteren Teil eines großen Gebäudes klang vielstimmiges Gebell. Dort saßen einige Hunde in Käfigen und kläfften einander an. Dann drehte sich der Wind, und es klang, als ob sie nun mich anheulten.

Plötzlich wusste ich, dass ich hier früher schon einmal gewesen war: Es war das Haus, in dem sich der nette Mann, der Tierarzt, um mich gekümmert hatte, als ich noch Bailey war. Und es war der Ort, an dem ich das letzte Mal mit Ethan zusammen gewesen war. Ich hielt es für besser, dieses Haus schnell hinter mir zu lassen. Als ich seine Einfahrt überquerte, musste ich plötzlich stehen bleiben und begann zu zittern.

Als ich Bailey war, war eines Tages der Esel Jasper zu uns auf die Farm gekommen, um der unzuverlässigen Flare Gesellschaft zu leisten. Auch als Jasper älter wurde, war er nie so groß wie Flare geworden, obwohl er sonst ganz ähnlich gebaut war. Er brachte Grandpa oft zum Lachen, aber Grandma schüttelte immer nur den Kopf über ihn. Damals hatte ich Jasper immer gründlich beschnuppert, wenn Grandpa ihn bürstete, und ich hatte mit ihm gespielt, so gut das mit einem Esel ging. Jaspers Geruch war mir also genauso vertraut wie der unserer Farm, und dieser Geruch stieg mir jetzt in die Nase, da war ich mir ganz sicher, genau hier, in der Einfahrt des großen Hauses. Ich folgte ihm und kam an eine Stelle auf dem Parkplatz, wo dieser Geruch stark und frisch war. Es lagen sogar ein paar Klumpen aus Erde und Stroh auf dem Asphalt, die so stark nach Jasper rochen, als stünde er leibhaftig da.

Die Hunde heulten mich immer noch an. Wahrscheinlich waren sie wütend, weil ich frei herumlief, während sie gefangen gehalten wurden. Ich ignorierte sie, sog den würzigen Geruch ein, der von Jasper stammen musste, und folgte ihm. Vom Parkplatz führte er zunächst auf die Straße.

Als ein Auto auf mich zufuhr, mich mit den Scheinwerfern blendete und hupte, erschrak ich fürchterlich, weil ich mich voll und ganz darauf konzentriert hatte, Jaspers Spur zu folgen. Ich sprang in den Straßengraben und duckte mich, als der Wagen mit aufheulendem Motor beschleunigte und davonfuhr.

Danach war ich vorsichtiger. Ich konzentrierte mich weiter auf Jasper, aber gleichzeitig horchte ich auf Fahrzeuge und versteckte mich rechtzeitig, ehe ihre Scheinwerfer mich erfassten.

Es war ein langer Weg, aber trotzdem war diese Such-Aktion deutlich einfacher als Such-Wally. Über eine Stunde lang brauchte ich nur stur geradeaus zu laufen, doch dann ging es nach links und anschließend noch einmal. Jaspers Geruch wurde schwächer, je länger ich lief, was bedeutete, dass ich ihm in umgekehrter Richtung folgte, zu seinem Ausgangspunkt. Allerdings bestand die Gefahr, dass sich die Spur ganz verlieren würde, ehe ich diesen Ausgangspunkt erreichte. Doch nach einer letzten Rechtskurve war ich nicht mehr auf meinen Geruchssinn angewiesen: Ich wusste plötzlich, wo ich war. An dieser Stelle kreuzte die Eisenbahn die Straße – es waren die Schienen, vor denen Ethans Wagen Halt gemacht hatte, als er zum ersten Mal zum College gefahren war. Von hier aus kannte ich den Weg zur Farm, und Jaspers Geruch diente mir nur noch als Bestätigung, als ich wieder rechts abbog. Bald kam ich an Hannahs Haus vorbei, wo es merkwürdigerweise überhaupt nicht mehr nach dem Mädchen roch. Aber die Bäume und eine moosbewachsene Mauer an der Straße waren unverändert geblieben.

In die Einfahrt der Farm einzubiegen, kam mir so selbstverständlich vor, als hätte ich es erst gestern noch getan.

Jaspers Spur führte zu einem großen weißen Anhänger, vor dem viele Klumpen aus Erde und Stroh lagen – wie auf dem Parkplatz in der Stadt. Überall roch es hier nach Jasper, aber das Pferd, das mich ebenso misstrauisch wie schläfrig beobachtete, war nicht Flare. Ich schnüffelte an seinem Zaun, aber eigentlich interessierte ich mich nicht dafür. Ethan! Ich konnte Ethan riechen. Auch sein Geruch war überall. Der Junge musste immer noch hier wohnen!

Noch nie in meinem ganzen Leben hatte ich mich so gefreut. Mir war ganz schwindelig vor Glück.

Im Haus war Licht, ich umrundete es und blickte von einem kleinen Grashügel aus durch das Wohnzimmerfenster. Ein Mann in Grandpas Alter saß im Sessel und sah fern. Allerdings sah er nicht aus wie Grandpa. Ethan war nicht bei ihm. Auch sonst niemand.

In der äußeren, metallenen Haustür gab es immer noch eine Hundeklappe, aber die Holztür dahinter war verschlossen. Frustriert kratzte ich an der Metalltür, dann fing ich an zu bellen.

Ich hörte Schritte und musste so heftig mit dem Schwanz wedeln, dass ich mich nicht hinsetzen konnte, denn er schleuderte mein ganzes Hinterteil hin und her. Über mir ging ein Licht an, und dann ertönte das vertraute Knarzen der Holztür. Der Mann, den ich im Sessel gesehen hatte, stand an der Schwelle und schaute verwundert durch die Glasscheibe, die in die Metalltür eingelassen war.

Ich kratzte wieder an dem Metall. Der Mann sollte mir öffnen, damit ich ins Haus und mit meinem Jungen zusammen sein konnte.

»Nanu«, sagte er. Durch die geschlossene Tür klang seine Stimme ganz gedämpft. »Aus!«

Ich hörte den Tadel in seiner Stimme und versuchte mich brav zu setzen, aber mein Hinterteil schnellte sofort wieder in die Höhe.

»Was willst du hier?«, fragte er schließlich. Ich merkte, dass es eine Frage war, aber ich wusste nicht, was sie zu bedeuten hatte.

Dann wurde mir klar, dass ich nicht abzuwarten brauchte, bis der Mann klarer machte, was er wollte. Da die innere Tür offen war, konnte ich durch die Hundeklappe ja zu ihm gelangen! Ich senkte den Kopf, schob mich durch die Plastikklappe und schoss ins Haus.

»Hey!«, rief der alte Mann überrascht.

Auch ich war überrascht. Sobald ich das Haus betreten hatte, roch ich die Person, die mir da im Weg stand. Ich wusste, wer es war. Diesen Geruch hätte ich überall auf der Welt erkannt.

Eindeutig Ethan.

Ich hatte den Jungen wiedergefunden.