Dreiundzwanzig
»Wir haben ihn ja gesehen, Ellie. Aber wir müssen ihn hier liegenlassen. Komm mit!«, sagte Maya.
Sie wollte tatsächlich weggehen, aber ich hatte das Gefühl, dass sie mich missverstand und dachte, es ginge bloß um den Toten.
»Will sie mich wieder suchen?«, fragte Vernon.
Ich sah Maya ungeduldig an und wünschte, sie würde endlich verstehen, was ich meinte.
Maya sah sich um. »Hier? Hier ist doch alles kaputt. Das ist mir zu gefährlich. Aber vielleicht hätte sie Lust, dich zu jagen. Geh ein Stück die Straße runter und ruf sie, dann lasse ich sie von der Leine.«
Ich achtete gar nicht auf Vernon, als er wegging, sondern konzentrierte mich auf die Frau. Ich roch ihre Angst, obwohl der Geruch der Chemikalien so stark war wie das Zeug, mit dem mich das Stinktier damals angespritzt hatte. Maya ließ mich von der Leine. »Ellie, was macht Vernon? Wo geht er hin?«
»Hey, Ellie! Hierher!«, rief Vernon. Er lief die Straße hinunter, und ich schaute ihm nach. Ich wäre ihm ja gern hinterhergelaufen und hätte auch gern mit ihm gespielt, aber ich musste arbeiten und drehte mich wieder zu dem zerstörten Haus um. »Nein, Ellie!«, rief Maya.
Bei Jakob hätte ich nicht eine Sekunde gezögert, wenn er »Nein« gesagt hätte, und wäre sofort stehen geblieben, aber Mayas Ton war weniger scharf, wenn sie Befehle gab. Mit dem Kopf voran tauchte ich in den kleinen Hohlraum neben dem Toten und tastete mich vorsichtig weiter. Ich trat in eine ätzende Flüssigkeit, und der Geruch der Chemikalien wurde so stark, dass ich nichts anderes mehr riechen konnte. Ich musste an das Rettungsspiel denken, das ich mit Ethan im Ententeich gespielt hatte: Selbst unter Wasser hatte ich ihm folgen können, solange ich nur eine winzige Spur seines Geruchs ausmachen konnte.
Ich konnte kaum noch atmen, aber ich arbeitete mich weiter vor. Als ich einen Luftzug spürte, zwängte ich mich durch ein Loch, das in einen engen Schacht führte. Der Luftzug brachte mir etwas Erleichterung, aber meine Nase brannte trotzdem ganz fürchterlich, und dann spritzte mir die ätzende Flüssigkeit auch noch an die Schnauze.
Gleich darauf sah ich eine Frau, die zusammengekauert in dem Schacht lag und sich ein Tuch ans Gesicht presste. Mit großen Augen sah sie mich an.
Ich bellte, weil ich nicht zu Maya zurückkehren konnte, um sie zu alarmieren.
»Ellie!«, rief Maya und hustete.
»Komm zurück, Maya!«, sagte Vernon.
Ich bellte immer weiter.
»Ellie!«, rief Maya wieder. Sie schien näher zu kommen. Auch die Frau hörte sie und fing an, um Hilfe zu schreien.
»Da drinnen ist jemand!« rief Maya. »Jemand, der noch lebt!«
Ich setzte mich neben die Frau und wartete geduldig. Ich spürte, wie sich ihre Panik langsam in Hoffnung verwandelte. Und dann leuchtete ein Mann mit Helm und Schutzmaske in den Schacht, und der Strahl seiner Taschenlampe huschte über die Frau und mich hinweg. Meine Augen tränten, meine Nase lief, und mein ganzes Gesicht brannte, seit ich Spritzer von der Flüssigkeit abbekommen hatte. Ich hörte, dass jetzt gegraben und gehämmert wurde, und die Geräusche hallten in dem Schacht wider. Schließlich drang von oben helles Tageslicht herein, und ein Mann ließ sich an einem Seil zu uns herab.
Die Frau schien noch nie geübt zu haben, wie man sich von einem Seil in die Höhe ziehen ließ, und sie hatte große Angst, als ein Feuerwehrmann sie festschnallte und ins Freie hievte. Ich dagegen hatte dieses Manöver schon oft trainiert, so dass ich ohne zu zögern in die Schlaufen des Rettungsseils stieg, als ich an der Reihe war. Maya wartete oben auf mich und war sehr erleichtert, als man mich aus dem Loch zog, das die Männer in die Wand geschlagen hatten. Doch als sie mich dann sah, schlug ihre Erleichterung in Entsetzen um.
»O mein Gott, Ellie, deine Nase!«
Zusammen rannten wir zu einem Feuerwehrwagen, wo Maya einen Feuerwehrmann ganz gegen meinen Willen dazu brachte, mir ein Bad zu verpassen. Es wurde aber nicht ganz so schlimm, denn es war nur eine Art Spülung. Kaltes Wasser floss über meinen Kopf und linderte das Brennen in meiner Nase.
Noch am selben Tag flogen Maya und ich wieder mit Hubschrauber und Flugzeug zurück, und dann fuhren wir zu dem netten Mann in dem kühlen Zimmer. Inzwischen wusste ich, dass er Tierarzt hieß. Er schmierte mir eine Salbe auf die Nase, die furchtbar roch, aber sehr guttat.
»Was war es denn? Eine Säure?«, fragte der Tierarzt.
»Wir wissen es nicht. Wird sie sich erholen?« Ich spürte Mayas Liebe und Besorgnis und schloss die Augen, als sie mir den Nacken streichelte. Ich hätte ihr so gern gezeigt, dass die Schmerzen schon gar nicht mehr so schlimm waren.
»Wir müssen aufpassen, dass sich nichts entzündet, aber eigentlich sehe ich keinen Grund, warum sie sich nicht schnell erholen sollte«, sagte der Tierarzt.
Ungefähr zwei Wochen lang rieb Maya mir die wohltuende Salbe auf die Nase. Emmet und Stella schauten von der Arbeitsplatte in der Küche aus zu und schienen das ziemlich komisch zu finden. Aber das war noch gar nichts gegen Tinkerbells Reaktion: Sie liebte es. Sie kam sogar extra aus ihrem jeweiligen Versteck, roch an der Salbe und rieb schnurrend ihren Kopf an mir. Wenn ich mich hinlegte, setzte sie sich neben mich und schnüffelte weiter so gierig an mir, dass ihre kleine Nase bebte. Dann rollte sie sich ein und kuschelte sich eng an mich heran.
Es war nicht zum Aushalten.
Ich war sehr erleichtert, als ich den Katzen entfliehen und endlich wieder arbeiten konnte. Als Maya und ich in den Park mit den Spielgeräten gingen, sprang ich begeistert an Wally und Belinda hoch, die sich ebenfalls freuten, mich wiederzusehen.
»Wir haben von deiner Heldentat gehört, Ellie. Guter Hund!«
Ich wedelte mit dem Schwanz, weil ich so unerwartet gelobt wurde. Dann lief Wally weg, und Belinda und Maya setzten sich an einen Picknicktisch.
»Wie geht’s dir und Wally?«, fragte Maya. Ungeduldig setzte ich mich zu ihr und wollte lieber gleich losziehen, denn wenn wir Wallys Verfolgung nicht sofort aufnahmen, konnten wir ihn nicht so schnell finden.
»Wenn er am Nationalfeiertag nach Hause fährt, stellt er mich seinen Eltern vor.«
»Hey, super!«
Dieses ganze Geschwätz ging mir unheimlich auf die Nerven. Die Menschen besaßen die erstaunlichsten Fähigkeiten, aber statt sie einzusetzen und zu handeln, saßen sie oft nur untätig da und redeten. »Platz, Ellie!«, sagte Maya. Widerwillig legte ich mich hin und schaute demonstrativ in die Richtung, in die Wally verschwunden war.
Nach einer Ewigkeit machten Maya und ich uns endlich auf die Suche. Erleichtert rannte ich los und brauchte das Tempo nicht zu drosseln, weil Maya mittlerweile mit mir Schritt halten konnte.
Wally hatte sich viel Mühe gegeben, seine Spur zu verwischen. Ich reckte die Nase in die Luft, um seine Witterung aufzunehmen. An diesem Tag lagen keine besonders kräftigen Gerüche in der Luft, die mich hätten ablenken können, und trotzdem konnte ich keine Spur von Wally entdecken. Ich lief hin und her und wandte mich immer wieder an Maya, um mir die Richtung zeigen zu lassen. Sorgfältig durchkämmte sie mit mir das ganze Gebiet, und als ich Wally immer noch nicht entdecken konnte, fing sie mit mir an einer anderen Stelle von vorn an.
»Was ist denn los mit dir, mein Mädchen? Alles in Ordnung, Ellie?«
Obwohl der Wind aus Wallys Richtung wehte, hörte ich ihn, bevor ich ihn riechen konnte. Er kam direkt auf uns zu. Ich schoss los, bis meine Nase mir bestätigte, dass es wirklich Wally war. Dann kehrte ich zu Maya zurück, die aber bereits angefangen hatte, sich mit Wally zu unterhalten. Sie sprach ungewöhnlich laut.
»Wahrscheinlich hat sie einen schlechten Tag«, sagte sie.
»Meinst du? Sie hat noch nie versagt. Na, Ellie, wie geht’s dir?«, sagte Wally. Dann spielten wir ein wenig mit einem Stock.
»Lass uns was anderes versuchen, Maya«, sagte Wally. »Du lenkst sie von mir ab, und ich gehe über den Hügel da vorne. Auf der anderen Seite komme ich euch dann wieder entgegen. Gib mir zehn Minuten Vorsprung.«
»Bist du sicher?«
»Nach zwei Wochen Pause ist sie ein wenig aus der Übung. Wir müssen ein bisschen Geduld mit ihr haben.«
Ich merkte, dass Wally wegging, obwohl Maya mir den Gummiknochen gegeben hatte und ihn mir dann wieder wegnehmen wollte. Ich hörte ihn und wusste, dass er sich versteckte. Ich freute mich schon darauf, ihn wiederzufinden. Als Maya schließlich »Such!« sagte, lief ich in die Richtung, in die er verschwunden war.
Ich erklomm einen kleinen Hügel. Oben angekommen blieb ich unsicher stehen. Ich wusste nicht, wie er es machte, aber irgendwie schaffte Wally es heute, seinen Geruch für sich zu behalten. Ich lief zu Maya zurück, um mir die richtige Richtung zeigen zu lassen, und sie schickte mich nach rechts. Schnüffelnd lief ich hin und her.
Kein Wally!
Dann schickte Maya mich nach links. Wieder keine Spur von Wally. Dann rief Maya mich zu sich und ging mit mir am Fuße des Hügels entlang. In dem Moment, als ich Wally roch, stand er praktisch schon vor mir. Sofort machte ich Maya auf ihn aufmerksam, denn ich brauchte ja nicht erst zu ihr zurückzulaufen.
»Sieht nicht gut aus, was?«, sagte Maya. »Der Tierarzt sagt, dass alles verheilt ist.«
»Geben wir ihr noch eine Woche«, sagte Wally. »Vielleicht wird es ja besser.« Er klang so traurig, dass ich seine Hand mit meiner Nase anstupste, um ihn aufzumuntern.
In den folgenden Wochen arbeiteten Maya und ich nur sehr selten, und wenn, dann trieb Wally weiter seine Scherze mit mir, indem er so wenig Geruch verströmte, dass ich ihn erst wahrnahm, wenn ich schon fast bei ihm war.
»Welche Konsequenzen hat es für dich, dass Ellie nicht mehr als Suchhund arbeiten kann?«, fragte Al eines Abends. »Bist du deinen Job jetzt auch los?« Normalerweise hatte ich für Füße nicht viel übrig, aber ihm erlaubte ich, die Schuhe auszuziehen und mich mit den Zehen zu kraulen, denn seine Füße rochen nicht so schlecht wie die meisten.
»Nein«, sagte Maya. »Aber ich bekomme ein neues Aufgabengebiet. Die letzten Wochen habe ich Schreibtischarbeit gemacht, aber das ist nicht mein Ding. Ich glaube, ich reiche ein Versetzungsgesuch ein und bewerbe mich um meinen alten Job als Streifenpolizistin.«
Heimlich ließ Al für mich ein kleines Stück Fleisch auf den Teppich fallen. Deshalb lag ich beim Essen gern in seiner Nähe. Leise verschlang ich das Fleisch, während Stella, die auf der Couch lag, mir missmutige Blicke zuwarf.
»Die Vorstellung, dass du auf Streife gehst, gefällt mir gar nicht. Das ist doch ziemlich gefährlich.«
»Albert!« Maya seufzte.
»Und was wird mit Ellie?«
Ich schaute auf, als ich meinen Namen hörte, aber Al hatte kein Fleisch mehr für mich.
»Ich weiß nicht. Arbeiten kann sie jedenfalls nicht mehr, dafür ist ihr Geruchssinn zu stark beeinträchtigt. Ich denke, sie bleibt einfach hier bei mir. Was meinst du, Ellie?«
Ich wedelte mit dem Schwanz, weil Maya meinen Namen besonders liebevoll ausgesprochen hatte.
Nach dem Essen fuhren wir ans Meer. Die Sonne ging unter, und Maya und Al legten eine Decke zwischen zwei Bäume und unterhielten sich, während die Wellen auf den Sand rollten.
»Ist das nicht schön?«, sagte Maya.
Ich nahm an, dass sie mit einem Stock, einem Ball oder sonst etwas spielen wollten, aber ich war an der Leine und konnte nicht loslaufen, um ein Spielzeug für sie zu suchen. Es tat mir leid, dass sie nichts zu tun hatten.
Dann konzentrierte ich mich auf Al, weil ich merkte, dass er Angst bekam. Sein Herz begann so stark zu klopfen, dass ich es hören konnte, und ich spürte seine Nervosität, als er sich wieder und wieder die Hände an der Hose abwischte.
»Maya, als du hierher gezogen bist … Ich wollte schon seit Monaten mit dir reden … Du bist so schön …«
Maya lachte. »Ach was, Al! Ich bin doch nicht schön!«
Unten am Wasser rannten ein paar Jungen vorbei und warfen einander dabei eine Scheibe zu. Ich beobachtete sie und dachte an Ethans blöden Flip. Ich fragte mich, ob Ethan wohl je am Meer gewesen war, und wenn ja, ob er den Flip mitgebracht und ins Meer geworfen hatte, wo er hoffentlich versunken und nie wiedergefunden worden war.
Ethan. Er hatte nie etwas ohne mich unternommen, abgesehen von der Schule natürlich. Ich fand es wunderbar, dass die Arbeit meinem Leben einen neuen Sinn gegeben hatte, aber an Tagen wie diesem sehnte ich mich danach, wieder mit Ethan zusammen zu sein und von ihm »Schussel-Hund« genannt zu werden.
Al hatte immer noch Angst. Das lenkte mich vom Anblick der spielenden Jungen ab, und ich beobachtete ihn neugierig. Lauerte etwa irgendwo Gefahr? Ich konnte keine entdecken. Außerdem waren wir an diesem Teil des Strandes ganz allein.
»Du bist die wunderbarste Frau der Welt«, sagte er. »Ich … ich liebe dich, Maya.«
Jetzt bekam Maya auch Angst. Was war bloß mit den beiden los? Alarmiert setzte ich mich auf.
»Ich liebe dich auch, Al.«
»Ich bin kein reicher Mann, und ich sehe auch nicht gut aus, aber …«, sagte Al.
»O mein Gott!«, sagte Maya und atmete schwer. Auch ihr Herz pochte nun schneller.
»Aber ich werde dich mein ganzes Leben lang lieben, wenn du mich lässt.« Al drehte sich auf der Decke um und kam auf die Knie.
»O mein Gott, o mein Gott!«, rief Maya.
»Willst du mich heiraten, Maya?«, fragte Al.